Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

In der großen gewölbten Küche zu ebener Erde, die einst zu den Vorratsräumen des Grauen Klosters gehört haben sollte, saß Kamilla Prätorius auf der niedern Fensterbank. Unweit von ihr auf einem etwas schadhaften Schemel am Herd hockte Lene Petersen und trug mit geläufiger Zunge ihre Vorschläge für die Sonntagsbewirtung vor.

Es war im Städtchen kein Geheimnis, daß die Petersen nur im Nebenamt und nur in ihr besonders nahestehenden Familien kochte. Ihr eigentlicher Beruf bestand in Tafeldecken und Aufwarten, bei dem sie's, wie sie zu sagen pflegte, mit jedem ›Berliner Servierfritzen‹ aufnahm. Nicht mit Unrecht. Die kleine vertrocknete Person mit dem schleppenden Gang und den unwahrscheinlich großen Händen und Füßen war eine hervorragend geschickte und geschmackvolle Bedienerin. Die ganze Stadt riß sich um sie. Bei keiner Hochzeit, bei keiner Kindtaufe, bei keinem Fest durfte Lene Petersen fehlen. Sie arrangierte, dirigierte und kommandierte. Es war eine förmliche Lust, zu sehen, wie all die tausend kleinen, scheinbar nebensächlichen Dinge, die einer Hausfrau die meiste Pein zu bereiten pflegen, ihr wie am Schnürchen von der Hand gingen.

Jetzt war tote Zeit. Das letzte Brautpaar des Städtchens war schon am Anfang Mai in der alten Marienkirche getraut worden, der letzte der vorerst zu erwartenden Täuflinge aus der ›haute volée‹ hatte bald nach Ostern sein Tauffest gefeiert. Gesellschaften gehörten um Ende Mai zu den Seltenheiten, so konnte Lene Petersen es durchaus verantworten, ihre kostbare Zeit dem Prätoriusschen Hause zu widmen. Sie hätte es im übrigen auch dann getan, wenn das Geschäft flott im Gange gewesen wäre. Sobald Kamilla Prätorius mit einem Anliegen kam, gab es für die Petersen nichts Wichtigeres zu tun, als dieses Anliegen zu erfüllen.

Die kleine, von der Natur so stiefmütterlich ausgestattete Person trieb einen förmlichen Kult mit dem schönen, eigenartigen Geschöpf. Hatte sie das einsame Kind bemitleidet, das in dem großen verlassenen Hause allein mit dem tollen, selbstsüchtigen Vater hauste, so betete sie das herangewachsene Mädchen um seiner Schönheit und stillen Herzensgüte willen an. Es gab nichts auf der Welt, was Lene Petersen nicht für Kamilla Prätorius zu tun imstande gewesen wäre. Hätte die gutherzige kleine Person nicht für ein paar Geschwister zu sorgen gehabt, sie würde zweifellos ihr einträgliches Gewerbe längst an den Nagel gehängt und Kamilla die Zügel der Prätoriusschen Wirtschaft sehr energisch aus den feinen, schlanken Händen entwunden haben.

Wie immer, wenn es Kamilla galt, war sie auch heut besonders eifrig bei der Sache. Während sie die bewundernden Augen auf dem Mädchen ruhen ließ, das sie in besonders begeisterten Stunden mit einer Lilie verglich, die dem Sumpf entblüht ist, wiederholte sie noch einmal: »Also so ein Zwischending zwischen Frühstück und Mittagbrot.«

»Ganz recht, liebste Lene, aber ich fürchte, was Sie vorgeschlagen haben, wird zu teuer sein, viel zu teuer.«

Die Petersen schüttelte sehr energisch den kleinen Kopf mit dem leicht angegrauten fahlblonden Haar. »Keine Spur, läßt sich großartig einrichten. Bouillon mit Mark in Tassen – das Rindfleisch essen Sie Montag so und Dienstag als Bouletten –, gefüllte Pastetchen kosten 'nen Pappenstiel, so wie ich sie Ihnen zusammen besorge, Spargel –«

Kamilla machte eine erschrockene Bewegung. Lene Petersen beschwichtigte. »Da seien Sie man nicht bange vor, Fräuleinchen – die stech ich hinten in meinem Garten, und wenn es denn Filet oder Hühner durchaus nicht sein soll, muß es eben beim Kalbsbraten bleiben, und statt der süßen Speise oder Eis 'n bißchen was zu knabbern und Eingekochtes nach.«

Kamilla seufzte ein wenig beklommen auf. Nach einer kleinen Pause sagte sie: »Papa wird zufrieden sein – ich finde es viel zu üppig.«

»I wo denn, wo der Herr aus Berlin kommt – was soll man denn für 'n Begriff von uns kriegen?«

Sie war aufgestanden und hatte sich vor Kamilla ganz nah an die Fensterbank gestellt. Vertraulich murmelte sie halblaut: »Wenn man was loswerden will, ist es immer gut, dem Käufer ein bißchen Honig um den Mund zu schmieren, ihn bei guter Laune zu erhalten, und Männer werden stets bei Laune erhalten, wenn sie was Gutes zu essen kriegen. Glauben Sie der alten Petersen, die weiß Bescheid in der Welt. Und wie ist es mit dem Trinken? Den Wein nehmen wir wohl am besten aus dem Rathauskeller?«

Kamilla verneinte lächelnd. »Gott sei Dank,« sagte sie mit einem Seufzer der Erleichterung. »Wein haben wir noch im Keller, Bordeaux und Rheinwein. Ich habe ihn fest unter Schloß und Riegel gehalten. Er stammt noch vom alten Treskow her, der hat mal eine verlorene Wette an den Papa damit bezahlt.«

»War ein honoriger Mensch, der alte Treskow, der letzte von der ganzen Bande hier herum, der was wert war.«

Mitten in diese letzte Rede der Petersen hinein schlug es sieben vom Turm der Marienkirche. Ohne auf die Sprechende zu hören, war Kamilla förmlich erschreckt aufgesprungen. Sie legte beide Hände auf die etwas schiefen Schultern der alten Freundin, und zu ihr hinabsehend, sagte sie bittend: »Hätten Sie wohl noch ein halbes Stündchen Zeit für mich, liebste Lene? Ich, nämlich – ich erwarte Besuch« – ein helles Rot scheuer Freude flog über das Gesicht des Mädchens. – »Lorenz Buchberg kommt, und der Papa säh's sicherlich nicht gern, wenn ich mit ihm allein im Hause wäre – und dann –«

Lachend ergänzte Lene – »soll der Herr Bräutigam auch einen anständigen Happen zu essen kriegen, ist's nicht so?«

Kamilla nickte zustimmend. »Ganz bescheiden natürlich – ich dachte –«

»Das lassen Sie nur meine Sorge sein, Fräulein Prätorius. Wann soll denn gegessen werden?«

»Zwischen acht und halb neun, liebe Lene – wenn Sie das einrichten könnten. Sie müssen sich dann aber auch mit uns zu Tisch setzen, sonst kann ich Lorenz nicht bitten, bei mir zu speisen.«

Die Kleine zierte sich nicht überflüssig. Sie hatte schon an manchem Herrentisch gesessen. »Wohl, wohl, wenn Ihnen ein Gefallen damit geschieht.«

»Danke schön, ein sehr großer. Ja, und dann noch etwas, liebste Lene, wenn Sie mit dem Papa noch zusammentreffen sollten, bitte, sprechen Sie von Lorenz Buchberg nicht als Bräutigam oder Schwiegersohn. Der Papa ist dann gleich so verstimmt und heftig. Er mag noch immer nichts von einer offiziellen Verlobung hören«, setzte Kamilla gepreßt hinzu.

Die Petersen bewegte verständnisvoll den Kopf. Obwohl sie für Mangold Prätorius nicht allzuviel übrig hatte, vermochte sie ihm in diesem Punkte nicht ganz unrecht zu geben. Nichts zu nichts gibt wieder nur nichts, und in ihrem praktischen Sinne wünschte sie ihrem Liebling vor allem ein sorgenfreies Leben und kein Dasein verdoppelter Sorge, denn den Vater würde Kamilla in der Ehe schwerlich los werden. Im übrigen versicherte sie dem jungen Mädchen, daß sie mit Herrn Prätorius sehr feierlich nur von Herrn Buchberg sprechen werde. Dabei nahm sie einen kleinen schwarzen Schulterkragen um, den sie trotz der noch immer andauernden großen Wärme über dem braunen, weiß getupften Merinokleide trug.

Während sie sich von Kamilla verabschiedete, um noch ein paar Einkäufe für den Abendtisch zu machen, wurden in der Grauen Gasse dicht neben den dicken Eisenstäben vor den Küchenfenstern rasche, leichte Schritte laut.

In Kamillas ernsten Augen leuchtete die Freude auf. »Schnell, Lene, lassen Sie Herrn Buchberg herein, aber bitten Sie ihn gleich in den Garten, dort hab' ich den Tisch schon für uns drei gedeckt.«

Der Garten war ein rings von niederm Gemäuer umgebenes Viereck in klösterlichem Stil. Er war jahrzehntelang vernachlässigt, ja, verwüstet gewesen, und erst Kamillas Mutter hatte ihm in den zehn Jahren ihrer Ehe wieder Pflege und liebevolle Sorgfalt zuteil werden lassen.

Kamillas früheste und liebste Kindheitserinnerungen knüpften sich an diesen Garten, in dem die Mutter sie auf dem Schoß gehalten und ihr Märchen erzählt hatte und wieder und immer wieder von den Nonnen, die im Grauen Kloster am grauen See gehaust und von Jugend an ihr ganzes Leben dem Dienst des Herrn geweiht hatten. Später hatte Kamilla aus dem dichten Efeugewinde, das die Mauer überspann, Kränze flechten dürfen und noch später war sie der Mutter beim Gießen der Beete oder beim Auspflücken trockener Blätter und Zweige behilflich gewesen. Was die Mutter unvollendet gelassen, hatte Kamilla fortgeführt. So eng und klein der Raum war, so wenig Sonne ihm vergönnt war, wer ihn jetzt, zumal an einem warmen Frühlingsabend wie dem heutigen, betrat, mußte seine Freude daran haben.

Mit murmelndem Geplätscher durchrauschte seine klösterliche Stille ein in Stein gefaßter Quell, der sich in ein rundes, tiefes Becken mit breitem Steinrand ergoß. Auf dem kleinen, klaren Wasserspiegel wiegten sich die blanken Blätter und die noch festgeschlossenen Knospen der Wasserrosen an ihren langen, schlauchartigen Stielen. Aber das Wasserbecken hinab hingen die noch lichtgrünen Zweige einer köstlichen Hängeesche. Rings unter den efeuumzogenen Mauern blühten, in schmalen Rabatten sauber eingehegt, etwas blaßfarbene Frühlingsblumen, die einen feinen, süßen Duft entsandten. In dem östlichsten Winkel des Dreiecks stand sogar ein kleiner Kirschbaum in Blüte, unter den Kamilla das schmale gedeckte Tischchen und drei Stühle geschoben hatte.

Ein paar aus Baumstämmen roh zusammengefügte Sitze standen versteckt unter der Hängeesche am Wasserbecken. Hier war an warmen Tagen Kamillas Lieblingsplatz. Bei kühlem Wetter hatte Mangold Prätorius seiner blassen, schmalwangigen Tochter den Aufenthalt in dem kleinen sonnenlosen Geviert aufs strengste verboten.

Während Kamilla die Petersen aus der Küche geschickt hatte, damit sie Lorenz Buchberg ins Haus lasse, war sie selbst auf dem schnellsten Wege über den Hof und durch die kleine Klostergartenpforte, zu der sie den Schlüssel stets in der Tasche trug, noch vor dem Geliebten in den Garten gelangt. Einen Augenblick saß sie unter der Esche nieder, ehe Buchberg vom Hause her eintreten konnte. Sie war jetzt in den warmen Tagen öfters leicht ermüdet und gliederschwer. Vielleicht kam die Müdigkeit auch von dem angestrengten Denken her, mit dem sie sich den Kopf zerbrach über alles, was nun wohl kommen möge, wenn der Herr aus Berlin das alte Haus ihrer Voreltern wirklich kaufen sollte, oder von der geheimen Angst, die ihr von Zeit zu Zeit die Kehle zusammenpreßte bei dem Gedanken, fort zu müssen aus der Grauen Gasse, in eine unbekannte Zukunft, in der kein altes dickmaueriges Heimathaus und kein Lorenz Buchberg war.

Oben vom Hause her knarrte die alte Treppe, die zu dem Garten herunterführte. Da sprang sie auf. Leicht und elastisch, mit einem freudigen Leuchten im Gesicht, lief Buchberg die Stufen herunter und her bis zu ihr, die hart am Rand des Beckens stehengeblieben war. Er ergriff sie mit beiden Händen und drehte sich rasch und lustig mit ihr im Kreise. »Milla,« rief er, »Milla, ich bin der Glücklichste der Sterblichen.«

Und ohne auf ihre stumme, verwunderte Augenfrage Antwort zu geben, schloß er sie in den Arm und küßte sie, daß ihr die heiße Glut in die Wangen stieg.

Ein wenig befangen, machte sich Kamilla von Buchberg los. »Du bist ja ganz toll, Lorenz, was hat's denn gegeben?«

Er faßte sie um den Nacken und küßte sie zwischen Ohrläppchen und braunem Lockengekraus auf den blendend weißen Hals. »Bin ich auch, Milla, ganz und gar toll.« Er wirbelte sie noch einmal im Kreise herum. »In zwei Wochen bin ich ein freier Mann, dann ade für immer Fronarbeit und Musterzeichnerei, Fabrikstunden und Kulidienst, Gewerbe und mechanische Druckerei. Ein freier Mann und bald ein freier Künstler. Milla, ach Milla!« – In überquellender Freude preßte er ihre Hände wie in einem Schraubstock zusammen. Sein Atem kam und ging wie ein Stöhnen aus übervoller Brust.

Kamilla hatte halb entzückt, halb befremdet und mit einem leise wehmütigen Gefühl, das sie nicht aufkommen lassen wollte, auf Buchberg gehört. »So hast du's erreicht, Lorenz, so schnell und für so bald! Gott sei Dank für dich!«

Sie lehnte sich einen Augenblick, wie erschöpft von einer unsichtbaren Anstrengung, an seine Schulter. Dann zog er ihren Arm durch den seinen, und langsam in dem kleinen Geviert auf und ab wandernd, erzählte er der Geliebten, wie großherzig man seinen Wünschen entgegengekommen war.

Fast wörtlich gab er in seiner muntern leichten Art die Unterredung mit Sadus wieder; nur daß er dem Geschäftsleiter ihr Bild überlassen hatte, das er bisher nicht einmal ihr selbst gezeigt, verschwieg er ihr. Er fühlte instinktiv, daß es gerade jetzt, wo das Scheiden so nahe bevorstand, Kamilla verletzen müsse, daß er sich so ohne weiteres von ihrem Bilde getrennt habe, öfters schon hatte die feine Seele des Mädchens um Dinge gebebt und gezittert, die ihm, ehe er sie ausgesprochen und ihre Wirkung auf sie erprobt hatte, harmlos und selbstverständlich erschienen waren. Jetzt in den letzten Tagen vor der langen Trennung wollte er auf der Hut sein, ihr ganz gewiß nicht wehe tun. Ihr blieb für die nächste Zukunft ja der weitaus schwerere Teil: das tatenlose Warten auf ihn in dem alten, grauen, einförmigen Hause, während ihn die Arbeit und das bunte Leben rief.

Langsam im Umherwandern waren sie auf den beiden Baumsesseln unter der Esche niedergesunken. Wundervoll frisch stieg die Wasserkühle zu ihnen auf. Fast dunkelte es schon unter dem hängenden Laubgewirr. Kamilla atmete auf. Halb abgewendet von ihm saß sie da. Das dichte, dunkelnde Gezweig versteckte sie vor seinen Blicken. Sie brauchte nicht mehr zu lächeln über sein Glück, der Träne nicht zu wehren, die langsam und schwer in ihren Augen aufgestiegen war.

Ohne auf ihr plötzliches Schweigen zu achten, erzählte Lorenz fort von seinen Zukunftsplänen. Nach München wollte er gehen und dort zu einem der ersten Meister in die Schule. Ganz ausleben wollte er sich ein paar Jahre und dann als fertiger Mann und Künstler vor ihren Vater treten. Dann, wenn er wieder in die Graue Gasse kam, würde Mangold Prätorius andere Augen zu seinem Werben machen, als er es heut zu tun beliebte.

Kamilla hatte sich wieder zu ihm gewandt, nachdem sie rasch mit der äußern Fingerfläche über die Augen gefahren war. Mit wehmütigem Lächeln meinte sie: »Wer weiß, ob du uns dann noch in der Grauen Gasse findest, Lorenz. Papa hat Herrn Schellbach zum Sonntag hergeladen. Kommt der Kauf zustande, so heißt es, eine andere Stätte suchen.«

Buchberg beugte sich durch die Zweige zu ihr hinüber und fuhr mit der Hand liebkosend über ihr weiches, köstliches Haar. »Es geht dir nahe, Kamilla, heraus zu müssen aus dem alten grauen Kasten? Ich weiß es wohl. Doch wär's ein Glück für euch, wenn dieser Schellbach ihn kaufte.«

»Gewiß wäre es das«, erwiderte Kamilla ruhig. »Vor allem muß der Vater Ruhe bekommen vor seinen Gläubigern, wenn er sich selbst auch sträubt und es im letzten Augenblick Mühe kosten wird, ihn zu überreden.«

Dabei stand sie auf und trat aus der grünen Wildnis in den noch hellen Abend hinaus. »Du wirst hungrig sein, Lorenz. Ich will gleich mal sehen, ob Lene Petersen mit ihrem Souper für uns fertig ist.«

Er sah ihr nach, wie sie zu der kleinen klösterlichen Pforte schritt. Sein Künstlerauge weidete sich an den weichen Linien der schlanken, biegsamen Gestalt, an der köstlichen Haarfülle, die ihr in dem feinen Nacken lag, an der vornehmen Bildung des feinen Köpfchens.

Ein leiser Seufzer stahl sich über seine Lippen. Aber es lag nichts Sehnendes, Begehrendes in diesem Seufzer, der eher einem Aufseufzen der Befreiung glich. »Frei!« das war der Gedanke, der ihn ganz erfüllte. Frei sein auch von dem Weibe, das er liebte. Ganz seiner Kunst und sich selbst leben; heraus aus allem, was ihn hier beengt und bedrückt hatte. Ein neuer, ein ganzer Mensch!

Er reckte die Arme ein wenig, dann schlang er sie im Rücken ineinander, und langsamen Schrittes in dem kleinen klösterlichen Garten auf und nieder gehend, träumte er eine Zukunft, in der nur Raum für seine ehrgeizigen Wünsche war. – –

Schellbach hatte in einem zusagenden Telegramm die Aufforderung Mangold Prätorius' angenommen, die Bauten und das in Frage stehende Gelände am Sonntag einer Besichtigung zu unterziehen. Mit dem Berliner Einuhrzug wollte er eintreffen.

Kamilla hatte ihrem Vater zugeredet, den ortsunkundigen Gast am Bahnhof zu empfangen, aber er hatte nichts davon wissen wollen. »Einstweilen geht mich der Kerl noch gar nichts an,« hatte er grob geantwortet, »sehr fraglich, ob ich mich überhaupt zu dem Geschäft entschließe.«

Dabei war's geblieben. Auch um die Anordnung des Gabelfrühstücks hatte er sich nicht weiter gekümmert, nachdem er von Kamilla erfahren, daß Lene Petersen die Sache in die Hand genommen habe. Er konnte die ›humpelige alte Jungfer‹ zwar persönlich nicht ausstehen, nachdem sie vor Jahren die Frechheit gehabt, ihm wegen seiner Vernachlässigung Kamillas gehörig die Meinung zu sagen, aber auf ihre Kochkunst und sonstige einschlägige Fähigkeiten verließ er sich durchaus. Sie würden im ganzen sechs Personen bei Tische sein, außer dem Hausherrn, Kamilla und dem Berliner Gast, Lorenz Buchberg, die alte Steuerrätin von Koppe, eine ganz entfernte Verwandte der Prätorius', die bei feierlichen Gelegenheiten für die Repräsentation zugezogen wurde, und Mangold Prätorius' augenblicklicher Intimus, Inspektor Drehws, der am vorigen Ersten in Groß-Dochow an die Luft gesetzt worden war. Zur Zeit lief er stellenlos im Städtchen umher und tat das Seine dazu, Mangold Prätorius in seinen verkehrten Anschauungen zu bestärken.

Jetzt, kurz ehe der Zug einlaufen mußte, der Schellbach brachte, saßen die beiden mit roten Köpfen noch immer im Löwen beim Frühschoppen. Nachdem sie eine Weile über Dinge und Zustände durchaus einer Meinung gewesen waren und sich gemeinsam ihren Zorn gegen die bestehende Weltordnung von der Leber geredet hatten, waren sie wie selbstverständlich aufs neue auf die Angelegenheit des Tages zurückgekommen. Aber während Drehws sich bisher stets als der wohlmeinende Freund gezeigt, der einzig das Interesse des Mangold Prätorius im Auge hatte, kehrte der Fuchs heut im letzten Augenblick vor der Schlacht den Berechnenden, Selbstsüchtigen heraus und verlangte klipp und klar von Mangold Prätorius' Freundschaft, daß er bei einem etwaigen Abschluß dem Berliner zur Bedingung mache, ihn, Drehws, bei dem neuen Unternehmen anzustellen, und zwar mit einem langen Vertrag und hohem Gehalt.

Darüber waren sie so scharf aneinander gekommen, daß sie Tag und Stunde vergessen hatten. In Prätorius hatte sich die Herrennatur aufgebäumt. Was erlaubte sich dieser kleine Kuli, dem er seine Freundschaft und sein Vertrauen geschenkt? Ihm Vorschriften machen, Bedingungen stellen! Ihm, Mangold Prätorius! War er denn ganz und gar toll geworden? Wenn einer auf dem Grund und Boden bliebe, der seit Jahrhunderten den Prätorius gehörte, so könnte doch höchstens er selbst es sein. Noch war er Herr und nicht hörig, noch diktierte er und kein anderer, und wegen der lumpigen dreihundert Mark, die Drehws ihm gepumpt, hatte er noch lange kein Recht, das Maul aufzureißen.

Gerade als der freundschaftliche Streit diesen Höhepunkt erreicht hatte, kam Buchberg auf seinem Wege zur Grauen Gasse zum Löwen heruntergeschritten. Er trat an das offene Fenster, an dem die Kampfhähne allein in der um diese Zeit gänzlich verödeten Weinstube saßen.

Einen Augenblick sah und hörte er ergötzt dem Streit der beiden Hitzköpfe zu, dann trat er hinter dem halb aufgesprungenen Fensterladen hervor, der ihn gedeckt hatte, und legte über die niedere Brüstung herüber seinem Schwiegervater in spe die Hand auf den Arm. »Meine Herren, möchten Sie nicht Ihre freundschaftliche Unterhaltung auf kurze Zeit wenigstens unterbrechen und zu Tisch kommen«, sagte Lorenz Buchberg liebenswürdig, ohne auf die zornige Bewegung zu achten, mit der Prätorius seine Hand abgeschüttelt hatte. »Die Frau Steuerrätin von Koppe ist schon vor einer Viertelstunde durch die Anlagen in die Graue Gasse gegangen, und der Berliner Zug muß jeden Augenblick da sein.«

Drehws war sofort aufgesprungen, hatte seine modern gebundene, vom billigsten Stoff hergestellte Krawatte zurechtgezupft, die Rockschöße glatt gestrichen und stand zum Fortgehen bereit da. Langsam und schwerfällig erhob sich Prätorius, einen hörbaren Fluch zwischen den Zähnen zerbeißend. Er hätte in diesem Augenblick viel darum gegeben, den Brief an den Berliner nicht geschrieben zu haben, wenigstens für den Augenblick einer Entscheidung überhoben zu sein, die ihm wie ein Alp auf der Brust lag, alles was sich darum und daran schloß, mit einer raschen Handbewegung fortwischen zu können.

Zum Überfluß kam auch noch der Kellner, von dem lauten Sprechen aus seinem Mittagsschlaf aufgeschreckt, und mahnte an die Zahlung. Mit ärgerlicher Verlegenheit kramte Prätorius, der den Inspektor zum Frühschoppen eingeladen hatte, in den Taschen. Aber ehe er noch mit seinen ergebnislosen Forschungen zu Ende war, hatte Buchberg rasch und liebenswürdig die Zeche beglichen. Gerade als sie aus dem Löwen auf die Straße traten, fuhr oben der Berliner Zug mit lautem, gellendem Pfeifen ein. Rasch und schweigsam schritten die drei in die Graue Gasse hinunter.

In dem kleinen, dürftig ausgestatteten Vorraum zu dem Eßzimmer saß Kamilla nun schon seit einer Viertelstunde mit der Steuerrätin von Koppe, die sie ›Frau Tante‹ und Sie nannte, während die alte Dame ›Millachen‹ sagte, in fortwährend stockendem Gespräch.

Immer wieder sah Kamilla unruhig nach der Tür von der Treppe her. Wo blieb Lorenz? Wo blieb der Vater? Warum ließ man sie so allein? Jeden Augenblick konnte der Fremde eintreffen, und hier saß sie angenagelt bei der alten Dame und mußte ihr höflich Rede stehen und wußte nicht einmal, ob drinnen, wo das Aushilfsmädchen laut mit den Tellern klapperte, endlich alles in Ordnung sei.

Lene Petersen hatte sich zu Kamillas Verzweiflung seit einer Stunde nicht vom Herde fortgerührt. Sie war heut wie versessen auf das Kochen. Mein Gott, wenn nur der Tisch wirklich in Ordnung war! Sie war das Gesellschaftgeben so wenig gewöhnt und hatte sich auch im Punkt der Tafel gänzlich auf Lene verlassen. Wenn nur erst jemand käme, daß sie sich auf einen Augenblick von der alten Dame losmachen und dem Mädchen da drinnen auf die Finger passen könnte!

Frau von Koppe hatte schon dreimal gefragt, ob der Herr, der in Geschäften aus Berlin komme, verheiratet oder Junggeselle, alt oder jung sei, ohne von Milla Prätorius eine Antwort erhalten zu können. Endlich gab sie es resigniert auf, zog das altertümlich gefaßte Lorgnon aus dem Pompadour und beäugte das kahle Zimmer mit »ja, ja« und »hm, hm«.

In demselben Augenblick hörte Kamilla draußen Schritte und Sprechen. Ohne besondere Entschuldigung sprang sie auf, lief zur Tür und riß sie auf: Gott sei Dank, der Papa und Lorenz. Den dritten im Bunde hätte sie sich gern geschenkt. Ihr war dieser Inspektor mit seiner geschwätzigen Aufdringlichkeit schon in den wenigen Tagen seiner Anwesenheit gründlich zuwider geworden. »Papa!« rief sie, »Tante von Koppe wartet schon seit einer halben Stunde auf dich.«

Dann drückte sie Lorenz verstohlen die Hand, nickte ihm zärtlich zu und ging dann eilends ins Eßzimmer.

Eine Viertelstunde später – Milla setzte gerade den Blumenstrauß, den Frau Buchberg heute morgen aus ihrem Garten geschickt hatte, in die Mitte der Tafel – meldete der kleine, aus der Fabrik hergeliehene Ausläufer Herrn Ingenieur Schellbach aus Berlin. Alles blickte gespannt, wenn auch mit sehr unterschiedlichen Empfindungen, auf die Tür, die der kleine, unbeholfene Diener weit offen gelassen hatte.

Der Eintretende schien nichts von der Spannung zu bemerken oder bemerken zu wollen, die seine Ankunft erregte. Da keiner der drei anwesenden Herren sich als Herr des Hauses bemerkbar machte, ging Schellbach mit weltmännischer Höflichkeit auf die alte Dame zu, die steif auf der Kante des schmalen, harten Sofas saß und ihn scharf mit ihrer Lorgnette musterte.

Erst nachdem er sich vorgestellt und von der Steuerrätin einen altmodisch weitschweifigen Willkomm entgegengenommen hatte, trat Prätorius aus dem Winkel hervor, von dem aus er den ›Eindringling‹ scharf beobachtet hatte. Zwischen den dichten Brauen stand ihm eine schwere, finstere Falte. Langsam und schwerfällig schritt er auf den Fremden zu. Stoßweis und abgerungen nur kamen ihm die Worte zwischen den Zähnen hervor. Der Ingenieur verneigte sich verbindlich vor dem Hausherrn. Da ihm keine Hand geboten wurde, hatte er die seine, schon erhobene, wieder sinken lassen.

Prätorius stellte kurz und knapp die übrigen Anwesenden vor. Dann wandte er sich mit angenommener Nachlässigkeit zu dem Ingenieur zurück. »Meine Tochter wird sofort hier sein. Wir können dann speisen. Wenn's genehm, können Sie dann gleich nach Tisch Haus und Terrain besichtigen.«

Schellbach war gerade im Begriff, seine Antwort in dieselbe knappe Form zu kleiden, als die Tür des Eßzimmers aufging und Kamilla Prätorius auf die Schwelle trat.

Ein seltener Gast in dem alten dickmauerigen Hause mit den tief in die Mauern eingelassenen Fenstern, ein Sonnenstrahl fiel durch die geöffneten Scheiben im Eßzimmer schräg über sie hin und umwob die reizende Gestalt in dem schlichten weißen Kleide mit goldigflimmerndem Schein.

Etwas Frohes stieg bei dem Anblick des anmutigen jungen Geschöpfes in des fremden Mannes stillen Augen auf. Der frostige, beinahe feindselige Empfang Mangold Prätorius', die stummen, prüfenden Blicke, die von allen Seiten auf ihn eingedrungen waren, die graue, kühle Stille in dem alten Hause der sonnenlosen Grauen Gasse hatten ihn nach der Fahrt durch den hellen, blühenden Maiensonntag seltsam frostig und beklemmend berührt. Jetzt plötzlich schien mit dem jungen Geschöpf zugleich etwas von der sonnigen, Hoffnung spendenden Frühlingswelt da draußen in das kalte, klösterliche Gemäuer gezogen zu sein.

Es war nichts Kleines, Beiläufiges oder Nebensächliches, was Schellbach hierher gebracht hatte. Wenn er das Gelände kaufte, und hier draußen, vier Stunden von Berlin, die ins Große geplante elektrische Anlage zustande kam, so schnitt solch ein neuer, ausgedehnter Betrieb tief in seine bisherigen Daseinsbedingungen ein. Er würde plötzlich nicht nur mit andern Werten zu rechnen haben, sondern an die eigene Arbeitskraft würden erneute und stark erhöhte Ansprüche gestellt werden.

Lange hatte Schellbach den Plan erwogen und geprüft, bis er ihn, seiner eigenen subtilen Gewissenhaftigkeit gegenüber, für gut und ausführbar erklärt hatte. Mit starker Freudigkeit war er dem Ruf Mangold Prätorius' gefolgt, und je mehr er sich dem Städtchen genähert hatte, um so mehr war dieses Gefühl gewachsen. Die Bodenbeschaffenheit der wasserreichen Gegend, die so ganz seinen Zwecken angepaßt war, die als gutartig bekannte Bevölkerung, die durch die Wahl ihrer Reichsboten eine gesinnungstüchtige liberale Stellung zum Reiche von je kundgetan hatte, alles erfüllte ihn mit Hoffnung und Zuversicht.

Mancherlei Stockungen in seinen rein persönlichen wie in seinem Berufsleben hoffte er mit diesem neuen Arbeitsziel zu überwinden, das ihm bei seinem Eintritt in das Haus, von dem aus es aufwachsen sollte, für Augenblicke entrückt zu sein schien, bis Kamillas Erscheinung wieder eine frohe, zuversichtliche Stimmung in ihm wachgerufen hatte.

Erst in dem Augenblick, als die junge Prätorius auf der Schwelle erschienen war, hatte Mangold Prätorius die Herrschaften ersucht, an seiner bescheidenen Tafel Platz zu nehmen. Er selbst hatte den Anfang gemacht, indem er Frau von Koppe den Arm gegeben und die alte Dame an Kamilla vorüber ins Eßzimmer geführt hatte.

Einen Augenblick hatte Lorenz Buchberg geschwankt, ob er Milla zu Tisch führen dürfe, gleich aber war er sich der Pflicht gegen den Gast des Hauses bewußt geworden. Er holte Mangolds Versäumnis nach, Kamilla und den Ingenieur miteinander bekannt zu machen, so daß es sich von selbst fügte, daß Milla Prätorius und der Fremde zusammen zu Tisch gingen und Buchberg und der Inspektor als letztes Paar folgten.

Drehws hatte es sich in den Kopf gesetzt, den Berliner für seine Pläne zu gewinnen. Mit allerlei Drehen und Wenden war es ihm schließlich auch gelungen, sich den Platz neben dem Ingenieur zu ergattern, der eigentlich Frau von Koppe zugedacht gewesen war.

Auf der andern Seite des Tisches, dem Ingenieur gerade gegenüber, hatte Buchberg seinen Platz gefunden. Da er heute auf die Nachbarschaft Millas verzichten mußte, war er mit dieser Anordnung sehr zufrieden, die ihm gestattete, den Kopf Schellbachs zu studieren, der sein Künstlerauge vom ersten Augenblick an gefesselt und beschäftigt hatte. Es war ein merkwürdig kleiner, außerordentlich fein geformter Kopf mit vornehm geschnittenen Zügen. Der ursprünglich dunkle, zugespitzte, schon ein wenig angegraute Bart, die gerade, feine Nase gaben dem Gesicht auf den ersten Blick einen gallischen Typ, zu dem die blaugrauen Augen, in Form, Farbe und Ausdruck durchaus germanisch, einen feinen und interessanten Gegensatz bildeten.

Nach Lorenz Buchbergs Schätzung mußte der Fremde eben um den Anfang der Vierzig stehen. Genau hätte sich das Alter auch für einen gewiegten Physiognomiker nicht feststellen lassen, denn mit dem heitern oder ernstern Ausdruck des Mannes schienen die Jahre, die über ihn hingegangen waren, sich zu mindern oder zu mehren. In jedem Fall deutete das Antlitz trotz seiner vornehm gesinnten Güte, seiner ruhigen Intelligenz in seinem Gesamteindruck darauf hin, daß dem Fremden das Leben nicht immer leicht gewesen war, daß der Mann, der zum ersten Male in dem grauen Hause in der Grauen Gasse saß, Kampf und Enttäuschungen hinter sich hatte und in ein Stadium gereifter Lebensanschauung getreten war.

Die Unterhaltung, die anfangs stockte, wurde nach und nach lebhafter und allgemeiner. Lene Petersens vortrefflich zubereitete Speisen, der gute Bordeaux und der goldklare Rheinwein mit der feinduftigen Blume taten ihre Schuldigkeit.

Gegen Ende des Mahles machte Mangold Prätorius, der von allen Anwesenden der schweigsamste geblieben war, eine Bewegung, als ob er sich erheben, eine Ansprache halten wollte. Kamilla, die ihren Vater nicht aus den Augen gelassen hatte, warf Buchberg einen bittenden Blick zu, der ihm bedeuten sollte, den Vater zurückzuhalten. Mangold Prätorius' Gesicht war immer röter geworden. Übermäßig hatte er dem Weine zugesprochen, was sollte daraus werden, wenn er jetzt eine Ansprache hielt, einen Trinkspruch ausbrachte?

Lorenz hatte Kamilla sofort verstanden. Rasch beugte er sich über die Tischecke, die zwischen ihm und dem Hausherrn lag, und redete Prätorius leise und eindringlich zu, von seinem Vorhaben abzustehen. Im Gefühl seiner augenblicklichen Untauglichkeit setzte Mangold sich wirklich nieder, nicht ohne eine halblaute grobzynische Bemerkung, die indes von Drehws' scharfer und lauter Stimme übertönt wurde, mit der er Schellbach zum so und sovielten Male fragte, ob es nicht ein grandioser Gedanke von ihm sei, sich in den Dienst der neuen Gründung stellen zu wollen, der er als »Bodenständiger« – er gebrauchte mit Nachdruck dies moderne Wort, das er irgendwo aufgeschnappt halte – von eminentem Nutzen sein würde.

Schellbach hatte nur mit halbem Ohr auf den Zudringlichen gehört. Er hatte sich, nachdem der Inspektor ihn den ganzen Mittag über Gebühr in Anspruch genommen hatte, Kamilla zugewandt, deren rascher Blickwechsel und seine Bedeutung ihm nicht entgangen war. »Ihr Herr Vater wollte uns allem Anscheine nach mit einer Ansprache überraschen, gnädiges Fräulein. Ist Ihnen das nicht recht?«

Kamilla schüttelte kaum merklich mit einer ihrer leisen, stillen Bewegungen den Kopf. »Der Papa ist so aufgeregt – ich dachte, es sei besser –«

»Sollte meine Anwesenheit Grund zu dieser Aufregung gegeben haben?«

Kamilla sah dem Fremden einen Augenblick aufmerksam ins Gesicht, als ob sie fragen wollte: Darf man ehrlich gegen dich sein? Darf man dir vertrauen? Dann sagte sie halblaut: »Es könnte wohl sein, Herr Ingenieur. Natürlich ganz indirekt. Sich von einem so alten Besitztum zu trennen, das seit Hunderten von Jahren in der Familie ist –«

Er bewegte begreifend den Kopf. »Und Sie, liebes Fräulein, würde es auch Ihnen schwer fallen, dies alte graue Haus verlassen zu müssen, das so wenig zu Ihrer Jugend stimmt?«

Kamilla hatte, während Schellbach sprach, einen verstohlenen Blick zu dem Geliebten hinübergeworfen, der noch immer besänftigend auf den Vater einredete. Einen frohen Herzschlag lang waren das graue Haus und die Graue Gasse beim Anblick der geliebten Gestalt versunken. Was fragte sie nach allem andern, wenn sie bei ihm war? Im nächsten Augenblick aber stieg auch schon der Gedanke an die nahe Trennung von ihm auf, das beklemmende Bewußtsein, jahrelang auf ihn warten zu müssen, und aufs neue bangte ihr vor dem Gedanken, die Stätte verlassen zu sollen, mit der ihre Jugend, ihre Liebe so eng verwachsen waren. Einen Augenblick überwältigte sie diese Empfindung so stark, daß sie nur stumm den Kopf bewegen konnte.

Schellbach sah ihr mitleidig in das blaß gewordene Gesicht. »Also auch Sie, liebes Fräulein! Da sollte ich wohl besser mit dem nächsten Zug nach Berlin zurückfahren?«

Es war keine bloße Redensart, die er da halb im Gewande einer Scherzfrage äußerte. Das traurige Gesicht des Mädchens hatte es ihm wirklich angetan. Frauen Leid zu bereiten, lag nicht in der Natur des Mannes, und diesem jungen Geschöpf gegenüber, das ihm vom ersten Sehen ab eine tiefe Sympathie eingeflößt hatte, wäre es ihm doppelt schwer geworden.

Kamilla hatte sich aufgerafft. Sie empfand es plötzlich als ein schweres Unrecht, in dieser gewichtigen Sache etwa mit Gefühlen diese oder jene Entscheidung beeinflussen zu wollen. Lebhafter als bisher wandte sie sich zu Schellbach zurück. »O nein,« sagte sie und zwang sich zu einem Lächeln, das nach und nach natürlicher wurde, »auf unsre Gefühle dürfen Sie nicht die geringste Rücksicht nehmen. Ich glaube gewiß, wenn er sich auch jetzt noch sperrt und sträubt, daß es ein großes Glück für den Papa wäre, wenn Sie Gefallen an dem alten Hause für Ihre Zwecke fänden.«

»Aber für Sie, liebes Fräulein –?« Er sagte es zweifelnd, tastend und dabei mit so warmer Teilnahme, daß sie einen Augenblick nicht recht wußte, was sie aus dieser Frage machen sollte.

Dann sagte sie eifrig: »Da ich Papas Leben teile, wenn die Trennung von dem alten Hause einmal überwunden ist, ganz gewiß auch für mich.«

Schellbach lächelte über ihren Eifer. »Nun, daß Sie des Papas Leben teilen, wird kaum noch von langer Dauer sein – ein junges Mädchen –« er verschluckte das bewundernde Beiwort, das er gern hinzugefügt hätte – »hat zumeist eine andere Zukunft vor sich, als ihr Leben mit dem Vater zu teilen.«

Kamilla schüttelte lebhaft abwehrend den Kopf, eine Bewegung, bei der ein leises Rot in ihrem blassen Gesicht aufstieg.

»Nun,« meinte er gutmütig, »heute ist nicht morgen. So ein bißchen kenne ich mich auch auf die jungen Mädchen aus. Meine Leni ist erst zwölf Jahre alt, aber wenn sie gereizt wird, spricht sie heut schon wie eine Alte von Mann und Kindern. Wie mir mein Junge hinterbracht hat, haben die Gören in der Schule einen Klub gegründet, den sogenannten Heiratsklub, der sich – wenn es erlaubt ist, sich so drastisch auszudrücken – mit der ganzen naiven Frechheit der Großstadtkinder gegen die Frauenbewegung richtet, das heißt im Sinne der Gören, gegen die alte Jungfer.«

Milla mußte lachen. »Was so Kinder alles ausdenken!«

»Waren Sie auch ein so kleiner Nichtsnutz? Lange kann's noch gar nicht her sein –«

»O, im Vergleich zu Ihrer Tochter, Herr Schellbach! Ich könnte ja beinah ihre Mutter sein.«

Schellbach, der eine scherzhafte Bemerkung auf der Zunge gehabt hatte, unterbrach sich plötzlich. Eine merkwürdige Bewegung lief über sein Gesicht.

»Haben Sie noch mehr Kinder als diese zwei, Herr Ingenieur?«

Er stockte noch einen kurzen Augenblick. Dann sagte er: »Nein, nur diese beiden – Leni und meinen Walter, der um zwei Jahre älter ist. Ein begabtes Kind, aber ein kleiner Traumulus, der sich nicht leicht mit dem Leben abfinden wird –« Es lag eine große Zärtlichkeit in der Stimme des Mannes, als er von seinem Jungen sprach.

Kamilla hätte ihm gern noch eine Weile zugehört, aber der Vater und der kaltgestellte Drehws waren plötzlich sehr unruhig geworden, und da der Nachtisch verzehrt war, gab es keinen Grund, länger sitzen zu bleiben. Milla warf ihrem Vater einen fragenden Blick zu, allein Mangold Prätorius hatte sich schon mit Frau von Koppe verständigt, die sich würdevoll und mit kleinstädtischer Umständlichkeit erhob.

Man wünschte sich mehr oder weniger wortreich allerseits gesegnete Mahlzeit und schritt dann, mit Ausnahme der Steuerrätin, die in Kamillas Zimmer ihr Nachmittagsschläfchen halten wollte, in den kleinen Klostergarten hinab, wo der Kaffee getrunken werden sollte.

Lene Petersen hatte nicht nur die Zubereitung, sondern auch das Servieren des Kaffees übernommen. Schellbach saß mit den beiden Herren an dem schmalen, länglichen Tisch unter dem Kirschbaum. Er hatte sich eine Zigarette angezündet, während die Herren starke, dicke Importen rauchten, die der Inspektor mitgebracht hatte. Die Unterhaltung schien vorerst einen friedlichen Charakter zu haben.

Nichts und niemand störte Lorenz und Kamilla, die sich endlich zusammengefunden hatten. Zunächst gingen sie ein paarmal unauffällig plaudernd in dem kleinen Viereck auf und nieder. Dann, bei einer schicklichen Gelegenheit, verschwanden sie unter der Hängeesche und ließen sich Hand in Hand auf den Baumstammsesseln nieder.

In ihr warmes Flüstern hinein rief plötzlich Mangold Prätorius laut und heischend nach seiner Tochter.

Kamilla sprang auf. Ungeduldig trat Lorenz mit dem Fuß auf den Boden. »Unausstehlich«, brummte er. »Der letzte Sonntag und keine Minute für sich.«

Er hielt das Mädchen, das rasch an ihm vorüberschreiten wollte, am Zipfel ihres weißen Kleides fest. »Hör' mal, Milla,« flüsterte er heiß, »ich muß dich heut dringend noch sprechen, aber allein – heut abend so gegen neun Uhr unten am See bei den Birken? Sag ja, Milla.«

Das Mädchen schüttelte erschreckt den Kopf. »Nein, nein«, flüsterte sie ängstlich. »Wir haben nie –«

»Weil wir bisher dumm genug dazu waren, uns um ein heimliches Stelldichein zu bringen, ist das ein Grund, auf alle Zeiten darauf zu verzichten?«

Mangold Prätorius rief zum zweiten Male. – »Ich muß zum Vater, Lorenz. Laß mich los!«

»Nicht, bis du nicht ja gesagt, Liebes. Wir sind keine kleinen Kinder. Es ist unser gutes Recht. Der letzte freie Tag, Milla – .« Er hielt die Fortstrebende fester noch am Kleid zurück.

»Kommst du?«

»Ja, ja«, flüsterte sie erregt und angstvoll, und sich mit der Hand aufgeregt über Haar und Stirn fahrend, schritt sie unter der Hängeesche hervor.

Mangold Prätorius, der sich anfangs im Freien etwas beruhigt zu haben schien, hatte inzwischen wieder ein sehr rotes Gesicht bekommen. »Wo bleibt der Kognak?« schrie er seine Tochter an. »Was bildet sich die Petersen denn ein, Kaffee ohne Kognak anzubieten. Wenn die Person nicht imstande ist, anständig zu servieren, mußt du dich eben selbst um die Dinge kümmern.«

Kamilla war abwechselnd rot und blaß geworden. Eine seltene Empfindung, so etwas wie Trotz, stieg in ihr auf. Wie kam der Vater dazu, sie vor dem Fremden zu maßregeln wie ein kleines Kind!

Ohne daß er sich über seine rasche Bewegung Rechenschaft abgelegt hatte, war Schellbach neben das Mädchen getreten. »Trösten Sie sich, liebes Fräulein. Ich nehme niemals Kognak –.« Und mit starkem Nachdruck fuhr er fort: »Ich denke, meine Herren, wir verzichten nach dem opulenten Mahl jetzt auf alles weitere Pokulieren und begeben uns an die Arbeit. Ich möchte ohnedies mit dem Siebenuhrzug nach Berlin zurück.«

Der Inspektor war sofort aufgesprungen und mit einer katzenartigen, geschmeidigen Beweglichkeit neben Schellbach getreten, ihm seine Bereitwilligkeit zu versichern.

Langsam und sichtlich unwillig erhob sich Prätorius. Auch Lorenz war unter der Hängeesche wieder hervorgekommen. Alle vier Herren schickten sich an, das Haus und das Gelände bis zum See hinunter einer genauen Besichtigung zu unterziehen.

Schellbach war der letzte, der sich von Kamilla verabschiedete; er blieb so lange neben ihr stehen, bis die andern durch die kleine Klosterpforte in den Hof verschwunden waren. Dann sagte er ein wenig zögernd und schwerfälliger, als es den Tag über seine Art gewesen war: »Liebes Fräulein, damit Sie sich nicht vor der Zeit sorgen und betrüben, vielleicht ließe sich's machen, daß von dem großen, alten Bau ein Teil erhalten bliebe. Welcher würde Ihnen der liebste sein?«

Ungläubig sah Kamilla zu dem Fremden hin. Rücksichtnahme auf ihre Wünsche, noch dazu auf still, heiße, unausgesprochene, war etwas so Neues in ihrem Leben, daß sie nur zaghaft und langsam faßte, was man ihr bot. »O,« sagte sie – die Stimme stockte ihr fast vor warmer, erregter Dankbarkeit –, »wenn das möglich wäre. Wenn der Vater die Last los würde und wir dennoch –! Wie dankbar wäre ich Ihnen –«

Schellbach wehrte lächelnd ab. »Danken Sie mir erst, wenn wirklich nach allen Richtungen hin etwas erreicht ist. Und was den Teil des Baues betrifft, der eventuell zu erhalten wäre, so meine ich, es liegt Ihnen wohl am meisten an den Räumen um das Klostergärtchen herum, das allerdings an zwei Seiten freigelegt werden müßte. Alles Nähere, liebes Fräulein, wenn ich, wie ich zuversichtlich hoffe, heute in vierzehn Tagen wieder hier bin.«

In stummer Freude nahm sie die Hand, die er ihr reichte. So ganz hingenommen war sie von der Möglichkeit, daß der Vater vom Ruin errettet werden könne, ohne den Fuß auf fremden Boden setzen zu müssen, daß sie den tiefen, warmen, sehnenden Blick gar nicht bemerkte, mit dem Schellbach von ihr Abschied nahm. – – –

Kurz vor sieben war Mangold Prätorius nach Hause gekommen. Er hatte die Tür zur Küche, in der seine Tochter der Petersen beim Aufräumen zur Hand ging, geräuschvoll aufgerissen und Kamilla zugerufen, daß der Berliner fort sei. Er selber wolle nur die ›schwarze Affenjacke‹ an den Nagel hängen und dann in den Löwen gehen. Es dürfte spät werden; niemand solle auf ihn warten.

Nach wenigen Minuten, zugleich mit dem Pfiff der Lokomotive, der den Abgang des Berliner Zuges ankündigte, war die Haustür laut ins Schloß gefallen, und an den Küchenfenstern vorüber verhallten Prätorius' schwere, wuchtige Tritte.

Zwei Stunden später schlich Kamilla klopfenden Herzens aus dem Hause und die Graue Gasse hinunter bis an das Seeufer hinab. Es dunkelte noch nicht ganz. Graue Dämmerung lag über dem grauen See.

Nichts rührte und regte sich. Nur ab und zu fuhr ein leiser Windhauch durch das Schilf und ließ es leise aufrauschen. Fast klang es wie ein verlorenes Seufzen. Linkerhand von den Ausläufern der Grauen Gasse standen hart am weißsandigen Ufer die Birken, bei denen Lorenz und Kamilla zusammentreffen wollten.

Langsam schritt das Mädchen an dem flachen Seeufer hin. Von Zeit zu Zeit zögerte sie und verlangsamte den Schritt. Ein paarmal auch blieb sie stehen und machte eine rasche Bewegung, als ob sie umkehren wolle. Ein Chaos von Gedanken und Empfindungen, wie Kamilla es nie zuvor gekannt, beklemmte und ängstigte sie, und je mehr sie sich hineingrübelte, um so dunkler wurde es in ihr. Gegenwart und Zukunft wirrten sich ihr durcheinander, Recht und Unrecht, das sie sonst trotz ihrer Jugend so klar, mit so sichern Instinkten unterschieden hatte, verschwommen vor ihrem getrübten Blick. Eine dunkle Gewissenspein, nach deren Grund sie vergeblich forschte, marterte sie schwer und ahnungsvoll.

Je grauer die Dämmerung in den tiefen Abend sank, um so schwerer und angstvoller ward ihr zu Sinn. Sie, die mit dieser Gegend seit ihren Kindertagen vertraut gewesen, die jeden Fußbreit Erde an dem flachen Seeufer kannte, der das rauschende Röhricht schon das Wiegenlied gesungen hatte, sie schrak bei jedem leisesten Geräusch zusammen, und die von dem Wasserspiegel allgemach aufbrauenden Nebel nahmen spukhafte Gestalt an. Bald stieg des Vaters Antlitz grimmig drohend, dann rührend flehend aus den Wasserdämpfen vor ihr auf. Wie die Nebelfetzen auseinanderflogen, schienen sie plötzlich Lorenz zu gleichen, der in wilder Flucht von ihr fort in die Nacht hinaus schwand und zerfloß, ihm nach ein anderer Nebelballen, der auf einmal stillezustehen schien, dann, wie von einer stärkeren, treibenden Luftschicht gejagt, auf sie zukam, unkenntliche Züge trug, sich um sie wirrte, bis sie ganz in graue Schleier eingehüllt schien.

Sie blieb stehen und preßte die Hand auf die Brust. Der Atem stockte ihr. Angstvoll blickte sie um sich. Gelobt sei Gott, kaum dreißig Schritt mehr von ihr unterschied sie die weißen Birkenstämme am Ufer. Und unter den Birken war er, mußte er sein, und bei ihm war alles gut, bei ihm war Friede und Glück!

Sie lief mehr, als sie ging, der Stelle zu. Ein rot glimmendes Fünkchen zeigte ihr auf einige Entfernung schon, wo Lorenz Buchberg auf sie wartete.

Die Zigarette im Munde stand er gegen einen der weißen Stämme gelehnt, ein wenig unmutig, daß sie so lange auf sich warten ließ. Daß sie am Ende überhaupt nicht kommen könne, war ihm gar nicht in den Sinn gekommen. Allzu gewiß war er ihrer Liebe, ihrer selbstlosen Hingabe an ihn. Als er ihr weißes Kleid endlich hart am Röhricht aufschimmern sah, warf er die Zigarette zu Boden und eilte auf sie zu.

»Wo steckst du denn, Milla?« fragte er ein wenig ungeduldig, sie neckend am Ohrläppchen ziehend.

Sie aber umfaßte ihn heiß und leidenschaftlich, und ihren Kopf an seine Brust drängend, flüsterte sie Worte, Bitten, Beteurungen, die er in den zwei langen Jahren ihres Brautstandes niemals von ihr gehört, die er dem sanften, seinem raschen, impulsiven Temperament oft viel zu sanften Geschöpf niemals zugetraut hätte.

»Milla!« Er nahm die leichte feine Gestalt bei den Schultern und drückte sie ein wenig von sich ab, um ihr ins Gesicht zu sehen; aber es war zu dunkel, um mehr unterscheiden zu können als den feuchten Glanz zweier Augen, die in einem Gemisch von heißer Liebe und schmerzlicher Angst zu ihm aufblickten.

»Was hast du nur, Milla?« fragte er zärtlich und ein wenig verwundert zugleich.

Sie schlang die Arme um seinen Nacken und küßte ihn auf den Mund. Tränen stürzten aus ihren Augen. »Geh nicht fort von mir, Lorenz,« flüsterte sie unter immer neu hervorbrechenden Tränen, »ich bitte dich, geh nicht fort von mir. Ich ängstige mich so, mir ist, als ob ein großes Unglück auf uns warte, wenn du gehst.«

Erschreckt machte er sich unmerklich ein wenig von ihr los. »Was hast du nur plötzlich? Sei doch kein Kind, Milla! Du hast dich mit mir gefreut, als ich dir sagte, ich sei frei gekommen da drüben, und nun?«

»Ich ängstige mich«, sagte sie schwer und kurz, und versuchte ihrer Tränen Herr zu werden.

Er nahm sie bei der Hand, und langsam unter den Birken mit ihr auf und nieder schreitend, sprach er ihr tröstend zu. »Was ist's denn, was dich plötzlich ängstigt, die Trennung? Die wäre ja doch unausbleiblich gewesen, nur daß sie ein bißchen früher gekommen ist, als wir darauf gerechnet hatten. Desto besser, um so eher kommen wir zum Ziel.«

Sie murmelte Undeutliches.

»Zwei Jahre Studium, und dann komm' ich und hol' dich.« Und leichtherzig fügte er hinzu: »Wir werden uns dann noch ein Weilchen einschränken müssen, bis ich meine ersten Bilder verkauft habe, aber was tut das.«

Er hatte den Arm um ihre Schulter gelegt und sie wieder enger an sich gezogen. Wie zuvor legte sie den Kopf an seine Brust und flüsterte: »Geh nicht fort«, nur daß sie es ohne Tränen, ernster und zielbewußter sprach.

Als er nicht antwortete, küßte sie ihn. »Geh nicht fort, ach, geh nicht fort!« Und immer enger schmiegte sie sich in seine Arme.

Da verließ auch ihn die Überlegung. Er preßte sie an sich und küßte sie heiß, zwischen seinen Küssen toll und wild auf sie einredend. So standen sie dicht aneinandergelehnt, und um sie her brauten immer dichter die Nebel vom Seespiegel aus.

Plötzlich riß Milla sich angstvoll von ihm los. »Mit dir gehen, nein. Eine Heirat so Hals über Kopf, den Vater allein lassen jetzt, wo er vielleicht bald nicht mehr das Dach über dem Kopf hat – nein – das kannst du im Ernst nicht meinen.«

Ihre rasche Bewegung von ihm fort, ihr abwehrendes, wie er es nannte, pedantisches Erwägen hatte ihn ebenso plötzlich nüchtern gemacht, wie ihre heiße, leidvolle Zärtlichkeit ihn zu dem raschen, leidenschaftlichen Entschluß gedrängt hatte, das reizende, hingebende Geschöpf gleich zu dem seinen zu machen, es mit hinaus zu nehmen in die neue, unbekannte Welt.

Einen kurzen Augenblick lang hatte seine Eitelkeit Millas Zurückweisung als schwere Kränkung empfunden, dann überwog auch bei ihm das nüchterne Erwägen. Er war Kamilla weit eher dankbar, als daß er ihr gram war, daß sie ihn nicht beim Wort nahm. Um seine Künstlerschaft, um die Laufbahn, die er ehrgeizig erträumte, wäre es vermutlich geschehen gewesen, wäre er gleich anfangs mit gebundenen Flügeln in die Fremde gegangen.

Nach dem starken Ausbruch der Erregung war es eine Weile still zwischen ihnen geblieben. Langsam hatten sie, ohne daß der Wille dazu zwischen ihnen laut geworden wäre, wie auf stumme Abmachung den Rückweg eingeschlagen.

Sie gingen nahe genug beieinander und doch urplötzlich innerlich wie weit voneinander getrennt. Kamilla ward sich dessen zuerst bewußt. Sie erschrak in die tiefste Seele hinein. Nein, das, das durfte nicht sein. Blieb auch die äußere Trennung unumgänglich, innerlich durften sie sich nicht verlieren. Wie jede feinfühlige Frau dem geliebten Manne gegenüber, war sie geneigt, die ganze Schuld auf sich zu nehmen. Sie hätte ihn nicht bitten dürfen, hier zu bleiben. Es erschien ihr jetzt selbst unfaßlich, wie sie darauf verfallen war. Sie hätte viel darum gegeben, hätte sie diese Bitte mitsamt der törichten Angst, die sie dazu getrieben, aus der Welt schaffen können. Nun, da es einmal geschehen war, mußte sie versuchen, es wieder gut, es vergessen zu machen.

Sie nahm Lorenz' schlaff herabhängende Hand und drückte sie leise. In tiefer Bewegung flüsterte sie: »Geh du und laß dir die Freude daran nicht verderben. Es war eine Torheit, ich sehe es ein. Vergib mir, Lorenz. Ich werde fortan tapfer sein.«

»Siehst du, Milla, das ist vernünftig, das hättest du gleich einsehen sollen.«

Er drückte ihre Hand ein paar Augenblicke lang und ließ sie dann aus der seinen. In wesentlich erleichtertem Ton fuhr er dann fort: »Das ist nun abgetan, laß uns von etwas anderm sprechen.«

Und er sprach davon, wie er sich am vorteilhaftesten in München einrichten könne, ob der Meister, den er im Auge hatte, ihn als Schüler annehmen würde und ob sich dem jungen Anfänger künstlerische Kreise erschließen würden.

Erst als sie in die Graue Gasse einbogen, fiel es Kamilla plötzlich ein, daß sie bis zu diesem Augenblick nicht wußte, aus welchem Grunde Lorenz heute mit so leidenschaftlicher Beharrlichkeit auf diesem heimlichen Stelldichein bestanden hatte. Sich leise an ihn schmiegend, fragte sie ihn danach.

Aber er überhörte die Frage, die sie nicht wiederholen mochte, und da sie schon in der Nähe des Prätoriusschen Hauses angekommen waren, küßte er Milla zum Abschied sanft auf die Lippen und wünschte ihr gute Nacht. Sie sprach nichts mehr und erwiderte nur ebenso leise seinen Kuß.

Dann schritt sie rasch die wenigen Schritte bis zu ihrer Haustür, während Lorenz in einiger Entfernung stehen blieb, um zu sehen, ob sie auch unangefochten ins Haus gelangte.

Erst nachdem das schwere Tor hinter ihr zugefallen war, gab er sich Antwort auf Kamillas letzte Frage: es hatte ihn geärgert, daß sie dem Fremden so viel Aufmerksamkeit geschenkt; ihre an diesem Tage besonders liebliche Schönheit hatte ihn gereizt, mit ihr allein zu sein. Das war alles gewesen. – –

* * *

 


 << zurück weiter >>