Fjodor Michailowitsch Dostojewski
Ein Werdender - Erster Band
Fjodor Michailowitsch Dostojewski

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Zweites Kapitel

1

An diesem neunzehnten sollte ich auch mein erstes Gehalt für den ersten Monat in meiner Petersburger »privaten« Anstellung bekommen. Wegen dieser Anstellung war ich überhaupt nicht gefragt worden, sondern ich wurde einfach hingeschickt, ich glaube, gleich am Tage meiner Ankunft. Das war sehr wenig manierlich, und ich war beinahe verpflichtet, zu protestieren. Es erwies sich, daß es sich um eine Anstellung im Hause des alten Fürsten Sokolskij handelte. Aber wenn ich damals protestiert hätte, – so hätte es den sofortigen Bruch mit ihnen bedeutet; das schreckte mich zwar nicht sonderlich, wäre aber eine Schädigung meiner wesentlichen Ziele gewesen, und deshalb nahm ich die Stelle an, bis auf weiteres, schweigend und hinter diesem Schweigen meine Würde verschanzend. Ich will gleich von Anfang an erklären, daß dieser Fürst Sokolskij, ein reicher Mann und Geheimrat, in gar keinen verwandtschaftlichen Beziehungen zu den Moskauer Fürsten Sokolskij stand (kleinen armen Teufeln schon seit mehreren Generationen), gegen die Wersilow seinen Prozeß angestrengt hatte. Sie waren nur Namensvettern. Nichtsdestoweniger interessierte sich der alte Fürst sehr für sie und hatte einen von diesen Fürsten besonders in sein Herz geschlossen, sozusagen, den ältesten ihres Geschlechtes,– einen jungen Offizier. Wersilow hatte vor noch gar nicht langer Zeit einen ungeheuren Einfluß auf die Angelegenheiten dieses alten Herrn gehabt und war sein Freund gewesen, ein sonderbarer Freund, denn ich merkte, daß dieser arme Fürst sich schrecklich vor jenem fürchtete, und nicht nur zu der Zeit, wo ich in seinen Dienst trat, sondern es muß während der ganzen Zeit ihrer Freundschaft so gewesen sein. Übrigens hatten sie sich schon lange nicht mehr gesehen; die ehrlose Handlung, deren Wersilow bezichtigt wurde, ging nämlich gerade die Familie des Fürsten an; aber Tatjana Pawlowna mengte sich in die Sache, und durch ihre Vermittlung wurde ich bei dem alten Herrn untergebracht, der einen »jungen Mann« in seinem Arbeitszimmer um sich zu haben wünschte. Hierbei erwies es sich, daß er auch den dringenden Wunsch hegte, Wersilow gefällig zu sein, sozusagen, ihm gegenüber den ersten Schritt zu tun, und Wersilow gestattete es ihm. Diese Sache arrangierte der alte Fürst in Abwesenheit seiner Tochter, der Witwe eines Generals, die ihm diesen Schritt wahrscheinlich nicht erlaubt hätte. Hiervon später, aber ich bemerke gleich, daß diese Sonderbarkeit in den Beziehungen zu Wersilow mich überraschte, und zwar in einer für diesen günstigen Richtung. Ich kombinierte so: wenn das Haupt der beleidigten Familie immer noch Achtung für Wersilow hegt, so muß all das Gerede von seiner Schlechtigkeit doch wohl absurd oder zum wenigsten zweideutig und übertrieben sein. Teilweise war es auch dieser Umstand, der mich veranlaßte, nicht gegen den Antritt dieser Stellung zu protestieren: durch meinen Antritt hoffte ich eben, mir über dies alles Klarheit zu verschaffen.

Jene Tatjana Pawlowna spielte zu der Zeit, als ich sie in Petersburg antraf, eine eigentümliche Rolle. Ich hatte sie fast gänzlich vergessen und natürlich erst gar nicht erwartet, daß sie eine so bedeutende Stellung einnehmen könnte. Sie war mir vorher drei-, viermal während meines Moskauer Aufenthaltes in den Weg gekommen, und dann war sie immer Gott weiß woher aufgetaucht, Gott weiß in wessen Auftrag, sobald es galt, mich irgendwo zu installieren, – als ich in die Pension Touchard kam, und nachher, dritthalb Jahre später, als ich ins Gymnasium eintrat und mein Zimmer in der Wohnung des unvergeßlichen Nikolaj Semionowitsch bezog. Wenn sie kam, verbrachte sie den ganzen Tag mit mir, revidierte meine Wäsche und Kleider, fuhr mit mir in der Stadt herum, kaufte die Sachen, die ich brauchte, kurzum, sie sorgte für meine ganze Habe, bis zum letzten Kästchen und zum Federmesser, dabei keifte sie die ganze Zeit mit mir, schalt mich, machte mir Vorwürfe, examinierte mich, stellte mir gewisse phantastische Knaben als Muster auf, die sie angeblich in ihrer Bekanntschaft und Verwandtschaft hatte und die alle viel braver waren, als ich, und, um die Wahrheit zu gestehen, sie kniff mich dabei in einem fort und puffte mich tüchtig, oft genug sogar, und so kräftig, daß es schon ziemlich weh tat. Wenn sie mich installiert und an einem Platze eingerichtet hatte, dann verschwand sie auf einige Jahre spurlos aus meinem Gesichtskreise. Und jetzt also, als ich gerade angekommen war, erschien sie wieder, um mich zu installieren. Sie war eine dürre, kleine Person mit einem scharfen Vogelnäschen und scharfen Vogeläuglein. Wersilow diente sie wie eine Sklavin und erwies ihm eine Ehrerbietung, als wäre er der Papst, aber aus innerster, vollster Überzeugung. Bald aber bemerkte ich zu meinem Erstaunen, daß sie bei allen Leuten und überall großen Respekt genoß und, was die Hauptsache war – bei allen und überall bekannt war. Der alte Fürst Sokolskij begegnete ihr mit einer ganz ausnehmenden Hochachtung; seine Familie ebenfalls; Wersilows hochmütige Kinder ebenfalls; und die Fanariotows ebenfalls, – und dabei lebte sie von allerhand Näharbeit, von Spitzenwäsche, von Stickereien, die sie für Magazine anfertigte. Ich geriet mit ihr beim ersten Worte in Streit, sie begann sofort wie früher, vor sechs Jahren, gegen mich zu belfern; und von Stund an setzten sich unsere Streitereien fort, Tag für Tag: aber das hinderte nicht, daß wir uns zuweilen miteinander unterhielten, und ich muß gestehen, gegen Ende des Monats fing sie mir zu gefallen an; ich glaube, weil sie ein so unabhängiger Charakter war. Übrigens habe ich ihr das nicht mitgeteilt.

Ich begriff sofort, daß ich den Posten bei dem kranken alten Herrn nur deshalb bekommen sollte, um ihn etwas »aufzumuntern«, und daß darin mein ganzer Dienst bestand. Selbstverständlich ging das gegen meine Würde, und ich traf sofort meine Maßregeln in dem Sinne; aber in kurzem übte dieser alte Sonderling einen ganz unerwarteten Eindruck auf mich aus, es war fast wie eine Art Mitleid, und zu Ende des Monats fühlte ich mich in seltsamer Weise zu ihm hingezogen, wenigstens hatte ich die Absicht fahren lassen, ihn vor den Kopf zu stoßen. Er war übrigens noch nicht über sechzig. Es war da eine ganze Geschichte passiert. Anderthalb Jahre vorher hatte er ganz plötzlich einen Anfall bekommen; er war irgendwohin gereist, und unterwegs war eine Geistesstörung bei ihm aufgetreten, so daß eine Art Skandal entstand, über den in Petersburg viel geklatscht wurde. Wie es in solchen Fällen gang und gäbe ist, wurde er sofort ins Ausland gebracht, aber nach etwa fünf Monaten kam er wieder, und zwar vollkommen gesund, wenn er auch seinen Abschied genommen hatte. Wersilow versicherte mir sehr ernstlich (und auffallend erregt), daß von einer Geistesstörung bei ihm absolut keine Rede gewesen wäre, es hätte sich nur um etwas wie einen Nervenzufall gehandelt. Diese Erregtheit Wersilows nahm ich ungesäumt zur Kenntnis. Im übrigen, muß ich sagen, teilte ich selbst seine Ansicht beinahe. Der alte Herr zeigte sich höchstens manchmal ein bißchen gar zu leichtfertig, in einem gewissen Mißverhältnis zu seinen Jahren, was früher nicht der Fall gewesen sein soll, wie ich hörte. Man hat mir erzählt, er wäre früher in irgendeiner Behörde eine Art von Rat gewesen und hätte sich einmal sogar bei einem ihm erteilten Auftrag ganz besonders ausgezeichnet. Ich kannte ihn nun einen ganzen Monat, aber ich kann nicht sagen, daß ich bei ihm irgendeine besondere Eignung zum Rat hätte entdecken können. Man sagte ihm nach (ich habe freilich nichts davon bemerken können), daß sich seit seinem Anfall bei ihm eine ganz besondere Manie entwickelt hätte, sich möglichst bald zu verheiraten, und daß er dieser Idee in den anderthalb Jahren des öfteren näher getreten wäre. Davon wußte man wohl in der Gesellschaft, und die es anging, interessierten sich dafür. Aber da eine solche Absicht den Interessen einiger Personen aus der Umgebung des Fürsten gar zu sehr gegen den Strich ging, wurde der alte Herr von allen Seiten überwacht. Seine eigene Familie war klein; er war schon seit zwanzig Jahren Witwer und hatte nur eine einzige Tochter, eben die Generalswitwe, die jetzt täglich aus Moskau zurückerwartet wurde, eine junge Frau, vor deren Charakter er zweifellos Angst hatte. Aber er hatte einen Haufen der verschiedensten entfernten Verwandten, meist von der Seite seiner verstorbenen Frau her, die alle beinahe Bettler waren, außerdem gab es da eine Menge von Pflegesöhnen und Pflegetöchtern, die alle seine Wohltaten genossen und hofften, in seinem Testament bedacht zu werden, und deshalb alle die Generalin bei der Überwachung des alten Herrn unterstützten. Außerdem hatte er, schon von jung auf, eine Schrulle, von der ich nur nicht weiß, ob ich sie lächerlich finden soll oder nicht: er verheiratete arme Mädchen. Das betrieb er jetzt schon fünfundzwanzig Jahre hintereinander. Er verheiratete arme Verwandte, Stieftöchter von Vettern seiner Frau, seine Patentöchter, ja sogar die Tochter seines Hausmeisters. Zuerst nahm er sie als kleine Mädchen in sein Haus, dann erzog er sie mit Gouvernanten und Französinnen, dann schickte er sie in die besten Lehranstalten, und schließlich verheiratete er sie und gab ihnen eine Mitgift. Und das alles drängte sich beständig um ihn; seine Pflegetöchter bekamen in der Ehe natürlich wieder Töchter; alle diese Mädchen spitzten sich darauf, auch seine Pflegetöchter zu werden: er mußte in einem fort den Taufpaten machen, das alles kam, um ihm zum Namenstag zu gratulieren, und alles das machte ihm das größte Vergnügen.

Als ich in seine Dienste trat, merkte ich gleich, daß sich im Kopfe des alten Herrn eine schwere Überzeugung festgenistet hatte – und es war unmöglich, das nicht zu bemerken –, die Überzeugung, daß er in der Gesellschaft von jedermann auf eine ganz besondere Weise angesehen würde, daß alle Welt sich gegen ihn anders benähme, als früher, als er noch gesund war; dieser Eindruck ließ ihn selbst in den lustigsten Gesellschaften nicht los. Der alte Herr wurde argwöhnisch und begann in aller Augen ein besonderes Etwas zu lesen. Der Gedanke, daß er immer noch für gestört gehalten würde, peinigte ihn sichtlich; auch mich beobachtete er oft voll Mißtrauen. Und wenn er von irgend jemand erfahren hätte, der dieses Gerücht verbreite und bestätige, ich glaube, dieser überaus harmlose Mensch wäre der Feind des Betreffenden für ewig geworden. Und diesen Umstand bitte ich wohl anzumerken. Ich füge hinzu, daß dies auch vom ersten Tage an der entscheidende Grund war, der mich veranlaßte, ihn nicht vor den Kopf zu stoßen; ich war im Gegenteil froh, wenn ich hier und da Gelegenheit fand, ihn aufzuheitern oder zu zerstreuen; ich glaube nicht, daß dies Geständnis einen Schatten auf meine Würde werfen kann.

Der größte Teil seines Geldes steckte in industriellen Unternehmungen. Er war, und zwar erst nach seiner Krankheit, Teilhaber einer großen Aktiengesellschaft geworden, übrigens eines sehr soliden Unternehmens. Die Geschäfte führten freilich andere Leute, aber er interessierte sich auch sehr für sie, besuchte die Aktionärversammlungen, wurde in den Ausschuß gewählt, saß im Aufsichtsrat, hielt lange Reden, diskutierte, spektakelte, und das alles augenscheinlich mit großer Freude daran. Reden zu halten machte ihm einen großen Spaß: da konnten doch wenigstens alle Leute sehen, wie gescheit er war. Und überhaupt liebte er es, selbst im intimsten Privatleben seine Unterhaltung mit tiefen Bemerkungen und allerlei Bonmots aufzuputzen, und das verstehe ich nur zu gut. In seinem Hause, unten, war eine Art Privatbureau eingerichtet, und ein Beamter saß darin, führte seine Angelegenheiten, Rechnungen und Bücher und verwaltete gleichzeitig das Haus. Dieser Beamte, der nebenbei noch eine staatliche Anstellung hatte, hätte für sich allein vollkommen ausgereicht; aber auf besonderen Wunsch des Fürsten selbst wurde ich dazugenommen, angeblich als Hilfskraft für den Beamten; aber ich kam gleich in das Privatkabinett und hatte häufig nicht einmal zum Schein eine Arbeit vor mir, keine Papiere, keine Bücher.

Ich schreibe das jetzt wie einer, der mit dem allen seit langem abgeschlossen hat, und in vielen Beziehungen sogar wie ein ganz objektiver Beobachter; aber wie soll ich meinen damaligen Kummer beschreiben (gerade jetzt steht er wieder so recht lebendig vor mir), den Kummer, der mein ganzes Herz in Beschlag genommen hatte, und was die Hauptsache ist – meine damalige Aufregung, die mich so unruhig und fieberig gemacht hatte, daß ich sogar die Nächte nicht schlief – vor Ungeduld, vor all den Rätseln, die ich mir selbst aufgegeben hatte.

 

2

Geld zu verlangen, und mag es selbst ein Gehalt sein, ist eine sehr widerwärtige Sache, wenn man irgendwo in den tiefsten Winkeln seines Gewissens das Gefühl hegt, daß man es eigentlich nicht recht verdient hat. Aber ich hatte am Abend vorher meine Mutter mit meiner Schwester flüstern hören, ganz leise, daß Wersilow nichts davon merkte (»Andrej Petrowitsch könnte es peinlich sein«). Sie wollte ein Heiligenbild ins Pfandhaus tragen, von dem sie sich aus irgendeinem Grunde ganz besonders schwer trennte. Ich war mit einem Monatsgehalt von fünfzig Rubel angestellt, aber ich hatte keine Ahnung, wie ich sie bekommen würde; als man mich hingebracht hatte, war davon überhaupt nicht gesprochen worden. Vor drei Tagen hatte ich unten den Beamten getroffen und mich bei ihm erkundigt, bei wem ich hier mein Gehalt zu erheben hätte. Er hatte mich mit einem verwunderten Lächeln angesehen (er konnte mich nicht leiden).

»Ach, Sie bekommen Gehalt?«

Ich dachte mir, er würde auf meine Antwort weiter fragen:

»Und wofür, wenn man fragen darf?«

Aber er entgegnete mir ganz trocken, er »wüßte von nichts«, und beugte sich wieder über sein liniiertes Buch, in das er von verschiedenen Blättern Rechnungen übertrug.

Übrigens war es ihm nicht unbekannt, daß ich doch immerhin einiges getan hatte. Vor vierzehn Tagen hatte ich ganze vier Tage über einer Arbeit gesessen, die ich von ihm selbst bekommen hatte: es handelte sich um die Abschrift eines Konzeptes, kam aber beinahe auf eine Umarbeitung heraus. Es war ein ganzer Haufen »Gedanken« des Fürsten, die er demnächst seinem Aktionärkomitee unterbreiten wollte. Das mußte zu einem ganzen zusammengearbeitet und dem Stil mußte nachgeholfen werden. Ich habe nachher einen ganzen Tag mit dem Fürsten über diesem Schriftstück gesessen, und er zankte sich dabei äußerst leidenschaftlich mit mir, war aber schließlich im ganzen doch zufrieden mit meiner Arbeit; nur weiß ich nicht, ob er das Schriftstück eingereicht hat oder nicht. Von zwei, drei Briefen, gleichfalls in Geschäftssachen, die ich in seinem Auftrag geschrieben hatte, will ich gar nicht reden.

Um mein Gehalt zu bitten war mir auch deswegen peinlich, weil ich schon die Absicht gefaßt hatte, meine Stellung aufzugeben, denn ich hatte das Vorgefühl, daß ich bald genötigt sein würde, infolge zwingender Umstände von hier fortzugehen. Als ich an diesem Morgen aufwachte und mich zu Hause oben in meinem Kämmerchen anzog, fühlte ich, wie mir das Herz klopfte, und ob ich mich auch sehr zusammennahm, empfand ich doch, als ich das Haus des Fürsten betrat, wieder die gleiche Erregung: heute früh mußte der Mensch hier erscheinen, die Frau, von deren Ankunft ich die Aufklärung über alles erwartete, was mich quälte!

Und dieser Mensch war eben die Tochter des Fürsten, die Generalin Achmakowa, jene junge Witwe, von der ich schon gesprochen habe, und die in bitterster Feindschaft mit Wersilow lebte. Endlich habe ich diesen Namen hergeschrieben! Was sie selbst betrifft, so hatte ich sie natürlich nie gesehen, ja, ich konnte mir nicht einmal vorstellen, wie ich mit ihr sprechen und ob ich es überhaupt tun würde; aber ich hatte die Idee (und vielleicht war sie sehr begründet), daß sich mit ihrer Ankunft das Dunkel lichten würde, das in meinen Augen Wersilow umgab. Ich konnte meiner Unruhe nicht Herr werden: es war mir furchtbar ärgerlich, daß ich vom ersten Schritt an so kleinmütig und linkisch war; ich war furchtbar gespannt, und, was die Hauptsache war, furchtbar angewidert – das waren drei ganz verschiedene Gefühle. Ich weiß diesen ganzen Tag auswendig!

Mein Fürst ahnte noch nichts von der voraussichtlichen Ankunft seiner Tochter und erwartete ihre Heimkehr aus Moskau frühestens in acht Tagen. Ich hatte es tags vorher ganz zufällig erfahren: Tatjana Pawlowna, der die Generalin einen Brief geschrieben, hatte meiner Mutter gegenüber etwas davon fallen lassen. Wenn sie auch ganz leise flüsterten und sich in sehr allgemeinen Ausdrücken bewegten, ich erriet, um was es sich handelte. Selbstverständlich habe ich nicht etwa gehorcht: ich mußte einfach aufhorchen, als ich sah, wie meine Mutter bei der Nachricht von der Ankunft dieser Frau plötzlich in solche Erregung geriet. Wersilow war nicht zu Hause.

Dem alten Herrn wollte ich nichts davon sagen, denn es wäre mir wirklich unmöglich gewesen, während dieser ganzen Zeit nicht zu bemerken, was für eine Angst er vor ihrer Rückkunft hatte. Er hatte sogar vor drei Tagen, freilich in schüchternen und bloß andeutenden Worten, etwas davon fallen lassen, daß er sich in meinem Interesse vor ihrer Ankunft fürchte, das heißt, daß er meinetwegen Scherereien haben würde. Übrigens muß ich hier beifügen, daß er trotz alledem in Familienangelegenheiten seine Unabhängigkeit und Oberherrschaft zu wahren wußte, besonders was die Verfügung über seine Gelder betraf. Mein erstes Urteil über ihn war, er wäre ein vollkommenes – altes Weib; aber ich war bald genötigt, mein Urteil dahin umzumodeln, daß er vielleicht allerdings ein altes Weib wäre, aber daß sich zuweilen bei ihm ein Rest von zähem Eigensinn zeigte, wenn man es nicht wirkliche Männlichkeit nennen wollte. Es gab Augenblicke, wo man mit seinem Charakter – der anscheinend so ängstlich und nachgiebig war – fast überhaupt nichts anfangen konnte. Wersilow hat mir das in der Folge des Ausführlicheren auseinander gesetzt. Ich denke heute mit Interesse daran zurück, daß wir beide, der alte Herr und ich, fast nie von der Generalin gesprochen haben, das heißt, wir vermieden es sozusagen, von ihr zu sprechen, besonders ich ging dem aus dem Wege, und er für sein Teil vermied es, von Wersilow zu sprechen; ich war überzeugt, er würde mir nicht antworten, wenn ich eine von den heiklen Fragen an ihn richten würde, die mich so sehr interessierten.

Wenn einer wissen will, wovon wir beide diesen ganzen Monat miteinander geredet haben, so muß ich ihm antworten: von allem möglichen, aber stets von recht sonderbaren Sachen. Mich zog die Geradheit sehr an, mit der er sich mir gegenüber gab. Oft betrachtete ich diesen Menschen mit der höchsten Verwunderung und fragte mich: In welcher Welt hat er eigentlich früher gelebt? Wenn man den ins Gymnasium steckte, meinetwegen sogar in die vierte Lateinklasse, – er würde einen famosen Mitschüler abgeben. Auch über sein Gesicht war ich häufig im höchsten Grade erstaunt: es war scheinbar äußerst ernsthaft (und beinahe hübsch), hager; er hatte dichtes graues Lockenhaar, große Augen; er war überhaupt sehr schlank und hochgewachsen; aber sein Gesicht hatte die unangenehme, fast unschickliche Eigentümlichkeit, seinen Ausdruck manchmal erstaunlich rasch zu verwandeln. Eben war es noch außergewöhnlich ernst gewesen, auf einmal schaute es übertrieben spaßhaft und leichtfertig drein. Wer das zum erstenmal sah, wurde höchst verblüfft, sogar erschreckt davon. Ich habe hierüber mit Wersilow gesprochen, der mit Interesse zuhörte; er hatte wohl nicht erwartet, daß ich imstande wäre, solche Beobachtungen zu machen, nebenbei bemerkte er, diese Erscheinung wäre beim Fürsten erst nach seiner Krankheit aufgetreten, und angeblich erst in allerletzter Zeit.

Vorwiegend drehten sich unsere Gespräche um zwei abstrakte Gegenstände, – um Gott und sein Dasein, das heißt um seine Existenz oder Nichtexistenz – und um die Frauen. Der Fürst war sehr religiös und sehr gefühlvoll. In seinem Kabinett hing ein riesiges Heiligenbild mit einem ewigen Lämpchen davor. Aber auf einmal konnte es ihn fassen, – und er fing plötzlich an der Existenz Gottes zu zweifeln an und sagte erstaunliche Dinge und forderte mich sichtlich zu einer Entgegnung auf. Im allgemeinen gesprochen, war mir diese Idee ziemlich gleichgültig, aber doch gerieten wir sehr in Hitze, und zwar höchst aufrichtig. Überhaupt gedenke ich dieser Gespräche noch heute mit großem Vergnügen. Aber das liebste war ihm doch, von den Frauen zu plaudern; da ich keine Liebhaberei für Unterhaltungen über dies Thema habe, konnte ich ihm hier kein guter Partner sein, und das machte ihn zuzeiten geradezu traurig.

Und gerade an jenem Morgen fing er wieder sofort von solchen Geschichten an, sobald ich eingetreten war. Ich fand ihn in seiner spaßigen Laune, während ich ihn am Abend vorher in der allertraurigsten Stimmung verlassen hatte. Und derweil mußte ich heute die Sache mit dem Geld unbedingt zu einem Ende bringen – bevor gewisse Leute ankamen. Ich stellte mir vor, daß wir heute sicherlich unterbrochen werden würden (nicht umsonst klopfte mein Herz so) – und dann würde ich mich vielleicht nicht entschließen können, vom Geld anzufangen. Aber da ich das Gespräch nicht gleich auf das Geld zu lenken vermochte, war ich natürlich wütend über meine Dummheit und erwiderte in meinem Ärger auf eine allzu leichtfertige und spaßhafte Frage von ihm damit, daß ich eine ganze Breitseite meiner Anschauungen über die Frauen gegen ihn losließ, und zwar mit der größten Hitze. Aber die Folge davon war, daß ich ihn nur noch mehr für mich einnahm.

 

3

». . . Ich kann die Frauenzimmer erstens nicht leiden, weil sie sich rüpelhaft benehmen, zweitens, weil sie ungeschickt und minderwertig, drittens, weil sie unselbständig sind, viertens, weil sie in unanständigen Kleidern herumlaufen!« schloß ich ziemlich unlogisch meine lange Tirade.

»Nicht so streng, teuerster Freund, Schonung!« schrie er äußerst belustigt, was mich noch wütender machte.

Ich bin nur in Kleinigkeiten nachgiebig und kleinlich, in Hauptsachen weiche ich keinen Schritt zurück. Aber in Kleinigkeiten, in allem, was gesellschaftliche Manieren sind, kann man mit mir Gott weiß was anfangen, und diesen Zug an mir habe ich schon oft verflucht. Aus einer gewissen faulen Gutmütigkeit heraus bin ich schon oft genug bereit gewesen, irgendeinem feinen Gecken zuzustimmen, einzig und allein, weil ich durch seine Höflichkeit bestochen wurde, oder einen Krakeel mit irgendeinem Hansnarren anzufangen, was das Unverzeihlichste ist. Das kommt alles von einem Mangel an Weitläufigkeit und davon, daß ich im Winkel aufgewachsen bin, ich sehe das ein, aber morgen ist es wieder dieselbe Geschichte. Deshalb hat man mich manchmal schon beinahe für einen Sechzehnjährigen gehalten. Aber statt mir Weltläufigkeit zu erwerben, ziehe ich es auch heute vor, mich noch tiefer in meinem Winkel zu verschanzen, wenn auch in der misanthropischsten Manier: Und mag ich auch linkisch sein, aber – verzeiht mir! Ich sage das sehr ernsthaft und ein für allemal. Übrigens bezieht sich das durchaus nicht auf den Fürsten und nicht einmal auf unser damaliges Gespräch.

»Ich sage das absolut nicht, um Sie zu belustigen,« schrie ich ihn beinah an, »ich spreche einfach meine Überzeugung aus.«

»Aber wieso sind die Frauen rüpelhaft und unanständig angezogen? Das ist mir neu.«

»Rüpelhaft? Gehen Sie einmal ins Theater, auf die Promenade. Jeder Mann weiß, wo rechts ist, man begegnet sich und geht aneinander vorbei, er rechts und ich rechts. So ein Frauenzimmer, das heißt eine Dame – ich spreche von den Damen – prescht geradeswegs auf Sie los, sie bemerkt Sie einfach nicht, als wären Sie sowieso unbedingt verpflichtet, beiseite zu springen und ihr den Weg zu räumen. Ich bin bereit, ihr Platz zu machen, weil es das schwächere Geschlecht ist, aber was hat sie für ein Recht darauf, warum ist sie so fest überzeugt, daß ich dazu verpflichtet bin, – das ist das Beleidigende dabei! Ich spucke immer aus, wenn ich ihnen begegne. Und dabei schreien sie, sie würden unterdrückt und fordern gleiche Rechte; was sind das für gleiche Rechte, wenn so eine mich stößt und mir Sand in den Mund schmeißt!«

»Sand?«

»Jawohl; weil sie unanständig angezogen sind – das kann nur ein ganz verdorbener Lebemann nicht bemerken. Vor Gericht wird bei verschlossenen Türen verhandelt, wenn es sich um unanständige Sachen dreht; warum erlaubt man so was auf der Straße, wo noch viel mehr Leute dabei sind? Sie legen sich hinterwärts allerlei Falbelkram unter, damit man sieht, daß sie schicke Damen sind; ganz öffentlich! Das muß ich doch sehen, und jeder junge Mann sieht es, und jedes Kind, jeder werdende Knabe sieht es auch; das ist gemein. Mögen sich alte Lebegreise daran aufregen und mit heraushängender Zunge hinterherlaufen, aber es gibt noch eine reine Jugend, und die muß gehütet werden. Da bleibt einem nichts übrig, als auszuspucken. Da geht so eine den Boulevard entlang, und hinter sich her schleift sie eine Schleppe von anderthalb Faden Länge und wirbelt den Staub auf; wie soll man hinter ihr gehen: man muß laufen und sie überholen oder sich seitwärts fort machen, sonst schmeißt sie einem nicht nur in die Nase, sondern auch in den Mund gleich fünf Pfund Sand. Und außerdem, diese Seide, sie schleppt sie drei Werst weit über die Steine, nur weil das einmal Mode ist, und ihr Mann verdient in seinem Bureau fünfhundert Rubel im Jahr; daher kommen die vielen Bestechungen! Ich spucke jedesmal aus, ich spucke aus und schimpfe ganz laut.«

Ich schreibe diese Worte zwar etwas ins Spaßhafte übertrieben hin und in der Art, wie ich sie damals gesagt habe, aber diese Anschauungen hege ich heute noch.

»Und ist dir das gut bekommen!« fragte der Fürst neugierig.

»Ich spucke aus und mache mich fort. So eine merkt das natürlich, sie zeigt es aber mit keiner Miene, sondern prescht majestätisch weiter, ohne den Kopf zu wenden. Ernstlichen Krakeel habe ich im ganzen nur einmal mit zwei solchen Frauenzimmern gehabt, beide mit langen Schwänzen, auf dem Boulevard, – selbstverständlich habe ich kein schlechtes Wort gebraucht, ich hab nur gesagt, daß die Schwänze eine Unverschämtheit wären.«

»Mit den Worten hast du das gesagt?«

»Natürlich. Erstens sind sie ein Hohn auf die sozialen Verhältnisse, zweitens machen sie Staub, und der Boulevard ist für alle da; ich gehe hier, und der, und jener, Hans, Peter, ganz Wurst. Das habe ich alles gesagt. Und ich kann den weiblichen Gang nicht ausstehen, von hinten gesehen; das habe ich auch gesagt, aber verblümt.«

»Lieber Freund, da kannst du aber in eine ganz ernste Geschichte hinein geraten: sie hätten dich einfach vor den Friedensrichter zitieren können.«

»Gar nichts konnten sie. Sie hatten gar keinen Grund zur Klage, wenn da ein Mensch hinter ihnen geht und mit sich selbst spricht. Jedermann hat das Recht, seine Meinung in den Wind zu sprechen. Ich sprach ganz allgemein, ich habe mich nicht an sie gewandt. Sie haben selbst angefangen, sie haben viel toller geschimpft als ich: ich wäre ein Gelbschnabel, man müßte mir mal ein paar Tage nichts zu essen geben, ein Nihilist wäre ich, und sie würden einen Schutzmann rufen, und ich hätte deshalb mit ihnen angefangen, weil sie allein wären und schwache Frauen, und wenn ein Mann bei ihnen wäre, würde ich sofort den Schwanz zwischen die Beine kneifen. Ich erwiderte ihnen kaltblütig, sie möchten es unterlassen, mit mir zu krakeelen, und ich würde aufs andere Trottoir hinübergehen. Und um ihnen zu beweisen, daß ich keine Angst vor ihren Männern hätte und eine Forderung annehmen würde, wollte ich ihnen in zwanzig Schritt Abstand bis an ihre Wohnung folgen, und dort würde ich vor dem Hause stehen bleiben und auf ihre Männer warten. Und das habe ich dann auch getan.«

»Wahrhaftig?«

»Es war ja natürlich eine Dummheit, aber ich war einmal gereizt. Sie schleppten mich zirka drei Werst hinter sich her, durch den Sonnenbrand, bis dort, wo die Institute sind, und dort traten sie in ein hölzernes einstöckiges Haus ein, – ich muß zugeben, daß es ganz anständig aussah, – durch die Fenster sah ich drinnen eine Menge Blumen, zwei Kanarienvögel, drei Hunde und viele eingerahmte Stiche. Ich stand mitten auf der Straße vor dem Hause, vielleicht eine halbe Stunde. Sie schauten ungefähr dreimal verstohlen heraus, und dann ließen sie alle Vorhänge herunter. Schließlich kam aus dem Seitenpförtchen irgendein ältlicher Beamter heraus; anscheinend hatte er geschlafen und war extra geweckt worden, nicht gerade, daß er einen Schlafrock angehabt hätte, aber er war sehr »für zu Hause« angezogen; er blieb an dem Pförtchen stehen, legte die Hände auf den Rücken und begann mich zu fixieren, und ich wieder ihn. Und dann wendet er die Augen ab, dann schaut er wieder her und fängt an mir zuzulächeln. Ich drehte ihm den Rücken und ging.«

»Teurer Freund, das könnte von Schiller sein! Ich hab' mich schon immer gewundert: du hast rote Backen, dein Gesicht sprüht vor Gesundheit, und dabei – dieser, kann man doch sagen, Widerwille gegen die Frauen! Wie ist es denn möglich, daß die Frau auf einen Menschen in deinen Jahren nicht einen gewissen Eindruck macht? Was mich betrifft, mon cher, so war ich erst elf, als mein Hofmeister es schon tadelnd anmerkte, daß ich die Statuen im Sommergarten gar zu ausführlich in Augenschein nahm.«

»Sie möchten furchtbar gern, daß ich mich hier an irgendeine Josephine heranmache und Ihnen dann Bericht davon erstatte. Sie bemühen sich vergeblich: ich selbst habe schon mit dreizehn Jahren ein nacktes Weib gesehen, splitternackt; seit damals habe ich einen Ekel davor.«

»Im Ernst? Aber, cher enfant, von einer hübschen, frischen Frau geht ein Duft aus, wie von einem Apfel, wie kann einen das ekeln!«

»In meiner früheren Pension, bei Touchard, bevor ich ins Gymnasium kam, hatte ich einen Kameraden, Lambert. Er prügelte mich in einem fort, weil er um mehr als drei Jahre älter war, und ich machte seinen Diener und zog ihm die Stiefel aus. Als seine Konfirmation war, kam Abbé Rigaud zu ihm, um ihm zur ersten Kommunion zu gratulieren, und sie warfen sich in Tränen einander um den Hals, und der Abbé Rigaud drückte ihn unter allerlei verzücktem Getue krampfhaft an seine Brust. Und ich weinte auch und beneidete ihn sehr. Als sein Vater starb, ging er ab, und ich sah ihn zwei Jahre lang nicht, und nach zwei Jahren traf ich ihn auf der Straße. Er sagte, er würde zu mir kommen. Ich war schon auf dem Gymnasium und wohnte bei Nikolaj Semionowitsch. Er kam eines Morgens, zeigte mir fünfhundert Rubel und sagte, ich sollte mitkommen. Wenn er mich vor zwei Jahren auch geprügelt hatte, er hatte mich doch immer nötig gehabt, nicht nur der Stiefel wegen; er schüttete mir immer sein Herz aus. Heute erzählte er mir, er hätte das Geld aus der Schatulle seiner Mutter genommen, mit Hilfe eines Nachschlüssels, denn das Geld von seinem Vater her gehörte alles ihm, sie sollte es nicht riskieren, es ihm vorzuenthalten, – und gestern abend wäre der Abbé Rigaud gekommen, um ihm Vorhaltungen zu machen – er wäre gekommen und hätte sich vor ihm aufgepflanzt und zu schluchzen angefangen und ihm mit zum Himmel erhobenen Händen die Schrecken der Hölle geschildert, »aber ich habe mein Messer herausgezogen und ihm gesagt, ich würde es ihm hereinrennen« (er sagte: hecheinchennen). Wir fuhren nach dem Kusnezkij-Most. Unterwegs teilte er mir mit, seine Mutter hätte ein Verhältnis mit dem Abbé Rigaud, und er hätte das wohl bemerkt, und er spuckte auf alles, und was sie von der heiligen Kommunion sagten, das wäre alles Blech. Er sagte noch allerlei, und ich fürchtete mich. Auf dem Kusnezkij-Most kaufte er eine doppelläufige Flinte, eine Jagdtasche, fertige Patronen, eine Reitpeitsche und nachher noch ein Pfund Konfekt. Wir fuhren dann vor die Stadt hinaus, um zu schießen, und unterwegs kam uns ein Vogelsteller mit seinen Käfigen entgegen; Lambert kaufte ihm einen Kanarienvogel ab. In einem Wäldchen ließ er ihn frei, weil so ein Vogel direkt aus dem Käfig nicht weit fortfliegen kann und fing auf ihn zu schießen an, traf aber nicht. Er schoß zum erstenmal in seinem Leben, aber die Flinte hatte er sich schon lange kaufen wollen, schon, als er noch bei Touchard war, und wir hatten schon lange von der Flinte geträumt. Er war wie berauscht. Seine Haare waren furchtbar schwarz, sein Gesicht weiß und rot, wie eine Maske, seine Nase lang, mit einem Höcker, richtig französisch, die Zähne weiß, die Augen schwarz. Er band den Kanarienvogel mit einem Faden an einen Zweig und gab jetzt auf nur eine Spanne Entfernung zwei Schüsse gegen ihn ab, und er zerstob zu hundert Federchen. Dann kehrten wir um, fuhren in ein Gasthaus, nahmen uns ein Zimmer und fingen zu essen und Champagner zu trinken an; dann kam eine Dame . . . Ich war sehr erstaunt, weiß ich noch, wie elegant sie gekleidet war, sie trug ein grünes Seidenkleid. Da habe ich dann auch alles gesehen, wovon ich Ihnen sprach . . . Und dann, als wir wieder zu trinken anfingen, begann er sie aufzuziehen und zu schimpfen; sie saß ohne Kleid da; er hatte ihr das Kleid weggenommen, und als sie anfing wieder zu schimpfen und um das Kleid zu bitten, schlug er sie aus voller Kraft mit der Peitsche über die nackten Schultern. Ich sprang auf, packte ihn bei den Haaren, und so geschickt, daß ich ihn mit einem Ruck zu Boden warf. Er ergriff eine Gabel und stach mich in den Schenkel. Und da stürzten auf meinen Schrei Leute herein, und es glückte mir, zu entkommen. Seit damals ist es mir ekelhaft, an nackte Weiber zu denken; und sie können sich drauf verlassen, sie war hübsch.«

Während ich so erzählte, hatte sich der leichtfertige Ausdruck des Fürsten allmählich in einen tief traurigen verwandelt.

»Mon pauvre enfant! Ich war schon immer der Überzeugung, daß deine Kindheit sehr viel traurige Tage gekannt hat!«

»Machen Sie sich deswegen keine Sorgen, bitte.«

»Aber du warst allein, das hast du mir selbst gesagt, und wenn auch dieser Lambert da war; und du hast das so beschrieben: dieser Kanarienvogel, diese Konfirmation mit Tränen und Umarmungen, und dann, ein lumpiges Jahr nachher, diese Geschichte von seiner Mutter und dem Abbé . . . Oh, mon cher, diese Frage der Kinder ist zu unserer Zeit einfach fürchterlich: so lange diese Goldköpfchen mit ihren Locken und ihrer Unschuld, in der ersten Kindheit, um dich herflattern und dich mit hellem Lachen und hellen Augen anschauen, – dann ist dir, als wären es Engel Gottes oder reizende Vöglein; aber nachher . . . aber nachher ist es manchmal so, daß es besser wäre, sie würden überhaupt nicht groß!«

»Wie weichlich Sie sind, Fürst! Und als ob Sie selbst Kinder hätten. Sie haben ja doch keine Kinder und werden nie welche haben.«

»Tiens!« Sein Gesicht wechselte plötzlich wieder den Ausdruck. »Da fällt mir gerade Alexandra Petrowna ein, – da war vorgestern, hehehe! – Alexandra Petrowna Sinizkaja, weißt du, – ich glaube, du mußt sie vor vielleicht drei Wochen hier gesehen haben, – also stell' dir vor, vorgestern sag' ich ihr so im Spaß, wenn ich jetzt heiraten würde, könnte ich wenigstens darüber beruhigt sein, daß ich keine Kinder bekäme, – und auf einmal sagte sie zu mir, und noch so recht boshaft: ›Ganz im Gegenteil, Sie bekommen welche: Leute wie Sie bekommen sicher welche, sogar schon im ersten Jahr, das werden Sie sehen.‹ Hehe! Und alle haben sie, weiß der Kuckuck warum, die Idee, daß ich auf einmal heiraten werde, aber wenn das auch recht boshaft gesagt war, du mußt mir zugeben, es war geistreich.«

»Witzig, ja, aber beleidigend.«

»Nun, cher enfant, man braucht sich wirklich nicht über alles und jedes gleich beleidigt zu fühlen. Ich schätze nichts höher, als den Witz, der sichtlich von Tag zu Tag mehr aus der Welt verschwindet, aber was Alexandra Petrowna so sagt – kann man das irgendwie schwer nehmen?«

»Was, was haben Sie gesagt?« fiel ich ein: »nicht der erste beste kann einen . . . So ist es! Nicht jeder ist es wert, daß man ihn überhaupt beachtet – das ist eine ausgezeichnete Regel! Das ist gerade, was ich brauche. Das schreib' ich mir auf. Ach, Fürst, oft sagen Sie so famose Sachen!«

Er strahlte nur so.

»N'est-ce pas? Cher enfant, der wahre Geist verschwindet, je länger, je mehr. Eh, mais . . . C'est moi qui connaît les femmes! Glaub' mir, das Leben jeder Frau, mag sie verkünden, was sie will, ist ein ewiges Suchen, wie sie sich einem unterwerfen kann . . . sozusagen, ein Durst nach Unterwürfigkeit. Und merk' dir das wohl – da gibt's keine Ausnahme.«

»Sehr richtig, ausgezeichnet!« rief ich entzückt. Zu einer anderen Zeit wären wir sofort in stundenlange philosophische Erörterungen über dies Thema geraten, aber auf einmal gab es mir eine Art von Stich, und ich wurde feuerrot im Gesicht. Mir fiel ein, daß ich mich durch Lobsprüche für sein Bonmot bei ihm ja wegen des Geldes einschmeichelte, und daß er das nachher sicher meinen würde, wenn ich ihn darum bäte. Ich erwähne dies nicht ohne Absicht.

»Fürst, ich bitte Sie ergebenst, mir sofort die fünfzig Rubel zu bezahlen, die Sie mir für diesen Monat schulden«, fuhr ich heraus, in einem Ton, der so gereizt war, daß man ihn hätte grob nennen können.

Ich weiß noch (weil ich diesen ganzen Morgen bis zur kleinsten Kleinigkeit auswendig weiß), daß sich hierauf zwischen uns eine in ihrer realen Wahrheit recht häßliche Szene entspann. Er verstand mich zuerst überhaupt nicht, sah mich lange an und begriff nicht, von was für Geld ich eigentlich spräche. Natürlich hatte er ja nicht gedacht, ich bekäme Gehalt – wofür auch? Es ist allerdings wahr, er begann nachher zu versichern, er hätte es nur vergessen, und als er den Zusammenhang verstanden hatte, holte er schleunigst fünfzig Rubel hervor, aber er überhaspelte sich dabei und wurde sogar rot. Ich sah, wie die Sache stand, ich sprang auf und erklärte schneidend, jetzt könnte ich das Geld nicht mehr nehmen, man hätte mir augenscheinlich etwas von einem Gehalt erzählt, aus Versehen oder in betrügerischer Absicht, um mich zu bewegen, die Stellung anzunehmen, und ich sehe jetzt vollkommen ein, daß gar keine Veranlassung zu einer Bezahlung vorläge, weil ich nicht die geringste Arbeit geleistet hätte. Der Fürst erschrak und begann zu beteuern, ich hätte furchtbar viel geleistet, ich würde ihm noch viel mehr Dienste leisten, und fünfzig Rubel wären so lächerlich wenig, daß er mich im Gegenteil noch aufbessern wollte, denn er wäre dazu verpflichtet, und er selbst hätte das alles mit Tatjana Pawlowna so ausgemacht, aber »die ganze Sache unverzeihlicherweise wieder vergessen«. Ich brauste auf und erklärte endgültig, es würde eine Niedrigkeit von mir sein, ein Gehalt dafür zu nehmen, daß ich allerlei Skandalgeschichten erzählte, wie ich zwei Schleppen bis zu den Instituten nachgelaufen wäre, und ich wäre nicht als Lustigmacher bei ihm engagiert, sondern um etwas zu tun, und wenn er nichts für mich zu tun hätte, müßten wir eben ein Ende machen. Ich hatte mir nicht vorstellen können, daß ein Mensch so erschrecken könnte, wie er, als ich das sagte. Selbstverständlich war das Ende vom Lied, daß ich meinen Widerspruch aufgab und er mir die fünfzig Rubel aufdrängte; bis heute denke ich nur mit Erröten daran, daß ich sie annahm! In der Welt endet alles immer mit einer Gemeinheit, und das Schlimmste ist, daß er es damals fertig brachte, mir beinahe zu beweisen, ich hätte dies Geld unstreitig verdient, und ich besaß die Dummheit, es ihm zu glauben, und zudem war es mir gewissermaßen wirklich unmöglich, es nicht zu nehmen.

»Cher, cher enfant!« rief er und umarmte und küßte mich (ich muß gestehen, ich selbst fing, weiß der Teufel warum, zu heulen an, nahm mich aber gleich wieder zusammen, und auch jetzt noch, da ich dies schreibe, steigt mir das Blut in die Wangen). – »Lieber Freund,« rief er »du bist mir wie ein lieber Angehöriger geworden; in diesem einen Monat bist du mir geradezu ans Herz gewachsen! In der ›Gesellschaft‹ ist alles ›Gesellschaft‹ und nichts weiter. Katerina Nikolajewna (seine Tochter) ist eine glänzende Frau, und ich bin stolz auf sie, aber, mein Lieber, oft, sehr, sehr oft, kränkt sie mich auch . . . Na, und diese Mädel (elles sont charmantes) und ihre Mütter, die zum Namenstag herkommen, – na, die bringen eben nur ihren Canevas her, selbst wissen sie nichts zu sagen. Ich habe zirka sechzig Kissen mit ihrem Canevas darauf, und ewig Hunde und Hirsche. Ich hab' sie sehr gern, aber mit dir verkehre ich, wie mit einem nahen Angehörigen, – und nicht wie mit einem Sohn, sondern wie mit einem Bruder und besonders gern hab' ich es, wenn du mit mir diskutierst: du bist literarisch gebildet, du hast viel gelesen, du verstehst es, dich zu begeistern . . .«

»Ich habe nichts gelesen und bin durchaus nicht literarisch gebildet. Ich hab' nur gelesen, was mir gerade vorkam, und die letzten zwei Jahre hab' ich überhaupt nichts gelesen und will auch nichts mehr lesen.«

»Warum denn nicht?«

»Ich habe andere Ziele.«

»Cher . . . es wäre schade, wenn du dir am Ende deines Lebens sagen müßtest, wie ich: Je sais tout, mais je ne sais rien de bon. Ich weiß durchaus nicht, wozu ich auf Erden gelebt habe! Aber . . . ich bin dir so zu Dank verpflichtet . . . ich hab' sogar die Idee gehabt . . .«

Er brach plötzlich ganz sonderbar ab, sank in sich zusammen und fiel in Nachsinnen. Nach jeder Erregung (und Erregungen konnten ihm ganz momentan kommen, Gott weiß woher) verlor er in der Regel für einige Zeit den gesunden Zusammenhang im Denken und die Herrschaft über sich selbst; übrigens hatte er sich bald wieder in der Hand, so daß es weiter nichts machte. Wir saßen so vielleicht eine Minute. Seine sehr volle Unterlippe hing kraftlos herab . . . am meisten hatte es mich gewundert, daß er auf einmal von seiner Tochter gesprochen hatte, und dazu mit einer solchen Offenherzigkeit. Ich schrieb es natürlich seiner Zerstreutheit zu.

»Cher enfant, du bist mir doch nicht böse, weil ich ›du‹ zu dir sage, nicht wahr?« riß es sich plötzlich aus ihm los.

»Nicht im geringsten. Ich gestehe, anfangs, die ersten Male, war ich etwas gekränkt und wollte zu Ihnen auch ›du‹ sagen, aber ich sah ein, daß das dumm wäre, denn Sie duzen mich ja nicht, um mich zu beleidigen.«

Er hörte schon nicht mehr zu und hatte seine Frage vergessen.

»Nun, was macht denn dein Vater?« sagte er auf einmal und erhob seinen sinnenden Blick zu mir.

Ich erzitterte nur so. Erstens bezeichnete er Wersilow als meinen Vater, – was er sich mir gegenüber noch nie erlaubt hatte, und zweitens fing er von Wersilow zu sprechen an, was noch nie passiert war.

»Er sitzt ohne Geld da und fängt Grillen«, antwortete ich kurz, dabei brannte ich aber selbst vor Neugierde.

»Ja, das Geld! Heute wird ihre Sache vor dem Bezirksgericht entschieden, und ich erwarte Fürst Seriosha; was er wohl für eine Nachricht bringen wird? Er hat mir versprochen, direkt vom Gericht zu mir zu kommen. Da hängt nun ihr ganzes Schicksal dran; es sind sechzig- oder achtzigtausend Rubel. Selbstverständlich habe ich auch Andrej Petrowitsch (das heißt, Wersilow) immer alles Gute gewünscht, und er wird ja wohl auch gewinnen, und die Fürsten haben das Nachsehen. Gesetz ist Gesetz.«

»Heute auf dem Gericht?« rief ich erstaunt.

Der Gedanke, daß Wersilow es selbst hier nicht für nötig gehalten hatte, mir etwas zu sagen, setzte mich äußerst in Erstaunen. »Also hat er es auch wohl der Mutter nicht gesagt, und vielleicht keinem Menschen?« malte ich mir sofort aus. »Was für ein Charakter!«

»Aber ist denn Fürst Sokolskij in Petersburg?« Dieser zweite Gedanke durchzuckte mich plötzlich.

»Seit gestern. Direkt aus Berlin, extra wegen heute.«

Auch das war eine für mich sehr wichtige Nachricht. »Und er kommt heute hierher, dieser Mensch, der ihn geohrfeigt hat!«

»Na, sag' mal,« sagte der Fürst mit plötzlich verwandeltem Ausdruck, »spielt er noch immer den Propheten Gottes, wie damals, und, und . . . du erlaubst schon, ist er noch immer hinter den Mädeln her, den Mädeln, die noch nicht flügge sind? He, he! da wird auch jetzt wieder eine äußerst lustige Anekdote kolportiert . . . Hehe!«

»Prophet? Wer? Wer ist hinter den Mädeln her?«

»Andrej Petrowitsch! Wirst du's mir glauben? Damals hat er uns allen zugesetzt: was wir essen, woran wir denken! – Das heißt, beinahe so. Er machte uns Vorwürfe und predigte uns Buße: ›Wenn du religiös bist, warum gehst du nicht ins Kloster?‹ Er verlangte das beinah von einem. Mais quelle idée! Und mag es auch richtig sein, es ist doch wohl etwas gar zu streng? Und gerade mir drohte er mit Vorliebe mit dem Jüngsten Gericht, mir am allermeisten.«

»Ich habe nichts dergleichen bemerkt, und ich bin doch schon einen Monat mit ihm zusammen«, erwiderte ich, während ich voll Ungeduld horchte. – Ich ärgerte mich fürchterlich, daß er sich nicht zusammennahm und so ohne Faden daherredete.

»Jetzt sagt er das bloß nicht, aber du kannst mir glauben, so war es. Er ist unstreitig ein sehr gescheiter Mensch, und sehr unterrichtet; aber ist dieser Verstand so recht in Ordnung? Das kam alles, nachdem er die drei Jahre im Ausland gewesen war. Ich muß gestehen, er hat mich sehr erschüttert . . . und alle Welt hat er erschüttert . . . Cher enfant, j'aime le bon Dieu . . . Ich bin gläubig, gläubig, so gut ich kann, – aber damals kam ich tatsächlich ganz aus dem Häuschen. Es mag ja sein, daß meine Art etwas leichtfertig war, aber das hab' ich absichtlich getan, im Ärger, – und zudem war das Wesen meiner Entgegnung ebenso ernsthaft, wie es vom Beginn der Welt gewesen ist: ›Wenn es ein höheres Wesen gibt,‹ sag' ich zu ihm, ›wenn es eins gibt, und es existiert persönlich, und nicht in Gestalt eines Geistes, der über die ganze Schöpfung gegossen ist, wie eine Flüssigkeit etwa (weil dies noch schwerer zu begreifen ist), – wo wohnt Er denn?‹ Lieber Freund, c'était bête, zweifellos, aber schließlich laufen doch alle Entgegnungen in der Sache hierauf heraus. Un domicile – das ist eine wichtige Sache. Er wurde furchtbar böse. Er ist da unten auch zum Katholizismus übergetreten.«

»Von dieser Geschichte habe ich auch schon gehört. Ich bin überzeugt, das ist alles Blödsinn.«

»Ich versichere es dir bei allem, was mir heilig ist. Schau ihn nur richtig an . . . Übrigens sagst du ja, er hätte sich geändert. Na, damals hat er uns alle gepeinigt! Glaube mir, er benahm sich, als ob er ein Heiliger wäre und seine Knochen Reliquien. Er verlangte von uns Rechenschaft über unsern Lebenswandel, ich schwör' es dir! Reliquien! En voilà une autre! Ja, wenn's ein Mönch oder ein Einsiedler gewesen wäre, – aber da läuft einer im Frack herum . . . und auf einmal will er aus Reliquien zusammengesetzt sein! Eine sonderbare Idee für einen Mann von Welt, und, ich muß gestehen, ein sonderbarer Geschmack. Ich will gar nichts dagegen sagen, das sind alles heilige Sachen, und schließlich kann alles vorkommen . . . Außerdem ist das alles de l'inconnu, aber für einen Mann von Welt ist es geradezu unpassend. Wenn mir so etwas passierte, oder wenn man mir das vorschlüge, ich würde mich einfach weigern. Also, ich speise heute im Klub, und auf einmal bin ich – eine Reliquie? Ich mach' mich ja lächerlich! Das hab' ich ihm damals alles auseinandergesetzt . . . Er trug sogar Büßerketten auf dem Leibe.«

Ich wurde vor Zorn feuerrot im Gesicht.

»Haben Sie die selbst gesehen?«

»Ich selbst nicht, aber . . .«

»So kann ich Ihnen nur sagen, daß das alles Lügen sind, ein Gewebe von widerwärtigen Ränken und Verleumdungen seiner Feinde, das heißt, eines Feindes, des unmenschlichen Hauptfeindes, denn er hat nur einen Feind: und das ist Ihre Tochter.«

Jetzt war die Reihe aufzubrausen am Fürsten.

»Mon cher, ich bitte dich, und zwar aufs dringlichste, in Zukunft mir gegenüber nie wieder den Namen meiner Tochter in Verbindung mit dieser ekelhaften Geschichte in den Mund zu nehmen.«

Ich sprang auf. Er war außer sich; sein Kinn zitterte.

»Cette histoire infâme! . . .« fing er wieder an, »ich habe sie nicht geglaubt, ich hab' sie nicht glauben wollen, aber . . . man sagt mir: glaub' es, glaub' es, ich . . .«

Da kam auf einmal der Diener und meldete Besuch; ich setzte mich wieder.

 

4

Zwei Damen traten ein, beides junge Mädchen, die eine war eine Stieftochter eines Vetters der verstorbenen Frau des Fürsten, oder so was Ähnliches, eine seiner Pflegetöchter, der er ihre Mitgift schon herausbezahlt hatte und die (ich bemerke das für späterhin) auch selbst nicht mittellos war; die zweite war Anna Andrejewna Wersilowa, Wersilows Tochter, drei Jahre älter als ich; sie lebte mit ihrem Bruder bei der Fanariotowa, und ich hatte sie bisher in meinem Leben nur ein einziges Mal gesehen, ganz flüchtig auf der Straße, obschon ich mit ihrem Bruder, allerdings auch ganz flüchtig, schon in Moskau eine Affäre gehabt hatte (es ist sehr möglich, daß ich späterhin etwas von dieser Affäre erwähne, wenn ich Raum dafür habe, denn eigentlich ist es der Mühe nicht wert). Diese Anna Andrejewna war in ihren Kinderjahren eine besondere Favoritin des Fürsten gewesen (Wersilows Bekanntschaft mit dem Fürsten datierte schon ungeheuer weit zurück). Ich war noch so verwirrt von dem, was soeben geschehen war, daß ich bei ihrem Eintritt nicht einmal aufstand, obgleich der Fürst sich erhob und ihnen entgegenging; nachher dachte ich mir, jetzt wäre es schon genierlich, aufzustehen, und blieb sitzen. Der Hauptgrund war, daß ich mich so vor den Kopf gestoßen fühlte, weil der Fürst mich vor drei Minuten so angeschrien hatte, und noch nicht wußte, ob ich fortgehen sollte oder nicht. Aber der alte Herr hatte schon alles absolut vergessen, wie es so seine Mode war, und hatte sich ganz freudig belebt, als er die beiden jungen Mädchen sah. Er hatte sogar, mit schnell verwandeltem Ausdruck und einem gewissen geheimen Blinzeln, Zeit gefunden, mir direkt vor ihrem Eintritt hastig zuzuwispern:

»Schau dir die Olympia an, schau sie dir ganz genau an, ganz genau . . . ich erzähl' dir nachher, warum . . .«

Ich sah sie mir recht genau an und fand nichts Besonderes: es war ein junges Mädchen von mittlerer Größe, dicklich und mit außerordentlich roten Backen. Ihr Gesicht war übrigens ziemlich angenehm, von der Sorte, wie sie den Materialisten gefällt. Es lag vielleicht ein Zug von Güte darin, aber dies mit einer gewissen Einschränkung. Durch besondere Intelligenz glänzte es nicht, aber nur, wenn man das Wort im höheren Sinn anwendet, denn die Schlauheit las man ihr in den Augen. Sie war höchstens neunzehn. Mit einem Wort, nichts irgendwie Bemerkenswertes. Bei uns im Gymnasium hätte man sein Urteil dahin zusammengefaßt: ein gutes Kissen. (Wenn ich so sehr in die Details eingehe, so geschieht das nur, weil ich das für später nötig habe.)

Übrigens möchte ich bemerken: alles, was ich bis jetzt mit scheinbar überflüssiger Ausführlichkeit erzählt habe, – das alles führt aufs Zukünftige und wird sich dort als notwendig erweisen. An seiner Stelle komme ich auf alles zurück; vermeiden konnte ich es nicht; wem es langweilig erscheint, den bitte ich, es nicht zu lesen.

Ein ganz anderes Wesen war Wersilows Tochter. Sie war groß, sogar ein bißchen hager; das Gesicht länglich und auffallend blaß, ihr Haar schwarz und üppig; große, dunkle Augen, ein tiefer Blick; schmale purpurrote Lippen, ein frischer Mund. Sie war die erste Frau, die mir durch ihren Gang keinen Ekel eingeflößt; übrigens war sie schlank und mager. Ihr Gesichtsausdruck war nicht besonders gutmütig, dafür aber selbstbewußt; sie war zweiundzwanzig. Fast keine Spur von äußerer Ähnlichkeit in den Zügen mit Wersilow, dabei aber, ganz wunderlich, eine außerordentliche Ähnlichkeit im Ausdruck ihres Gesichtes. Ich weiß nicht, ob sie hübsch ist; das ist Geschmackssache. Sie waren beide sehr bescheiden gekleidet, so daß es sich nicht verlohnt, näheres darüber zu sagen. Ich erwartete sofort durch irgendeinen Blick oder eine Geste von Fräulein Wersilowa beleidigt zu werden und bereitete mich darauf vor; hatte mich doch ihr Bruder in Moskau gleich bei unserer ersten Berührung in diesem Leben beleidigt. Von Angesicht konnte sie mich nicht kennen, aber sie hatte natürlich gehört, daß ich täglich zum Fürsten käme. Alles, was der Fürst unternahm und tat, erweckte in diesem ganzen Haufen von Verwandten und »Aspirantinnen« Interesse und wurde als ein Ereignis angesehen, – um so mehr natürlich die plötzliche große Zuneigung des Fürsten zu mir. Ich wußte zuverlässig, daß der Fürst sich sehr für Anna Andrejewnas Zukunft interessierte und einen Bräutigam für sie suchte. Aber es war schwerer für das Fräulein Wersilowa einen Bräutigam zu finden, als für die Damen, die auf Canevas stickten.

Und siehe da, es kam ganz anders, als ich erwartet hatte. Fräulein Wersilowa schüttelte dem Fürsten die Hand und wechselte ein paar lustige weltläufige Phrasen mit ihm, dann schaute sie äußerst neugierig auf mich, und als sie sah, daß ich sie auch anschaute, grüßte sie mich plötzlich mit einem Lächeln. Es ist ja richtig, sie war gerade gekommen und begrüßte mich als neuer Ankömmling, aber ihr Lächeln war so liebenswürdig, daß man merken konnte, sie hatte sich das schon vorher vorgenommen. Und ich weiß noch, ich hatte ein sehr angenehmes Gefühl dabei.

»Und das . . . und das ist mein lieber junger Freund Arkadij Andrejewitsch Dol . . .« stammelte der Fürst, der bemerkt hatte, daß sie mich begrüßte, daß ich aber noch immer saß, – aber auf einmal brach er ab: vielleicht machte ihn der Gedanke verwirrt, daß er mich mit ihr bekannt machen sollte (denn in Wirklichkeit waren wir ja Bruder und Schwester). Das »Kissen« begrüßte mich gleichfalls; ich aber brauste plötzlich höchst albernerweise auf und fuhr von meinem Stuhl empor: ein Anfall von künstlich gesteigertem, gänzlich sinnlosem Stolz; alles nur aus Eitelkeit.

»Entschuldigen Sie, Fürst, ich . . . ich heiße nicht Arkadij Andrejewitsch, sondern Arkadij Makarowitsch«, fiel ich ihm schneidend ins Wort, ohne daran zu denken, daß ich doch die Begrüßung der Damen erwidern mußte. Wenn doch der Teufel diese peinliche Minute geholt hätte!

»Mais . . . tiens!« rief der Fürst und schlug sich mit der Hand vor die Stirn.

»Wo haben Sie Ihre Ausbildung genossen?« erscholl vor mir die dümmliche und gedehnte Frage des Kissens, das direkt auf mich zugetreten war.

»In Moskau, auf dem Gymnasium.«

»Ach ja! Ich hab' schon davon gehört. Und ist es da nett?«

»Sehr nett.«

Ich stand noch immer und sprach wie ein Soldat, der eine Meldung macht.

Die Fragen dieses jungen Mädchens waren zweifellos nicht sehr geistvoll, aber immerhin mühte sie sich doch, meinen dummen Ausbruch zu vertuschen, und dem Fürsten in seiner Verlegenheit zu helfen, der übrigens derweil schon mit lustigem Lächeln zuhörte, wie ihm Fräulein Wersilowa irgend etwas Lustiges ins Ohr wisperte, – es bezog sich augenscheinlich nicht auf mich. Aber es war die Frage: warum wirft sich dieses junge Mädchen, das ich gar nicht kenne, dazu auf, meinen dummen Ausbruch zu vertuschen? Und zugleich konnte ich mir gar nicht vorstellen, daß sie sich so ganz ohne Grund an mich gewandt hätte: da steckte irgendeine Absicht dahinter. Sie schaute mich gar zu neugierig an, ganz, als wünschte sie, ich möchte sie auch möglichst viel bemerken. Das alles habe ich mir dann später kombiniert und – mich nicht getäuscht.

»Was, also heute?« rief der Fürst plötzlich und sprang auf.

»Haben Sie denn das nicht gewußt?« sagte Fräulein Wersilowa erstaunt. »Olympia, der Fürst wußte gar nicht, daß Katerina Nikolajewna heute ankommen wollte. Wir wollten sie ja besuchen, wir dachten, sie wäre schon mit dem Frühzug gekommen und längst zu Hause. Gerade eben haben wir sie unten an der Treppe getroffen: sie kam direkt von der Bahn und sagte, wir sollten nur zu Ihnen hinaufgehen, sie käme auch gleich . . . Da ist sie ja schon!«

Die Tür zum Nebenzimmer öffnete sich, und – jene Frau trat ein.

Ich kannte ihr Gesicht schon, von dem wundervollen Porträt, das im Kabinett des Fürsten hing. Jetzt war ich nur drei Minuten mit ihr im Kabinett zusammen und wandte auch nicht eine Sekunde die Augen von ihrem Gesicht. Aber wenn ich das Porträt nicht gekannt hätte, und man hätte mich nach diesen drei Minuten gefragt: »Wie sieht sie aus?« – ich wäre nicht imstande gewesen, eine Antwort zu geben, so umwölkt hatte sich alles in mir. Ich erinnere mich nach diesen drei Minuten nur einer wirklich schönen Frau, die der Fürst küßte, während er ein Kreuz über sie schlug, und die mich auf einmal mit einem schnellen Blick zu fixieren begann, – fast im gleichen Moment als sie eingetreten war. Ich hörte deutlich, wie der Fürst, indem er ganz offen mit der Hand auf mich deutete, irgend etwas von dem neuen Sekretär murmelte und meinen Namen nannte, dabei schlug er eine Art von kleiner Lache auf. Sie rümpfte in ganz besonderer Art die Nase, musterte mich mit einem bösen Blick und lächelte so dreist, daß ich unwillkürlich einen plötzlichen Schritt machte, auf den Fürsten zutrat und zu stammeln anfing, ohne ein Wort zu Ende zu bringen; dabei zitterte ich schrecklich und klapperte, glaub' ich, mit den Zähnen.

»Jetzt will ich . . . ich habe zu tun . . . Ich gehe.«

Und ich drehte mich um und ging. Keiner sagte ein Wort zu mir, nicht einmal der Fürst; alle schauten mich nur an. Später hat mir der Fürst gesagt, ich wäre so bleich geworden, daß er einfach »Angst gekriegt« hätte.

Das war nun allerdings ganz überflüssig!

 


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