Fjodor Michailowitsch Dostojewski
Ein Werdender - Erster Band
Fjodor Michailowitsch Dostojewski

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Zweiter Teil

Erstes Kapitel

1

Ich überspringe einen Zeitraum von zwei Monaten; aber der Leser braucht sich nicht zu beunruhigen: aus dem folgenden wird alles klar werden. Scharf hervorheben möchte ich einen Tag, den fünfzehnten November – einen Tag, der mir aus vielen Ursachen nur zu gut im Gedächtnis geblieben ist. Das erste ist: niemand hätte mich wiedererkannt, der mich vor zwei Monaten gesehen hatte, wenigstens, was mein Äußeres betrifft; das heißt, vielleicht hätte er mich auch erkannt, aber er hätte sich durchaus keinen Vers darauf machen können. Ich war gekleidet wie ein Geck – das ist das erste. Jener »reelle Franzose, der auch Geschmack hat«, den mir Wersilow damals empfehlen wollte, hat mir nicht nur einen Anzug gemacht, sondern ist auch schon wieder zum alten Eisen geworfen; für mich arbeiten jetzt schon andere Schneider, feinere, die allerersten, und ich habe sogar eine laufende Rechnung bei ihnen. Ich habe auch in einem vornehmen Restaurant laufende Rechnung, aber dort habe ich noch Angst, und so oft ich Geld habe, bezahle ich, obgleich ich weiß, daß das »mauvais ton« ist, und daß ich mich dadurch kompromittiere. Auf dem Newskij-Prospekt habe ich einen französischen Friseur, mit dem ich auf sehr vertrautem Fuße stehe, und wenn er mich frisiert, erzählt er mir Anekdoten. Und, offengestanden, ich übe mich mit ihm im Französischen. Wenn ich die Sprache auch kenne, und sogar recht gut, in der großen Welt hab' ich doch so eine gewisse Angst, damit anzufangen; ja, und dann ist meine Aussprache wahrscheinlich durchaus nicht pariserisch. Ich habe Matwej, meinen Fiaker, mit einem Traber, und er steht mir zu Diensten, sobald ich's befehle. Er hat einen hellbraunen Hengst (ich liebe die Schimmel nicht). Übrigens ist auch mancherlei nicht recht in Ordnung: wir schreiben den fünfzehnten November, seit drei Tagen haben wir Winter, und mein Pelz ist alt, ein abgetragener Schuppenpelz, der von Wersilow stammt; wenn man ihn verkauft, bekommt man fünfundzwanzig Rubel dafür. Ich muß mir einen neuen anschaffen, aber meine Taschen sind leer, außerdem muß ich für heute abend Geld herbeischaffen, und das um jeden Preis, – »sonst bin ich unglücklich und ruiniert«; das sind meine eigenen Worte von damals. O Niedrigkeit! Was, woher kommen auf einmal diese Tausende, dieser Traber, diese feinen Restaurants! Wie konnte ich auf einmal alles so ganz vergessen und mich so verwandeln? O Schmach! Lieber Leser, ich beginne jetzt mit der Geschichte meiner Schande und Schmach, und nichts im Leben kann beschämender für mich sein als diese Erinnerungen!

Ich spreche wie ein Richter und weiß, daß ich schuldig bin. In dem Wirbel, in dem ich mich damals drehte, war ich wohl allein, ohne Führer und ohne Ratgeber, aber ich kann schwören, auch damals schon war ich mir selber meines Falles bewußt, und darum bin ich nicht zu entschuldigen. Und dabei war ich diese zwei Monate lang beinah glücklich, – was sag' ich: beinah? Ich war zu glücklich! Und das ging einfach so weit, daß das Bewußtsein meiner Schande, das zuzeiten (und oft genug!) in mir aufblitzte, und vor dem meine Seele erzitterte, – daß dies Bewußtsein – wird man's glauben? – mich noch mehr berauschte: »Ach was, fall' ich, so fall' ich; ganz fall' ich nicht, ich komme schon wieder heraus! Ich hab' meinen Stern!« – Ich ging auf einem schmalen Stege aus dünnen Spänen, ohne Geländer, über einem Abgrund, und ich fand es lustig, daß ich so ging; ich schaute sogar in den Abgrund hinunter. Es war gefährlich, und das war lustig. Und meine »Idee«? – Die »Idee« für später, die Idee wartete; alles, was geschah, – war »nur ein Abweichen vom Wege«: »warum soll ich mich nicht amüsieren?« Das ist ja eben das Schlechte an »meiner Idee«, wiederhole ich noch einmal, daß sie einfach alle Abweichungen gestattet; wäre sie nicht so fest und radikal, so hätte ich vielleicht Angst gehabt, abzuweichen.

Und derweil hatte ich meine kleine Wohnung noch immer, ich hatte sie, wohnte aber nicht darin; da lag mein Handkoffer, meine Reisetasche und sonst noch Sachen; meine Hauptresidenz aber war bei Fürst Sergej Sokolskij. Bei ihm saß ich, bei ihm übernachtete ich auch, und zwar gleich wochenlang . . . Wie das gekommen war, will ich gleich erzählen, zunächst will ich ein Wort über meine kleine Wohnung sagen. Ich hatte sie schon liebgewonnen: hier hatte mich Wersilow, als erster, zum erstenmal nach unserm damaligen Streit, aufgesucht, und seitdem war er viele Male gekommen. Ich sage noch einmal, diese Zeit war eine schreckliche Schmach, aber auch ein ungeheures Glück . . . »Und es glückte mir auch alles so und lächelte mir so! Und wozu auch alle die frühere Finsterkeit?« dachte ich in manchen berauschenden Minuten, »wozu diese alten schmerzlichen Risse, meine einsame und trübselige Kindheit, meine dummen Träume unter der Bettdecke, meine Schwüre, meine Berechnung und selbst die ›Idee‹? Ich habe das alles vorausgesetzt und mir ausgedacht, und jetzt zeigt sich's, daß es in der Welt durchaus nicht so ist; mir ist ja doch so froh und leicht: ich habe einen Vater – Wersilow, ich habe einen Freund – den Fürsten Seriosha, und dann habe ich noch . . .« Aber dieses »noch« lassen wir jetzt beiseite. O weh, alles geschah im Namen der Liebe, der Großmut, der Ehre, und nachher erwies es sich als unanständig, frech, ehrlos.

Genug davon.

 

2

Das erstemal war er am dritten Tage nach unserem damaligen Bruche zu mir gekommen. Ich war nicht zu Hause, und er blieb da und wartete auf mich. Als ich in meine winzige Kammer trat; umwölkten sich mir gleichsam die Augen, und mein Herz klopfte so, daß ich sogar in der Tür stehenblieb, obgleich ich diese ganzen drei Tage auf ihn gewartet hatte. Zum Glück saß er mit meinem Wirt da, der es, um dem Gast die Langeweile zu vertreiben, nötig gefunden hatte, sich ihm ungesäumt vorzustellen und ihm mit großem Eifer etwas zu erzählen begonnen hatte. Er war ein kleiner Subalternbeamter, ein Vierziger schon, sehr blatternarbig, sehr arm, bepackt mit einer schwindsüchtigen Frau und einem kranken Kinde; von Charakter war er außerordentlich mitteilsam und gutmütig, übrigens auch recht taktvoll. Ich freute mich über seine Anwesenheit, und er überhob mich sogar einer Verlegenheit, denn was hätte ich wohl zu Wersilow sagen sollen? Ich wußte, wußte ganz ernsthaft, diese ganzen drei Tage, daß Wersilow selbst kommen würde als der erste, – genau so, wie ich es mir wünschte, weil ich um nichts in der Welt als der erste zu ihm gegangen wäre, und nicht aus Störrigkeit, sondern eben aus Liebe zu ihm, aus einer gewissen Eifersucht der Liebe, – ich weiß das nicht auszudrücken. Ja, und Talent für schöne Redensarten wird der Leser bei mir überhaupt nicht finden. Aber wenn ich ihn auch diese ganzen drei Tage erwartet und mir ununterbrochen vorgestellt hatte, wie er zu mir hereinkommen würde, dennoch hab' ich mir nie im voraus vorstellen können, obgleich ich mir die größte Mühe gab, wovon wir beide auf einmal sprechen würden, nach allem, was geschehen war.

»Ah, da bist du ja auch!« mit diesen Worten streckte er mir freundschaftlich die Hand entgegen, ohne sich von seinem Platz zu erheben. »Setz' dich zu uns; Piotr Ippolitowitsch erzählt gerade eine sehr interessante Geschichte von dem großen Stein bei der Pawlowschen Kaserne . . . oder da in der Gegend . . .«

»Ja, ich kenne den Stein«, sagte ich so schnell wie möglich und setzte mich zu ihnen auf einen Stuhl. Sie saßen am Tische. Das ganze Zimmer maß genau zwei Quadratfaden. Ich atmete schwer.

Ein Funken der Befriedigung blitzte in Wersilows Augen auf: ich glaube, er hatte eine gewisse Befürchtung gehegt und gedacht, ich würde große Gesten brauchen. Jetzt war er beruhigt.

»Fangen Sie lieber noch einmal von Anfang an, Piotr Ippolitowitsch.« – Sie zeichneten sich schon durch die Anrede mit Vor- und Vatersnamen aus.

»Also, das ist noch zu Zeiten des seligen Kaisers passiert,« wandte sich Piotr Ippolitowitsch zu mir, nervös und ein bißchen gequält, als hätte er schon im voraus Angst um die Wirkung seiner Pointe, »Sie kennen diesen Stein ja doch, – so ein dummer Stein mitten auf der Straße. Wozu? Warum? Er steht nur im Wege, nicht wahr? Der Kaiser fuhr oft vorüber, und jedesmal war dieser Stein da. Endlich paßte das dem Kaiser nicht mehr, und es ist ja wahr, ein ganzer Berg! Ein Berg steht auf der Straße und verpfuscht die Straße. ›Der Stein soll fort!‹ Na ja, er sagt, er soll fort, verstehen Sie, – was heißt: ›er soll fort‹? Sie wissen ja, wie der Selige war? Was sollte man mit dem Stein machen? Alle verloren den Kopf, da waren die Stadtverordneten, und da war hauptsächlich, ich weiß nicht mehr wer eigentlich, aber jedenfalls einer von den allerersten damaligen Magnaten, der den Auftrag hatte. Also, dieser Magnat hört nun: es heißt, fünfzehntausend wird es kosten, weniger unter gar keinen Umständen, und in Silber (denn die Banknoten wurden damals, zur Zeit des seligen Kaisers, nur in Silber eingelöst). ›Wieso fünfzehntausend, was für ein Wahnsinn!‹ Zuerst wollten die Engländer Schienen darunter legen und ihn mit Dampfkraft fortschaffen: aber was das gekostet hätte! Eisenbahnen gab es damals noch nicht, nur die nach Zarskoje-Selo ging schon . . .«

»Na, dann hätte man ihn ja zersägen können«, sagte ich und begann die Stirne in Falten zu ziehen; mir wurde die Sache schrecklich ärgerlich und genierlich Wersilow gegenüber; aber er hörte mit sichtlichem Vergnügen zu. Ich begriff, daß auch er über die Anwesenheit des Wirtes froh war, weil er auch eine gewisse Verlegenheit mir gegenüber empfand, das sah ich; ich weiß noch, das erschien mir direkt beinah rührend von ihm.

»Ja, eben, zersägen, eben auf diese Idee kamen sie auch, und zwar Montferrand; er baute ja damals grade die Isaakskirche, ›Zersägen‹, sagt er, ›und dann fortschaffen.‹ Jawohl, ja, aber was wird das kosten?«

»Nichts kostet das, man zersägt ihn einfach und schafft ihn fort.«

»Nein, erlauben Sie, da muß man ja doch eine Maschine aufstellen, eine Dampfmaschine, und wohin soll man ihn dann schaffen? Und dabei so ein Berg? Zehntausend, hieß es, billiger würde es nicht gehen, zehn- bis zwölftausend.«

»Hören Sie mal, Piotr Ippolitowitsch, das ist aber doch Unsinn, das kann doch nicht so gewesen sein . . .« Aber in diesem Augenblick blinzelte mir Wersilow unmerklich zu, und in diesem Blinzeln sah ich ein so taktvolles Mitgefühl mit meinem Wirte, ja, er litt sogar mit ihm, daß mir das außerordentlich gut gefiel und ich zu lachen anfing.

»Na ja, na ja,« freute sich mein Wirt, der nichts bemerkt hatte und eine schreckliche Angst gefühlt hatte, wie alle diese Geschichtenerzähler, daß man ihn durch Fragen aus dem Zusammenhang bringen könnte, »und da kommt nun gerade ein Kleinbürger heran, jung noch, na wissen Sie, so ein richtiger Russe, keilförmiger Bart, langschößiger Kaftan, und beinah ein bißchen angesäuselt . . . übrigens, nein, angesäuselt nicht. Also, so steht dieser Kleinbürger da, wo sie miteinander disputierten, die Engländer und Montferrand, und jener hohe Herr, der den Auftrag hatte, war auch in seinem Wagen gekommen, hört zu und ärgert sich: wie sie da so schwatzen und zu keinem Entschluß kommen können. Auf einmal sieht er, von ferne steht dieser Kleinbürger und lacht so falsch, das heißt, nicht falsch, das meine ich nicht, aber so, so . . .«

»Spöttisch«, half ihm Wersilow vorsichtig ein.

»Spöttisch, jawohl, das ist's, ein bißchen spöttisch; so ein gutes russisches Lächeln, wissen Sie; na, der Herr nahm das natürlich krumm, wissen Sie:

›Du Knasterbart, worauf wartest du? Wer bist du?‹

›Ja,‹ sagt er, ›ich seh' mir das Steinchen an, Durchlaucht.‹

Ja, ich glaub', Durchlaucht war er; ja, ob das nicht am Ende Fürst Suworow-Italijskij war, ein Nachkomme des Feldmarschalls . . . Übrigens nein, doch nicht Suworow, wie schade, daß ich vergessen hab', wer es eigentlich war, nur wissen Sie, er war wohl eine Durchlaucht, aber dabei doch so ein echter Russe, so ein russischer Typus, ein Patriot, ein aufgeklärtes russisches Herz; na, also er fragte:

›Was?‹ fragt er, ›willst du vielleicht den Stein fortschaffen: was feixt du?‹

›Hauptsächlich über die Engländer, Durchlaucht, sie verlangen schon einen gar zu unverhältnismäßigen Preis, weil der russische Beutel dick ist und sie zu Hause nichts zu fressen haben. Setzen Sie hundert Rubel aus, Durchlaucht – morgen abend bringen wir das Steinchen fort.‹

Na, stellen Sie sich einmal so einen Vorschlag vor. Die Engländer möchten ihn natürlich am liebsten fressen; Montferrand lacht; nur diese Durchlaucht, dieses russische Herz, sagt:

›Man gebe ihm hundert Rubel!‹ sagt er.

›Ja,‹ sagt er, ›wirst du ihn auch wirklich fortschaffen?‹

›Morgen gegen Abend kriegen wir ihn ran, Durchlaucht.‹

›Ja, wie willst du das machen?‹

›Das ist schon, wenn Durchlaucht es nicht übelnehmen, unser Geheimnis‹, sagt er, und wissen Sie, so richtig russisch sagte er das. Dem gefiel das:

›Also man gebe ihm alles, was er verlangt!‹

Na, und dann ließen sie ihn gehen; was glauben Sie, was er gemacht hat?«

Mein Wirt machte eine Pause und begann uns mit einem gerührten Blick zu mustern.

»Ich weiß nicht«, lächelte Wersilow. Ich machte ein sehr finsteres Gesicht.

»Ja, das hat er gemacht,« sagte mein Wirt mit einem Triumphe, als hätte er es selber gemacht, »er mietete Bauern mit Spaten, einfache russische Bauern, und fing neben dem Steine, ganz dicht am Rande, ein Loch zu graben an; die ganze Nacht gruben sie, ein riesiges Loch gruben sie aus, genau von der Größe des Steines, und nur so vielleicht noch eine gute Spanne tiefer; und als das Loch fertig war, befahl er, ganz langsam und vorsichtig auch die Erde unter dem Stein wegzugraben. Na, natürlich, wie sie so drunter weggruben, hatte der Stein keine Unterlage mehr, worauf er stehen konnte, das Gleichgewicht kam ins Wanken; und als das Gleichgewicht im Wanken war, na, da stemmten sie sich denn von der anderen Seite gegen den Stein, so mit Hurra, auf russische Art: und der Stein fiel denn auch, plumps, in das Loch! Und dann schaufelten sie es zu und stampften alles gut fest, pflasterten Steinchen darüber, – alles glatt, der Stein war verschwunden!«

»Denken Sie mal!« sagte Wersilow.

»Na, also, ein Haufen Menschen, ein Haufen lief da zusammen, hast du nicht gesehen; und diese Engländer hatten ja alles längst erraten und hatten eine Wut. Montferrand kam an: ›Das,‹ sagt er, ›ist doch gar zu bäurisch, gar zu einfach ist das‹, sagt er. Ja, das ist es ja eben, daß das einfach ist, aber ihr seid nicht darauf gekommen, ihr Hansnarren ihr! Und ich kann Ihnen sagen, dieser hohe Herr von der Regierung umarmte ihn einfach und küßte ihn: ›Ja, woher bist du denn?‹ sagt er. – ›Von Jaroslawl, Durchlaucht, mein Handwerk ist eigentlich Schneider, aber im Sommer komm' ich in die Hauptstadt mit Obst handeln.‹ Na, die Sache kam der Obrigkeit zu Ohren; die Obrigkeit befahl, ihm eine Medaille umzuhängen; und so ging er mit der Medaille am Halse herum, ja, und nachher soll er sich kaputt gesoffen haben; wissen Sie, ein Russe kann sich eben nicht zügeln! Daher kommt es, daß noch heute soviel Ausländer uns überschwemmen, jawohl ja, das ist's!«

»Ja natürlich, der russische Geist . . .«, wollte Wersilow schon beginnen.

Aber in diesem Augenblick rief, zu seinem guten Glück, die kranke Wirtin nach dem Erzähler, und er lief hinaus, sonst hätte ich mich nicht mehr halten können. Wersilow lachte.

»Ach, lieber Freund, bevor du kamst, hat er mich schon eine ganze Stunde amüsiert. Dieser Stein . . . das ist alles was es in ähnlichen Erzählungen vom falschesten Patriotismus gibt, aber wie soll man ihn unterbrechen? Du hast's ja gesehen, er schmilzt vor Wonne. Und außerdem glaub' ich, dieser Stein liegt noch heute da, wenn ich mich nur nicht täusche, und ist durchaus nicht in ein Loch vergraben . . .«

»Ach ja, lieber Gott!« rief ich, »das ist ja auch wahr. Wie kann er sich erlauben . . .!«

»Was hast du? Ja, ich glaube, du bist ganz entrüstet. Warum denn? Da hat er natürlich Konfusion gemacht; ich hab' eine ähnliche Geschichte von einem Stein schon in meiner Kindheit gehört, nur war sie natürlich anders und handelte nicht von diesem Stein. Du lieber Gott; ›es kam der Obrigkeit zu Ohren.‹ Sein ganzes Herz jubelte ja in dem Augenblick, als er das von der ›Obrigkeit‹ sagte. In diesem traurigen Milieu geht es eben nicht ohne solche Anekdoten, Sie haben eine Menge davon, hauptsächlich handeln sie von ihrem Saufen. Sie haben nichts gelernt, sie kennen nichts richtig, na, eben außer den Karten und ihrem Handwerk; so einer mag auch mal von etwas allgemein Menschlichem, Poetischem sprechen . . . Was ist er, was ist dieser Piotr Ippolitowitsch für ein Mensch?«

»Ein armes Subjekt, ein ganz unglücklicher Mensch.«

»Na, siehst du, er spielt vielleicht nicht einmal Karten? Ich wiederhol' dir noch einmal, mit der Erzählung dieses Unsinns tut er seiner Nächstenliebe Genüge: er wollte uns doch damit beglücken. Seinem patriotischen Gefühl ist gleichfalls Genüge getan; sie haben zum Beispiel noch so eine Anekdote: die Engländer hätten Sawjalow eine Million gezahlt, unter der einzigen Bedingung, daß er seine Fabrikmarke auf seinen Fabrikaten wegließe.«

»Ach Gott ja, diese Anekdote kenne ich.«

»Wer kennt sie nicht, und wenn er sie erzählt, weiß er ganz genau, daß man sie wahrscheinlich schon kennt, aber er erzählt sie doch und redet sich absichtlich ein, daß man sie nicht kennt. Die Vision des Königs von Schweden – das scheint mir bei ihnen schon veraltet zu sein; aber in meiner Jugend erzählte man sie noch schmatzend und geheimnisvoll flüsternd, genau wie die Geschichte, daß zu Anfang des Jahrhunderts ein gewisser Jemand im Senate vor den Senatoren auf den Knien gelegen hätte. Über den Kommandanten Baschuzkij gab es auch eine Menge Anekdoten, wie das Denkmal entführt worden wäre. Sie schwärmen für Dienerschaftsanekdoten; zum Beispiel die Geschichten von dem Minister Tschernyschow unter der vorigen Regierung, wie er sich als alter Mann von siebzig Jahren äußerlich so herzurichten verstanden hätte, daß ihm keiner mehr als dreißig geben konnte, und so gut, daß der selige Kaiser sich bei den Empfängen darüber gewundert hätte . . .«

»Das kenn' ich auch.«

»Wer kennt das nicht? Alle diese Anekdoten sind der Gipfel der Inkorrektheit; aber du mußt wissen, daß dieser Typus des Inkorrekten viel tiefer und weiter verbreitet ist, als wir glauben. Die Lust zu lügen, um seinen Nächsten dadurch zu beglücken, triffst du sogar in unserer besten, korrektesten Gesellschaft, weil wir eben alle unter der Unenthaltsamkeit unserer Herzen leiden. Nur sind unsere Geschichten von anderer Art; was wird bei uns nicht alles von Amerika erzählt, es ist einfach fabelhaft, und sogar von Staatsmännern! Ich selbst muß bekennen, daß ich diesem inkorrekten Typus angehöre, und mein Leben lang darunter gelitten habe . . .«

»Die Geschichte von Tschernyschow hab' ich schon selber ein paarmal erzählt.«

»Du selber hast sie erzählt?«

»Hier ist außer mir noch ein Zimmerherr, ein Beamter, gleichfalls pockennarbig und schon ziemlich alt, aber er ist die leibhaftige Prosa, und kaum beginnt Piotr Ippolitowitsch zu erzählen, so fängt er sofort an, ihn aus dem Konzept zu bringen und ihm zu widersprechen. Und er hat es so weit gebracht, daß jener ihn wie einen Sklaven bedient und ihm alles zu Gefallen tut, damit er nur zuhört.«

»Das ist schon ein anderer Typus des Inkorrekten und vielleicht der abstoßendere von beiden. Der erste ist ganz Begeisterung! ›Laß mich doch nur lügen, – du wirst sehen, wie gut alles ausgeht.‹ Der, zweite ist nichts als Grämlichkeit und Prosa: ›Ich lasse mir nichts vorlügen. Wo, wann, in welchem Jahre?‹ – Kurz und gut, ein Mensch ohne Herz. Lieber Freund, laß deinen Mitmenschen immer ein bißchen lügen – das ist eine unschuldige Freude. Laß ihn sogar viel lügen. Erstlich zeugt das für deinen Takt, und zweitens erlaubt man dir dafür wieder zu lügen – zwei riesige Fliegen mit einer Klappe. Que diable! Man muß seinen Nächsten lieben. Aber für mich wird's Zeit. Du hast dich sehr nett eingerichtet«, fügte er hinzu und erhob sich von seinem Stuhl. »Ich werde Sophia Andrejewna und deiner Schwester erzählen, daß ich bei dir war und dich bei guter Gesundheit getroffen habe. Auf Wiedersehen, mein Lieber.«

Was, war das wirklich alles? Das war es ja gar nicht, was ich gebraucht hatte; ich hätte etwas anderes erwartet, die Hauptsache, obschon ich vollkommen begriff, daß es anders ja gar nicht hätte sein können. Ich nahm das Licht und begleitete ihn auf die Treppe hinaus; auch mein Wirt kam angelaufen, aber ich ergriff ihn, so daß Wersilow nichts bemerkte, am Arm und stieß ihn heftig zurück. Er sah mich erstaunt an, drückte sich aber gleich.

»Diese Treppen . . .«, maulte Wersilow, die Worte dehnend, augenscheinlich nur, um etwas zu sagen und sichtlich in Angst, ich könnte etwas sagen: »Diese Treppen, – ich bin's nicht mehr gewöhnt, und du wohnst im dritten Stock, – übrigens, jetzt finde ich den Weg schon . . . Bemüh' dich nicht unnütz, lieber Freund, du wirst dich noch erkälten.«

Aber ich wich nicht. Wir waren schon auf der zweiten Treppe.

»Ich habe Sie diese ganzen drei Tage erwartet«, entfuhr es mir plötzlich, wie von selbst; mein Atem stockte.

»Ich danke dir, mein Lieber.«

»Ich wußte, daß Sie sicherlich kommen würden.«

»Und ich wußte, daß du wußtest, daß ich sicherlich kommen würde. Habe Dank, mein Lieber.«

Er verstummte. Wir waren schon an der Haustür, und ich ging immer hinter ihm her. Er öffnete die Tür; der plötzlich eindringende Wind löschte mein Licht. Da ergriff ich auf einmal seine Hand; es war ganz dunkel. Er zitterte, blieb aber stumm. Ich stürzte mich über seine Hand und fing sie auf einmal gierig zu küssen an, mehrere Male, viele Male.

»Mein lieber Junge, ja, wofür liebst du mich so?« sagte er mit einer ganz neuen Stimme. Seine Stimme zitterte, etwas ganz Neues tönte in ihr, als wäre nicht er es, der da spräche.

Ich wollte eine Antwort geben, vermochte es aber nicht und lief nach oben. Er wartete so lange, immer noch an derselben Stelle, und erst als ich wieder an meiner Wohnungstüre war, hörte ich, wie die Haustüre aufging und lärmend zufiel. An meinem Wirt vorbei, der sich dort wieder, weiß Gott warum, zu schaffen machte, schlüpfte ich in mein Zimmer, riegelte mich ein und warf mich, ohne Licht zu machen, auf mein Bett, das Gesicht ins Kissen, und – weinte und weinte. Zum erstenmal weinte ich wieder seit den Touchardschen Zeiten! Das Schluchzen kam mit solcher Kraft aus mir, und ich war so glücklich . . ., aber wozu das beschreiben!

Ich habe das jetzt niedergeschrieben, ohne mich dessen zu schämen, denn das alles war vielleicht gut, wenn es auch noch so abgeschmackt war.

 

3

Aber er bekam nachher schon sein Teil dafür von mir! Ich wurde ein schrecklicher Despot. Selbstverständlich geschah zwischen uns dieser Szene nie wieder auch nur Erwähnung. Im Gegenteil, wir begegneten uns zwei Tage darauf, als ob nicht das geringste geschehen wäre – mehr noch: ich war an diesem zweiten Abend beinahe grob, und er war auch von einer gewissen Trockenheit. Das war wieder in meiner Wohnung; ich selber war, ich weiß nicht warum, noch nicht zu ihm gekommen, trotzdem ich meine Mutter sehr gern wiedergesehen hätte.

Gesprochen haben wir diese ganze Zeit, das heißt, diese ganzen zwei Monate über, nur von ganz abstrakten Dingen, – natürlich den allgemein menschlichen und den wichtigsten, aber sie bezogen sich nicht im geringsten auf die aktuelle Wirklichkeit. Und dabei hätte viel, sehr viel Aktuelles festgelegt und aufgeklärt werden müssen; es wäre sogar dringend nötig gewesen, aber darüber schwiegen wir. Ich sprach auch kein Wort von meiner Mutter und von Lisa und . . . na, und, natürlich, von mir selber, über meine ganze Geschichte. War das Schamgefühl oder eine gewisse jugendliche Dummheit – ich weiß es nicht. Ich nehme an, es war Dummheit, denn über das Schamgefühl hätte man sich immerhin noch hinwegsetzen können. Ich spielte ihm gegenüber den schrecklichen Despoten und wurde mehr als einmal sogar direkt unverschämt, selbst wenn's mir gar nicht so ums Herz war: dies alles geschah gleichsam von selbst, es ließ sich nicht halten, ich konnte mich selber nicht halten. Sein Ton wiederum hatte wie früher einen leicht spöttischen Einschlag, wenn er auch immer außerordentlich freundlich war, was auch geschehen mochte. Es setzte mich auch in Erstaunen, daß er lieber selbst zu mir kam, so daß ich Mama schließlich furchtbar selten besuchte, vielleicht einmal in der Woche, häufiger nicht, namentlich in der allerletzten Zeit, als ich schon ganz in den Wirbel geraten war. Er kam immer abends und saß bei mir und schwatzte; er schwatzte auch sehr gerne mit meinem Wirt; dieses erboste mich bei einem Menschen wie ihm. Es kam mir auch der Gedanke: hat er denn außer mir niemand, den er aufsuchen könnte? Aber ich wußte mit Sicherheit, daß er Bekannte hatte; in letzter Zeit hatte er sogar verschiedene Beziehungen im Kreise der höheren Gesellschaft erneuert, die er im vorigen Jahr abgebrochen hatte; aber es schien, als hätte er nicht viel Freude daran und hätte vieles bloß offiziell erneuert, käme aber lieber zu mir. Mich rührte es manchmal sehr, daß er, wenn er abends kam, fast jedesmal beim Eintritt eine gewisse Schüchternheit zu überwinden hatte und mir im ersten Augenblick immer mit einer sonderbaren Unruhe in die Augen sah, als wollte er sagen: »Störe ich nicht am Ende? Sag's nur ruhig, dann geh' ich wieder.« Er sprach es sogar manchmal aus. Einmal zum Beispiel, eben in der letzten Zeit, kam er gerade herein, als ich schon fertig angezogen war, in einem Anzug, der gerade erst vom Schneider gekommen war, als ich eben zu Fürst Seriosha fahren wollte, um mich mit ihm »an den bekannten Ort« zu begeben (wohin – das werde ich nachher erklären). Er kam herein, setzte sich, wahrscheinlich ohne zu bemerken, daß ich im Begriffe war, aufzubrechen; zeitweise konnte ihn eine äußerst sonderbare Zerstreutheit befallen. Und wie absichtlich fing er an von meinem Wirt zu sprechen; ich brauste auf:

»Hol' ihn der Teufel, den Kerl!«

»Ach so, lieber Freund,« sagte er plötzlich und stand auf, »du willst wohl fort und ich störe dich . . . Entschuldige, bitte.«

Und er beeilte sich bescheiden fortzugehen. Diese Bescheidenheit eines solchen Menschen mir gegenüber, eines unabhängigen Mannes von Welt, der so viel Persönliches hatte, ließ mit einem Ruck wieder meine Liebe zu ihm in mir auferstehen und allen meinen Glauben an ihn. Aber wenn er mich so liebte, warum gebot er mir nicht Halt, damals in der Zeit meiner Schande? Hätte er damals nur ein Wort gesagt – ich hätte mich vielleicht gezügelt. Übrigens vielleicht auch nicht. Aber er sah meinen Aufwand doch, meine unsinnige renommistische Verschwendung, meinen Fiaker (ich wollte ihn sogar einmal in meinem Schlitten mitnehmen, er stieg aber nicht ein; es ist sogar mehrere Male vorgekommen, daß er nicht mitfahren wollte), er sah doch, daß ich das Geld zum Fenster hinauswarf – und kein Wort, nicht ein Wort, nicht einmal eine neugierige Frage! Das wundert mich bis jetzt, auch heute noch. Und ich genierte mich damals selbstverständlich nicht im geringsten vor ihm und tat alles ganz ruhig und offen vor ihm, wenn ich ihm natürlich auch kein Wort der Erklärung sagte. Er fragte nicht, und ich sprach nicht.

Übrigens, ein paarmal haben wir auch von aktuellen Angelegenheiten gesprochen. Ich fragte ihn einmal, im Anfang war's, gleich nach seinem Verzicht auf die Erbschaft, wovon er jetzt leben würde.

»Ach, irgendwie, lieber Freund«, sagte er außerordentlich ruhig.

Heute weiß ich, daß sogar Tatjana Pawlownas winziges Kapital, fünftausend Rubel vielleicht, in diesen letzten zwei Jahren zur Hälfte für Wersilow verausgabt worden war.

Ein anderes Mal kamen wir, ich weiß nicht wie, auf Mama zu sprechen:

»Lieber Freund,« sagte er auf einmal traurig, »ich hab' so oft zu Sophia Andrejewna gesagt, im Anfang unserer Verbindung, – übrigens zu Anfang und in der Mitte und am Ende: Liebste, ich plage dich und plage mich ab, und mir ist es nicht leid, solange du vor mir stehst; aber wenn du einmal stirbst, so weiß ich auch, daß ich mich totmartern werde mit Vorwürfen.«

Übrigens, ich weiß noch, er war an jenem Abend überhaupt besonders offenherzig:

»Wenn ich eine charakterschwache Null wäre und unter diesem Bewußtsein litte! Aber das ist es eben nicht, ich weiß ja, daß ich unendlich stark bin, und wodurch, was glaubst du? Eben durch jene unmittelbare Kraft, sich mit allem, was es auch sei, einzuleben, die allen klugen Russen aus unserer Generation so eigentümlich ist. Mich kann man durch nichts vernichten, durch nichts vertilgen und durch nichts in Erstaunen setzen. Ich hab' ein zähes Leben wie ein Hofhund. Ich kann ganz bequem zwei entgegengesetzte Gefühle zu gleicher Zeit empfinden – und selbstverständlich, ohne daß ich das wollte. Ich habe bis nah an die fünfzig gelebt, und ich hab' bis zu dieser Stunde keine Ahnung: war das gut, daß ich so lange lebte, oder schlecht. Natürlich, ich liebe das Leben, und das versteht sich aus der Sache ganz von selbst; aber für einen Menschen wie mich ist es gemein, das Leben zu lieben. In der letzten Zeit hat etwas Neues begonnen, und Leute wie Kraft setzen sich nicht durch, sondern schießen sich tot. Es ist ja aber klar, daß die Krafts dumm sind; na, und wir sind klug – also kann man da gar keine Parallele ziehen und die Frage bleibt nach wie vor offen. Und existiert die Erde wirklich nur für Leute wie wir? Das wahrscheinlichste ist: ja; aber diese Idee ist doch schon gar zu trostlos. Übrigens . . . übrigens bleibt die Frage nach wie vor offen.«

Er sagte das voller Trauer, und dennoch wußte ich nicht, war das aufrichtig oder nicht. Es blieb in ihm immer eine geheime Falte, die er um keinen Preis lassen wollte.

 

4

Ich überschüttete ihn damals mit Fragen, ich stürzte mich auf ihn wie ein Hungriger auf Brot. Er antwortete mir immer bereitwillig und geradeheraus, aber schließlich und zu guter Letzt ließ er alles wieder auf ganz allgemeine Aphorismen hinauslaufen, so daß ich in Wirklichkeit nichts aus ihm herausbringen konnte. Und dabei hatten mich alle diese Fragen mein Leben lang beunruhigt, und ich gestehe offen, ich hatte ihre Entscheidung noch in Moskau aufgeschoben, eben bis zu unserm Wiedersehen in Petersburg. Ich teilte ihm das sogar geradeheraus mit, und er lachte mich nicht aus deshalb – im Gegenteil, ich weiß noch, er drückte mir die Hand. Über die internationale Politik und die sozialen Fragen konnte ich fast nichts aus ihm herausbringen, und gerade diese Fragen beunruhigten mich im Hinblick auf meine »Idee« am meisten. Über Leute wie Dergatschow entriß ich ihm einmal die Bemerkung, »sie ständen unter aller Kritik«, aber gleichzeitig fügte er, sonderbar genug, hinzu, »er behielte sich das Recht vor, seiner Meinung nicht die geringste Bedeutung beizulegen«. Darüber, wie die heutigen Staaten und die heutige Welt ein Ende nehmen würden, und in welcher Art eine neue sozialistische Welt erstehen würde, schwieg er sich lange aus, aber endlich quälte ich ihm doch ein paar Worte darüber heraus:

»Ich glaube, daß das alles ganz außerordentlich gewöhnlich vor sich gehen wird«, sagte er einmal. »Alle Staaten werden einfach, trotzdem ihre Budgets balancieren und ›keine Defizits vorhanden sind‹, un beau matin vollkommen in der Bredouille sitzen, und alle bis zum letzten werden nicht zahlen wollen, um sich in dem allgemeinen Bankerott vom ersten bis zum letzten erneuern zu können. Und dabei wird sich das ganze konservative Element in der ganzen Welt dem widersetzen, weil es eben der Aktionär und der Gläubiger sein wird, und wird den Bankerott nicht zulassen wollen. Dann wird selbstverständlich sozusagen der allgemeine Oxydationsprozeß anfangen; viele Juden werden dazukommen, und das jüdische Reich wird beginnen; aber dann werden alle, die nie Aktien besessen haben, ja, überhaupt nichts besessen haben, das heißt alle Bettler, natürlich nicht an dem Oxydationsprozeß teilnehmen wollen . . . Der Kampf wird beginnen und nach siebenundsiebzig Niederlagen werden die Bettler die Aktionäre vernichten, sie werden ihnen ihre Aktien wegnehmen und sich auf ihre Plätze setzen, als Aktionäre natürlich. Vielleicht werden sie auch irgend was Neues sagen, vielleicht aber auch nicht. Wahrscheinlicher ist, daß sie auch Bankerott machen. Weiter, lieber Freund, kann ich mir keine Vorstellung mehr von den Geschicken machen, die das Antlitz dieser Welt verwandeln werden. Übrigens, lies in der Apokalypse nach . . .«

»Ja, muß denn das wirklich alles so materialistisch sein; soll die heutige Welt denn wirklich nur an den Finanzen allein zugrunde gehen?«

»Oh, natürlich, ich hab' nur ein Eckchen des Bildes hergenommen, aber auch dieses Eckchen ist doch sozusagen durch unzerreißbare Bande mit dem Ganzen verbunden.«

»Was soll man also tun?«

»Ach, lieber Gott, laß dir nur Zeit; das alles kommt nicht so schnell. Und überhaupt, nichts zu tun ist das allerbeste, wenigstens hat man ein ruhiges Gewissen und weiß, daß man an nichts teilgenommen hat.«

»Ach, genug davon, sprechen Sie doch zur Sache. Ich möchte wissen, was ich tun soll und wie ich leben soll?«

»Was du tun sollst, lieber Freund? Sei ehrlich, lüge niemals, wünsch' deinem Nächsten nichts Böses, mit einem Wort: lies die zehn Gebote – da ist es für ewige Zeiten aufgeschrieben.«

»Genug davon, genug davon, das ist alles so alt, und dann – nur Worte; und es braucht eine Tat.«

»Na, dann, wenn dich die Langeweile gar zu sehr packt, sieh zu, daß du irgend jemand lieben kannst oder irgend etwas, oder hänge dich einfach an irgend etwas.«

»Sie machen sich nur lustig über mich! Und dann, was soll ich ganz allein mit Ihren zehn Geboten tun?«

»Halte sie, ohne auf alle deine Fragen und Zweifel zu achten, und du wirst ein großer Mensch sein.«

»Und keiner wird von mir wissen.«

»Es gibt nichts Geheimes, was nicht offenkundig würde.«

»Ach, Sie machen sich wahrhaftig nur lustig über mich!«

»Na, wenn du es dir schon so sehr zu Herzen nimmst, so ist es das beste, du trachtest dich so schnell wie möglich zu spezialisieren, bau' den Leuten Häuser oder führ' ihre Prozesse, dann hast du eine wirkliche und ernste Arbeit und wirst ruhig werden und allen Unsinn vergessen.«

Ich schwieg eine Weile; was konnte man daraus entnehmen? Und dennoch, nach jedem derartigen Gespräche war ich noch unruhiger als vorher. Außerdem sah ich ganz deutlich, daß in ihm immer gleichsam eine Art von Geheimnis zurückblieb, und eben das zog mich immer mehr und mehr zu ihm hin.

»Hören Sie mal,« unterbrach ich ihn einst, »ich habe immer den Verdacht, Sie sagen das alles nur aus Verbitterung und Leiden heraus, aber insgeheim, für sich, sind Sie gerade ein Fanatiker irgendeiner höheren Idee und verstecken das nur oder genieren sich, es einzugestehen.«

»Ich danke dir, lieber Freund.«

»Hören Sie mal, nichts steht höher, als nützlich zu sein. Sagen Sie mir, wodurch ich im gegebenen Moment am allernützlichsten sein kann? Ich weiß, daß es nicht Ihre Sache ist, das zu entscheiden; aber ich will nur Ihre Meinung wissen: Sie sagen sie mir, und wenn Sie sie mir sagen, folg' ich ihr, das schwöre ich Ihnen! Also, worin liegt ein großer Gedanke?«

»Na, Steine in Brot verwandeln, – das ist ein großer Gedanke.«

»Der größte? Nein, wirklich, Sie haben mir einen ganzen Weg gezeigt; sagen Sie mir: der größte?«

»Ein sehr großer, lieber Freund, ein sehr großer, aber nicht der größte; groß, aber zweiten Ranges, aber nur im gegebenen Momente groß: der Mensch ißt sich satt und denkt nicht mehr daran; im Gegenteil, er wird sogleich sagen: ›Na, jetzt hab' ich mich satt gegessen, und was soll ich jetzt tun?‹ Die Frage wird in alle Ewigkeit offen bleiben.«

»Sie sprachen einmal von ›Genfer Ideen‹; ich hab' nicht verstanden, was das ist: ›Genfer Ideen‹?«

»Genfer Ideen – das ist die Tugend ohne Christus, lieber Freund, die heutigen Ideen, oder besser gesagt, die Idee der ganzen heutigen Zivilisation. Kurz und gut, das ist eine von den langen Geschichten, von denen anzufangen sehr langweilig ist, und es wird viel besser sein, wenn wir beide von etwas anderem sprechen, oder noch besser, wenn wir von etwas anderem schweigen!«

»Sie möchten am liebsten immer schweigen!«

»Lieber Freund, denke daran, daß schweigen gut, ungefährlich und schön ist.«

»Schön?«

»Selbstverständlich. Das Schweigen ist immer schön, und wer schweigt, ist immer schöner als einer, der spricht.«

»Ja, wenn man so miteinander spricht, wie wir zwei, da ist schweigen natürlich ebensogut. Der Teufel hole diese Schönheit, und vor allem hole der Teufel den Nutzen davon!«

»Mein Lieber,« sagte er auf einmal zu mir, in etwas verändertem Ton, mit einem gewissen Gefühl sogar und besonders eindringlich, »mein Lieber, ich will dich durchaus nicht zu irgendeiner bourgeoisen Tugendhaftigkeit an Stelle deiner Ideale verführen, ich will dir nicht einreden, ›Glück sei besser als Heldentum‹; im Gegenteil, das Heldentum steht höher als jedes Glück, und allein schon die Fähigkeit dazu bildet ein Glück. Also, dies steht nun einmal zwischen uns fest. Eben darum schätze ich dich auch, weil du es in unserer Oxydationszeit vermocht hast, in deiner Seele irgendeine ›eigene Idee‹ großzuziehen (sei nur ruhig, ich hab' es sehr gut behalten). Aber bei alledem kann man nicht umhin, auch an das Maß zu denken, weil du jetzt nach einem weithin sichtbaren Leben begehrst, etwas anzünden, etwas zerschmettern willst, höher werden als ganz Rußland, dich erheben wie eine Donnerwolke und alle in Schrecken und Begeisterung zurücklassen und selbst in den Vereinigten Staaten von Nordamerika verschwinden. Etwas von der Art lebt doch wahrscheinlich in deiner Seele, und deshalb halte ich es auch für nötig, dich zu warnen, weil ich dich aufrichtig liebgewonnen habe, mein Lieber.«

Was konnte ich hieraus entnehmen? Das war nur Unruhe um mich, um mein materielles Schicksal; hier sprach sich ein Vater über seine prosaischen, wenn auch guten Gefühle aus; aber war's das, was ich im Hinblick auf die Idee brauchte, für die jeder ehrliebende Vater seinen Sohn selbst in den Tod schicken mußte, wie der alte Horatius seine Söhne für die Idee Roms?

Ich befragte ihn auch oft wegen der Religion, aber hier war der Nebel am allerdichtesten. Auf meine Frage: »Was soll ich in der Hinsicht tun?« antwortete er höchst dumm, als sei ich ein kleiner Knabe: »Man muß an Gott glauben, mein Lieber.«

»Nun, und wenn ich an alles das nicht glaube?« rief ich einmal erregt.

»Sehr schön, mein Lieber.«

»Was heißt: sehr schön?«

»Es ist das allerbeste Zeichen, lieber Freund; das zuverlässigste sogar, weil unser russischer Atheist, wenn er nur wahrhaft Atheist ist und ein klein wenig Verstand besitzt, der beste Mensch auf der ganzen Welt ist und immer geneigt, Gott wohlgefällig zu sein, weil er unbedingt gut ist, und gut ist er, weil er unendlich zufrieden damit ist, daß er Atheist ist. Unsere Atheisten sind achtbare Leute und, sozusagen, höchst zuverlässige Schutzwälle des Vaterlandes . . .«

Das war natürlich etwas, aber nicht das, was ich wollte; nur einmal ging er aus sich heraus, nur war das so sonderbar, und es setzte mich am meisten in Erstaunen, wenn ich an die Gerüchte über seinen Katholizismus und jene Büßerketten dachte, die ich über ihn vernommen hatte.

»Mein Lieber«, sagte er einmal zu mir – nicht zu Hause, wir waren auf der Straße, – nach einem langen Gespräche, ich begleitete ihn. – »Lieber Freund, die Menschen so zu Heben, wie sie sind, ist unmöglich. Und dennoch soll man es. Und darum, wenn du ihnen Gutes tust, stärke deine Gefühle, halt dir die Nase zu und schließe die Augen (letzteres ist unumgänglich notwendig). Erdulde Böses von ihnen und gib dir Mühe, ihnen nicht zu zürnen, soweit das möglich ist; ›gedenke, daß auch du ein Mensch bist‹. Selbstverständlich bist du eingesetzt, streng gegen sie zu sein, wenn du ein klein wenig klüger bist als der Durchschnitt. Die Menschen sind von Natur aus niedrig und lieben gern aus Furcht; unterwirf dich einer solchen Liebe nicht und höre nicht auf zu verachten. Irgendwo im Koran gebietet Allah dem Propheten, er solle die, ›Widerspenstigen‹ als Mäuse ansehen und an ihnen vorübergehen – ein wenig hochmütig, aber wahr. Lern' es, sie auch dann zu verachten, wenn sie gut sein wollen, weil sie gerade dann am allerhäufigsten schlecht sind. Oh, mein Lieber, ich schließe von mir selber, wenn ich das sage! Wer nicht ganz dumm ist, kann nicht leben, ohne sich selber zu verachten, mag er nun ehrenhaft sein oder nicht – das ist ganz einerlei. Seinen Nächsten lieben und ihn nicht verachten – ist unmöglich. Meiner Ansicht nach ist der Mensch mit der physischen Unmöglichkeit geschaffen, seinen Nächsten zu lieben. Da muß von allem Anfang an ein Fehler im Worte liegen, und die ›Liebe zur Menschheit‹ kann man nur als die Liebe zu der Menschheit auffassen, die man sich selber in seiner Seele geschaffen hat – (mit anderen Worten, mich selbst hab' ich geschaffen, und mich selbst liebe ich daher) – und die es folglich in Wirklichkeit niemals geben wird.«

»Niemals geben wird?«

»Lieber Freund, ich gebe zu, daß das ein bißchen dumm wäre, aber das ist nicht meine Schuld; man hat mich bei der Weltschöpfung nicht um meine Meinung gefragt, so behalte ich mir das Recht vor, in dieser Hinsicht meine eigene Meinung zu haben.«

»Aber wie kann man Sie bei diesen Anschauungen einen Christen nennen,« rief ich, »einen Mönch mit Büßerketten auf dem Leibe, einen Prediger? Ich versteh' das nicht!«

»Wer nennt mich denn so?«

Ich erzählte es ihm; er hörte sehr aufmerksam zu, brach aber das Gespräch ab.

Ich kann mich durchaus nicht erinnern, wie wir damals auf dieses für mich denkwürdige Gespräch gekommen sind; aber ich weiß, daß er dabei sogar in Hitze geriet, was bei ihm fast niemals vorkam. Er sprach voll Leidenschaft und ohne Spott, als ob er überhaupt nicht mit mir spräche. Aber ich glaubte ihm dennoch wieder nicht: er konnte doch nicht mit einem Menschen wie mir ernsthaft von solchen Dingen sprechen.

 


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