Fjodor Michailowitsch Dostojewski
Ein Werdender - Erster Band
Fjodor Michailowitsch Dostojewski

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Fünftes Kapitel

1

Ich hatte die Stunde des Mittagessens versäumt, aber sie hatten sich noch nicht zu Tische gesetzt und warteten auf mich. Wohl deshalb, weil ich ziemlich selten bei ihnen aß, gab es sogar einige Extragerichte: Sardinen als Vorgericht und anderes. Aber zu meiner Verwunderung und meiner Betrübnis fand ich sie alle über etwas besorgt und verstimmt: Lisa lächelte kaum, als sie mich erblickte, und Mama war sichtlich in Unruhe; Wersilow lächelte, aber mit Anstrengung. »Ob sie sich gezankt haben?« dachte ich. Übrigens ging anfangs alles gut: nur daß Wersilow wegen der Kloßsuppe die Stirn runzelte und ein fürchterliches Gesicht schnitt, als das Hammelragout aufgetragen wurde:

»Ich brauche nur zu sagen, daß mein Magen sich vor irgendeiner Speise umdreht, dann steht sie am nächsten Tage auch auf dem Tisch«, fuhr es ihm ärgerlich heraus.

»Ja aber, Andrej Petrowitsch, was soll ich mir nur ausdenken? Es fällt einem ja kein neues Gericht mehr ein«, erwiderte meine Mutter zaghaft.

»Deine Mutter ist das gerade Gegenteil von manchen russischen Zeitungen, bei denen alles gut ist, was neu ist«, witzelte Wersilow; es sollte möglichst spaßhaft und freundlich klingen, aber das glückte ihm nicht ganz, und er schüchterte Mama nur noch mehr ein. Sie hatte natürlich von dem Vergleich zwischen ihr und den Zeitungen kein Wort verstanden und sah zweifelnd von einem zum andern. In diesem Augenblick trat Tatjana Pawlowna ins Zimmer; sie sagte, sie habe schon gegessen und setzte sich neben Mama auf den Diwan.

Ich hatte mir immer noch nicht die Zuneigung dieser Dame zu erwerben vermocht; im Gegenteil, sie hackte heftiger denn je bei jeder Gelegenheit auf mich los. Gerade in der letzten Zeit hatte sich ihr Mißfallen an mir besonders gesteigert: sie konnte meine stutzerhafte Kleidung nicht sehen, und Lisa hatte mir wiedererzählt, sie habe beinah einen Anfall bekommen, als sie erfuhr, ich hielte mir einen Fiaker. Ich hatte schließlich gesucht, Begegnungen mit ihr tunlichst zu vermeiden. Vor zwei Monaten, nach dem Verzicht auf die Erbschaft, war ich zu ihr gegangen, um mit ihr über Wersilows vornehme Tat zu sprechen, aber ich hatte bei ihr nicht das geringste Echo gefunden; sie war im Gegenteil äußerst erbost gewesen: ihr war es gar nicht recht, daß er auf alles verzichtet hatte und nicht nur auf die Hälfte; und mir hatte sie damals gesagt:

»Ich möchte doch wetten: du bist überzeugt, er hätte nur deshalb auf das Geld verzichtet und ihn gefordert, um Arkadij Makarowitschs Meinung über sich zu verbessern.«

Und sie hatte es wirklich beinah erraten: es war in der Tat so, daß ich damals etwas Ähnliches empfand.

Ich begriff in demselben Augenblick, als sie eintrat, daß sie sich sicherlich auf mich stürzen würde; ich war sogar bis zu einem gewissen Grade überzeugt, daß sie eigens deswegen gekommen wäre, und aus diesem Grunde gab ich mich auf einmal ausnehmend flott; das kostete mir nicht die geringste Anstrengung, weil ich mich immer noch, von vorhin her, in einem Zustande strahlender Freude befand. Ich möchte hier ein für allemal bemerken, daß Zwangslosigkeit in meinem ganzen Leben noch nie zu mir gepaßt hat, das heißt, sie steht mir einfach nicht zu Gesicht, sondern ich habe mich noch jedesmal damit blamiert. So ging es auch jetzt: mit dem ersten Wort tappte ich hinein; ich sah, daß Lisa furchtbar trübselig dasaß; und ohne jede häßliche Absicht, einfach aus Leichtsinn, ohne mir auch nur das geringste dabei zu denken, blökte ich los:

»Alle hundert Jahre einmal kommt man zum Essen her, und da mußt du, Lisa, gleich so langweilig dasitzen, als ob du's mit Absicht tätest!«

»Ich habe Kopfschmerzen«, antwortete Lisa.

»Ach du lieber Gott,« hakte sich Tatjana Pawlowna an mir fest, »was bedeutet denn das, daß du krank bist? Arkadij Makarowitsch hat die Gewogenheit, zum Essen zu kommen, da mußt du doch tanzen und jubeln.«

»Sie sind wahrhaftig das Unglück meines Lebens, Tatjana Pawlowna: ich komme nie wieder her, wenn Sie da sind!« Ich schlug ernstlich geärgert mit der Hand auf den Tisch; Mama fuhr zusammen, und Wersilow sah mich so sonderbar an. Ich lachte auf einmal laut und bat sie um Entschuldigung.

»Tatjana Pawlowna, ich nehme den Ausdruck ›Unglück‹ zurück«, wandte ich mich an sie und tat noch immer sehr zwanglos.

»O nein, bitte,« sagte sie kurz, »mir ist es viel schmeichelhafter, dein Unglück zu sein als das Gegenteil, das darfst du ruhig glauben.«

»Lieber Freund, man muß es verstehen, die kleinen Unglücksfälle des Lebens zu ertragen,« murmelte Wersilow mit einem Lächeln, »ohne Unglück ist das Leben überhaupt nicht lebenswert.«

»Wissen Sie, Sie sind manchmal ein furchtbarer Reaktionär«, rief ich und lachte nervös.

»Ach, lieber Freund, spuck' drauf!«

»Nein, durchaus nicht! Warum sagen Sie's einem Esel nicht gerade ins Gesicht, wenn er ein Esel ist?«

»Sprichst du am Ende gar von dir selber? Erstens will und kann ich mich über niemand zum Richter aufwerfen . . .«

»Warum können Sie das nicht, warum wollen Sie das nicht?«

»Das ist einerseits Trägheit, auf der andern Seite Abneigung dagegen. Eine kluge Frau hat einmal zu mir gesagt, ich hätte deswegen nicht das Recht, über andre zu richten, weil ich ›nicht zu leiden verstünde‹; wenn einer sich zum Richter über andre setzen wolle, müsse er sich das Recht, zu richten, durch Leiden verdienen. Das klingt ein bißchen hochtrabend, ist aber in seiner Anwendung auf mich vielleicht wirklich wahr, so daß ich mich damals diesem Urteil sehr gern unterwarf.«

»Hat am Ende Tatjana Pawlowna das zu Ihnen gesagt?« rief ich.

»Woher weißt du das?« fragte Wersilow und sah mich einigermaßen erstaunt an.

»Ich hab' es an Tatjana Pawlownas Gesicht gesehen; es verzog sich auf einmal so sonderbar.«

Ich hatte es ganz zufällig erraten. Tatjana Pawlowna hatte diesen Satz tatsächlich am Abend vorher in einer hitzigen Debatte Wersilow zugerufen. Ich wiederhole: ich sprang ihnen allen mit meiner Freude und meiner Expansivität sehr zur Unzeit ins Gesicht: jeder von ihnen hatte seine eignen Sorgen im Kopfe, und zwar sehr schwere.

»Davon verstehe ich kein Wort, weil das alles so abstrakt ist; und das ist überhaupt ein Zug von Ihnen: sie lieben es furchtbar, abstrakt zu sprechen, Andrej Petrowitsch; das ist ein egoistischer Zug: abstrakt zu sprechen lieben nur die Egoisten.«

»Das ist gar nicht so dumm, aber reite jetzt auch nicht darauf herum.«

»Nein, erlauben Sie,« platzte ich mit meinen Expansivitäten heraus, »was heißt das, ›sich durch Leiden ein Recht zum Richten zu verdienen‹? Wer ehrenhaft ist, der darf auch Richter sein – so denke ich darüber.«

»In dem Falle wirst du aber wenig Richter zusammenbringen.«

»Einen kenne ich schon.«

»Und das wäre?«

»Er sitzt hier am Tische und spricht mit mir.«

Wersilow lachte sonderbar, beugte sich ganz zu meinem Ohr herüber, faßte mich an der Schulter und flüsterte mir zu: »Der lügt dich immer bloß an.«

Ich verstehe heute noch nicht, was er sich damals dabei dachte, aber er war in jenem Augenblick offenbar außerordentlich erregt (wegen einer Nachricht, die er empfangen hatte, wie ich mir später denken konnte). Aber dieses Wort: »Der lügt dich bloß an«, kam so überraschend und wurde so ernst ausgesprochen, in einem so sonderbaren, durchaus nicht scherzhaften Tone, daß ich am ganzen Leibe nervös zitterte, ja fast erschrak und ihn verblüfft ansah; aber Wersilow beeilte sich, aufzulachen.

»Ach, Gott sei Dank,« sagte Mama, die es erschreckt hatte, daß er mir etwas ins Ohr sagte, »ich hatte schon gedacht . . . Arkascha, du mußt nicht böse auf uns sein; kluge Leute wirst du auch ohne uns immer haben; aber wer wird dich liebhaben, wenn wir nicht bei dir sind?«

»Das ist eben das Unmoralische an der verwandtschaftlichen Liebe, Mama, daß man sie sich nicht verdient. Liebe muß man sich verdienen.«

»Ja, woanders mußt du sie dir erst verdienen, aber hier liebt man dich auch ohne Grund.«

Da fingen alle auf einmal zu lachen an.

»Na, Mama,« rief ich, gleichfalls lachend, »Sie wollten wahrscheinlich gar nicht schießen, haben aber den Vogel doch getroffen!«

»Ja, hast du denn wirklich geglaubt, du gäbest einem irgendeinen Grund, dich zu lieben?« stürzte sich wieder Tatjana Pawlowna auf mich. »Nicht nur, daß man dich ohne Grund liebt, man muß erst noch seinen Widerwillen überwinden, um dich zu lieben!«

»Ach, das doch nicht!« rief ich vergnügt. »Wissen Sie, wer mir heute ziemlich deutlich gesagt hat, daß er mich liebt?«

»Der hat das bloß gesagt, um sich über dich lustig zu machen!« fiel Tatjana Pawlowna auf einmal fast unnatürlich giftig ein, als hätte sie eben diese Worte von mir erwartet. »Jawohl, jeder feinfühlige Mensch, besonders aber jede Frau, muß sich ja schon allein vor deiner seelischen Schmutzigkeit ekeln. Du hast 'nen Scheitel auf dem Kopf, trägst feine Wäsche und Kleider von einem französischen Schneider, aber dabei ist das alles Schmutz! Wer kleidet dich, wer füttert dich, wer gibt dir Geld zum Roulettespiel? Weißt du nicht mehr, von wem du dich nicht entblödest Geld anzunehmen?«

Mama errötete vor Scham so stark, wie ich es bei ihr noch nie gesehen hatte. In mir drehte sich alles um:

»Wenn ich Geld zum Fenster hinauswerfe, so werfe ich mein eignes hinaus und bin niemand Rechenschaft schuldig«, wollte ich dieses Gespräch abbrechen und wurde auch rot.

»Dein eignes? Wieso dein eignes?«

»Ist es nicht meins, so gehört es Andrej Petrowitsch. Er wird es mir nicht abschlagen . . . Ich habe es vom Fürsten auf Rechnung seiner Schuld an Andrej Petrowitsch genommen . . .«

»Lieber Freund,« sagte Wersilow auf einmal bestimmt, »mir gehört da keine Kopeke.«

Dieser Satz wog ja sehr schwer. Ich saß starr da. Oh, natürlich, wenn ich meine damalige aufs Paradoxe gerichtete und nach nichts fragende Art in Betracht ziehe, so muß ich sagen, daß ich mich natürlich durch irgendeinen »edeln« Ausbruch oder durch ein schlagendes Wort aus der Affäre gezogen hätte, oder durch sonst was, aber ich bemerkte in Lisas finsterm Gesicht auf einmal einen bösen, anklagenden Ausdruck, einen mir ungerechtfertigt scheinenden Ausdruck, der fast wie Hohn aussah; und da war's, als ob der Bock mich stieße.

»Mein Fräulein,« wendete ich mich plötzlich an sie, »ich glaube, Sie besuchen ja so häufig Darja Onisimowna in der Wohnung des Fürsten? Wollen Sie also nicht die Freundlichkeit haben, ihr hier diese dreihundert Rubel wiederzugeben, wegen deren Sie mich heute schon so angeödet haben?«

Ich zog das Geld hervor und hielt es ihr hin. Wird man mir's glauben, daß ich diese häßlichen Worte damals ohne jede Absicht gesagt habe, das heißt, ohne damit im geringsten auf irgend etwas anspielen zu wollen? Ja, und ich hätte überhaupt auf gar nichts anspielen können, weil ich in jenem Augenblick überhaupt noch gar nichts wußte. Ich hatte vielleicht nur den Wunsch, ihr einen verhältnismäßig sehr unschuldigen Hieb zu versetzen, etwa in der Art: »Ach so, das Fräulein mischt sich in Dinge, die es nichts angehen? Ach, wollen Sie, wenn Sie sich schon unbedingt einmischen müssen, nicht gleich selber zu diesem Fürsten gehen, diesem jungen Manne, diesem Petersburger Offizier, und ihm das Geld wiedergeben, wenn Sie sich schon einmal mit den Angelegenheiten junger Leute befassen müssen.« Aber wie groß war mein Erstaunen, als Mama plötzlich aufsprang, drohend den Finger gegen mich erhob und rief:

»Untersteh dich! Untersteh dich!«

Etwas Derartiges von ihr hätte ich mir nie träumen lassen; ich sprang gleichfalls auf, nicht etwa erschrocken, sondern im Gefühl eines Schmerzes, mit einer Art peinigender Wunde im Herzen, weil ich plötzlich erriet, daß etwas Verhängnisvolles geschehen sein mußte. Aber Mama blieb nicht lange stark: sie bedeckte ihr Gesicht mit den Händen und verließ schnell das Zimmer. Lisa folgte ihr, ohne mich anzusehen. Tatjana Pawlowna sah mich wohl eine halbe Minute lang schweigend an:

»Ja, sag' mal, hast du hier wirklich irgendetwas einrühren wollen?« rief sie rätselhaft und sah mich höchst verwundert an; aber sie wartete meine Antwort nicht ab und eilte den andern nach. Wersilow erhob sich mit feindseligem, fast wütendem Gesicht vom Tisch und holte seinen Hut aus der Ecke.

»Ich glaube, du bist gar nicht so dumm, sondern bloß harmlos«, sagte er spöttisch zu mir. »Wenn sie wiederkommen, sag' ihnen, sie brauchen mit der süßen Speise nicht auf mich zu warten: ich will mir ein bißchen die Beine vertreten.«

Ich blieb allein; zuerst kam mir das merkwürdig vor, dann fühlte ich mich beleidigt, aber schließlich sah ich klar ein, daß ich einen Fehler begangen hatte. Übrigens wußte ich nicht, worin ich gefehlt hätte, aber ich hatte doch so ein Gefühl. Ich saß am Fenster und wartete. Als ich so zehn Minuten gewartet hatte, nahm ich gleichfalls meinen Hut und ging hinauf in mein ehemaliges Stübchen. Ich wußte, daß ich sie dort finden würde, das heißt, Mama und Lisa, und daß Tatjana Pawlowna schon gegangen war. Ich fand die beiden auch beisammen auf meinem Diwan; sie flüsterten miteinander. Als sie mich erblickten, verstummten sie beide sogleich. Zu meinem Erstaunen waren sie mir nicht böse; Mama wenigstens lächelte mich an.

»Mama, ich muß um Verzeihung bitten«, begann ich . . .

»Na, na, laß nur,« unterbrach mich meine Mutter, »liebt euch nur untereinander und streitet euch nie, dann wird der liebe Gott schon Glück geben.«

»Er wird mich nie mit Absicht kränken, Mama, glauben Sie mir!« sagte Lisa überzeugt und warm.

»Wenn diese Tatjana Pawlowna nicht wäre, dann wäre überhaupt nichts passiert,« schrie ich, »sie ist eine schlechte Person!«

»Sehen Sie, Mama? Hören Sie?« sagte Lisa und zeigte auf mich.

»Wißt ihr, was ich euch sagen will?« verkündete ich. »Wenn's in der Welt häßlich ist, so bin ich allein häßlich und alles andre ist wundervoll!«

»Arkascha, ärgere dich doch nicht, lieber Junge; aber wenn du doch wirklich aufhören wolltest . . .«

»Zu spielen? Zu spielen? Ich höre schon auf, Mama: heute geh' ich zum letztenmal hin, zumal ja Andrej Petrowitsch laut und deutlich gesagt hat, ihm gehörte dort keine Kopeke. Sie können sich nicht vorstellen, wie ich mich schäme . . . Ich muß mich übrigens mit ihm aussprechen . . . Mama, Liebste, das letztemal, als ich hier war, habe ich etwas . . . Unziemliches gesagt . . . Mamachen, das war ja nicht wahr: ich habe den aufrichtigen Wunsch, gläubig zu sein, ich habe nur den Mund voll genommen, ich liebe Christus . . .«

Wir hatten das letztemal in der Tat ein Gespräch über dieses Thema gehabt; Mama war sehr betrübt und erregt gewesen. Und als ich jetzt so sprach, lächelte sie mir zu, wie einem kleinen Kinde:

»Arkascha, Christus verzeiht alles, er verzeiht auch deine häßlichen Worte und verzeiht Leuten, die schlechter sind als du. Christus ist unser Vater, Christus bedarf unser nicht und leuchtet selbst in der tiefsten Finsternis . . .«

Ich verabschiedete mich und ging. Dabei dachte ich über die Aussichten nach, heute noch Wersilow zu treffen; ich hatte sehr dringend mit ihm zu sprechen, und vorhin war es unmöglich gewesen. Ich vermutete stark, daß ich ihn in meiner Wohnung finden würde. Ich ging zu Fuß; es war warm gewesen, jetzt begann es leicht zu frieren; so ging es sich sehr angenehm.

 

2

Ich wohnte in der Nähe der Wosnesenskij-Brücke, in einer großen Mietskaserne, im Rückgebäude. Kaum war ich durch das Hoftor eingetreten, als ich schon Wersilow traf, der aus meiner Wohnung kam.

»Nach meiner alten Gewohnheit bin ich bis zu deiner Wohnung spaziert und habe auch ein bißchen bei Piotr Ippolitowitsch gesessen und auf dich gewartet, aber die Sache ist mir dann zu langweilig geworden. Deine Leute da zanken sich in einem fort, und heute hat sich die Frau sogar ins Bett gelegt und weint. Ich habe nur hineingeschaut und bin wieder gegangen.«

Ich weiß nicht, warum mich das verdroß.

»Ich bin wohl der einzige Mensch, den Sie besuchen, und außer mir und Piotr Ippolitowitsch haben Sie wohl niemand in ganz Petersburg?«

»Lieber Freund . . . das ist ja auch ganz egal.«

»Und wohin geht's denn jetzt?«

»Nein, noch einmal zu dir hinauf mag ich nicht. Wenn du Lust hast, machen wir einen kleinen Spaziergang; es ist ein herrlicher Abend.«

»Wenn Sie, statt Ihrer abstrakten Erörterungen, menschlich mit mir gesprochen hätten und mir zum Beispiel nur einen kleinen Wink wegen dieses verfluchten Spiels gegeben hätten, wäre ich vielleicht nicht wie ein Narr in diese Geschichten hineingetappt«, sagte ich plötzlich.

»Tut es dir leid? Das ist schön,« erwiderte er und zog die Worte durch die Zähne, »ich habe mir auch schon immer gedacht, daß für dich das Spiel keine wichtige Hauptsache darstellt, sondern nur eine zeit–wei–lige Verirrung . . . Du hast ganz recht, lieber Freund, das Spiel ist eine Schweinerei, und außerdem kann man ja auch verlieren.«

»Und fremdes Geld verlieren.«

»Hast du denn auch fremdes Geld verloren?«

»Ich habe Ihr Geld verloren. Ich hab' es vom Fürsten auf Ihre Rechnung geliehen. Das war natürlich eine furchtbare Dummheit und Ungeschicklichkeit von mir . . . daß ich Ihr Geld für meins ansah; aber ich wollte es ja. immer wieder zurückgewinnen.«

»Ich muß dir noch einmal sagen, lieber Freund, daß mir da gar kein Geld gehört. Ich weiß, daß der junge Herr selber in der Klemme sitzt, und ich rechne von seiner Seiten auf nichts, mag er mir auch versprochen haben, was er wolle.«

»Wenn die Sache so liegt, so ist meine Situation doppelt heikel . . . Meine Situation ist einfach lächerlich! Auf welcher Basis leiht er mir denn Geld, und auf welcher Basis lasse ich mir dann von ihm leihen?«

»Ja, das, zu entscheiden muß ich dir schon selber überlassen . . . Aber gibt es denn wirklich durchaus keine Basis, auf der du von ihm borgen könntest, was?«

»Außer unsrer Freundschaft . . .«

»Außer der Freundschaft weiter gar nichts? Gibt es denn gar nichts, was dir den Gedanken nahelegen könnte, von ihm zu borgen, was? Na, ich meine, so aus irgendwelchen Erwägungen heraus?«

»Aus was für Erwägungen denn? Das versteh' ich nicht.«

»Um so besser, wenn du's nicht verstehst, und, lieber Freund, ich bekenne offen: ich war auch überzeugt davon. Brisons là, mon cher, und sieh nur zu, daß du nicht mehr spielst.«

»Wenn Sie mir das doch früher gesagt hätten! Und jetzt sagen Sie das auch, als ob Sie die Worte kauten.«

»Wenn ich dir das früher gesagt hätte, so hätten wir beide uns deswegen nur verzankt, und du hättest mich nicht so gern abends bei dir gesehen. Und dann, lieber Freund, mußt du wissen, sind all solche im voraus gegebenen guten Ratschläge nichts als ein Sicheindrängen, auf fremde Rechnung, in ein fremdes Gewissen. Ich hab' mich oft genug in fremde Gewissen eingedrängt und habe zu guter Letzt nichts als Nasenstüber und Hohn und Spott dabei geerntet. Auf Nasenstüber und Hohn und Spott spuck' ich ja natürlich, aber das wichtigste ist, man erreicht mit dieser Methode nicht das geringste: kein Kuckuck hört auf dich, so sehr du dich auch ins Zeug legst . . . und du wirst jedermann zuwider.«

»Ich bin froh, daß Sie endlich einmal von etwas anderm als abstrakten Dingen mit mir sprechen. Ich möchte noch eine Frage an Sie richten; das will ich schon lange, aber wenn ich mit Ihnen zusammen war, ist es nie gegangen. Es ist gut, daß wir auf der Straße sind. Wissen Sie noch, wie wir an jenem Abend, jenem letzten Abend bei Ihnen, vor zwei Monaten –, wie wir da in meinem ›Sarge‹ saßen und ich Sie über Mama und Makar Iwanowitsch ausfragte, – wissen Sie noch, wie ›ungezwungen‹ ich damals mit Ihnen redete? Wie konnten Sie dulden, daß solch ein junger Hund von Sohn in solchen Ausdrücken von seiner Mutter spricht? Aber weit gefehlt! Sie taten gar nicht dergleichen: ganz im Gegenteil, Sie selber ›führten Ihren Mund gleichfalls spazieren‹ und dadurch steigerten Sie meine ›Ungezwungenheit‹ nur noch.«

»Mein lieber Freund, es freut mich ungeheuer, daß du mir sagst . . . Solche Gefühle . . . Ja, ich weiß es noch sehr genau, ich wartete damals in der Tat darauf, eine Röte in dein Gesicht steigen zu lassen, und wenn ich dich selber noch anstachelte, so geschah es wohl eben in der Absicht, dich endlich die Grenze finden zu lassen . . .«

»Und so haben Sie mich damals nur betrogen und den reinen Quell in meiner Seele nur noch mehr getrübt! Ja, ich bin ein trauriger Halbwüchsling und weiß zuzeiten selber nicht, was gut und was böse ist. Hätten Sie mir damals auch nur in winziges Stückchen Weg gezeigt, dann wäre ich schon auf das Rechte gekommen und hätte sogleich die richtige Bahn eingeschlagen. Aber Sie haben mich damals nur noch aufgehetzt.«

»Cher enfant, ich habe schon immer das Gefühl gehabt, daß wir, so oder so, doch noch einmal zusammenkommen würden: diese ›Röte‹ ist dir jetzt ja doch von selbst in die Wangen gestiegen, ohne gute Lehren von meiner Seite; und, du kannst dich darauf verlassen, das ist viel besser für dich . . . Und, lieber Freund, ich bemerke überhaupt, daß du in letzter Zeit in mancher Hinsicht sehr gewonnen hast . . . Sollte das eine Folge des Umganges mit diesem kleinen Fürsten sein?«

»Sagen Sie mir keine Schmeicheleien, ich liebe das nicht. Nähren Sie nicht den schweren Verdacht in meinem Herzen, daß Sie mir aus Jesuitismus angenehme Dinge sagen, der Wahrheit zuwider, um mir sympathisch zu bleiben. Ich . . . müssen Sie wissen, habe in letzter Zeit viel mit Damen verkehrt. Anna Andrejewna hat mich zum Beispiel sehr freundlich aufgenommen, müssen Sie wissen!«

»Ich weiß es von ihr selber, lieber Freund. Ja, sie ist sehr nett und gescheit. Mais brisons là, mon cher. Ich bin heute ganz blödsinnig schlecht aufgelegt – so eine Art graues Elend. Es muß wohl mit meinen Hämorrhoiden zusammenhängen. Na, und was ist denn zu Hause draus geworden? Wohl gar nichts? Du hast dich natürlich wieder vertragen, und ihr seid euch um den Hals gefallen? Cela va sans dire. Manchmal ist es mir direkt ein trauriger Gedanke, zu ihnen heimzugehen, selbst wenn ich von einem durchaus nicht schönen Spaziergang komme. Du kannst mir glauben, ich mache so manches liebe Mal einen unnötigen Umweg im Regen, um nur möglichst lange aus diesem Heim wegbleiben zu können . . . Und langweilig ist's da, so langweilig, daß Gott erbarm!«

»Mama . . .«

»Deine Mutter ist der vollkommenste und herrlichste Mensch, mais . . . Kurz und gut, ich bin ihrer wohl nicht würdig. Beiläufig, was haben die eigentlich heute? Sie sind die ganzen letzten Tage schon eine wie die andere so, so . . . Weißt du, ich versuche immer so zu tun, als merke ich es nicht, aber heute muß sich da irgend etwas angesponnen haben . . . Hast du nichts davon bemerkt?«

»Ich weiß gar nichts, und ich hätte überhaupt nichts davon gemerkt, wenn nicht diese verfluchte Tatjana Pawlowna dagewesen wäre, die sich ja immer wie ein bissiger Köter auf mich stürzen muß. Sie haben recht: da ist irgend etwas nicht in Ordnung. Ich habe Lisa vorhin bei Anna Andrejewna getroffen; sie war auch da schon so . . . Ich habe mich direkt über sie gewundert. Wissen Sie eigentlich, daß sie bei Anna Andrejewna verkehrt i«

»Freilich, lieber Freund. Aber . . . aber wann warst du heute bei Anna Andrejewna, ich meine, um welche Zeit? Ich möchte das aus einem ganz bestimmten Grunde wissen.«

»Von zwei bis drei. Und denken Sie sich: als ich fortging, kam gerade der Fürst . . .«

Und nun erzählte ich ihm meinen ganzen Besuch mit größter Ausführlichkeit. Er hörte mich schweigend bis zu Ende an; zu der Möglichkeit, daß der Fürst um Anna Andrejewna anhalten könne, sagte er kein Wort; auf meine begeisterten Lobsprüche für Anna Andrejewna warf er noch einmal so nebenbei hin, ja, sie wäre »nett«.

»Ich konnte sie heute sehr überraschen, ich erzählte ihr die letzte, frischgebackene Neuigkeit aus der Gesellschaft: daß Katerina Nikolajewna Achmakowa Baron Bjoring heiratet,« sagte ich plötzlich; es war, als wäre auf einmal eine Hemmung in mir zerbrochen.

»So? Nun stell' dir vor, sie hat mir genau dieselbe ›Neuigkeit‹ vorhin auch erzählt, vor zwölf Uhr, das heißt: lange, bevor du sie damit überraschen konntest.«

»Was sagen Sie?« rief ich und blieb einfach stehen. »Woher konnte sie das wissen? Aber was red' ich! Natürlich konnte sie es vor mir wissen; aber stellen Sie sich vor: sie tat, als ich's ihr erzählte, als wäre es ihr vollkommen neu! Aber . . . Aber was red' ich. Es lebe die Duldsamkeit! Man muß jede Art von Charakter gelten lassen, nicht wahr? So habe ich zum Beispiel gleich alles wiedererzählt, sie würde es wie in einer Schnupftabaksdose verschließen. Und wenn schon, und wenn schon, deshalb ist sie doch der herrlichste Mensch und der wundervollste Charakter!«

»Oh, zweifellos, jeder nach seiner Art! Und was das originellste ist: diese wundervollen Charaktere verstehen es manchmal, einem ganz merkwürdige Rätsel aufzugeben; stell' dir vor, Anna Andrejewna verblüffte mich heute auf einmal mit der Frage, ob ich Katerina Nikolajewna liebte oder nicht?«

»Was für eine sonderbare und unwahrscheinliche Frage!« rief ich, wieder höchst erstaunt. Mir wurde geradezu dunkel vor den Augen. Ich hatte die Rede zwischen uns noch nie auf dieses Thema gebracht, und jetzt fing er selber davon an . . .

»Womit hat sie das begründet?«

»Überhaupt nicht, lieber Freund, nicht im geringsten; die Schnupftabaksdose schnappte gleich nur noch fester zu; und, was die Hauptsache ist, du mußt bedenken, daß weder ich selbst jemals auch nur die Möglichkeit angedeutet habe, daß ich für solche Gespräche zu haben sein könnte, noch hat sie . . . Übrigens, du sagtest ja selbst, du kennst sie; du kannst dir also vorstellen, wie solch eine Frage gerade ihr zu Gesicht steht . . . Wußtest du denn gar nichts?«

»Ich stehe genau so vor einem Rätsel wie Sie. Eine plötzliche Neugier vielleicht, ein Spaß?«

»Oh, ganz im Gegenteil, es war eine höchst ernsthafte Frage, oder eigentlich keine Frage mehr, sondern sozusagen ein Verhör, und sichtlich ein Verhör zu ganz wichtigen und kategorischen Zwecken. Kommst du nicht wieder zu ihr? Könntest du nicht etwas erfahren? Ich würde dich sogar bitten, weißt du . . .«

»Aber die Möglichkeit, das ist's ja – einfach die Möglichkeit anzunehmen, Sie liebten Katerina Nikolajewna! Verzeihen Sie, ich bin immer noch ganz starr. Ich habe mir doch nie, nie im Leben erlaubt, mit Ihnen hierüber oder über ein ähnliches Thema zu sprechen . . .«

»Und das war sehr vernünftig von dir, lieber Freund.«

»Ihre früheren Intrigen und Beziehungen, – natürlich ist dieses Thema zwischen uns beiden unpassend, und es wäre sogar dumm von mir, es zu berühren; aber ich habe, gerade in letzter Zeit, in den letzten Tagen, so manches liebe Mal zu mir selber gesagt: was wäre, wenn Sie diese Frau auch nur irgendwann einmal geliebt hätten, nur eine Minute lang? – Oh, dann hätten Sie in bezug auf sie nie diesen sonderbaren Fehler gemacht, ich meine: in Ihrer Meinung über sie, den Sie ja doch nachher gemacht haben! Was daraus geworden ist, – darüber weiß ich Bescheid: über Ihre gegenseitige Feindschaft und, wenn ich mich so ausdrücken darf, Ihren gegenseitigen Widerwillen, das weiß ich, davon' hab' ich gehört, hab' ich nur zuviel gehört, hab' ich schon in Moskau gehört; aber da springt einem doch vor allen Dingen die Tatsache der erbitterten Abneigung in die Augen, der erbitterten Feindschaft, des geraden Gegenteils von Liebe; und Anna Andrejewna stellt Ihnen auf einmal die Frage: ›Lieben Sie sie?‹ Sollte sie denn wirklich so schlecht orientiert sein? Das ist doch ganz sonderbar! Sie hat nur Spaß gemacht, verlassen Sie sich drauf, sie hat Spaß gemacht.«

»Aber, lieber Freund, mir scheint,« sagte er, und in seiner Stimme lag etwas Anteilvolles, Herzliches, zu Herzen Gehendes, was bei ihm sehr selten vorkam, »mir scheint, du selber sprichst mit ziemlichem Feuer von dieser Sache. Du sagtest vorhin, du verkehrtest mit Damen . . . Dich auszufragen, ist mir natürlich . . . Gerade über dies Thema, wie du dich ausdrücktest . . . Aber gehört nicht auch ›diese Frau‹ auf die Liste deiner neuen Freundinnen?«

»Diese Frau . . .« meine Stimme erzitterte plötzlich, »hören Sie mich an, Andrej Petrowitsch: diese Frau verkörpert das, was Sie vorhin beim Fürsten vom ›lebendigen Leben‹ gesagt haben – wissen Sie's noch? Sie sagten, dieses lebendige Leben wäre etwas so Einfaches und Gerades, es sähe einem so gerade ins Gesicht, daß man eben wegen dieser Geradheit und Klarheit nicht glauben könne, daß es eben das ist, was wir unser Leben lang mühsam suchen . . . Nun, und Sie sind einer Frau mit einem solchen Blick begegnet – einem Ideal von Vollkommenheit; und in diesem Ideal meinten Sie ›alle Laster‹ zu sehen! Da haben Sie's!«

Der Leser kann sich danach vorstellen, in was für einer Erregung ich war.

»›Alle Laster!‹ Oho! Diese Phrase kenne ich!« rief Wersilow. »Wenn's schon so weit ist, daß man dir das erzählt hat, so möchte ich beinah fragen, ob man dir nicht schon zu etwas gratulieren darf? Das bezeichnet einen Grad von Intimität zwischen euch, daß man dich vielleicht wegen einer Zurückhaltung und Diskretion preisen müßte, der nur wenige junge Leute fähig wären . . .«

In seiner Stimme leuchtete ein herzliches, freundliches, streichelndes Lachen . . . etwas Einladendes, Herzliches lag auch in seinen Worten und auf seinem hellen Gesicht, soviel ich in der Dunkelheit sehen konnte. Er war erstaunlich erregt. Ich konnte nicht anders, ich strahlte förmlich.

»Zurückhaltung, Diskretion! O nein, nein!« rief ich und wurde rot und drückte gleichzeitig seine Hand, die ich, ich weiß nicht wie, ergriffen und unwillkürlich in meiner behalten hatte. »Nein, um keinen Preis . . .! Kurz und gut, mir ist da zu gar nichts zu gratulieren und wird nie zu gratulieren sein, da kann niemals etwas passieren«, sagte ich atemlos und wurde gleichsam fortgetragen, und ich ließ mich so gern tragen, mir war dabei so wohl zumute. »Wissen Sie . . . Na, mag es denn einmal sein, dieses eine kleine Mal! Sehn Sie, Sie mein geliebter, herrlicher Papa, – Sie erlauben doch, daß ich Papa zu Ihnen sage? – nicht nur nicht mit seinem Vater, sondern überhaupt mit keiner dritten Person kann ein Mann über seine Beziehungen zu einer Frau sprechen, und mögen sie noch so rein sein! Ja, ich möchte sagen: je reiner sie sind, desto verschwiegener muß man sein! Das wäre ja häßlich, das wäre ordinär, kurz und gut – Vertraulichkeit ist da ausgeschlossen! Aber wenn überhaupt nichts vorliegt, nicht das geringste, dann kann man doch davon sprechen, oder nicht?«

»Das kommt darauf an, was einem das eigne Herz sagt.«

»Nun eine unbescheidne, sehr unbescheidne Frage: Sie haben doch in Ihrem Leben auch Frauen gekannt, haben Liaisons gehabt . . .? Ich spreche nur im allgemeinen, ganz im allgemeinen, nicht von besondern Fällen!« sagte ich errötend und verschluckte mich beinahe vor Begeisterung.

»Ja, setzen wir mal den Fall, ich hätte auch so meine Sünden auf dem Gewissen.«

»Also, da ist so ein Fall, und Sie sollen ihn mir als der Erfahrenere erklären: eine Dame sagt Ihnen beim Abschied, ganz überraschend, und ohne Sie selbst dabei anzusehen: ›Morgen um drei Uhr werde ich da und da sein‹ . . . na, setzen wir zum Beispiel den Fall, bei Tatjana Pawlowna,« platzte ich heraus und war nun schon wie losgelassen. Mein Herz klopfte und blieb stehen; ich verstummte sogar, ich konnte nicht weitersprechen. Er spitzte nur so die Ohren.

»Und nun: am nächsten Tage um drei Uhr bin ich bei Tatjana Pawlowna, ich gehe hinauf und denke mir dabei: die Köchin wird mir aufmachen – Sie kennen ihre Köchin doch? –, und ich werde sie gleich fragen: Ist Tatjana Pawlowna zu Hause? Und wenn die Köchin mir sagt, Tatjana Pawlowna ist nicht zu Hause, aber eine Dame wartet auf sie, – was müßte ich daraus schließen? Sagen Sie, wenn Sie . . . Kurz und gut, wenn Sie . . .?«

»Ganz einfach, daß man dir ein Rendezvous gegeben hätte. Na also, so war es? Und das war heute? Ja?«

»O nein, nein, nein, gar nicht, gar nicht! Das war wohl so, aber das war ganz was andres; schon ein Rendezvous, aber durchaus nicht zu dem Zweck; und das sag' ich gleich, sonst wäre ich ja ein Schurke; das war wohl so, aber . . .«

»Lieber Freund, diese ganze Sache wird mir so interessant, daß ich dir vorschlagen möchte . . .«

»Ich hab' früher selber Bettlern Zehner und Zwanziger gegeben. Schenken Sie mir was! Nur ein paar Kopeken! Ich bin ein Leutnant, ein armer Leutnant außer Diensten!« Mit diesen Worten vertrat uns plötzlich die hohe Gestalt eines Bettlers den Weg, der vielleicht wirklich ein ehemaliger Leutnant war. Das Interessanteste war, daß er für seinen Beruf sehr gut gekleidet war und doch den Hut hinhielt.

 

3

Ich erwähne diese ganz unbedeutende Anekdote von diesem gleichgültigen Leutnant mit Absicht, weil ich Wersilow heute noch nicht anders vor mir sehen kann, als mit allen kleinsten Einzelheiten jener für ihn so verhängnisvollen Minute. Ja, sie war verhängnisvoll, und ich wußte nichts davon!

»Herr, wenn Sie nicht machen, daß Sie weiterkommen, so wende ich mich sofort an die Polizei«, schrie Wersilow, ich möchte sagen, unnatürlich laut, und stellte sich vor den Leutnant hin. Ich hätte mir nie träumen lassen, daß dieser Philosoph so in Zorn geraten könnte, und das aus so einer lächerlichen Veranlassung. Und dazu ist noch zu bemerken, daß damit unser Gespräch gerade an dem Punkte unterbrochen wurde, der für ihn, wie er ja selber sagte, am interessantesten war.

»Also haben Sie nicht mal 'nen Fünfer mehr?« schrie der Leutnant grob und machte eine großartige Handbewegung. »Ein jeder Dreckkerl hat heutzutage doch 'nen Fünfer! Gesindel! Halunken! Das läuft im Biberpelz 'rum und macht aus 'nem Fünfer 'ne Haupt- und Staatsaktion!«

»Schutzmann!« schrie Wersilow.

Und er hätte gar nicht zu schreien brauchen: der Schutzmann stand dicht dabei an der Straßenecke und konnte die Schimpfworte des Leutnants selber hören.

»Ich ersuche Sie, mein Zeuge für diese Anrempelung zu sein, und Sie ersuche ich, sich mit auf die Wache bemühen zu wollen«, sagte Wersilow.

»Äh, äh, mir ist's ganz egal, Sie können mir einfach gar nichts beweisen! Und besonders können Sie mir nicht beweisen, daß Sie viel Grütze im Kopf haben!«

»Lassen Sie ihn nicht los, Schutzmann, und kommen Sie mit«, sagte Wersilow hartnäckig.

»Ja, wollen Sie denn wirklich auf die Wache? Hol' ihn doch der Teufel!« flüsterte ich ihm zu.

»Ganz bestimmt, lieber Freund. Diese Frechheit auf der Straße wird einem schließlich denn doch zu dumm, und wenn jeder hierin seine Pflicht tun wollte, so wäre es für alle Teile besser. C'est comique, mais c'est ce que nous ferons.«

So etwa hundert Schritte weit war der Leutnant sehr zornig, sehr schneidig und sehr mutig; er behauptete, das »gäbe es nicht«, »wegen eines lumpigen Fünfers« und so. Aber schließlich begann er leise mit dem Schutzmann zu verhandeln. Der Schutzmann, ein vernünftiger Mensch und augenscheinlich kein Freund von aufgeregten Straßenszenen, schien auf seiner Seite zu sein, aber nur bis zu einem gewissen Grade. Er antwortete halblaut brummend auf seine Fragen: »Jetzt ist's zu spät,« und: »Jetzt ist's schon so, wie's ist,« und: »Wenn Sie sich jetzt vielleicht noch entschuldigen würden, und wenn der Herr Ihre Entschuldigung annehmen würde, dann könnte man vielleicht . . .«

»Na, hö–ören Sie mal, verehrtester Herr, na, wo gehn wir denn hin? Ich frage Sie: wohin begeben wir uns, und was soll daran wohl geistreich sein?« schrie der Leutnant mit lauter Stimme. »Wenn ein unglücklicher, von Schicksalsschlägen gebeugter Mensch sich bereit erklärt, Ihnen seine Entschuldigung zu machen . . . Wenn Sie schon verlangen, daß er sich demütigt . . . Hol's der Teufel, wir sind hier nicht auf dem Parkett, sondern auf der Straße! Für die Straße wird diese Entschuldigung wohl genügen . . .«

Wersilow blieb stehen und fing plötzlich an zu lachen; ich dachte beinahe, er hätte diese ganze Geschichte nur Spaßes halber angefangen, es war aber nicht so.

»Ich nehme Ihre Entschuldigung sehr gerne an, mein Herr Offizier, und bestätige Ihnen gern, daß Sie ein Mann von reichen Gaben sind. Betätigen Sie die nur in gleicher Weise auf dem Parkett, – bald wird das auch auf dem Parkett vollkommen genügen, und bis dahin nehmen Sie diese zwei Zwanziger von mir, trinken Sie eins und vergessen Sie auch den Imbiß nicht; Herr Schutzmann, entschuldigen Sie die Bemühung, ich würde mich auch Ihnen gern erkenntlich zeigen, aber die Herren Beamten sind neuerdings ja so vornehm geworden . . . Lieber Freund,« wendete er sich dann an mich, »hier ist eine Kneipe, es ist eigentlich eine fürchterliche Kloake, aber man kann da Tee trinken, und ich schlage vor . . . Gleich da drüben, komm mit.«

Ich wiederhole, daß ich ihn noch nie so aufgeregt gesehen hatte, wenn sein Gesicht auch vergnügt war und nur so strahlte; aber als er die beiden Zwanziger aus dem Portemonnaie holen wollte, um sie dem Offizier zu geben, bemerkte ich, wie seine Hände zitterten, seine Finger gehorchten ihm einfach nicht, so daß er schließlich mich bat, ich möchte das Geld herausnehmen und es dem Offizier geben; ich kann das nicht vergessen.

Er führte mich in eine kleine Wirtschaft, unten im Erdgeschoß. Leute waren wenig da. Eine verstimmte heisere Drehorgel dudelte, es roch nach fettigen Servietten; wir setzten uns in eine Ecke.

»Du weißt es vielleicht nicht? Ich liebe es manchmal aus Langerweile, aus entsetzlicher seelischer Langerweile . . . mich in allerlei solche Kloaken zu setzen. Die ganze Einrichtung, diese heruntergehämmerte Arie aus der ›Lucia‹, diese Kellner in ihren einfach unanständig russischen Kostümen, dieser Tabaksqualm, dieses Geschrei aus dem Billardzimmer – das alles ist so häßlich und prosaisch, daß es beinah schon wieder phantastisch wird. Nun, und wie war's denn nun, lieber Freund? Dieser Marsjünger hat uns, glaub' ich, gerade an der interessantesten Stelle unterbrochen . . . Ah, da ist ja auch der Tee; ich liebe den Tee in diesem Lokale . . . Denk' dir, Piotr Ippolitowitsch fing vorhin auf einmal an, seinem andern Zimmerherrn, dem Kerl mit den Pockennarben, zu versichern, im englischen Parlament wäre im vorigen Jahrhundert eigens eine Kommission von Juristen eingesetzt worden, um den ganzen Prozeß Christi vor dem Hohenpriester und vor Pilatus zu revidieren, einzig zu dem Zwecke, um herauszubringen, wie die Sache nach unsern Gesetzen ausgegangen wäre; und es wäre alles mit der nötigen Feierlichkeit und Advokaten und Staatsanwälten geführt worden . . . Na, und die Geschworenen hätten ihn einfach verurteilen müssen . . . Eine ganz erstaunliche Geschichte! Und dieser Schafskopf von einem Zimmerherrn fing mit ihm darüber zu streiten an, er wurde wütend, sie zankten sich, und er erklärte, er würde morgen ausziehen . . . Und die Wirtin heulte, wegen des Einnahmeausfalls . . . Mais passons. In diesen Kneipen gibt's manchmal Nachtigallen. Kennst du die alte Moskauer Anekdote à la Piotr Ippolitowitsch? In einer Moskauer Kneipe singt eine Nachtigall; da kommt ein Kaufmann herein, so der Typus: ›Was kostet die Welt?‹ Der fragt: ›Was kostet die Nachtigall?‹ – ›Hundert Rubel.‹ – ›Braten und servieren!‹ Sie wurde gebraten und serviert. ›So, jetzt schneid' mir für zehn Kopeken herunter!‹ – Ich habe die Geschichte einmal Piotr Ippolitowitsch erzählt, aber er glaubte sie nicht und nahm das sogar übel . . .«

Er erzählte noch allerlei. Ich führe diese paar Bruchstücke nur als Beispiele an. Er unterbrach mich in einem fort, sobald ich nur den Mund auftat, um mit meiner Erzählung zu beginnen, und begann ganz seltsamen und gar nicht zur Sache gehörigen Unsinn zu schwatzen; er redete lebhaft und lustig, – lachte über weiß Gott was und kicherte sogar, was ich bei ihm noch niemals erlebt hatte. Er trank sein Glas Tee in einem Zuge aus und goß sich ein neues ein. Jetzt verstehe ich das: er glich damals einem Menschen, der einen ihm teueren, interessanten und lange erwarteten Brief bekommt und der ihn vor sich hinlegt und absichtlich nicht öffnet . . ., nein, im Gegenteil, er dreht ihn lange zwischen den Fingern herum, mustert das Kuvert, das Siegel, geht ins Nebenzimmer, um dort noch etwas anderes zu besorgen, kurz und gut, er schiebt den interessanten Augenblick hinaus, weil er ja doch weiß, daß der ihm sicher nicht davonläuft; und das alles tut er, um den Genuß noch vollkommener zu machen.

Ich erzählte ihm natürlich alles, alles von Anfang an, und erzählte vielleicht eine Stunde lang. Und wie hätte es auch anders sein können; ich lechzte ja schon von vorhin her danach zu erzählen. Ich begann mit unsrer allerersten Begegnung, damals beim Fürsten, nach ihrer Rückkehr aus Moskau; dann erzählte ich, wie das alles so allmählich gekommen war. Ich ließ nichts aus, und ich hätte auch gar nichts auslassen können: er selbst führte mich auf alles, er erriet alles, er soufflierte mir. Manchmal war mir, als ereigne sich etwas ganz Phantastisches, als müsse er irgendwo hinter der Tür gesessen oder gestanden haben, jedesmal, diese ganzen zwei Monate hindurch: er kannte jede Gebärde, jedes Gefühl von mir im voraus. Ich empfand einen unbeschreiblichen Genuß bei dieser Beichte vor ihm, weil ich in ihm so eine seelische Weichheit verspürte, eine so tiefe psychologische Feinheit, eine so staunenswerte Fähigkeit, aus einem halben Wort alles zu erraten. Er hörte zart zu, wie eine Frau. Und was die Hauptsache war, er verstand es so einzurichten, daß ich mich nie und keiner Sache schämen mußte; manchmal hielt er mich bei einer Einzelheit fest; er tat es oft und sagte immer wieder nervös: »Vergiß die Kleinigkeiten nicht, die Hauptsache ist – nicht die Kleinigkeiten vergessen: je kleiner ein Zug, desto wichtiger ist er oft.« Und auf die Art unterbrach er mich mehrere Male. Oh, natürlich, ich redete anfangs von oben herab, ihr gegenüber von oben herab, aber bald kam ich aufs Niveau der Wahrheit. Ich erzählte ihm aufrichtig, daß ich im Begriff gewesen war, mich hinzuwerfen und die Stelle des Fußbodens zu küssen, wo ihr Fuß gestanden hatte. Am schönsten und entzückendsten war mir, daß er es ausgezeichnet begriff, daß man »Angst vor einem Dokument haben« und doch gleichzeitig der reine und untadlige Mensch bleiben könne, als den sie sich mir heute gezeigt hatte. Ausgezeichnet begriff er auch die Bezeichnung »Student«. Aber als ich schon ziemlich am Ende war, bemerkte ich, daß hinter seinem guten Lächeln etwas andres zu erscheinen begann, eine verwunderlich große Ungeduld, eine gewisse Zerstreutheit und ein gewisser Unmut. Als ich bis zu dem »Dokument« gekommen war, überlegte ich mir: Soll ich ihm wirklich die Wahrheit sagen oder nicht? – Aber ich sagte sie ihm nicht, trotz aller meiner Begeisterung. Dieses stelle ich hier zur Erinnerung für mein ganzes Leben fest. Ich erklärte ihm die Sache: ebenso wie ihr, das heißt, mit der Geschichte von Kraft. Seine Augen begannen zu funkeln, eine sonderbare Falte erschien auf seine Stirn, eine sehr finstre Falte.

»Lieber Freund, erinnerst du dich auch ganz genau daran, daß Kraft diesen Brief an der Kerze verbrannt hat? Täuschest du dich nicht am Ende?«

»Nein, ich täusche mich nicht«, versicherte ich.

»Die Sache ist nämlich die, daß dieses Schriftstück für sie von der höchsten Wichtigkeit ist; und wenn du es heute im Besitze hättest, dann könntest du . . .« Aber was ich »könnte«, sagte er nicht mehr. »Na, sag' mal, hast du ihn jetzt nicht im Besitz?«

Ich bebte innerlich, äußerlich aber gar nicht. Äußerlich verriet ich mich durch nichts, ich blinzelte nicht einmal; aber ich wollte immer noch nicht glauben, diese Frage gehört zu haben.

»Wieso in meinem Besitz? Jetzt in meinem Besitz? Wenn ihn Kraft doch damals verbrannt hat?«

»So?« fragte er und heftete einen brennenden, starren Blick auf mich, einen Blick, an den ich ewig denken werde. Übrigens lächelte er, aber die ganze Gutmütigkeit, die ganze Weiblichkeit des Gesichtsausdrucks, die er bisher gezeigt hatte, war plötzlich verschwunden. An dessen Stelle war etwas eigen Unbestimmtes, Zerfahrenes getreten; er wurde immer zerstreuter. Hätte er sich damals besser im Zügel gehabt, so, wie er sich bis zu dieser Minute im Zügel gehabt hatte, er hätte diese Frage wegen des Dokumentes nicht gestellt; wenn er es doch tat, so geschah es wohl deshalb, weil er selber in höchster Aufregung war. Das sage ich übrigens erst heute, nach langer Zeit; damals ging mir die Veränderung, die mit ihm vorgegangen war, nicht so schnell auf; ich ließ mich noch immer tragen, und in meinem Herzen tönte immer noch dieselbe Musik. Aber meine Geschichte war zu Ende erzählt; ich sah ihn an.

»Eins ist verwunderlich,« sagte er plötzlich, als ich alles bis zum letzten Komma erzählt hatte, »eins ist sehr sonderbar, lieber Freund: du sagst, du bist zwischen drei und vier dagewesen, und Tatjana Pawlowna war nicht zu Hause?«

»Genau von drei bis halb fünf.«

»Na, nun denk' dir mal: ich habe Tatjana Pawlowna genau um halb vier besucht, auf die Minute, und habe sie in ihrer Küche getroffen: ich gehe ja gewöhnlich die Hintertreppe hinauf, wenn ich sie besuche.«

»Was? Sie haben sie in der Küche getroffen?« rief ich und fuhr vor Erstaunen zurück.

»Ja, und sie sagte mir, sie könne mich nicht empfangen; ich bin vielleicht zwei Minuten geblieben, ich war nur gekommen, um sie zu Mittag einzuladen.«

»Dann war sie vielleicht gerade heimgekommen?«

»Ich weiß nicht; nein, übrigens – ganz bestimmt nicht. Sie war in ihrer losen Jacke. Das war genau um halb vier.«

»Aber . . . Und Tatjana Pawlowna hat Ihnen nicht gesagt, daß ich da war.«

»Nein, sie hat mir nicht gesagt, daß du da warst . . . Sonst hätte ich es ja gewußt und dich nicht danach gefragt.«

»Hören Sie mal, das ist sehr wichtig . . .«

»Ja . . . von welchem Standpunkt man's nun ansieht. Du bist ja ganz bleich geworden, lieber Freund! Übrigens, was ist denn daran so wichtig?«

»Sie hat sich über mich lustig gemacht wie über einen kleinen Jungen!«

»Sie hat einfach Angst gehabt vor deiner ›leichten Erregbarkeit‹, wie sie es dir gegenüber selbst genannt hat – na, und da hat sie sich Tatjana Pawlowna als Leibgarde hingesetzt.«

»Aber, lieber Gott, wie listig das ausgeheckt war! Bedenken Sie doch, sie ließ mich das alles in Gegenwart einer dritten Person aussprechen, in Tatjana Pawlownas Gegenwart; die hat also alles gehört, was ich dort gesagt habe! Das . . . es ist ja einfach schrecklich, sich das nur vorzustellen!«

»C'est selon, mon cher. Und du hast ja vorhin selber gesagt, gegenüber den Frauen im allgemeinen müsse man duldsam sein und hast die Duldsamkeit leben lassen.«

»Wenn ich Othello wäre und Sie Jago, Sie könnten nicht besser . . . Im übrigen, ich lache! Hier kann von keinem Othello die Rede sein, weil die Beziehungen gar nicht danach waren. Ja, und wie sollte ich auch nicht lachen! Meinetwegen! Ich glaube deswegen doch an das, was mir unendlich viel höher steht, und gebe mein Ideal nicht auf . . .! Wenn das ein Spaß von ihr war, so verzeihe ich ihr. Ein Spaß, den sie sich mit einem trübseligen Halbwüchsling erlaubt hat – meinetwegen! Ich habe mich ja auch als gar nichts Besondres aufgespielt, aber der Student – der Student war dennoch da und ist dageblieben, trotz allem, er war in ihrer Seele, war in ihrem Herzen, er lebt und wird leben! Genug davon! Sagen Sie, was meinen Sie: soll ich jetzt gleich zu ihr hinfahren, um die ganze Wahrheit zu erfahren oder nicht?«

Ich sagte: »Ich lache«, aber mir standen die Tränen in den Augen.

»Ja –? Fahr' doch hin, lieber Freund, wenn du Lust hast.«

»Ich habe das Gefühl, als hätte ich mich seelisch beschmutzt, weil ich Ihnen das alles wiedererzählt habe. Seien Sie deshalb nicht böse, liebster Papa, aber über eine Frau, ich sage das noch einmal – über eine Frau darf man einem Dritten nie etwas sagen; nie wird ein anderer Vertraulichkeiten der Art verstehen. Und wenn er ein Engel vom Himmel wäre, er kann sie nicht verstehen. Wenn du die Frau achtest – vertraue niemals jemand etwas an, wenn du dich selber achtest – vertraue niemand etwas an! Ich achte mich selber in diesem Augenblick nicht. Auf Wiedersehn; ich werde mir das nie verzeihen . . .«

»Hör' doch auf, lieber Freund, du übertreibst ja. Du sagst ja selbst, es sei ›nichts gewesen‹.«

Wir gingen auf die Straße hinaus und nahmen Abschied.

»Ja, wirst du mir denn nie einen kindlich herzlichen Kuß geben, wie ein Sohn seinen Vater küßt?« brachte er mit einem sonderbaren Beben in seiner Stimme hervor. Ich küßte ihn herzlich.

»Mein lieber Junge . . . Bleib' immer so reinen Herzens wie heute.«

In meinem ganzen Leben hatte ich ihn noch nicht geküßt, nie hätte ich mir gedacht, daß er selber mich dazu auffordern könnte.

 


 


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