Alexander Dumas
Ange Pitou. Band 3
Alexander Dumas

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Der Vater Clouis und der Clouis-Stein, oder wie Pitou ein Taktiker wurde und sich ein stattliches Aussehen gab.

Pitou lief so ungefähr eine halbe Stunde und drang immer weiter in den wildesten und tiefsten Teil des Waldes ein.

Es stand da unter diesen hohen, drei Jahrhunderte alten Stämmen, an einem ungeheuren Felsen angelehnt und mitten in furchtbarem Gestrüppe, eine vor ungefähr vierzig Jahren erbaute Hütte, die von einem Menschen bewohnt wurde, der es in seinem eigenen Interesse verstanden hatte, sich mit einem gewissen geheimnisvollen Dunkel zu umgeben.

Halb in die Erde gegraben, halb außen aus Zweigen und unbeschlagenem Holze geflochten, empfing diese Hütte Luft und Licht nur durch ein schräges im Dache angebrachtes Loch.

Den Wohnungen der Zigeuner ziemlich ähnlich, verriet sich diese Hütte zuweilen den Blicken durch den blauen Rauch, der aus ihrem First emporströmte.

Sonst hätte, die Waldhüter, die Jäger, die Wildschützen und die Bauern der Umgegend ausgenommen, niemand erraten, daß sie einem Menschen als Aufenthaltsort diene.

Und dennoch wohnte hier seit vierzig Jahren ein ehemaliger Jagdaufseher, mit Gnadengehalt verabschiedet, dem aber der Herzog von Orleans, der Vater von Louis Philipp, die Erlaubnis gegeben hatte, im Walde zu bleiben, eine Uniform zu tragen und alle Tage auf einen Hasen oder ein Kaninchen einen Schuß zu thun.

Das Federwild und das Hochwild waren ausgenommen.

Der gute Mann war neunundsechzig Jahre alt; er hatte sich anfangs Clouis und dann bei allmählicher Zunahme des Alters Vater Clouis genannt.

Von seinem Namen hatte der ungeheure Felsen, an den seine Hütte angelehnt war, die Taufe erhalten: man nannte ihn Clouis-Stein.

Er war bei Fontenoy verwundet worden, und infolgedessen hatte man ihm das Bein abnehmen müssen. Darum hatte er, frühzeitig verabschiedet, vom Herzog von Orleans die erwähnten Privilegien erhalten.

Der Vater Clouis besuchte keine Städte und kam nur einmal alle Jahre nach Villers-Cotterêts; dies geschah, um 365 Ladungen Pulver und Blei zu kaufen.

An demselben Tag trug er zu Herrn Cornu, Hutmacher in der Rue de Soissons, 365 Bälge, zur Hälfte von Hasen, zur Hälfte von Kaninchen; wofür ihm der Hutmacher 75 Livres gab.

Und wenn wir sagen 365 Bälge, so irren wir uns nicht um einen einzigen; denn der Vater Clouis, dem das Recht auf einen Schuß im Tage erteilt worden war, hatte es so eingerichtet, daß er mit jedem Schuß einen Hasen oder ein Kaninchen erlegte.

Von dem Fleisch der Tiere lebte er, mochte er es nun essen oder verkaufen. Überdies machte der Vater Clouis einmal im Jahr eine kleine Spekulation.

Der Felsen, an den seine Hütte angelehnt war, hatte einen wie ein Dach abhängigen Platz. Diese geneigte Fläche bot in ihrer größten Ausdehnung einen Raum von ungefähr achtzehn Fuß.

Der Vater Clouis verbreitete durch die Vermittlung der guten Weiber, die ihm seine Hasen oder Kaninchen abkauften, in den umliegenden Dörfern allmählich die Ansicht: die Mädchen, die am Feiertage des heiligen Ludwig dreimal auf dem Felsen von oben bis unten rutschen, werden im Verlauf des Jahres verheiratet.

Im ersten Jahre kamen viele junge Mädchen, doch wagte nicht eines zu rutschen.

Im zweiten Jahre wagten es drei solche junge Personen, – zwei wurden im Verlaufe des Jahres verheiratet. Was die dritte betrifft, so behauptete der Vater Clouis kühn: wenn es ihr an einem Manne gefehlt, so sei es aus keinem andern Grund geschehen, als daß sie nicht mit demselben Vertrauen gerutscht, wie die andern.

Im folgenden Jahre liefen alle Mädchen der Umgegend herbei und rutschten.

Der Vater Clouis erklärte nun: es würde für so viele Mädchen auf einmal nie genug junge Männer geben; dennoch würde sich ein drittel der Rutscherinnen, und das waren die Gläubigsten, verheiraten.

Viele heirateten wirklich. Von diesem Augenblick an war der heiratliche Ruf des Clouis-Steins gegründet, und alle Jahre hatte der heilige Ludwig ein doppeltes Fest, ein Fest in der Stadt und ein Fest im Walde.

Nun verlangte der Vater Clouis ein Privilegium. Da man nicht den ganzen Tag rutschen konnte, ohne zu essen und zu trinken, so war es anfangs ein Monopol für den 25. August, Speisen und Getränke an die Rutscher und die Rutscherinnen zu verkaufen; denn es war den jungen Männern gelungen, die Mädchen zu überreden, man müsse, um die Kraft des Felsens unfehlbar zu machen, miteinander und besonders zu gleicher Zeit rutschen.

In dieser Weise lebte der Vater Clouis seit fünfunddreißig Jahren. Die Gegend behandelte ihn, wie die Araber ihre Marabuts behandeln. Er war ein Gegenstand der Legende geworden.

Was aber besonders die Jäger beschäftigte und die Jagdaufseher vor Neid bersten machte, war die erwiesene Thatsache, daß der Vater Clouis im Jahre nur 365 Schüsse that, und daß er mit diesen 365 Schüssen 183 Hasen und 182 Kaninchen erlegte.

Mehr als einmal hatten vornehme Herren von Paris, als sie, vom Herzog von Orleans auf einige Tage nach dem Schlosse eingeladen, von der Geschichte des Vaters Clouis erzählen hörten, diesem je nach ihrer Freigebigkeit einen Louisd'or oder einen Thaler in seine plumpe Hand gedrückt und das seltsame Geheimnis eines Mannes zu erforschen gesucht.

Doch der Vater Clouis hatte ihnen keine andre Erklärung zu geben gewußt, als die, daß er sich bei dem Heere daran gewöhnt, mit der mit einer Kugel geladenen Flinte auf jeden Schuß einen Mann zu töten; was er aber mit der Kugel auf einen Mann gethan, fand er noch viel leichter auszuführen mit einem Schrotschuß auf ein Kaninchen oder einen Hasen.

Und diejenigen, welche lächelten, wenn sie ihn so sprechen hörten, fragte er: Warum schießen Sie, wenn Sie nicht sicher sind, daß Sie treffen?

Aber, sagte man zu ihm, warum hat Ihnen der Herzog von Orleans, der Vater, der doch kein Filz war, nur einen einzigen Schuß für den Tag bewilligt?

Weil mehr zu viel gewesen wäre, und weil er mich wohl kannte.

Die Seltsamkeit dieses Schauspiels und diese sonderbare Theorie trugen dem alten Einsiedler, ein Jahr in das andre gerechnet, ungefähr zehn Louisd'or ein.

Da er aber ebensoviel mit seinen Kaninchenbälgen und mit dem Feiertag, den er selbst gestiftet, verdiente und alle fünf Jahre nur ein Paar Jagdstiefel, und alle zehn Jahre einen Rock kaufte, so war der Vater Clouis durchaus nicht unglücklich.

Im Gegenteil, es ging die Sage, er habe einen verborgenen Schatz, und derjenige, welcher ihn beerbe, werde kein schlechtes Geschäft machen.

Das ist die seltsame Person, die Pitou mitten in der Nacht aufsuchte, als ihm der treffliche Gedanke kam, der ihn seiner peinlichen Verlegenheit entziehen sollte.

Doch um den Vater Clouis zu treffen, durfte man nicht ungeschickt sein.

Clouis lag auf seinem Bette von Heidekraut, einem vortrefflichen, aromatischen Lager, das ihm der Wald im Monat September gab und das erst in dem darauf folgenden September erneuert werden durfte.

Es mochte etwa elf Uhr sein, das Wetter war klar und kühl.

Um zur Hütte des Vaters Clouis zu kommen, mußte man durch ein so dichtes, undurchsichtiges Gestrüppe dringen, daß dem Einsiedler jedesmal das Geräusch der Brüche einen Besuch zum voraus verkündigte.

Pitou machte viermal mehr Lärm als eine andre Person. Der Vater Clouis erhob das Haupt und schaute, denn er schlief nicht. Er war an diesem Tage in einer grimmigen Laune. Ein furchtbarer Unfall war ihm begegnet und machte ihn unzugänglich für seine freundlichsten Mitbürger.

Der Unfall war in der That furchtbar. Seine Flinte, die ihm fünfunddreißig Jahre zu Schrotschüssen gedient hatte, war ihm beim Schießen auf ein Kaninchen zersprungen. Das war der erste Fehlschuß, den er seitdem gethan.

Doch das unversehrte Kaninchen war für den Vater Clouis nicht die schlimmste Unannehmlichkeit, die ihm widerfahren. Zwei Finger seiner linken Hand waren durch die Explosion zerrissen worden. Clouis hatte seine Finger mit zerriebenen Kräutern und Blättern wieder geflickt, doch seine Flinte hatte er nicht wieder flicken können.

Um sich aber eine andre Flinte zu verschaffen, mußte der Vater Clouis einen Griff in seinen Schatz thun. Und welches Opfer er auch für ein neues Gewehr brachte, wenn er auch die ungeheure Summe von zwei Louisd'or aufwandte, wer weiß, ob dieses Gewehr auf jeden Schuß töten würde, wie das, welches so unglücklicherweise zersprungen war?

Pitou kam, wie man sieht, zu einer schlimmen Stunde.

In dem Augenblick, wo Pitou die Hand auf die Klinke der Thüre legte, ließ auch der Vater Clouis ein Knurren hören, das den Kommandanten der Nationalgarde von Haramont zurückweichen machte.

War es ein Wolf, war es eine Bache, was die Stelle des Vaters Clouis eingenommen hatte?

Pitou zögerte auch einzutreten.

He! Vater Clouis! rief er.

Was! machte der Menschenfeind.

Pitou war beruhigt, er hatte die Stimme des würdigen Einsiedlers erkannt.

Gut, Ihr seid da, sagte er.

Dann that er einen Schritt in das Innere der Hütte, machte seinen Bückling vor ihrem Eigentümer und sagte freundlich: Guten Morgen, Vater Clouis.

Wer ist da? fragte der Verwundete.

Ich, Pitou.

Wer Pitou?

Ich, Ange Pitou von Haramont, Ihr wißt?

Nun? was geht das mich an, daß Ihr Ange Pitou von Haramont seid?

Ho! ho! sprach Pitou scherzend, er ist nicht guter Laune, der Vater Clouis; ich habe ihn schlecht aufgeweckt.

Sehr schlecht aufgeweckt. Ihr habt recht.

Was muß ich denn thun?

Oh! das Beste, was Ihr thun könnt, ist, daß Ihr geht.

Ei! ohne ein wenig zu reden?

Worüber reden?

Ueber einen Dienst, den Ihr mir leisten sollt, Vater Clouis.

Ich leiste keinen Dienst umsonst.

Und ich, ich bezahle diejenigen, welche man mir leistet.

Das ist möglich, doch ich, ich kann keinen mehr leisten.

Warum nicht?

Ich schieße nichts mehr.

Wie, Ihr schießt nichts mehr? Ihr, der Ihr auf jeden Schuß tötet; das ist nicht möglich, Vater Clouis.

Geht, sage ich Euch, Ihr langweilt mich.

Höret mich an, und Ihr werdet es nicht bereuen.

Sprecht, doch macht nicht viel Worte . . . was wollt Ihr?

Ihr seid ein alter Soldat?

Weiter?

Nun! Vater Clouis, Ihr sollt mich das Exerzieren lehren.

Seid Ihr verrückt?

Nein, ich habe im Gegenteil mein ganzes Gehirn. Lehrt mich das Exerzieren, Vater Clouis, und wir werden über den Preis reden.

Ah! dieses Tier ist offenbar verrückt, sprach ungeschlacht der alte Soldat, während er sich auf seinem dürren Heidekraut aufrichtete.

Vater Clouis, ja oder nein? Lehrt mich das Exerzieren, wie man es bei der Armee thut, in zwölf Tempos, und verlangt von mir, was Euch gefällt.

Der Alte erhob sich auf ein Knie, heftete sein fahles Auge auf Pitou und fragte:

Was mir gefällt?

Ja.

Nun! was mir gefällt ist eine Flinte.

Ah! das macht sich vortrefflich, ich habe vierunddreißig Flinten.

Du hast vierunddreißig Flinten?

Und die vierunddreißigste, die ich für mich genommen, wird Euch wohl taugen. Es ist ein hübsches Sergeantengewehr mit dem Wappen des Königs in Gold auf der Schwanzschraube.

Und wie hast du dir diese Flinte verschafft? Ich hoffe, du hast sie nicht gestohlen.

Pitou erzählte ihm seine Geschichte offenherzig und redlich.

Ich begreife, sagte der alte Jagdaufseher. Ich will dich wohl das Exerzieren lehren, doch ich habe ein Übel an den Fingern. Und er erzählte seinerseits Pitou den Unfall, der ihm begegnet war.

Gut! sprach Pitou, kümmert Euch nicht mehr um Eure Flinte. Sie ist ersetzt. Ach! es handelt sich nur um Eure Finger . . . Das ist nicht wie mit den Flinten, ich habe keine vierunddreißig.

Oh! was die Finger betrifft, das ist nichts, und wenn du mir versprichst, daß die Flinte morgen hier sein wird, so komm.

Und er stand sogleich auf.

Der Mond im Zenit ergoß Ströme weißer Flammen auf die Lichtung, die sich vor dem Hause ausdehnte.

Wer in dieser Einsamkeit die zwei schwarzen Schatten auf der gräulichen Fläche hätte gestikulieren sehen, wäre nicht imstande gewesen, sich eines geheimnisvollen Schreckens zu erwehren.

Der Vater Clouis nahm seinen Flintenstumpf und zeigte ihn seufzend Pitou. Zuerst unterwies er ihn in der Haltung des Militärs.

Es war übrigens etwas Seltsames, das plötzliche Geraderichten des großen Greises, der durch die Gewohnheit, in Gebüschen zu gehen, immer gebückt war und nun, wiederbelebt durch die Erinnerung an das Regiment und den Stachel des Exerzierens, sein Haupt mit der weißen Mähne über breiten, wohlbefestigten Schultern schüttelte.

Schau wohl, sagte er zu Pitou, schau wohl! Wenn man schaut, lernt man. Wenn du wohl gesehen hast, was ich mache, versuche es mir nachzumachen, und ich werde dir meinerseits zuschauen,

Pitou versuchte es.

Ziehe deine Kniee an, nimm deine Schultern zurück, gieb deinem Kopf ein freies Spiel; mache dir einen Boden, alle Teufel! deine Füße sind breit genug hiezu.

Pitou gehorchte nach seinen besten Kräften.

Gut, sagte der Greis, du hast ein ziemlich stattliches Aussehen.

Pitou fühlte sich unendlich geschmeichelt, daß man ihm ein stattliches Aussehen zuerkannte. Er hatte nicht so viel gehofft.

In der That, wenn er schon nach einer Stunde Exerzieren ein stattliches Aussehen bekam, wie würde es nach Verlauf eines Monats sein? Er würde ein majestätisches Aussehen haben.

Er wünschte auch fortzufahren, doch das war genug für eine Lektion. Ueberdies wollte sich der Vater Clouis, bevor er seine Flinte hatte, weiter nicht einlassen.

Nein, sagte er, das ist genug für einmal; du hast ihnen nur dies für die erste Lektion zu zeigen, und sie werden es kaum in vier Tagen lernen; und während dieser Zeit wirst du zweimal hier gewesen sein.

Viermal, rief Pitou.

Ah! ah! erwiderte kalt Vater Clouis, du hast Eifer und Beine, wie es scheint. Viermal, es sei. Doch ich sage dir, wir sind am Ende des letzten Mondviertels, und morgen wird es nicht mehr hell sein.

Wir exerzieren in der Grotte.

Dann wirst du Licht bringen.

Ein Pfund, zwei, wenn es sein muß.

Gut. Und meine Flinte?

Ihr werdet sie morgen haben.

Ich rechne darauf. Laß sehen, ob du behalten hast, was ich dir gezeigt habe.

Pitou fing wieder an und erwarb sich Komplimente. In seiner Freude hätte er dem Vater Clouis eine Kanone versprochen.

Nach dieser zweiten Uebung, ungefähr um ein Uhr morgens, nahm er Abschied von seinem Instruktor und kehrte langsam, aber mit einem immer noch sehr weiten Schritt, nach dem Dorfe Haramont zurück, wo alles im tiefsten Schlafe lag.

Schon am andern Tag gab er oder wiederholte er vielmehr seine Lektion seinen Soldaten mit einer Unverschämtheit in der Haltung und einer Sicherheit in der Unterweisung, welche die Gunst, in der er stand, bis zum Unmöglichen steigerten.

O Volksbeliebtheit, ungreifbarer Hauch!

Pitou wurde volksbeliebt und war bewundert von Männern, Kindern und Greisen.

Selbst die Frauen blieben ernst, wenn er in ihrer Gegenwart seinen in einer Linie aufgestellten dreißig Soldaten zurief:

Alle Teufel! seid doch stattlich! Schaut mich an.

Und er war stattlich.


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