Fjodor Michailowitsch Dostojewski
Ein Werdender - Erster Band
Fjodor Michailowitsch Dostojewski

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Viertes Kapitel

1

Heute fürchte ich mich einfach, es zu erzählen. Das alles ist ja schon vor langer Zeit geschehen; aber es ist mir alles noch heute wie ein Fiebertraum. Wie konnte so eine Frau einem so trübseligen dummen Jungen, wie ich es damals war, ein Stelldichein geben? – Das mußte einem doch auf den ersten Blick auffallen! Als ich mich von Lisa getrennt hatte und nun schnell hinfuhr, klopfte mir auch das Herz; ich glaubte einfach, ich wäre verrückt geworden: der Gedanke, daß sie mich zu einem Stelldichein aufgefordert hätte, erschien mir plötzlich als so offenbarer Unsinn, daß daran zu glauben zu den Unmöglichkeiten gehörte. Aber – wird man's für glaublich halten? – ich zweifelte doch nicht im geringsten daran; es war sogar so: je klarer es mir als ein Unsinn erschien, desto stärker glaubte ich es.

Daß es schon drei geschlagen hatte, beunruhigte mich. »Wenn ich zu einem Stelldichein aufgefordert bin, so darf ich doch unmöglich zu spät kommen«, dachte ich bei mir. Es gingen mir auch allerhand dumme Fragen durch den Kopf, so zum Beispiel: »Was wird klüger sein: wenn ich jetzt kühn bin, oder wenn ich schüchtern bin?« Aber das zog alles nur flüchtig vorüber, weil in meinem Herzen ein großes, herrschendes Gefühl war, und ein Gefühl, das ich nicht zu definieren vermochte. Am Tage vorher war mir gesagt worden: »Morgen um drei Uhr werde ich bei Tatjana Pawlowna sein« – das war alles. Aber erstens einmal hatte sie mich bei sich zu Hause, in ihrem Zimmer, auch immer allein empfangen, und sie hätte mir also alles, was sie wollte, sagen können, ohne sich zu Tatjana Pawlowna zu begeben; also wozu brauchte sie mich an einen dritten Ort, zu Tatjana Pawlowna, zu bestellen? Und nun eine zweite Frage: wird Tatjana Pawlowna zu Hause sein oder nicht? Wenn dies ein Stelldichein ist, ist es ganz klar, daß Tatjana Pawlowna nicht zu Hause sein wird. Aber wie hätte sie das erreichen können, ohne die Sache vorher mit Tatjana Pawlowna zu besprechen? Also wäre auch Tatjana Pawlowna ins Geheimnis gezogen? Aber dieser Gedanke deuchte mich roh und gleichsam unkeusch, ja, fast gemein.

Und schließlich konnte sie ja auch nur auf den Gedanken gekommen sein, Tatjana Pawlowna zu besuchen, und mir das gestern ohne jeden Zweck dabei mitgeteilt haben, und ich hatte sie falsch verstanden. Ja, und sie hatte es auch nur so nebenher gesagt, es ganz ruhig hingeworfen, nach einem sehr langweiligen Beisammensein; denn ich war gestern die ganze Zeit, die ich bei ihr gewesen war, Gott weiß warum, förmlich konfus gewesen: ich hatte gesessen und gestottert und nicht gewußt, was ich sagen sollte, und dabei war ich über mich selbst wütend und verlegen gewesen; und sie hatte, wie sich nachher herausstellte, irgendwohin fahren wollen und war sichtlich froh gewesen, als ich endlich Anstalten zum Aufbruch machte. Alle diese Gedanken drängten sich in meinem Kopfe. Schließlich beschloß ich: »Ich gehe hinauf und klingle, dann macht mir die Köchin auf, und ich frage sie: Ist Tatjana Pawlowna zu Hause?« Und sollte sie nicht zu Hause sein, so wäre es also ein »Stelldichein«. Aber ich zweifelte nicht daran, ich zweifelte gar nicht daran!

Ich lief die Treppe hinauf, und auf der Treppe, vor der Tür, war meine ganze Furcht wie weggeblasen: »Geh' es, wie es wolle,« dachte ich, »wenn's nur schnell geht!« Die Köchin öffnete mir und maulte mit ihrem ekligen Phlegma etwas davon, daß Tatjana Pawlowna nicht zu Hause wäre. »Aber ist sonst nicht jemand da, wartet niemand auf Tatjana Pawlowna?« wollte ich schon fragen; ich fragte aber nicht: ich dachte mir, es wäre besser, wenn ich selbst nachsähe. Ich murmelte, ich wolle warten, warf dann meinen Pelz ab und öffnete die Tür . . .

Katerina Nikolajewna saß am Fenster und wartete auf Tatjana Pawlowna.

»Sie ist nicht da?« fragte sie mich schnell, sobald ich eingetreten war, gleichsam besorgt und ärgerlich. Und ihre Stimme und ihre Miene entsprachen meinen Erwartungen so wenig, daß ich förmlich in die Türschwelle versank.

»Wer ist nicht da?« murmelte ich.

»Tatjana Pawlowna! Ich bat Sie doch gestern, ihr zu sagen, ich würde um drei Uhr herkommen!«

»Ich . . . Ich hab' sie überhaupt nicht gesehen.«

»Sie haben es vergessen?«

Ich fiel auf einen Stuhl, als hätte ich einen Schlag auf den Kopf bekommen. So war die Sache also! Und es war dabei alles so klar, wie zweimal zwei vier ist, aber ich . . . Ich glaubte noch immer hartnäckig daran.

»Ich kann mich nicht erinnern, daß Sie mich gebeten haben, ihr das zu sagen. Ja, und Sie haben mich auch gar nicht gebeten: Sie haben ganz einfach gesagt, Sie würden um drei hier sein«, stieß ich ungeduldig hervor. Ich sah sie nicht an.

»Ach,« rief sie auf einmal, »wenn Sie also vergessen haben, es ihr zu sagen, aber es selber doch wußten, daß ich hier sein würde, wozu sind Sie dann eigentlich hergekommen?«

Ich hob den Kopf: weder Spott noch Zorn sprach aus ihrem Gesicht; ich sah nur ihr helles, lustiges Lächeln, und die Ausgelassenheit ihrer Mienen war gleichsam verstärkt – sie hatte diesen Ausdruck übrigens so gut wie immer – es war eine fast kindliche Ausgelassenheit, die sagte: »Na, siehst du, da hab' ich dich fein erwischt; na, was sagst du nun?«

Ich wollte ihr nicht antworten und schlug die Augen wieder nieder. Das Schweigen dauerte vielleicht eine halbe Minute.

»Kommen Sie gerade von Papa?« fragte sie plötzlich.

»Ich komme von Anna Andrejewna; bei Fürst Nikolaj Iwanowitsch bin ich überhaupt nicht gewesen . . . Und Sie wissen das ja ganz genau«, fügte ich auf einmal hinzu.

»Ist Ihnen bei Anna Andrejewna irgend etwas passiert?«

»Das heißt: ich sehe augenblicklich ziemlich verrückt aus? Nein, ich sah schon verrückt aus, bevor ich bei Anna Andrejewna war.«

»Und Sie sind bei ihr nicht vernünftig geworden?«

»Nein, ich bin nicht vernünftig geworden. – Ich habe da außerdem gehört, daß Sie Baron Bjoring heiraten.«

»Hat sie Ihnen das gesagt?« fragte sie, auf einmal interessiert.

»Nein, das hab' ich ihr mitgeteilt; und gehört hab' ich's, als es vorhin Nastschokin dem Fürsten Sergej Petrowitsch bei einem Besuche dort erzählte.«

Ich hob noch immer nicht meine Augen; sie ansehen, hätte geheißen: in Licht, Freude, Glück untertauchen, und ich wollte nicht glücklich sein. Der Stachel des Unwillens war in mein Herz gedrungen, und in einem Augenblick faßte ich einen ungeheuerlichen Entschluß. Und dann begann ich auf einmal zu sprechen, ich weiß kaum noch, wovon. Ich war außer Atem und stammelte sonderbar, sah ihr jetzt aber keck ins Gesicht. Mein Herz klopfte. Ich sprach von Dingen, die nicht hergehörten, übrigens sprach ich vielleicht doch ganz zusammenhängend. Sie hörte mir anfangs mit ihrem gleichbleibenden, duldsamen Lächeln zu, das ihr Gesicht nie verließ; aber allmählich blitzte Verwunderung, dann sogar Schrecken in ihrem fest auf mich gerichteten Blicke auf. Das Lächeln verschwand noch nicht, aber auch dieses Lächeln schien zeitweilig zu beben.

»Was haben Sie?« fragte ich plötzlich, da ich bemerkte, daß sie am ganzen Leibe zitterte.

»Ich fürchte mich vor Ihnen«, antwortete sie mir fast aufgeregt.

»Warum gehen Sie dann nicht? Tatjana Pawlowna ist ja nicht da, und Sie wissen, daß sie nicht kommt; also müßten Sie doch eigentlich aufstehen und gehen?«

»Ich wollte sie erwarten, aber jetzt . . . In der Tat . . .«

Sie wollte sich erheben.

»Nein, nein, bleiben Sie sitzen«, hielt ich sie zurück. »Sehn Sie, jetzt zittern Sie wieder, aber Sie lächeln auch in der Angst . . . Sie haben immer so ein Lächeln. Sehn Sie, jetzt lächeln Sie ganz deutlich . . .«

»Phantasieren Sie im Fieber?«

»Ja.«

»Ich fürchte mich . . .« wisperte sie wieder.

»Wovor?«

»Daß Sie anfangen, die Wände einzureißen . . .« Sie lächelte wieder, fürchtete sich jetzt aber schon ganz ernstlich.«

»Ich kann Ihr Lächeln nicht ertragen . . .«

Und ich begann wieder zu sprechen. Es war, als ob ich flöge, als ob mich gleichsam etwas vorwärtsstieße. Ich hatte noch nie, noch niemals so mit ihr gesprochen, ich war ihr gegenüber immer schüchtern gewesen. Ich war auch jetzt furchtbar verlegen, aber ich sprach; ich weiß noch, ich fing von ihrem Gesicht an: »Ich kann Ihr Lächeln nicht mehr ertragen!« rief ich auf einmal. »Warum habe ich Sie mir, in Moskau noch, hochmütig, großartig und im tückischen Stil einer Weltdame redend vorgestellt? Jawohl, in Moskau; ich habe damals mit Maria Iwanowna viel von Ihnen gesprochen und mir ausgemalt, wie Sie sein müßten . . . Erinnern Sie sich noch an Maria Iwanowna? Sie sind ja bei ihr gewesen. Als ich hierherfuhr, habe ich die ganze Nacht in der Bahn von Ihnen geträumt. Ich habe, bevor Sie hierherkamen, einen ganzen Monat lang Ihr Porträt im Zimmer Ihres Vaters angesehen und keine Ahnung gehabt. Ihr Gesicht drückt kindliche Ausgelassenheit und unendliche Treuherzigkeit aus – das ist's! Ich habe mich die ganze Zeit, seit ich zu Ihnen komme, schrecklich darüber gewundert. Oh, und Sie verstehen es auch, stolz dreinzuschauen und einen mit Ihrem Blick in Grund und Boden zu drücken: ich weiß noch, wie Sie mich damals bei Ihrem Vater angesehen haben, als sie aus Moskau zurückkehrten . . . Ich sah Sie damals; aber wahrhaftig, hätte mich damals, als ich aus dem Hause trat, jemand gefragt, wie Sie aussähen, – ich hätte es nicht sagen können. Nicht mal Ihre Größe hätte ich angeben können. Als ich Sie erblickt hatte, war ich gleichsam blind geworden. Ihr Porträt ist absolut nicht ähnlich: Sie haben gar keine dunkeln Augen, sie sind hell, und nur die langen Wimpern machen sie dunkel. Sie sind üppig, Sie sind von mittlerer Größe, aber Sie haben eine gesunde leichte Üppigkeit, die Üppigkeit eines gesunden Dorfmädels. Ja, und auch Ihr Gesicht ist ganz ländlich, das Gesicht einer Dorfschönheit, – nehmen Sie das nur nicht übel: das ist ja viel besser – ein rundes, rotbackiges, helles, keckes, lachendes und . . . ein schüchternes Gesicht. Katerina Nikolajewna Achmakowa schüchtern? Schüchtern und keusch, das schwöre ich Ihnen! Mehr als keusch – kindlich! So ist Ihr Gesicht! Ich war die ganze Zeit überrascht davon und habe mich die ganze Zeit gefragt: Ist das wirklich diese Frau? Ich weiß jetzt, daß Sie sehr klug sind, aber anfangs hab' ich wahrhaftig gedacht, Sie wären ein bißchen einfältig. Sie haben einen heitern Verstand, aber ohne jede Ziererei. Und dann lieb' ich es noch, daß dies Lächeln Sie nie verläßt: das ist mein Paradies! Und dann liebe ich noch Ihre Ruhe, Ihre Stille, und daß Sie so fließend, so ruhig und beinah träge sprechen, – eben diese Trägheit liebe ich. Ich glaube, es könnte unter Ihnen eine Brücke einstürzen, Sie würden auch dann noch eine fließende und ruhige Bemerkung dazu machen . . . Ich hatte Sie mir als den Gipfel des Hochmuts und aller Leidenschaften vorgestellt, und Sie haben diese ganzen zwei Monate mit mir geredet wie ein Student zum andern . . . Ich hätte mir nie vorgestellt, daß Sie eine solche Stirn hätten: sie ist ein bißchen niedrig, wie bei Statuen, aber so weiß und zart, wie Marmor unter dem reichen Haar. Sie haben eine hohe Brust, einen leichten Gang, Ihre Schönheit ist außerordentlich, und Sie kennen keinerlei Hochmut. Ich bin erst jetzt zu dem Glauben gekommen, ich hatte es immer nicht glauben wollen!«

Sie hörte diese ganze wilde Tirade mit weitgeöffneten Augen an, sie sah, daß ich selber zitterte. Ein paarmal hatte sie mit einer entzückenden, besorgten Gebärde ihre behandschuhte kleine Hand erhoben, um mir Einhalt zu gebieten, aber jedesmal ließ sie sie unentschlossen und ängstlich wieder sinken. Ein paarmal wich sie sogar hastig zurück. Zwei-, dreimal leuchtete wieder das Lächeln in ihrem Gesichte auf; eine Zeitlang war sie sehr rot, aber nachher bekam sie ernstlich Angst und wurde bleich. Kaum war ich verstummt, da streckte sie die Hand vor und sagte mit eigentümlicher bittender Stimme, die aber immer noch fließend klang:

»So dürfen Sie nicht sprechen . . . So sollen Sie nicht sprechen . . .«

Und plötzlich erhob sie sich und griff ohne Hast nach ihrem Halstuch und ihrem Zobelmuff.

»Sie gehen?« rief ich.

»Ich fürchte mich wahrhaftig vor Ihnen . . . Sie mißbrauchen es, daß . . .« sagte sie gedehnt, mit einem gewissen Bedauern und einem Vorwurf in der Stimme.

»Hören Sie mich an, ich werde bei Gott die Wände nicht einreißen.«

»Sie haben ja schon angefangen.« Sie konnte sich nicht halten und lächelte wieder. »Ich weiß ja nicht einmal, ob Sie mich hinauslassen?« Und ich glaube, sie fürchtete wirklich, ich würde sie nicht hinauslassen.

»Ich mache Ihnen selbst die Tür auf, gehen Sie, aber eins sollen Sie wissen: ich habe einen großen Entschluß gefaßt; und wenn Sie meinem Herzen das Licht schenken wollen, so kehren Sie um, setzen Sie sich und hören Sie nur noch zwei Worte. Wenn Sie aber nicht wollen, so gehen Sie, und ich mache Ihnen selber die Tür auf!«

Sie sah mich an und setzte sich auf ihren Stuhl.

»Wie unwillig wäre jede andre hinausgegangen, aber Sie setzen sich!« rief ich hingerissen.

»Sie haben sich früher nie erlaubt, so mit mir zu sprechen.«

»Ich war sonst immer zu schüchtern. Auch als ich heute in dies Zimmer trat, wußte ich nicht, was ich sagen sollte. Sie glauben, ich wäre jetzt nicht schüchtern? Ich bin schüchtern. Aber ich habe plötzlich einen großen Entschluß gefaßt, und ich fühle gleich, daß ich ihn ausführen werde. Und als ich diesen Entschluß gefaßt hatte, wurde ich wie verrückt und habe dies alles gesagt . . . Hören Sie mich an; das sind meine zwei Worte: bin ich Ihr Spion, oder nicht? Antworten Sie mir – das ist meine Frage!«

Das Blut stieg ihr schnell ins Gesicht.

»Antworten Sie noch nicht, Katerina Nikolajewna; hören Sie erst alles, und sagen Sie mir die ganze Wahrheit.«

Ich zerbrach mit einem Ruck alle Zäune und stürmte ins freie Feld hinaus.

 

2

»Vor zwei Monaten habe ich hier hinter der Portiere gestanden . . . Sie wissen es ja . . . Und Sie sprachen mit Tatjana Pawlowna von dem Briefe. Ich trat hervor, außer mir, und verschwatzte mich. Sie begriffen sogleich, daß ich irgend etwas wußte . . . Sie mußten es ja begreifen . . . Sie suchten ein wichtiges Dokument und waren deswegen in Sorge . . . Warten Sie, Katerina Nikolajewna, halten Sie Ihre Worte noch zurück. Ich erkläre Ihnen, daß Ihr Verdacht begründet war: dieses Dokument existiert . . . das heißt, es hat existiert . . . Ich habe es gesehen; es war ein Brief von Ihnen an Andronikow, nicht wahr?«

»Sie haben diesen Brief gesehen?« fragte sie hastig, verwirrt und aufgeregt. »Wo haben Sie ihn gesehen?«

»Ich hab' ihn . . . Ich hab' ihn bei Kraft gesehen . . . Wissen Sie, bei dem, der sich erschossen hat . . .«

»Wirklich? Sie haben ihn selbst gesehen? Was ist aus ihm geworden?«

»Kraft hat ihn zerrissen.«

»In Ihrer Gegenwart? Sie haben es gesehen?«

»In meiner Gegenwart. Er hat ihn wahrscheinlich zerrissen, weil er seinen Tod vor Augen sah . . . Ich konnte damals ja nicht wissen, daß er sich erschießen würde . . .«

»Also ist er vernichtet, Gott sei Dank!« sagte sie langsam, mit einem erleichterten Seufzer, und bekreuzte sich.

Ich hatte sie nicht angelogen. Das heißt, ich habe sie wohl angelogen, weil das Dokument in meinem Besitz war und Kraft es nie gehabt hatte; aber das war nur eine Nebensache, in der Hauptsache habe ich sie nicht angelogen, denn in dem Augenblick, als ich log, gab ich mir das Wort, diesen Brief noch an demselben Abend zu verbrennen. Ich kann darauf schwören: wenn ich ihn in dem Augenblick in der Tasche gehabt hätte, ich hätte ihn herausgezogen und ihn ihr gegeben; aber ich hatte ihn nicht bei mir, er war in meiner Wohnung. Übrigens kann es auch sein, daß ich ihn ihr nicht gegeben hätte, weil es mir damals sehr genierlich gewesen wäre, ihr zu gestehen, daß ich ihn hatte, und daß ich ihn so lange behalten hatte und immer gewartet und ihn ihr nicht wiedergegeben hatte. Das ist ganz einerlei: ich hätte ihn zu Hause verbrannt, auf jeden Fall, und so habe ich sie nicht angelogen! Ich war rein in jenem Augenblick, darauf kann ich schwören.

»Und da es so ist,« fuhr ich, fast außer mir, fort, »so sagen Sie mir jetzt: haben Sie mich nur deshalb zu sich gezogen, sind Sie deshalb freundlich zu mir gewesen, haben Sie mich deshalb bei sich empfangen, weil Sie argwöhnten, ich wüßte etwas von dem Dokument? Warten Sie, Katerina Nikolajewna, sagen Sie nur noch einen Augenblick nichts, lassen Sie mich erst alles sagen: ich habe die ganze Zeit, da ich zu Ihnen kam, den Argwohn gehabt, Sie könnten am Ende nur deswegen freundlich zu mir sein, weil Sie mich wegen dieses Briefes aushorchen wollten, weil Sie mich zu einem Geständnis darüber bringen wollten . . . Warten Sie, nur noch eine Minute: ich hatte diesen Argwohn, aber ich litt darunter. Diese Doppelzüngigkeit von Ihnen wäre mir unerträglich gewesen, weil . . . weil ich in Ihnen das edelste Wesen, das ich kenne, erkannt hatte! Ich sag' es geradeheraus, geradeheraus sage ich es: ich war Ihr Feind, aber ich habe in Ihnen das edelste Wesen erkannt! Alles in mir war auf einmal besiegt. Aber ihre Doppelzüngigkeit, das heißt, der Verdacht, Sie könnten doppelzüngig sein, peinigte mich . . . Jetzt muß sich alles entscheiden, alles muß sich erklären, die Zeit ist da; aber warten Sie noch einen Augenblick, sagen Sie nichts, hören Sie erst, wie ich selber das alles ansehe, eben jetzt, in dieser Minute; ich sag' es Ihnen geradeheraus: wenn es auch so war, ich werde darüber nicht böse sein . . . Das heißt, ich wollte sagen: es wird mich nicht kränken, weil das ja so natürlich wäre; ich begreife es ja. Was sollte daran unnatürlich oder häßlich sein? Der Gedanke an dieses Dokument peinigt Sie, Sie argwöhnen, irgend jemand wüßte alles; ja, ist es nicht ganz klar, daß Sie wünschen mußten, der Betreffende möchte sich verplappern . . .? Dabei ist nichts Häßliches, wirklich gar nichts. Ich spreche ganz aufrichtig. Aber dennoch wäre es am Platze, daß Sie mir jetzt etwas sagten . . . Daß Sie mir ein Geständnis ablegten (verzeihen Sie diesen Ausdruck). Ich muß die Wahrheit wissen. Aus gewissen Gründen muß ich sie wissen! Also, sagen Sie mir das eine: sind Sie deshalb freundlich zu mir gewesen, um mich über das Dokument auszuforschen . . . Katerina Nikolajewna?«

Ich sprach überstürzt, und meine Stirn brannte. Sie hörte mich ohne die bisherige Aufregung an, im Gegenteil, eine gewisse Wärme lag in ihrem Gesicht; aber sie sah eigentümlich verlegen drein, als schäme sie sich.

»Ja, deshalb«, sagte sie langsam und halblaut. »Verzeihen Sie mir, ich habe unrecht getan,« fügte sie plötzlich hinzu und hob ihre Hände ein wenig mir entgegen. – Das hatte ich mir nicht träumen lassen. Ich hätte alles erwartet, nur diese zwei Worte nicht, nicht einmal von ihr, die ich doch schon kannte.

»Und Sie sagen mir: ›verzeihen Sie!‹ So ganz geradeheraus: ›verzeihen Sie!‹?« rief ich.

»Oh, ich fühle es schon lange, daß ich Sie um Verzeihung zu bitten habe . . . Ich bin jetzt sogar froh, daß ich offen darüber sprechen kann . . .«

»Sie fühlen es schon lange? Ja, warum haben Sie es denn nicht früher gesagt?«

»Ja, ich wußte nicht, wie ich das sagen sollte«, lächelte sie. »Das heißt, ich hätte es wohl auch gewußt,« lächelte sie wieder, »aber ich genierte mich immer . . . Denn im Anfang hab' ich Sie wirklich nur deshalb zu mir gezogen, wie Sie sich ausdrückten; aber nachher ist mir das bald sehr zuwider geworden . . . Und überhaupt diese ganze Verstellung ist mir so zuwider geworden, das dürfen Sie ruhig glauben!« fügte sie mit bitterm Gefühl hinzu. »Ja, und alle diese Plackereien auch!«

»Und warum, warum haben Sie mich damals nicht gefragt, ganz geradeheraus? Hätten Sie zu mir gesagt: ›Du weißt doch von diesem Briefe, warum verstellst du dich?' Ich hätte Ihnen sofort alles gesagt, sofort ein offnes Geständnis abgelegt!«

»Ja, ich . . . ich fürchtete mich ein bißchen vor Ihnen. Ich gestehe offen, auch ich habe Ihnen nicht getraut. Und, es ist ja doch wahr: wenn ich schlaue Winkelzüge machte, so haben Sie es ja auch nicht anders gemacht«, fügte sie hinzu und lachte auf.

»Ja, ja, ich war dessen nicht würdig!« rief ich, von diesem Worte getroffen. »Oh, Sie kennen noch gar nicht die ganze Tiefe meines Falls.«

»Na, das wird schon eine Tiefe sein! Da erkenne ich Ihren Stil wieder«, lächelte sie. »Dieser Brief«, fuhr sie dann traurig fort, »war die trübste und leichtsinnigste Tat meines Lebens. Das Bewußtsein dieser Tat ist mir ewig ein Vorwurf gewesen. Unter dem Einfluß verschiedener Umstände und gewisser Befürchtungen habe ich an meinem lieben, großherzigen Vater gezweifelt. Und da ich wußte, daß dieser Brief . . . schlechten Menschen in die Hände fallen könnte . . . da ich ganz bestimmte Gründe hatte, das zu glauben« (sie geriet in Hitze, als sie das sagte), »darum zitterte ich davor, diese Leute könnten sich seiner bedienen, könnten ihn Papa zeigen . . . Und auf ihn hätte das einen schrecklichen Eindruck machen können . . . Bei seinem Zustande . . . Bei seiner schwankenden Gesundheit . . . Und seine Liebe zu mir wäre zerstört worden . . . Ja,« fügte sie hinzu und sah mir voll in die Augen, weil sie wohl im Fluge etwas in meinem Blick gelesen hatte, »ja, ich fürchtete auch für meine Zukunft: ich fürchtete, er könnte . . . unter dem Einfluß seiner Krankheit . . . Er könnte seine Hand von mir abziehen . . . Auch dieses Gefühl sprach mit, aber ich tue ihm wohl auch in der Beziehung unrecht: er ist so gut und großherzig, daß er mir natürlich verziehen hätte. Und nun wissen Sie auch alles, wie es war. Und daß ich mich Ihnen gegenüber so benommen habe, das hätte nicht sein müssen«, schloß sie und machte auf einmal wieder ein beschämtes Gesicht. »Ich schäme mich vor Ihnen.«

»Nein, Sie haben gar keinen Grund, sich zu schämen!« rief ich.

»Ich habe in der Tat auf . . . Ihre leichte Erregbarkeit gerechnet . . . Ich gestehe Ihnen das offen«, sagte sie und senkte ihren Blick.

»Katerina Nikolajewna! Wer, wer, frage ich, zwingt Sie, mir laut und deutlich solche Geständnisse zu machen?« rief ich, förmlich trunken. »Sie brauchten doch nur aufzustehen und mir in den gewähltesten Ausdrücken, in der feinsten Weise, so klar wie zweimal zwei, zu beweisen, wenn das auch alles geschehen wäre, so wäre doch eigentlich nichts geschehen, – Sie verstehen mich: so wie es die Leute in hohen Kreisen verstehen, mit der Wahrheit umzuspringen. Ich bin ja doch plump und dumm, ich hätte Ihnen aufs erste Wort geglaubt, Ihnen hätte ich alles geglaubt, was Sie auch gesagt hätten! Es hätte Ihnen ja doch nichts gekostet, es so zu machen? Sie fürchten sich ja doch nicht wirklich vor mir? Wie konnten Sie sich freiwillig so erniedrigen, vor so einem vorwitzigen Bengel, so einem traurigen Halbwüchsling?«

»Gerade dadurch habe ich mich nun nicht vor Ihnen erniedrigt«, sagte sie mit außerordentlicher Würde; sie hatte meine Worte sichtlich nicht verstanden.

»Oh, im Gegenteil, im Gegenteil! Das sage ich ja eben . . .!«

»Ach, das war so schlecht und leichtsinnig von mir!« rief sie und hob eine Hand zu ihrem Gesicht, als wolle sie es mit der Hand verdecken. »Ich habe mich gestern erst noch so geschämt, daß ich ganz verstimmt war, als Sie bei mir waren . . . Das Ganze ist,« fügte sie dann hinzu, »daß meine Verhältnisse auf dem Punkte angelangt sind, daß ich unbedingt die ganze Wahrheit über diesen unglücklichen Brief erfahren mußte; ich war vorher schon drauf und dran gewesen, ihn ganz zu vergessen . . . Denn ich habe Sie durchaus nicht nur deshalb bei mir empfangen«, fügte sie plötzlich hinzu.

Mein Herz erzitterte.

»Natürlich nicht,« lächelte sie mit einem feinen Lächeln, »natürlich nicht! Ich . . . Sie, Arkadij Makarowitsch, bemerkten vorhin sehr treffend, wir beide hätten oft miteinander gesprochen wie ein Student mit dem andern. Sie können überzeugt sein, daß ich mich in der Gesellschaft oft sehr langweile; besonders, seit ich aus dem Auslande zurück bin, und nach all dem Unglück in unsrer Familie . . . Ich gehe jetzt sogar wenig aus, und der Grund ist nicht mein Phlegma allein. Ich habe oft den Wunsch, aufs Land zu ziehen. Dort würde ich meine Lieblingsbücher lesen, die ich seit lange beiseite gelegt habe, und zu denen ich hier gar nicht komme. Darüber haben wir ja schon gesprochen. Wissen Sie noch, wie Sie darüber gelacht haben, daß ich russische Zeitungen lese und gar täglich zwei?«

»Ich habe gar nicht darüber gelacht . . .«

»Natürlich, weil Sie das ja auch so erregte; und ich hab' es Ihnen ja schon lange gestanden: ich bin eine Russin und liebe Rußland. Wissen Sie noch, wie wir immer zusammen die ›Fakta‹ lasen, wie Sie es nannten?« lächelte sie. »Wenn Sie auch oft ziemlich . . . ziemlich sonderbar sind, Sie haben sich doch häufig dabei so begeistert, daß Sie immer ein treffendes Wort zu sagen wußten; und Sie interessierten sich für dasselbe wie ich. Wenn Sie ›der Student‹ sind, dann sind Sie nett und originell. Die andern Rollen, glaub' ich, liegen Ihnen nicht besonders«, fügte sie mit einem reizenden pfiffigen Lächeln hinzu. »Wissen Sie noch, wie wir manchmal ganze Stunden lang nur von Ziffern sprachen, wie wir addierten und kombinierten und uns dafür interessierten, wieviel Schulden es in Rußland gibt, und welchen Weg unsre Aufklärung nimmt. Wir addierten die Morde und die Kriminalfälle und hielten die guten Neuigkeiten dagegen . . . Wir wollten ergründen, wohin das alles treibe, und was schließlich aus uns selber werden würde. Ich bin bei Ihnen der ernsthaftesten Aufrichtigkeit begegnet. In der Gesellschaft spricht kein Mensch mit uns Frauen so. Vorige Woche habe ich mit dem Fürsten Dingsda ein Gespräch über Bismarck angefangen, weil ich mich für diese Frage sehr interessierte und sie selbst nicht zu entscheiden wußte; und stellen Sie sich vor, er setzte sich neben mich und begann mir einen Vortrag zu halten, einen sehr detaillierten sogar, aber er sprach so mit einer gewissen Ironie, und mit jener Herablassung, die mir eben so unleidlich ist, mit der Herablassung, die ›die großen Männer‹ uns Frauen gegenüber zu haben pflegen, wenn wir ›unsre Nase in Dinge stecken, die uns nichts angehen‹ . . . Und wissen Sie noch, wie wir uns wegen Bismarck fast verzankt hätten? Sie bewiesen mir, Sie hätten auch Ihre Idee, und die wäre ›viel reiner‹ als die Bismarcksche«, lachte sie auf einmal auf. »Ich habe in meinem Leben nur zwei Männer getroffen, die mit mir ganz ernsthaft geredet haben: meinen verstorbenen Mann, der ein sehr kluger und . . . vor–neh–mer Mensch war,« sagte sie eindringlich, »und außerdem – Sie wissen ja selbst, wen . . .«

»Wersilow!« rief ich. Ich getraute mich kaum zu atmen bei dem, was sie sagte.

»Ja; ich habe ihm gern zugehört, ich wurde ihm gegenüber zuletzt ganz . . . vielleicht zu aufrichtig; aber da glaubte er mir nicht mehr!«

»Er glaubte Ihnen nicht?«

»Ja, mir hat überhaupt noch nie jemand geglaubt.«

»Aber Wersilow, Wersilow!«

»Nicht so, daß er mir einfach nicht geglaubt hätte,« sagte sie mit gesenktem Kopfe und lächelte ganz eigen, »aber er meinte, daß ich ›alle Laster‹ habe.«

»Und Sie haben doch kein einziges!«

»Nein, ich habe schon Laster.«

»Wersilow hat Sie nicht geliebt, darum hat er Sie nicht verstanden«, rief ich mit blitzenden Augen.

Etwas in ihrem Gesicht verzog sich.

»Lassen Sie das und sprechen Sie mir nie von . . . diesem Menschen . . .« sagte sie heftig und mit großer Energie. »Aber genug davon; für mich ist's Zeit.« Sie erhob sich, um zu gehen. »Nun, verzeihen Sie mir oder nicht?« fragte sie und sah mir hell in die Augen.

»Ich . . . Ihnen . . . verzeihen! Hören Sie noch eins, Katerina Nikolajewna, und werden Sie nicht böse: ist es wahr, daß Sie heiraten?«

»Das steht durchaus noch nicht fest«, sagte sie verwirrt, als erschrecke sie vor etwas.

»Ist er ein guter Mensch? Verzeihen Sie, verzeihen Sie mir diese Frage!«

»Ein sehr guter Mensch . . .«

»Antworten Sie mir nicht mehr, würdigen Sie mich keiner Antwort! Ich weiß ja, daß solche Fragen von meiner Seite etwas ganz Unmögliches sind! Ich wollte nur wissen, ob er Ihrer würdig ist oder nicht; aber ich werde schon selber Erkundigungen über ihn einziehen.«

»Ach, du lieber Gott!« sagte sie erschrocken.

»Nein, ich tu's nicht, ich tu's nicht. Ich lasse es sein . . . Aber nur das eine will ich Ihnen noch sagen: Gott möge Ihnen jedes Glück geben, jedes, das Sie sich selbst wünschen . . . Zum Lohn dafür, daß Sie mir jetzt so viel Glück gegeben haben, in dieser einen Stunde! Sie haben Ihr Bild jetzt für ewig in mein Herz geprägt. Ich habe einen Schatz gewonnen: den Gedanken an Ihre Vollkommenheit. Ich argwöhnte Hinterlist, plumpe Koketterie und war unglücklich . . . Weil ich diesen Gedanken nicht mit Ihrem Bilde vereinigen konnte . . . Die letzten Tage habe ich Tag und Nacht darüber gegrübelt, und auf einmal wird alles klar wie der Tag! Als ich hierherkam, dachte ich, ich würde Jesuitismus, Schlauheit, eine kundschaftende Schlange finden, und ich habe Ehre, Glanz, einen ›Studenten‹ gefunden! Sie lachen! Lachen Sie nur, lachen Sie nur! Sie sind ja eine Heilige, Sie können nicht über das lachen, was heilig ist . . .«

»O nein, ich lache nur darüber, was Sie für schreckliche Ausdrücke haben . . . Nun, was ist das wieder: ›eine kundschaftende Schlange‹?« lachte sie.

»Sie haben heute ein kostbares Wort gesagt,« fuhr ich entzückt fort, »wie konnten Sie mir nur ins Gesicht sagen, Sie hätten ›auf meine leichte Erregbarkeit gerechnet‹? Nun, wenn Sie auch eine Heilige sind, und Sie gestehen es ja selbst ein, denn Sie schrieben sich irgendeine Schuld zu und wollten sich selbst mit Martern strafen . . . Übrigens kann von einer Schuld gar keine Rede sein, denn wenn auch eine vorhanden war: was Sie tun, ist immer heilig! Aber immerhin hätten Sie's nicht nötig gehabt, gerade dieses Wort, diesen Ausdruck zu gebrauchen . . .! Eine solche gerade, unnatürliche Offenherzigkeit bezeugt nur Ihre höchste Keuschheit, Ihre Achtung vor mir, Ihren Glauben an mich«, rief ich zusammenhanglos. »Oh, erröten Sie nicht, werden Sie nicht rot . . .! Und wer, wer hat Sie so verleumden und mir sagen können, Sie – wären eine Frau voller Leidenschaften? Oh, verzeihen Sie mir, ich sehe den gequälten Ausdruck in Ihrem Gesicht; verzeihen Sie einem Halbwüchsling, der außer sich ist, seine plumpen Worte! Ja, und kommt es jetzt denn auf die Worte, auf den Ausdruck an? Stehen Sie denn nicht über allen Ausdrücken . . .? Wersilow hat mir einmal gesagt, Othello hätte nicht deswegen Desdemona und nachher sich selbst gemordet, weil er eifersüchtig war, sondern weil man ihm sein Ideal geraubt hatte . . . Ich habe das verstanden, weil auch mir heute mein Ideal wiedergegeben worden ist!«

»Sie übertreiben mein Lob: ich bin dessen nicht wert«, sagte sie mit Gefühl. »Wissen Sie noch, was ich Ihnen über Ihre Augen gesagt habe?« fügte sie neckisch hinzu.

»Daß ich nicht Augen hätte, sondern statt der Augen zwei Mikroskope, und daß ich aus jeder Fliege ein Kamel machte! Nein, hier ist von keinem Kamel die Rede . . .! Was, Sie gehen schon?«

Sie stand mitten im Zimmer, den Muff und ihren Schal in der Hand.

»Nein, ich warte, bis Sie draußen sind, ich gehe nachher. Ich muß noch zwei Worte an Tatjana Pawlowna schreiben.«

»Ich gehe gleich, sofort, aber noch einmal: werden Sie glücklich, allein oder mit dem Manne, den Sie sich wählen, das gebe der liebe Gott! Und ich – ich brauche nichts als ein Ideal!«

»Lieber, guter Arkadij Makarowitsch, glauben Sie mir, daß ich von Ihnen . . . Mein Vater sagt immer von Ihnen: ›Der liebe, gute Junge!‹ Glauben Sie mir, ich vergesse nie, was Sie mir von dem armen Jungen erzählt haben, den man allein bei fremden Leuten gelassen hatte, und von seinen einsamen Phantasien . . . Ich verstehe ja so gut, wie Ihr Charakter sich so gebildet hat . . . Künftig aber,« fügte sie mit einem bittenden, verschämten Lächeln hinzu und drückte mir die Hand, »wenn wir auch zwei Studenten sind, es geht doch nicht mehr, daß wir miteinander verkehren wie früher und, und . . . Sie sehen das ja wohl auch selbst ein?«

»Geht es nicht?«

»Es geht nicht, es geht auf lange hinaus nicht . . . In der Beziehung habe ich mir einen Vorwurf zu machen . . . Ich sehe, daß das jetzt ganz unmöglich ist . . . Wir werden uns ja treffen, manchmal bei Papa . . .«

»Sie fürchten sich vor der ›leichten Erregbarkeit‹ meiner Gefühle, Sie glauben mir nicht?« wollte ich schon rufen; aber sie sah auf einmal so verlegen aus, daß mir die Worte nicht über die Lippen wollten.

»Sagen Sie,« hielt sie mich noch einmal fest, als ich schon fast bei der Tür war, »Sie haben es selber gesehen, wie . . . wie der Brief . . . zerrissen wurde? Ihr Gedächtnis kann Sie doch nicht am Ende täuschen? Woraus haben Sie ersehen können, daß es eben dieser Brief an Andronikow war?«

»Kraft hat mir seinen Inhalt erzählt und hat ihn mir sogar gezeigt . . . Leben Sie wohl! Wenn ich in Ihrem Zimmer war, bin ich in Ihrer Gegenwart immer schüchtern gewesen, aber wenn Sie hinausgingen, war ich drauf und dran, mich hinzuwerfen und die Stelle des Fußbodens zu küssen, wo Ihr Fuß gestanden hatte«, stieß ich plötzlich hervor, ohne mir selbst davon Rechenschaft zu geben, ohne selber zu wissen, wie und wozu ich's sagte. Und ohne sie anzusehen, verließ ich schnell das Zimmer.

Ich fuhr schleunigst heim; meine Seele war voll Entzücken. In meinem Kopfe drehte sich alles wie im Wirbelwind, und mein Herz war geschwellt. Als ich vor dem Hause meiner Mutter vorfuhr, fiel mir auf einmal Lisas Undankbarkeit gegen Anna Andrejewna ein, ihr hartes, ungeheuerliches Wort von vorhin; und mein Herz wurde mir auf einmal schwer um sie alle! »Wie hart sieht es in ihrer aller Herzen aus! Ja, und Lisa, was die wohl hat?« dachte ich, als ich auf die Treppe trat.

Ich entließ Matwej und befahl ihm, mich um neun Uhr in meiner Wohnung abzuholen.

 


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