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Auszug aus Dr. Watsons Tagebuch

Bis hier war ich in der Lage, aus den Berichten zu zitieren, die ich während der ersten Tage an Sherlock Holmes geschickt habe. Nun bin ich jedoch an einem Punkt meiner Erzählung angelangt, wo ich mich gezwungen sehe, diese Methode aufzugeben und einmal mehr meinen Erinnerungen zu vertrauen, unterstützt von dem Tagebuch, das ich zur der Zeit geführt habe. Ein paar Auszüge aus diesem Tagebuch führen mich zu jenen Ereignissen, welche sich in jeder Einzelheit unauslöschlich in mein Gedächtnis eingebrannt haben. Ich fahre nunmehr fort mit jenem Morgen, der auf unsere fehlgeschlagene Jagd auf den Zuchthäusler und unsere seltsamen Erlebnisse auf dem Moor folgte.

16. Oktober. Ein trüber und nebliger Tag mit feinem Sprühregen. Das Haus ist von tief hängenden Wolken eingehüllt, die nur hin und wieder den Blick auf die düsteren Hügel des Moors freigeben, wo dünne, silbrige Fäden sich die Hänge entlangziehen und ferne Felsblöcke glitzern, sobald ein Lichtstrahl auf ihre nassen Oberflächen trifft. Draußen herrscht ebenso wie im Haus eine trübe Atmosphäre. Nach den Aufregungen der letzten Nacht ist der Baronet schwärzester Stimmung. Ich selbst fühle eine Last auf meiner Seele und den Eindruck drohender Gefahr – einer ständig gegenwärtigen Gefahr, die um so schrecklicher ist, da ich mich außer Stande sehe zu sagen, welcher Art sie ist.

Und habe ich etwa keinen Grund für solche Gefühle? Wenn wir die lange Folge von Vorfällen bedenken, die uns in ihrer Gesamtheit vor Augen führen, dass um uns herum ein Unheil bringender Einfluss am Werk ist. Da ist der Tod des letzten Besitzers von Baskerville Hall, der so genau mit den Umständen der Familienlegende übereinstimmt, und da sind die wiederholten Berichte von Bauern über die Erscheinung eines unheimliches Geschöpfes auf dem Moor. Zweimal habe ich mit eigenen Ohren jenes Heulen gehört, das dem entfernen Jaulen eines Hundes ähnelt. Es ist unglaublich, ja unmöglich, dass dies tatsächlich übernatürliche Ursachen haben sollte. Ein Geisterhund, der wirkliche Fußabdrücke zurücklässt und die Luft mit seinem Heulen erfüllt, an so etwas ist nicht zu denken. Stapleton mag solchem Aberglauben anhängen und auch Mortimer; aber wenn ich eine positive Eigenschaft auf Erden besitze, dann ist es gesunder Menschenverstand, und nichts wird mich dazu bringen, an so etwas zu glauben. Wenn ich das täte, würde ich auf das Niveau dieser armen Bauern herabsinken, die sich nicht mit einem gewöhnlichen Höllenhund begnügen, sondern ihn als Kreatur beschreiben, dem das Höllenfeuer aus Maul und Augen lodert. Holmes würde auf solche Spinnereien nicht hören, und ich bin sein Vertreter. Doch Tatsachen bleiben Tatsachen, und ich habe dieses Heulen zweimal im Moor gehört. Angenommen, es liefe wirklich ein riesiger Hund dort frei herum; das würde so ziemlich alles erklären. Aber wo könnte sich ein solcher Hund verbergen, woher bekäme er sein Fressen, woher stammte er überhaupt, wie käme es, dass ihn niemand bei Tage sieht? Ich muss gestehen, dass die natürliche Erklärung nahezu ebenso viele Probleme bereitet wie die andere. Und dann ist da neben der Sache mit dem Hund auch noch der ganz irdische Aspekt des Menschen in der Londoner Droschke und der Brief, der Sir Henry vor dem Moor warnte. Das war alles ganz real, doch hier konnte es sich ebenso um das Werk eines besorgten Freundes wie das eines Feindes handeln. Wo hält sich dieser Freund oder Feind jetzt auf? Ist er in London geblieben oder ist er uns hierher gefolgt? Konnte es – konnte es vielleicht der Fremde sein, den ich auf dem Felsturm gesehen hatte?

Es ist zwar so, dass ich nur einen kurzen Blick auf ihn werfen konnte, dennoch bin ich bereit, bestimmte Dinge zu beschwören. Er ist niemand, den ich bislang hier gesehen habe, und ich habe inzwischen alle Nachbarn kennen gelernt. Die Gestalt war viel größer als die von Stapleton, viel schlanker als die von Frankland. Es hätte möglicherweise Barrymore sein können, aber wir hatten ihn zurückgelassen und ich bin mir sicher, dass er uns nicht hatte folgen können. So beschattet uns also immer noch ein Fremder, ebenso wie er uns in London beschattet hat. Wir haben ihn nicht abschütteln können. Könnte ich nur seiner habhaft werden, dann würden wir vielleicht endlich die Lösung all unserer Probleme in Händen halten. Diesem Ziel wollte ich von jetzt an meine Anstrengungen widmen.

Mein erster Gedanke war, Sir Henry in meine Pläne einzuweihen. Mein zweiter und weiserer Gedanke war, mein eigenes Spiel zu spielen und so wenig wie möglich davon anderen zu erzählen. Sir Henry ist in sich gekehrt und zerstreut. Seine Nerven sind ziemlich angegriffen durch jenes Heulen im Moor. Ich möchte nichts sagen, das seine Ängste noch verstärken würde, doch werde ich meiner eigenen Wege gehen, um mein Ziel zu erreichen.

Heute Morgen nach dem Frühstück gab es eine kleine Szene. Barrymore bat Sir Henry um ein Gespräch unter vier Augen und sie schlossen sich eine Zeit lang in sein Arbeitszimmer ein. Ich saß im Billardzimmer, hörte mehr als einmal, wie ihre Stimmen lauter wurden, und konnte mir gut vorstellen, worum sich die Unterhaltung drehte. Nach einer Weile öffnete der Baronet die Tür und rief nach mir.

»Barrymore ist der Ansicht, sich beschweren zu müssen«, sagte er. »Er meint, es sei unfair von uns gewesen, seinem Schwager nachzujagen, da er uns aus freien Stücken von diesem Geheimnis erzählt hat.«

Der Butler stand sehr bleich, doch gefasst vor uns.

»Ich habe vielleicht zu heftig gesprochen, Sir«, sagte er, »und wenn das der Fall gewesen ist, so bitte ich um Verzeihung. Gleichzeitig war ich jedoch sehr überrascht, als ich Sie beide heute Morgen zurückkehren hörte und erfuhr, dass Sie Selden gejagt haben. Es gibt genug, wogegen der arme Kerl zu kämpfen hat, auch ohne dass ich noch weitere Männer auf seine Fährte hetze.«

»Hätten Sie uns tatsächlich aus eigenem Antrieb von ihm erzählt, wäre die Situation eine andere«, sagte der Baronet, »aber Sie haben, oder besser Ihre Frau hat uns nur davon erzählt, als wir sie gezwungen haben zu reden und Sie keinen anderen Ausweg sahen.«

»Ich hätte nicht geglaubt, dass Sie das ausnutzen würden, Sir Henry – das hätte ich wirklich nicht gedacht!«

»Der Mann ist eine Gefahr für die Öffentlichkeit. Überall auf dem Moor liegen einsame Häuser verstreut, und er ist ein Mensch, der vor nichts zurückschreckt. Sie brauchen ihm nur einmal ins Gesicht zu sehen, um das zu erkennen. Denken Sie zum Beispiel an Mr. Stapletons Haus, wo sich außer ihm niemand befindet, der es verteidigen könnte. Solange er nicht hinter Schloss und Riegel ist, gibt es für niemanden Sicherheit.«

»Er wird in kein Haus einbrechen, Sir. Ich gebe Ihnen darauf mein feierliches Ehrenwort. Und er wird niemals mehr irgend jemanden in diesem Land behelligen. Ich versichere Ihnen, Sir Henry, dass in den allernächsten Tagen die notwendigen Vorkehrungen getroffen sein werden und er sich auf dem Weg nach Südamerika befindet. Um Gottes Willen, Sir, ich erbitte von Ihnen nur die Zusicherung, die Polizei nicht wissen zu lassen, dass er sich noch im Moor befindet. Sie haben die Jagd auf ihn hier aufgegeben, so dass er sich still verhalten kann, bis das Schiff bereit zum Auslaufen ist. Sie können ihn nicht auffliegen lassen, ohne meine Frau und mich in Schwierigkeiten zu bringen. Ich bitte Sie, Sir, sagen Sie nichts der Polizei.«

»Was meinen Sie dazu, Watson«

Ich zuckte die Schultern. »Wäre er sicher aus dem Lande geschafft, würde dies den Steuerzahler von einer Last befreien.«

»Aber was, wenn er noch jemanden überfällt, bevor er geht?«

»So etwas Dummes würde er nicht tun, Sir. Wir haben ihn mit allem Nötigem versorgt. Wenn er ein Verbrechen beginge, würde er sein Versteck verraten.«

»Das ist wahr«, sagte Sir Henry. »Nun, Barrymore...«

»Gott schütze Sie, Sir, und meinen herzlichsten Dank! Es hätte meine arme Frau umgebracht, wenn er wieder gefasst worden wäre.«

»Ich fürchte, wir machen uns der Beihilfe schuldig, Watson. Aber nach allem, was wir erfahren haben, sehe ich mich nicht imstande, den Mann auszuliefern, also lassen wir's dabei bewenden. Gut, Barrymore, Sie können gehen.«

Mit ein paar gestammelten Dankesworten wandte sich der Mann zum Gehen, doch er zögerte und kam noch einmal zurück.

»Da Sie so freundlich zu uns gewesen sind, Sir, möchte ich mich so weit möglich revanchieren. Ich weiß etwas, Sir Henry, und vielleicht hätte ich es Ihnen längst sagen müssen, aber es war lange nach der Untersuchung, dass ich es herausgefunden habe. Ich habe niemals zu jemandem ein Wort darüber gesagt. Es handelt sich um den Tod des armen Sir Charles.«

Der Baronet und ich waren sofort aufgesprungen. »Wissen Sie etwas darüber, wie er gestorben ist?«

»Nein, Sir, das weiß ich nicht.«

»Was dann?«

»Ich weiß, warum er sich zu dieser Stunde am Tor befand. Er wollte sich mit einer Frau treffen.«

»Mit einer Frau?«

»Ja, Sir.«

»Und wie hieß diese Frau?«

»Leider weiß ich ihren Namen nicht, aber ich kenne ihre Initialen: L.L.«

»Woher wissen Sie das, Barrymore?«

»Nun, Sir Henry, Ihr Onkel bekam an jenem Morgen einen Brief. Üblicherweise erhielt er eine große Anzahl an Briefen, denn er war ein Mann, der in der Öffentlichkeit stand und für sein gutes Herz bekannt war, so dass jeder, der sich in einer Notlage befand, sich an ihn wandte. Doch an jenem Morgen begab es sich zufällig, dass er nur diesen einzigen Brief erhielt, so dass ich ihn aufmerksamer betrachtete. Er kam aus Coombe Tracey und die Anschrift war in einer Frauenhandschrift verfasst worden.«

»Und weiter?«

»Ich hätte nicht mehr daran gedacht und die Angelegenheit vergessen, wenn nicht meine Frau gewesen wäre. Vor einigen Wochen erst machte sie im Arbeitszimmer von Sir Charles sauber – seit seinem Tod war es nicht mehr angerührt worden –, als sie die Reste eines verbrannten Briefes im Kamin fand. Der größere Teil war zu Asche zerfallen, doch ein kleines Stück vom Ende einer Seite hing noch zusammen und war leserlich genug, auch wenn es graue Schrift auf schwarzem Hintergrund war. Es schien uns ein Postskriptum des Briefes zu sein und lautete: ›Ich flehe sie an, da Sie ein Gentleman sind, diesen Brief zu verbrennen und um zehn Uhr am Tor zu sein.‹ Darunter war er gezeichnet mit den Initialen L. L.«

»Haben Sie das Stück noch?«

»Nein, Sir, es zerfiel in Fetzen, nachdem wir es berührt hatten.«

»Hat Sir Charles jemals andere Briefe derselben Handschrift erhalten?«

»Nun, normalerweise nahm ich keine besondere Notiz von seinen Briefen. Auch dieser wäre mir nicht aufgefallen, wenn es nicht der einzige gewesen wäre.«

»Und Sie haben keine Ahnung, wer L. L. sein könnte?«

»Leider nicht, Sir, nicht mehr als Sie. Doch ich glaube, wenn wir diese Dame ausfindig machen könnten, würden wir mehr über den Tod von Sir Charles erfahren.«

»Ich verstehe nicht, Barrymore, wie Sie uns diese wichtige Information vorenthalten konnten.«

»Es geschah unmittelbar, bevor die eigenen Probleme uns ereilten. Außerdem mochten wir beide Sir Charles sehr, nach allem, was er für uns getan hat. Die Geschichte wieder aufzurühren konnte ihm nicht mehr helfen, und Diskretion ist angebracht, wenn eine Dame im Spiel ist. Selbst die Besten von uns...«

»Sie fürchteten, es könnte seinem Ruf schaden?«

»Ich war der Meinung, dass daraus nichts Gutes entstünde. Aber da Sie nun so gut zu uns gewesen sind, hielte ich es für unfair, Ihnen nicht alles offenzulegen, was ich über die Angelegenheit weiß.«

»Sehr gut, Barrymore. Sie können gehen.« Nachdem der Butler uns allein gelassen hatte, drehte sich Sir Henry zu mir um. »Also, Watson, was halten Sie von dieser Neuigkeit?«

»Mir scheint die Dunkelheit jetzt noch schwärzer als zuvor.«

»So geht es mir auch. Aber falls wir L. L. ausfindig machen können, würde dies möglicherweise die ganze Sache aufklären. So viel haben wir erfahren. Wir wissen, dass es jemanden gibt, der Licht ins Dunkel bringen kann, wenn wir sie nur finden. Was sollten wir Ihrer Meinung nach tun?«

»Wir sollten sofort Holmes über alles in Kenntnis setzen. Das ist der neue Faden, nach dem er die ganze Zeit gesucht hat. Ich müsste mich sehr irren, wenn ihn das nicht dazu veranlasste herzukommen.«

Ich suchte umgehend mein Zimmer auf und verfasste meinen Bericht für Holmes über die morgendliche Unterhaltung. Es schien mir offensichtlich, dass er in letzter Zeit sehr beschäftigt gewesen war, denn seine Nachrichten für mich kamen selten und waren knapp, ohne jeglichen Kommentar zu den von mir gelieferten Informationen oder einen Bezug zu meiner Aufgabe. Allem Anschein nach beanspruchte diese Erpressungsgeschichte seine ganze Kraft, doch dieser neue Aspekt musste seine Aufmerksamkeit fesseln und sein Interesse wieder wecken. Ich wünschte, er wäre hier.

17. Oktober. Den ganzen Tag über fiel Regen, rauschte durch das Efeu und tropfte aus den Dachrinnen. Ich dachte an den Zuchthäusler draußen auf dem kahlen, kalten, schutzlosen Moor. Armer Teufel! Was auch immer seine Verbrechen gewesen sein mögen, er hatte als Buße ganz schön zu leiden. Und dann dachte ich an den anderen – das Gesicht in der Droschke, die Silhouette vor dem Mond. Befand er sich auch dort draußen in der Sintflut – der unsichtbare Beobachter, der Mann der Dunkelheit? Abends zog ich meinen Regenmantel an und ging lange auf dem durchweichten Boden des Moors spazieren, erfüllt von düsteren Gedanken, während der Regen mir ins Gesicht peitschte und der Wind mir um die Ohren heulte. Gott helfe jenen, die jetzt in dem großen Moor umherirren, denn selbst das feste Land war zu Morast geworden. Ich fand den schwarzen Felsturm, auf welchem ich den einsamen Beobachter gesehen hatte, und von seinem zerklüfteten Gipfel blickte ich nun selbst auf die trübseligen Niederungen hinab. Regengüsse überfluteten ihre rostrote Oberfläche, die schweren, schieferfarbenen Wolken hingen tief über der Landschaft und trieben in grauen Kreisen die Hänge fantastisch anmutender Hügel hinab. In der fernen Ebene zur Linken, halb vom Dunst verhüllt, erhoben sich die beiden schmalen Türme von Baskerville Hall zwischen den Bäumen. Es waren die einzigen Anzeichen menschlichen Lebens, die ich erblicken konnte, abgesehen von jenen prähistorischen Hütten, die sich dicht um die Hänge der Hügel gruppierten. Nirgendwo war die geringste Spur dieses einsamen Mannes zu sehen, den ich an eben dieser Stelle zwei Nächte zuvor gesehen hatte.

Auf dem Rückweg wurde ich von Dr. Mortimer überholt, der mit seinen Einspänner auf einem unbefestigten Moorweg fuhr, welcher von der weit draußen gelegenen Foulmire-Farm herführte. Er war uns gegenüber sehr aufmerksam gewesen und kaum ein Tag war vergangen, ohne dass er nach Baskerville Hall gekommen war, um zu sehen, ob es uns gut ging. Er bestand darauf, mich in seinem Wagen mitzunehmen und nach Hause zu bringen. Ich fand ihn sehr betrübt über das Verschwinden seines kleinen Spaniels. Er war ins Moor gelaufen und nicht mehr zurückgekommen. Ich tröstete ihn, so gut ich konnte, doch dachte ich an das Pony im Grimpener Moor und konnte mir nicht vorstellen, dass er seinen kleinen Hund jemals wiedersehen würde.

»Übrigens, Mortimer«, sagte ich, während wir über die raue Strecke holperten, »ich vermute, es gibt wenig Leute in Reichweite Ihres Wagens, die Sie nicht kennen.«

»So gut wie niemand, glaube ich.«

»Können Sie mir dann jemanden nennen, dessen Initialen L. L. lauten?«

Er überlegte eine Weile.

»Nein«, sagte er schließlich. »Es gibt ein paar Zigeuner und Tagelöhner, über die ich nichts sagen kann, doch unter den Bauern oder den gebildeten Leuten wüsste ich niemanden. Warten Sie mal«, fügte er nach einer Pause hinzu, »da ist noch Laura Lyons – ihre Initialen sind L. L. –, aber sie wohnt in Coombe Tracey.«

»Wer ist das?« fragte ich.

»Sie ist Franklands Tochter.«

»Was? Der alte Kauz Frankland?«

»Ganz genau. Sie hat einen Künstler namens Lyons geheiratet, der zum Malen ins Moor kam. Er erwies sich als Schuft und verließ sie. Die Schuld lag jedoch nach allem, was ich so gehört habe, nicht allein bei ihm. Ihr Vater weigerte sich, mit ihnen zu tun zu haben, weil sie ohne sein Einverständnis geheiratet hat und vielleicht noch aus ein oder zwei anderen Gründen. Das Mädchen hatte nicht viel Freude zwischen dem alten und dem jungen Sünder.«

»Wovon lebt sie?«

»Ich vermute, der alte Frankland gewährt ihr ein Almosen, doch viel kann es nicht sein, da er selbst ja in beträchtlichen Geldschwierigkeiten steckt. Egal ob sie es verdient, man kann sie nicht einfach vor die Hunde gehen lassen. Nachdem ihre Geschichte die Runde gemacht hatte, haben ein paar der Leute hier ihr geholfen, ein anständiges Einkommen zu erlangen. Einer davon war Stapleton, ein anderer Sir Charles. Ich selbst gab eine Kleinigkeit dazu. Sie konnte sich als Stenotypistin verdingen.«

Er wollte den Grund für mein Interesse wissen, doch gelang es mir, seine Neugier zu befriedigen, ohne zu viel preiszugeben, denn es gab keinen Grund, warum wir jemanden ins Vertrauen ziehen sollten. Morgen früh werde ich nach Coombe Tracey fahren, und falls ich diese zweifelhafte Mrs. Laura Lyons sprechen kann, werde ich einen großen Schritt zur Lösung eines der Glieder in dieser Kette von Rätseln getan haben. Ich bin wohl dabei, die Schlauheit einer Schlange zu entwickeln, denn als Mortimer mit seinen Fragen einen unangenehmen Punkt berührte, fragte ich beiläufig, zu welchem Schädeltyp derjenige von Frankland gehörte, und von da an hörte ich für den Rest der Fahrt einen Vortrag über Schädelkunde. Schließlich habe ich nicht umsonst viele Jahre lang mit Sherlock Holmes zusammengelebt.

Ich muss nur noch von einem anderen Vorfall an diesem stürmischen und trübsinnigen Tag berichten. Es handelt sich dabei um meine Unterhaltung mit Barrymore von soeben, durch die ich eine weitere Trumpfkarte in die Hand bekam, die ich zu gegebener Zeit ausspielen kann.

Mortimer war zum Abendessen geblieben, und er und der Baronet spielten anschließend eine Runde Ecarté. Der Butler brachte mir den Kaffee in die Bibliothek und ich ergriff die Gelegenheit, ihm ein paar Fragen zu stellen.

»Ist denn Ihr wertvoller Verwandter inzwischen abgereist oder lauert er immer noch dort draußen?«

»Ich weiß es nicht, Sir. Ich bete zum Himmel, er möge fort sein, denn er hat uns nur Ärger gebracht. Seit ich ihm das letzte Mal Essen hinausgebracht habe, habe ich nichts mehr von ihm gehört, und das ist drei Tage her!«

»Haben Sie ihn da getroffen?«

»Nein, Sir, aber das Essen war fort, als ich das nächste Mal dort hinkam.«

»Dann ist er bestimmt dort gewesen.«

»Das wäre anzunehmen, es sei denn, der andere Mann hat es gegessen.«

Ich erstarrte in der Bewegung die Kaffeetasse erhoben, und blickte Barrymore vom Donner gerührt an.

»Sie wissen, dass sich ein anderer Mann dort aufhält?«

»Ja, Sir, es gibt einen anderen Mann im Moor.«

»Haben Sie ihn gesehen?«

»Nein, Sir.«

»Woher wissen Sie dann von ihm?«

»Selden hat mir von ihm erzählt, vor einer Woche oder so. Auch er versteckt sich, aber so weit ich feststellen konnte, ist er kein entflohener Sträfling. Das gefällt mir nicht, Dr. Watson – ich sagen Ihnen geradeheraus, das gefällt mir nicht.« Er redete plötzlich in ernstem Tonfall.

»Hören Sie gut zu, Barrymore! Alles, was mich in dieser Angelegenheit interessiert, ist das Wohl Ihres Herrn. Ich bin zu dem einzigen Zweck hergekommen, ihm zu helfen. Sagen Sie mir frei heraus, was gefällt Ihnen nicht?«

Einen Moment lang zögerte Barrymore, als ob er seinen Ausbruch bedauerte oder es für schwierig hielt, seine eigenen Gefühle in Worte zu fassen.

»Es sind all diese Vorgänge«, rief er schließlich aus und zeigte mit seiner Hand auf das regengepeitschte Fenster, das auf das Moor hinausführte. »Da draußen geht etwas vor, da braut sich Böses zusammen, darauf könnte ich schwören! Ich wäre sehr froh, wenn Sir Henry nach London zurückführe!«

»Aber was ist es, das Sie so beunruhigt?«

»Bedenken Sie den Tod von Sir Charles! Das war schlimm genug, nach allem, was bei der Leichenschau festgestellt wurde. Bedenken Sie die nächtlichen Geräusche auf dem Moor! Kein Mensch würde sich nach Einbruch der Nacht dort hinaustrauen, und wenn er Geld dafür bekäme. Denken Sie an diesen Fremden, der sich dort draußen versteckt und beobachtet und wartet! Worauf wartet er? Was bedeutet das? Das kann nichts Gutes für jemanden bedeuten, der den Namen der Baskervilles trägt. Ich werde froh sein, das alles hinter mir lassen zu können, wenn die neue Dienerschaft von Sir Henry ihren Dienst in Baskerville Hall antritt.«

»Aber was diesen Fremden betrifft«, sagte ich, »können Sie mir irgend etwas über ihn erzählen? Was hat Selden gesagt? Hat er herausgefunden, wo er sich versteckt hält oder was er getan hat?«

Er hat ihn ein- oder zweimal gesehen, aber das ist ein ganz Schlauer, der nichts preisgibt. Zuerst hat er gedacht, er sei von der Polizei, aber bald wurde ihm klar, dass er sein eigenes Süppchen kocht. Eine Art Gentleman war er, soweit Selden das beurteilen konnte, aber er konnte nicht herausbekommen, was er dort getan hat.«

»Und hat er gesagt, wo er sich versteckt?«

»Bei den alten Häusern auf dem Hügel – den Steinhütten, wo das Volk von früher wohnte.«

»Aber was war mit Verpflegung?«

»Selden fand heraus, dass er einen Burschen hatte, der für ihn arbeitete und ihm alles brachte, was er benötigte. Meiner Meinung nach holt er alles, was er braucht, aus Coombe Tracey.«

»Sehr gut, Barrymore. Vielleicht setzen wir unsere Unterhaltung darüber ein anderes Mal fort.« Nachdem der Butler gegangen war, trat ich hinüber an das Fenster und schaute durch die verschleierte Scheibe auf die vorbeijagenden Wolken und die vom Wind gepeitschten Bäume. Schon hier drinnen war es eine unruhige Nacht, was muss es erst für jemanden in einer Steinhütte auf dem Moor darstellen! Von welcher Tiefe muss der Hass sein, der einen Mann dazu bringt, zu solcher Stunde an solchem Ort zu lauern! Und welches eindringliche und ernste Ziel mag er verfolgen, das eine solche Prüfung erfordert! Dort, in jener Hütte auf dem Moor, scheint die Ursache jenes Problems zu liegen, das mich so empfindlich quält. Ich gelobe, dass kein weiterer Tag vergehen soll, ohne dass ich alles Menschenmögliche getan haben werde, um ins Innerste dieses Geheimnisses vorzudringen.


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