Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Wir hatten das Frühstück zeitig beendet. Holmes wartete in seinem Morgenmantel auf das verabredete Treffen. Unsere Klienten trafen pünktlich ein, denn die Uhr hatte gerade geschlagen, als Dr. Mortimer sich zeigte, gefolgt von dem jungen Baronet. Letzterer war ein kleiner, lebhafter, dunkeläugiger Mann um die dreißig, recht kräftig gebaut, mit dichten schwarzen Augenbrauen und einem aufgeweckten, streitlustigen Gesichtsausdruck. Er trug einen rötlichen Tweedanzug und hatte das wettergegerbte Aussehen eines Menschen, der die meiste Zeit an der frischen Luft verbracht hatte, und doch lag etwas in seinem unerschütterlichen Blick und der ruhigen Sicherheit seines Auftretens, das den Gentleman verriet.
»Dies ist Sir Henry Baskerville,« sagte Dr. Mortimer.
»Nun ja, so ist es«, sagte er, »und das Seltsame ist, Mr. Sherlock Holmes, hätte mein Freund hier nicht vorgeschlagen, Sie heute Morgen aufzusuchen, so wäre ich aus eigenem Antrieb gekommen. Meines Wissens beschäftigen Sie sich gern mit kleinen Rätseln, und mir ist heute Morgen eines untergekommen, das anscheinend mehr Verstand erfordert, als ich besitze.«
»Nehmen Sie doch Platz, Sir Henry. Verstehe ich Sie recht, dass Ihnen seit Ihrer Ankunft in London bereits bemerkenswerte Erfahrungen zuteil wurden?«
»Nichts von Wichtigkeit, Mr. Holmes. Nur ein Scherz, vermutlich. Es handelt sich um diesen Brief – wenn Sie es einen Brief nennen können –, der mich heute Morgen erreichte.«
Er legte einen Umschlag auf den Tisch und wir beugten uns alle darüber. Er war von gewöhnlicher Qualität und leicht grauer Farbe. Die Adresse, »Sir Henry Baskerville, Northumberland Hotel«, bestand aus groben Druckbuchstaben; der Poststempel lautete »Charing Cross« und war vom vorigen Abend.
»Wer wusste, dass Sie im Northumberland Hotel absteigen würden?« fragte Holmes und blickte unseren Besucher scharf an.
»Niemand konnte das wissen. Das haben wir erst entschieden, nachdem ich Dr. Mortimer getroffen hatte.«
»Aber Dr. Mortimer hatte zweifellos dort bereits ein Zimmer?«
»Nein, ich übernachtete bei einem Freund«, antwortete der Doktor. »Es gab keinen möglichen Hinweis auf unsere Absicht, in diesem Hotel zu wohnen.«
»Hm! Jemand scheint sehr daran interessiert zu sein, wo Sie sich aufhalten.« Er entnahm dem Umschlag einen halben Bogen doppelt gefaltetes Briefpapier, öffnete ihn und breitete ihn auf dem Tisch aus. Quer über die Mitte stand ein einziger Satz, gebildet aus ausgeschnittenen gedruckten Wörtern, der lautete: »Wenn sie Wert auf Leben oder Verstand legen, so halten sie sich vom Moor fern.« Lediglich das Word ›Moor‹ war mit Tinte geschrieben.
»Nun«, sagte Sir Henry Baskerville, »vielleicht können Sie mir sagen, Mr. Holmes, was zum Donnerwetter das zu bedeuten hat und wer so viel Interesse an meinen Angelegenheiten an den Tag legt!«
»Was halten Sie davon, Dr. Mortimer? Sie werden mir zustimmen, dass zumindest an dieser Sache nichts Übernatürliches dran ist.«
»Nein, aber es könnte wohl von jemandem stammen, der überzeugt davon ist, dass der ganze Fall übernatürlich war.«
»Welcher Fall?« fragte Sir Henry scharf. »Ich habe den Eindruck, jeder von Ihnen weiß bedeutend mehr über meine Angelegenheiten als ich selbst!«
»Sie sollen an unserem Wissen teilhaben, bevor Sie dieses Zimmer verlassen, Sir Henry, das verspreche ich Ihnen«, sagte Sherlock Holmes. »Doch mit Ihrer Erlaubnis wollen wir uns für den Moment auf dieses sehr interessante Dokument beschränken, das gestern Abend zusammengestellt und abgeschickt worden sein muss. Hast du die Times von gestern, Watson?«
»Sie liegt hier in der Ecke.«
»Darf ich dich darum bemühen? Den inneren Teil, bitte, mit den Leitartikeln.« Er warf einen flüchtigen Blick darauf und ließ seine Augen die Spalten auf und ab gleiten. »Vortrefflicher Artikel über den Freihandel. Darf ich Ihnen einen Auszug daraus vorlesen? ›Wenn manche Menschen Wert auf den Umstand legen, dass der heimische Handel oder die heimische Industrie durch Schutzzölle gefördert werden, so halten wir es doch mit dem Verstand, der uns sagt, dass solche Gesetze langfristig dem Wohlstand des Landes hinderlich sein, sie den Wert unserer Importe verringern und die generelle Qualität des Lebens auf dieser Insel senken werden.‹ Was hältst du davon, Watson?« rief Holmes fröhlich und rieb seine Hände zufrieden aneinander. »Findest du nicht, dass das ein bewundernswerter Standpunkt ist?«
Dr. Mortimer betrachtete Holmes mit einem Anflug beruflichen Interesses, während Sir Henry Baskerville mir seine dunklen Augen ratlos zuwandte.
»Ich verstehe nicht viel von Schutzzöllen und solchen Sachen«, sagte er, »aber mir scheint, wir sind ein wenig vom Thema abgekommen, was diesen Brief anbelangt.«
»Im Gegenteil, ich denke, wir sind auf einer besonders heißen Spur, Sir Henry. Watson kennt meine Methoden besser als Sie, doch fürchte ich, dass nicht einmal er die Bedeutung dieses Satzes erkannt hat.«
»Nein, ich gestehe, dass ich keinen Zusammenhang erkennen kann.«
»Und doch, mein lieber Watson, ist der Zusammenhang so eng, dass das eine aus dem anderen entstanden ist: ›Wenn‹, ›Wert‹, ›legen‹, ›Leben‹, ›Verstand‹, ›halten‹ – sehen Sie nun, woher diese Wörter kommen?«
»Donnerwetter, Sie haben Recht! Wenn das nicht schlau ist«, rief Sir Henry aus.
»Bliebe überhaupt noch ein Zweifel, so räumte ihn die Tatsache aus, dass ›Wert auf‹ und ›so halten‹ in einem Stück herausgeschnitten wurden.«
»Tatsächlich, so ist es!«
»Wirklich Mr. Holmes, das übersteigt alles, was ich mir vorgestellt hatte«, sagte Dr. Mortimer, während er meinen Freund erstaunt anstarrte. »Ich könnte verstehen, dass jemand sagt, diese Wörter seien aus einer Zeitung ausgeschnitten; aber dass Sie erkennen, um welche Zeitung es sich handelt und aus welcher Art von Artikel die Ausschnitte sind, ist eine der bemerkenswertesten Leistungen, die ich je gesehen habe. Wie haben Sie das fertig gebracht?«
»Ich nehme an, Doktor, Sie können den Schädel eines Negroiden von einem Eskimo unterscheiden?«
»Gewiss doch.«
»Aber wie?«
»Weil das mein besonderes Hobby ist. Die Unterschiede sind offensichtlich. Der supra-orbitale Kamm, der Gesichtswinkel, die Kurve des Kiefers, der...«
»Und dies hier ist mein besonderes Hobby und die Unterschiede sind ebenfalls offensichtlich. In meinen Augen gibt es ebenso große Unterschiede zwischen dem Durchschuss-Bleisatz eines Times-Artikels und dem schlampigen Druckbild eines Boulevardblattes wie zwischen Ihrem Negroiden und dem Eskimo. Das Erkennen von Drucktypen gehört zum elementaren Wissen eines Verbrechensexperten, obwohl ich gestehen muss, dass ich einmal, als ich noch sehr jung war, den Leeds Mercury mit den Western Morning News verwechselt hatte. Aber ein Leitartikel der Times ist etwas absolut Unverwechselbares und diese Wörter konnten nirgendwo sonst herstammen. Und da der Brief gestern abgeschickt worden war, schien es mir äußerst wahrscheinlich, dass die Wörter aus der gestrigen Ausgabe stammen.«
»Soweit ich Ihren Ausführungen folgen konnte, Mr. Holmes«, sagte Sir Henry Baskerville, »hat also jemand diese Nachricht mit der Schere...«
»Nagelschere«, sagte Holmes. »Sie können erkennen, dass es sich um eine kurze Schere handelte, weil für ›Wert auf‹ zwei Schnitte nötig waren.«
»So ist es. Jemand schnitt also die Wörter mit einer Nagelschere aus, bestrich sie mit Kleber...«
»Mit Papierleim,« sagte Holmes.
»...mit Papierleim und klebte sie auf. Aber warum hat er das Wort ›Moor‹ mit der Hand geschrieben?«
»Weil er es in der Zeitung nicht gefunden hat. Alle anderen Wörter waren einfach und leicht in jeder beliebigen Ausgabe zu finden, aber ›Moor‹ ist weniger gewöhnlich.«
»Aber natürlich, das erklärt es. Konnten Sie dieser Nachricht noch mehr entnehmen, Mr. Holmes?«
»Es gibt ein oder zwei Fingerzeige, obwohl jede Mühe unternommen wurde, alle Hinweise zu entfernen. Die Adresse, wie Sie sehen, wurde in ungelenken Druckbuchstaben verfasst, doch ist die Times eine Zeitung, die gewöhnlich nur von sehr gebildeten Menschen gelesen wird. Deshalb können wir davon ausgehen, dass der Brief von einem gebildeten Menschen verfasst wurde, der den Anschein erwecken wollte, als sei er ungebildet, und die Mühe, seine Handschrift zu verstellen, lässt vermuten, dass die Handschrift Ihnen bekannt ist oder werden könnte. Weiterhin werden Sie feststellen, dass die Wörter nicht akkurat in einer Linie aufgeklebt wurden, sondern dass manche höher sitzen als andere. ›Leben‹ beispielsweise sitzt weit außerhalb des Platzes, wo es hingehört. Dies mag auf Unachtsamkeit deuten oder aber auf Aufregung und Eile hinweisen. Ich neige eher zu letzter Ansicht, da die Angelegenheit offenbar wichtig war und es nicht wahrscheinlich ist, dass der Verfasser eines solchen Briefes unachtsam vorgeht. War er aber in Eile, so stellt sich die interessante Frage warum, denn jeder Brief, der am frühen Morgen aufgegeben wird, hätte Sir Henry erreicht, bevor er sein Hotel verließ. Befürchtete der Absender eine Störung – und durch wen?«
»Hier geraten wir mehr und mehr ins Reich der Vermutung«, sagte Dr. Mortimer.
»Sagen wir eher in Bereiche, wo wir Möglichkeiten abwägen und das Wahrscheinlichste wählen. Es ist der wissenschaftliche Gebrauch unserer Vorstellungskraft, doch bleibt uns immer eine materielle Grundlage, auf welcher wir unsere Spekulation beginnen. Sie mögen es Vermutung nennen, aber ich bin fast sicher, dass diese Adresse in einem Hotel geschrieben worden ist.«
»Wie um alles in der Welt können Sie das behaupten?«
»Bei gründlicher Untersuchung werden Sie feststellen, dass sowohl Feder als auch Tinte dem Verfasser Schwierigkeiten bereitet haben. In einem einzigen Wort hat die Feder zweimal gestreikt, und dreimal insgesamt ist in dieser kurzen Adresse die Tinte ganz ausgegangen, was darauf schließen lässt, dass wenig Tinte in der Flasche war. Nun kommt es selten vor, dass sich eine persönliche Feder oder Tintenflasche in solchem Zustand befindet, und die Kombination von beidem scheint mir nahezu ausgeschlossen. Aber Sie kennen Tinte und Feder in Hotels, wo man selten etwas anderes bekommt. Ja, ich zögere nicht zu behaupten, dass wir nur die Papierkörbe der Hotels um Charing Cross untersuchen müssten, um die Überreste des verstümmelten Times-Leitartikels zu finden und so die Person ausfindig zu machen, die diese seltsame Nachricht verschickt hat... oh, hallo, was ist das?«
Er war dabei, den Bogen Briefpapier mit den aufgeklebten Wörtern sorgfältig zu untersuchen, wobei er ihn höchstens drei, vier Zentimeter von seinen Augen entfernt hielt.
»Nun?«
»Nichts,« sagte er und legte es nieder. »Es ist ein unbeschriebener, halber Bogen Papier ohne jedes Wasserzeichen. Ich denke, wir haben so viel wie nur irgend möglich diesem merkwürdigem Brief entnommen, und jetzt, Sir Henry, sagen Sie mir, ob sich sonst irgend etwas Interessantes ereignet hat, seit Sie nach London gekommen sind.«
»Nein, Mr. Holmes, ich glaube nicht.«
»Haben Sie niemanden bemerkt, der Ihnen folgte oder Sie beobachtete?«
»Mir scheint, ich bin geradewegs in einen Groschenroman geraten«, sagte unser Besucher, »warum zum Teufel sollte mir irgend jemand folgen oder mich beobachten?«
»Dazu kommen wir später. Haben Sie uns nichts anderes zu berichten, bevor wir uns dieser Angelegenheit zuwenden?«
»Nun, das hängt davon ab, was Sie für würdig erachten berichtet zu werden.«
»Meiner Meinung nach ist alles, das vom routinemäßigen Ablauf des Lebens abweicht, berichtenswert.«
Sir Henry lächelte.
»Noch weiß ich nicht viel über das britische Leben, denn ich habe fast mein ganzes Leben in den USA und Kanada verbracht, aber ich hoffe, dass es nicht zur alltäglichen Routine gehört, einen seiner Stiefel zu verlieren.«
»Sie haben einen Ihrer Stiefel verloren?«
»Bester Sir Henry,« rief Dr. Mortimer, »Sie haben Ihn nur verlegt. Sobald Sie ins Hotel zurückkehren, werden Sie ihn wiederfinden. Wozu sollten wir Mr. Holmes mit solchen Lappalien behelligen?«
»Na, weil er mich nach allem gefragt hat, das von der alltäglichen Routine abweicht.«
»So ist es,« sagte Holmes, »wie töricht der Vorfall auch immer erscheinen mag. Sie haben also einen Ihrer Stiefel verloren?«
»Oder verlegt, wie auch immer. Gestern Abend habe ich beide vor meine Tür gestellt und heute Morgen war nur noch einer vorhanden. Aus dem Schuhputzer konnte ich kein einziges vernünftiges Wort herausbringen. Das Schlimmste ist, dass ich die Stiefel erst gestern Abend am Strand gekauft und noch nie getragen habe.«
»Wenn Sie sie noch nie getragen haben, wozu haben Sie sie dann zum Putzen vor die Tür gestellt?«
»Es waren Lederstiefel, die noch nie mit Politur behandelt wurden.«
»Wenn ich richtig verstanden habe, sind sie also direkt nach Ihrer gestrigen Ankunft in London ausgegangen und haben ein Paar Stiefel gekauft?«
»Ich habe einen ausgedehnten Einkaufsbummel gemacht. Dr. Mortimer hat mich herumgeführt. Sehen Sie, wenn ich dort Gutsherr sein soll, muss ich mich entsprechend kleiden, und vielleicht habe ich mich in dieser Hinsicht im Wilden Westen ein wenig vernachlässigt. Unter anderem habe ich diese braunen Stiefel gekauft – sie haben sechs Dollar gekostet – und bevor ich sie jemals an meinen Füßen hatte, wurden sie mir gestohlen.«
»Es scheint mir ein überaus nutzloser Diebstahl«, sagte Sherlock Holmes. »Ich gestehe, Dr. Mortimers Ansicht zu teilen, dass sich der vermisste Stiefel bald wieder einfinden wird.«
»Und jetzt, meine Herren«, sagte der junge Baronet mit Entschiedenheit, »glaube ich genug von dem Wenigen, das ich weiß, gesprochen zu haben. Es ist an der Zeit, dass Sie ihr Wort halten und mir detailliert berichten, worum es hier überhaupt geht.«
»Ihr Anliegen ist sehr verständlich«, antwortete Holmes. »Dr. Mortimer, am besten wird es wohl sein, Sie erzählen die Geschichte genau so, wie Sie sie uns erzählt haben.«
Auf diese Weise ermutigt zog unser wissenschaftlicher Freund seine Papiere aus der Tasche und erläuterte den ganzen Fall auf gleiche Weise wie am Morgen zuvor. Sir Henry Baskerville hörte mit äußerster Aufmerksamkeit zu und ließ gelegentlich einen überraschten Ausruf hören.
»Nun, mir scheint, ich habe einen Rachefeldzug geerbt«, sagte er, nachdem Dr. Mortimer seine lange Erzählung beendet hatte. »Natürlich hatte ich schon als Junge von dem Hund gehört, es ist eine Familienüberlieferung, doch hatte ich nie daran gedacht, sie ernst zu nehmen. Was den Tod meines Onkels anbelangt – ich habe das Gefühl, in meinem Kopf dreht sich alles und ich kann nicht klar denken. Sie scheinen sich noch nicht darüber schlüssig zu sein, ob es sich um einen Fall für die Polizei oder einen Geistlichen handelt.«
»Ganz genau.«
»Und jetzt auch noch die Affäre mit dem anonymen Brief. Ich vermute, das passt gut dazu.«
»Er lässt vermuten, dass jemand mehr als wir darüber weiß, was im Moor vor sich geht«, sagte Dr. Mortimer.
»Und obendrein,« sagte Holmes, »dass Ihnen dieser Jemand wohlgesonnen ist, denn er warnt Sie vor Gefahr.«
»Oder man will mir aus irgendwelchen Gründen solche Angst machen, dass ich verschwinde.«
»Das ist natürlich ebenfalls möglich. Ich bin Ihnen sehr verbunden, Dr. Mortimer, dass sie mich mit einem Fall vertraut gemacht haben, der so viele verschiedene interessante Alternativen bietet. Aber die handfeste Entscheidung, die wir nun zu treffen haben, ist, ob es ratsam für sie ist, Sir Henry, nach Baskerville Hall zu gehen.«
»Warum sollte ich nicht gehen?«
»Es scheint dort eine Gefahr auf Sie zu lauern.«
»Meinen Sie Gefahr von diesem Familiengespenst oder Gefahr von einem menschlichen Wesen?«
»Genau das werden wir herausfinden müssen.«
»Was immer es sein mag, meine Antwort darauf steht fest: Es gibt keinen Teufel in der Hölle, Mr. Holmes, und es gibt keinen Menschen auf Erden, der mich davon abhalten kann, in das Haus meiner Väter heimzukehren, und das ist mein letztes Wort.« Er zog seine dunklen Brauen zusammen und errötete leicht, während er sprach. Es war offensichtlich, dass das grimmige Temperament der Baskervilles in diesem letzten Spross noch nicht erloschen war. »Zwischenzeitlich«, sagte er, »hatte ich noch keine Gelegenheit, alles zu durchdenken, das Sie mir erzählt haben. Es ist nicht einfach, alles zu verstehen und gleichzeitig Konsequenzen zu ziehen. Ich sollte eine Weile in Ruhe darüber nachdenken. Mr. Holmes, es ist jetzt halb zwölf und ich gehe direkt ins Hotel zurück. Wie wäre es, wenn Sie und Ihr Freund, Dr. Watson, gegen zwei zum Mittagessen herüberkämen? Ich kann Ihnen dann sicherlich besser verdeutlichen, welchen Eindruck diese Dinge auf mich machen.«
»Passt dir das, Watson?«
»Vollkommen.«
»Dann dürfen Sie uns erwarten. Soll ich Ihnen eine Droschke rufen lassen?«
»Ich ziehe einen Spaziergang vor, denn diese Affäre hat mich doch etwas nervös gemacht.«
»Ich werde Sie mit Vergnügen begleiten«, sagte Dr. Mortimer.
»Dann treffen wir uns gegen zwei Uhr wieder. Au revoir und schönen Tag!«
Wir hörten die Schritte unserer Besucher die Stufen hinabsteigen und das Schlagen der Haustür. Im Handumdrehen hatte sich Holmes vom müßigen Träumer zum Mann der Tat gewandelt.
»Hut und Schuhe, Watson, rasch! Wir haben keine Zeit zu verlieren!« Er rannte im Morgenrock in sein Zimmer und war nach wenigen Sekunden im Gehrock zurück. Wir eilten gemeinsam die Treppe hinab und auf die Straße. Dr. Mortimer und Baskerville waren noch zu sehen, wie sie in einer Entfernung von etwa 200 Metern in Richtung Oxford Street liefen.
»Soll ich rennen und sie anhalten?«
»Nicht um alles in der Welt, liebster Watson! Ich bin mit dir als Begleitung vollauf zufrieden, sofern du meine Gegenwart erträgst. Unsere Freunde sind sehr weise, denn es ist sicher ein herrlicher Morgen für einen Spaziergang.«
Er beschleunigte seine Schritte, bis wir den Abstand zu ihnen auf etwa die Hälfte verringert hatten. Dann folgten wir ihnen in die Oxford Street und die Regent Street hinunter, immer auf etwa hundert Meter Abstand achtend. Einmal blieben unsere Freunde stehen und betrachteten die Auslagen eines Schaufensters, woraufhin Holmes dasselbe tat. Einen Augenblick später stieß er einen zufriedenen Schrei aus, und als ich der Richtung seiner aufmerksam blickenden Augen folgte, bemerkte ich eine zweirädrige Droschke, in der ein Mann saß; sie hatte auf der anderen Seite der Straße gehalten und fuhr nunmehr langsam weiter.
»Das ist unser Mann, Watson! Komm mit! Wir werden ihn uns mal genau anschauen, sofern wir nicht mehr tun können.«
In diesem Augenblick wurde ich auf einen buschigen schwarzen Bart und einen stechenden Blick aufmerksam, der durch das Seitenfenster der Droschke auf uns gerichtet war. Sofort flog das Türchen auf dem Dach auf, dem Fahrer wurde etwas zugerufen und die Droschke raste eilig die Regent Street hinunter. Holmes blickte sich eifrig nach einer anderen um, doch war keine unbesetzte in Sicht. Dann stürzte er sich in wilder Verfolgung mitten in den Verkehrsstrom, aber der Vorsprung war zu groß und die Droschke bereits außer Sichtweite.
»Da haben wir's«, sagte Holmes verbittert, als er keuchend und weiß vor Wut aus der Fahrzeugflut auftauchte. »Hatte ich je so ein Pech und solch eine Dummheit begangen? Watson, Watson, wenn du ein ehrenhafter Mann bist, wirst du auch hiervon berichten und es gegen meine Erfolge aufrechnen!«
»Wer war der Mann?«
»Ich habe keine Ahnung.«
»Ein Verfolger?«
»Nun, nach allem, was wir gehört haben, ist es offenkundig, dass Baskerville verfolgt wurde, seit er in London ankam. Wie sonst konnte es so schnell bekannt werden, dass er das Northumberland Hotel ausgesucht hat? Wenn man ihm am ersten Tag folgte, so bin ich davon ausgegangen, dass man ihm auch am zweiten Tag folgen würde. Vielleicht hast du bemerkt, dass ich zweimal zum Fenster gegangen bin, während Dr. Mortimer seine Erzählung vorgelesen hat.«
»Ja, ich erinnere mich.«
»Ich habe Ausschau gehalten, ob sich jemand in der Straße herumtreibt, aber niemanden gesehen. Wir haben es mit einem gerissenen Mann zu tun, Watson. Dieser Fall ist sehr ernst, und auch wenn ich mir noch nicht darüber im Klaren bin, ob es sich um einen wohlwollenden oder übelwollenden Menschen handelt, mit dem wir es hier zu tun haben, spüre ich doch hinter allem Kraft und Entschlossenheit. Als unsere Freunde uns verließen, bin ich ihnen sofort gefolgt in der Hoffnung, den unsichtbaren Begleiter stellen zu können. Er war so schlau, ihnen nicht zu Fuß zu folgen, sondern sich eine Droschke zu nehmen, mal hinter ihnen her zu schlendern, mal vorneweg zu fahren und so ihrer Aufmerksamkeit zu entgehen. Seine Methode hatte den zusätzlichen Vorteil, dass er auch in der Lage war, ihnen zu folgen, sollten sie eine Droschke besteigen, doch sie hatte auch einen offenkundigen Nachteil.«
»Er lieferte sich dem Kutscher aus.«
»Genau.«
»Wie schade, dass wir nicht die Droschkennummer notiert haben!«
»Mein lieber Watson, wie ungeschickt ich auch gewesen sein mag, du kannst doch nicht ernsthaft glauben, dass ich so nachlässig war, mir nicht die Nummer zu merken? 2704, das ist unser Mann. Aber im Moment ist das für uns nutzlos.«
»Ich kann nicht erkennen, was du sonst noch hättest tun können.«
»Als mir die Droschke aufgefallen war, hätte ich auf dem Punkt kehrt machen und in die andere Richtung laufen müssen. Dann hätte ich in Ruhe eine zweite Droschke mieten und der ersten in respektvollem Abstand folgen sollen oder, noch besser, zum Northumberland Hotel fahren und dort warten sollen. Nachdem unser Unbekannter dann Baskerville ins Hotel gefolgt wäre, hätten wir die Gelegenheit gehabt, sein Spiel mit ihm zu spielen und ihm unsererseits zu folgen. Aus unserem Übereifer hat unser Gegenspieler seinerseits mit außerordentlicher Geschwindigkeit und Energie seinen Vorteil gezogen, wir haben uns selbst verraten und ihn verloren.«
Während dieser Unterhaltung waren wir langsam die Regent Street hinuntergeschlendert und Dr. Mortimer sowie sein Begleiter waren längst verschwunden.
»Es hat keinen Zweck, ihnen weiter zu folgen«, sagte Holmes, »ihr Schatten ist verschwunden und wird nicht zurückkommen. Lass sehen, welche Karten wir noch in Händen halten, und sie dann mit Entschlossenheit ausspielen. Könntest du das Gesicht des Mannes in der Droschke beschreiben?«
»Mit Sicherheit nur den Bart.«
»So geht es mir auch – woraus ich schließe, dass es sich mit aller Wahrscheinlichkeit um einen falschen Bart handelt. Ein so gerissener Mann mit einem so heiklen Auftrag braucht keinen solchen Bart, sofern er sich nicht dahinter verbergen will. Komm hier herein, Watson.«
Er betrat ein Büro der Bezirksbotengesellschaft, wo er herzlich vom Büroleiter begrüßt wurde.
»Ah, Wilson, wie ich sehe, haben Sie den kleinen Fall nicht vergessen, in welchem ich das Glück hatte, Ihnen helfen zu können!«
»Nein, Sir, das habe ich tatsächlich nicht. Sie haben meinen Ruf gerettet und vielleicht mein Leben.«
»Lieber Mann, Sie übertreiben. Meiner Erinnerung nach haben Sie unter Ihren Boten einen Jungen namens Cartwright, der sich während der Untersuchung als recht geschickt erwies.«
»Ja, Sir, er ist noch bei uns.«
»Könnten Sie ihn holen? Vielen Dank. Und könnten Sie mir freundlicherweise diese Fünf-Pfund-Note wechseln?«
Ein Junge von etwa vierzehn Jahren, mit einem offenen und aufgeweckten Gesicht, war der Aufforderung des Büroleiters gefolgt und sah den berühmten Detektiv nun mit großer Ehrfurcht an.
»Geben Sie mir bitte das Hotelverzeichnis«, sagte Holmes. »Danke. Nun, Cartwright, hier gibt es die Namen von 23 Hotels, die sich alle in der unmittelbaren Nachbarschaft von Charing Cross befinden. Siehst du?«
»Ja, Sir.«
»Du wirst sie alle der Reihe nach aufsuchen.«
»Ja, Sir.«
»Jedes Mal gibst du zunächst dem Portier an der Eingangstür einen Schilling. Hier sind 23 Schilling.«
»Ja, Sir.«
»Dann sagst du, dass du das Abfallpapier von gestern sehen möchtest, und erklärst ihnen, dass ein wichtiges Telegramm versehentlich weggeworfen wurde und dass du nach ihnen suchen musst. Hast du verstanden?«
»Ja, Sir.«
»Aber in Wirklichkeit suchst du nach der Innenseite der Times, in welche mit einer Schere Löcher geschnitten wurden. Hier ist eine Exemplar derselben Times. Es handelt sich um diese Seite hier. Du wirst sie leicht wiedererkennen, oder?«
»Ja, Sir.«
»Der Portier an der Eingangstür wird jedes Mal den Portier der Empfangshalle rufen lassen, welchem du auch einen Schilling gibst. Hier sind weitere 23 Schilling. In schätzungsweise zwanzig von dreiundzwanzig Fällen wirst du hören, dass das Abfallpapier vom Vortrag verbrannt oder fortgeschafft wurde. In den verbleibenden Fällen zeigt man dir einen Haufen Papier und du suchst darin nach dieser Seite der Times. Die Chancen sie zu finden sind mehr als gering. Hier sind noch zehn Schilling für Notfälle. Schicke mir bis heute Abend einen telegrafischen Bericht in die Baker Street. Und jetzt, Watson, bleibt uns nur noch die Identität des Droschkenkutschers Nr. 2704 herauszufinden, danach wollen wir eine der Kunstgalerien in der Bond Street aufsuchen und uns dort die Zeit vertreiben, bis wir im Hotel erwartet werden.«