Fjodor Michailowitsch Dostojewski
Ein Werdender - Erster Band
Fjodor Michailowitsch Dostojewski

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Siebentes Kapitel

1

Ich schildere alle diese Szenen, ohne mich selbst zu schonen, um mich an alles zu erinnern und meine Eindrücke wiederherzustellen. Als ich oben in meine Kammer kam, hatte ich keine Ahnung, ob ich mich nun schämen müßte oder triumphieren wie einer, der seine Pflicht erfüllt hat. Wäre ich nur ein bißchen erfahrener gewesen, so hätte ich mir wohl sagen müssen, daß jeder Zweifel in solchen Dingen nach der schlechteren Seite hinüberschlägt. Aber mich brachte ein anderer Umstand aus der Fassung: ich begreife nicht, warum ich froh war, aber ich war furchtbar froh, obgleich ich zweifelte und mir offen eingestand, daß ich da unten entgleist war. Sogar der Umstand, daß mich Tatjana Pawlowna so wütend beschimpft hatte – erschien mir nur lächerlich und amüsant, und machte mich durchaus nicht böse. Wahrscheinlich kam das alles daher, weil ich trotz alledem die Kette zerrissen hatte und mich zum erstenmal ganz in Freiheit fühlte.

Ich fühlte auch, daß ich meine Stellung verschlechtert hatte: es erschien mir jetzt noch viel dunkler, wie ich mich mit jenem Briefe wegen der Erbschaft zu verhalten hätte. Jetzt würde man ganz bestimmt annehmen, ich wollte mich an Wersilow rächen. Aber ich hatte schon unten den Entschluß gefaßt, die Sache mit dem Briefe der Entscheidung eines ganz unbeteiligten Dritten zu überlassen und mich, wie an einen Richter, an Wasin zu wenden, und wenn es mir mit Wasin nicht glückte, an jemand anders, ich wußte schon an wen. Einmal, nur dies einzige Mal, will ich zu Wasin gehen, dachte ich bei mir, und dann – dann werde ich für alle auf lange verschwinden, auf mehrere Monate, und für Wasin werde ich sogar ganz besonders spurlos verschwinden: nur meine Mutter und meine Schwester werde ich vielleicht manchmal sehen. Dies alles war nicht in der richtigen Ordnung; ich fühlte, daß ich irgend etwas getan hatte, aber nicht so, wie es hätte sein sollen, und – und ich war zufrieden; ich wiederhole es noch einmal, ich war trotz allem froh über irgend etwas.

Ich hatte mir vorgenommen, möglichst früh zu Bett zu gehen, denn ich wußte, daß ich am nächsten Tage viel herumzulaufen haben würde. Abgesehen davon, daß ich mir ein Zimmer mieten und umziehen mußte, hatte ich noch verschiedene Entschlüsse gefaßt, die ich, so oder so, gleich zur Ausführung bringen wollte. Aber dieser Abend sollte nicht ohne sonderbare Ereignisse zu Ende gehen, und Wersilow gelang es noch, mich in höchste Verwunderung zu versetzen. In meine Kammer war er tatsächlich noch niemals gekommen, und jetzt auf einmal, ich war noch keine Stunde oben, hörte ich seinen Schritt auf der Treppe: er rief mich, ich sollte ihm leuchten. Ich ging mit der Kerze hinaus und streckte ihm die Hand entgegen, die er ergriff, und half ihm herauf.

»Merci, teurer Freund, hier herauf bin ich noch nie geklettert, nicht einmal, als ich die Wohnung mietete. Ich hab' schon so eine Ahnung gehabt, daß das so was Ähnliches wäre, aber von einem solchen Hundeloch hab' ich mir doch nichts träumen lassen.« Er trat in die Mitte meines Kämmerchens und schaute sich neugierig um: »Das ist ja ein Sarg, ein richtiger Sarg!«

Wirklich hatte es was von dem Innern eines Sarges, mir fiel es sogar auf, wie richtig er das mit einem Worte auszudrücken wußte. Das Kämmerchen war lang und schmal; etwa in der Höhe meiner Schultern, nicht höher, bildeten die Wand und das Dach einen Winkel. Die Decke konnte ich mit der Hand erreichen. Wersilow hielt sich im ersten Augenblick unwillkürlich gebückt, als ob er Angst hätte, mit dem Kopf an die Decke zu stoßen, aber er stieß sich nicht und setzte sich endlich recht ruhig auf meinen Diwan, auf dem schon mein Nachtlager bereitet war. Ich blieb stehen und betrachtete ihn mit größter Verwunderung.

»Deine Mutter sagte mir, sie hätte nicht gewußt, ob sie das Geld von dir annehmen sollte, das du ihr vorhin als Bezahlung für Wohnung und Beköstigung angeboten hast. Wenn man diesen Sarg ansieht, finde ich, kann man's nicht nur nicht annehmen, sondern es käme bei einer Abrechnung noch etwas zu deinen Gunsten heraus! Ich bin nie hier heraufgekommen und . . . ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, wie ein Mensch hier wohnen kann.«

»Ich hab' mich dran gewöhnt. Aber woran ich mich noch gar nicht gewöhnen kann, ist, daß ich Sie hier bei mir sehe, nach allem, was unten passiert ist.«

»O ja, du warst da unten reichlich grob, aber . . . ich habe auch meine besonderen Zwecke, die ich dir noch erklären werde; übrigens finde ich gar nichts so Überraschendes darin, daß ich zu dir gekommen bin; selbst was da unten passiert ist – das liegt auch durchaus in der Ordnung der Dinge; aber erkläre mir um Christi willen eins: was du uns da unten erzählt hast und worauf du uns so feierlich vorbereitet und wozu du so einen Anlauf genommen hast, ist das denn wirklich alles, was du uns eröffnen oder mitteilen wolltest, und hattest du weiter nichts auf der Pfanne?«

»Es ist alles. Das heißt, nehmen wir an, es wäre alles.«

»Das ist ein bißchen wenig, lieber Freund; aufrichtig gestanden, wenn ich an deinen Anlauf denke, und wie du uns aufgefordert hast zu lachen, und wenn ich daran denke, was für einen brennenden Drang du hattest, zu erzählen, – ich habe was Größeres erwartet.«

»Ja, kann Ihnen das nicht ganz egal sein?«

»Ja, ich spreche eigentlich aus meinem Gefühl für das Maß heraus: das war den großen Lärm nicht wert, und das Maß war gewissermaßen zersprengt. Einen ganzen Monat schweigst du, sammelst du dich zum Schlage, und auf einmal – ist gar nichts.«

»Ich wollte noch viel erzählen, aber ich schäme mich schon, daß ich das erzählt habe. Es läßt sich nicht alles mit Worten erzählen, manches wird am besten nie erzählt. Ich habe ja auch genug gesagt, aber Sie haben mich ja doch nicht verstanden.«

»Ach, auch du leidest manchmal daran, daß dein Gedanke sich nicht in Worte fügen will! Das ist ein edles Leiden, lieber Freund, und wird nur Auserwählten zuteil: ein Schafskopf ist immer mit dem, zufrieden, was er gesagt hat, und außerdem sagt er immer mehr als nötig; solche Leute geben gern mehr, als sie haben.«

»Wie zum Beispiel ich vorhin da unten; ich habe auch mehr gesagt als nötig: ich habe ›den ganzen Wersilow‹ verlangt, das ist sehr viel mehr als nötig ist, ich brauche überhaupt keinen Wersilow.«

»Lieber Freund, ich sehe, du möchtest wieder einbringen, was du da unten verspielt hast. Du bereust augenscheinlich manches, denn bereuen heißt bei unsereins, sofort wieder über irgend jemand herfallen, und du willst doch auch nicht zum zweitenmal einen Fehlschuß nach mir tun. Ich bin zu früh gekommen, du hast dich noch nicht abgekühlt, und außerdem verträgst du keine Kritik. Aber setz' dich, bitte, ich bin gekommen, um dir etwas mitzuteilen; so, danke schön. Nach dem, was du unten, als du das Zimmer verließest, zu deiner Mutter gesagt hast, ist es nur zu klar, daß wir uns, in jedem Fall sogar, am besten trennen. Ich bin zu dir gekommen, um dich zu bitten, das möglichst sanft und ohne Skandal zu bewerkstelligen und deine Mutter nicht noch mehr zu betrüben und zu erschrecken. Schon, daß ich selbst zu dir hinaufging, hat sie sehr ermutigt; sie hat so eine Art von Glauben, daß wir uns vielleicht noch aussöhnen könnten, und daß dann vielleicht noch alles beim alten bliebe. Ich glaube, wenn wir beide, jetzt hier oben, ein paarmal recht laut lachen würden, wir könnten ihre schüchternen Herzen direkt in Entzücken versetzen. Mögen das auch nur schlichte Herzen sein, es sind doch liebende, wahrhaft und einfältig liebende Herzen, warum soll man ihnen nicht eine Freude machen, wenn man es kann? Das war also das eine. Und dann: müssen wir denn voll Rachedurst, mit knirschenden Zähnen und wilden Schwüren auseinandergehen? Darüber kann ja gar kein Zweifel bestehen, daß es nicht den geringsten Sinn hätte, wenn wir uns um den Hals fallen wollten, aber man kann sich doch trennen und sich dabei gegenseitig achten, nicht wahr?«

»Das ist alles Unsinn! Ich verspreche Ihnen, ich will ohne Skandal ausziehen – und damit genug. Also Sie sind als Anwalt meiner Mutter hier? Mir scheint es beinahe, als ob die Ruhe meiner Mutter hier gar keine Rolle spielte, und als ob Sie nur so redeten.«

»Du glaubst mir nicht?«

»Sie sprechen mit mir gerade so, als hätten Sie ein kleines Kind vor sich!«

»Lieber Freund, ich bin gern bereit, dich dafür tausendmal um Verzeihung zu bitten, weißt du, für alles, was du mir da aufrechnest, für alle deine Kindheitsjahre und so fort, aber, cher enfant, was kommt denn dabei heraus? Du bist klug genug, um dich nicht selbst in so eine dumme Situation hineinzuwünschen. Ich will gar nicht mal davon reden, daß ich bis zu diesem Moment den Charakter deiner Vorwürfe nicht recht verstehe: sag' mir doch wirklich, was du mir eigentlich vorwirfst? Daß du nicht als ein Wersilow geboren bist? Oder nicht? Bah! du lachst verächtlich und wehrst mit beiden Händen ab. Also doch wohl nicht?«

»O nein, das können Sie mir ruhig glauben. Sie können's mir ruhig glauben, ich würde es durchaus nicht für eine Ehre halten, Wersilow zu heißen.«

»Lassen wir die Ehre beiseite; außerdem mußte deine Antwort ja unbedingt demokratisch sein; aber wenn du der Ansicht bist, was machst du mir denn da zum Vorwurf?«

»Tatjana Pawlowna hat mir vorhin ja alles gesagt, was mir gesagt werden mußte und was ich nie begreifen konnte, bevor sie mir's gesagt hatte: Sie haben mich nicht zu einem Schuster in die Lehre gegeben, folglich muß ich Ihnen dankbar sein. Ich verstehe nicht, warum ich so undankbar bin, selbst jetzt noch, nachdem mir mein Standpunkt klargemacht ist. Ob nicht da am Ende Ihr stolzes Blut aus mir spricht, Andrej Petrowitsch!«

»Ich glaube kaum. Und außerdem wirst du zugeben müssen, daß alle deine Ausfälle da unten, statt auf mich zu fallen, wie du beabsichtigst hattest, nur sie tyrannisiert und gepeinigt haben. Und doch kommt es mir so vor, als wäre es nicht an dir, sie zu richten. Ja, und was für eine Schuld gegen dich trägt sie denn auch? Erkläre mir doch gleich noch eins, lieber Freund: warum und zu welchem Zweck hast du es eigentlich überall verbreitet, daß du unehelich gezeugt bist? Du hast es in der Schule erzählt und auf dem Gymnasium, dein ganzes Leben lang, ja sogar jedem beliebigen Menschen, der dir über den Weg lief, wie ich höre. Und das hast du mit einer ganz besonderen Liebhaberei getan, sagt man. Und dabei ist das alles Unsinn und eine häßliche Verleumdung; du bist ein legitimes Kind, ein Dolgorukij, der Sohn von Makar Iwanowitsch Dolgorukij, einem durchaus achtungswerten und an Verstand und Charakter ungewöhnlichen Menschen. Wenn du eine höhere Bildung empfangen hast, verdankst du das in der Tat deinem ehemaligen Herrn und Besitzer, Wersilow, aber was folgt denn daraus? Und was die Hauptsache ist: dadurch, daß du überall von deiner unehelichen Geburt erzählst, was an sich schon eine Verleumdung ist, verbreitest du das Geheimnis deiner Mutter und machst, aus einer Art von falschem Stolz, den ersten besten Dreckkerl, den du grade triffst, zum Richter über sie. Lieber Freund, ich finde das sehr wenig edel, um so mehr, als deine Mutter persönlich nicht der geringste Vorwurf trifft; sie ist der reinste Charakter, den es gibt, und wenn sie nicht Wersilowa heißt, liegt es nur daran, daß sie bis zum heutigen Tage noch mit ihrem ersten Mann verheiratet ist.«

»Schon gut, ich bin vollkommen einverstanden mit Ihnen, und ich traue Ihnen genug Klugheit zu, daß Sie mir keine gar zu langen Moralpredigten halten werden. Sie lieben das Maß so sehr; und da möchte ich Ihnen denn sagen, daß es ein Maß für alles gibt, selbst für Ihre plötzliche Liebe zu meiner Mutter. Wissen Sie, was gescheiter wäre: Sie haben sich nun einmal entschlossen, zu mir heraufzukommen und eine viertel oder halbe Stunde hier zu sitzen (weshalb, weiß ich eigentlich immer noch nicht, aber nehmen wir einmal an, es wäre, um meine Mutter zu beruhigen) – und außerdem unterhalten Sie sich, trotz allem, was unten geschehen ist, mit einem solchen Behagen mit mir, – nun, dann erzählen Sie mir lieber von meinem Vater – eben von diesem Makar Iwanow, dem Pilger. Eben aus Ihrem Munde möchte ich gern von ihm hören; ich wollte Sie schon lange danach fragen. Da wir uns nun trennen werden, und vielleicht für lange, so hätte ich auch noch auf eine andere Frage gern eine Antwort von Ihnen: haben Sie in diesen ganzen zwanzig Jahren denn nicht so weit auf die Vorurteile meiner Mutter und jetzt auch die meiner Schwester einwirken können, daß es Ihnen gelungen wäre, durch Ihren veredelnden Einfluß die ursprüngliche Finsternis des Standes zu zerstreuen, aus dem sie hervorgegangen ist? Oh, ich spreche nicht von ihrer Reinheit! Sie hat so schon moralisch immer unendlich viel höher gestanden als Sie, entschuldigen Sie bitte, aber . . . sie ist eben nur eine unendlich viel höher stehende Leiche. Leben tut nur der Herr Wersilow, und alles andere rund um ihn herum vegetiert nur so unter der zwingenden Bedingung, daß es die Ehre hat, ihn mit seinen Kräften, mit seinen lebendigen Säften zu ernähren. Aber auch sie war doch einmal lebendig? In irgend etwas an ihr haben Sie sich doch verliebt? Auch sie ist doch einmal ein Weib gewesen?«

»Lieber Freund, wenn du willst, war sie das nie«, antwortete er mir und fiel im selben Augenblick wieder in seinen früheren Ton mit mir, an den ich mich noch so gut erinnerte und der mich so in Wut bringen konnte; das heißt, er war scheinbar aufrichtigste Herzenseinfalt, aber wenn man näher zusah, sah man nur kältesten Spott, so daß es manchmal unmöglich war, aus seinem Gesicht klug zu werden. Er fuhr fort: »Vielleicht war sie das nie! Die russische Frau – ist überhaupt nie ein richtiges Weib.«

»Aber die Polin, die Französin oder die Italienerin? Die feurige Italienerin, die ist imstande, einen gebildeten Russen aus den höheren Ständen, einen Wersilow zum Beispiel, zu fesseln?«

»Nun, hätte ich ahnen können, hier einen Slawophilen zu treffen?« lachte Wersilow.

Ich habe seine Erzählung Wort für Wort behalten; er begann sogar mit großem Behagen und sichtlicher Freude am Sprechen. Mir war es sehr wohl klar, daß er nicht nur so auf ein Plauderstündchen zu mir gekommen wäre, und erst recht nicht, um nur meine Mutter zu beruhigen, sondern daß er wahrscheinlich ganz andere Zwecke dabei im Auge hatte.

 

2

»Wir, deine Mutter und ich, haben diese ganzen zwanzig Jahre schweigend nebeneinander hergelebt,« begann er sein Geschwätz (im höchsten Grade gemacht und unnatürlich), »und alles, was zwischen uns geschehen ist, ist ebenso schweigend geschehen. Der Grundcharakter unseres ganzen zwanzigjährigen Zusammenlebens war die Schweigsamkeit. Ich glaube, wir haben uns sogar nicht ein einziges Mal gestritten. Es ist wohl wahr, ich bin oft fortgegangen und habe sie allein gelassen, aber das Ende war, daß ich immer wieder zu ihr zurückkehrte. Nous revenons toujours . . . und das ist überhaupt eine fundamentale Eigenschaft von uns Männern; das ist eine Art Großmut von uns. Wenn die ehelichen Angelegenheiten von den Frauen allein abhingen – nicht eine einzige Ehe würde Bestand haben. Demut, Furcht vor eigener Verantwortung, Ergebenheit und zu gleicher Zeit Festigkeit, Kraft, wirkliche Kraft, da hast du den Charakter deiner Mutter. Ich kann dir sagen, sie ist die beste von allen Frauen, die mir auf Erden begegnet sind. Und daß sie Kraft besitzt, kann ich dir bezeugen: ich habe gesehen, wie diese Kraft sie genährt hat. Wo es sich um . . . ich will nicht sagen, Überzeugungen handelt – denn von eigentlichen Überzeugungen kann da ja keine Rede sein – wo es sich darum handelt, was Frauen für ihre Überzeugung halten und, sagen wir, was in ihren Augen geheiligt erscheint, da kannst du sie nicht beugen, und wenn du sie auf die Folter spannst. Nun, und das kannst du dir ja selbst sagen; seh' ich aus wie ein Folterknecht? Deswegen hab' ich es vorgezogen, fast zu allem zu schweigen, nicht etwa nur, weil das das bequemste war; und ich muß gestehen, ich bereue mein Verhalten nicht. Auf diese Weise regelte sich alles ganz von selber in einer breiten und humanen Art, so daß ich mir selbst gar nichts darauf einbilden kann. Übrigens möchte ich hier gleich in Parenthese bemerken, daß ich so eine Ahnung habe, sie könnte am Ende nie an meine Humanität geglaubt und deshalb immer vor mir gezittert haben; aber trotz dieses Zitterns hat sie sich doch nie irgendeiner Art von Kultur unterworfen. Sie verstehen das eben, und wir begreifen da irgend etwas nicht, und überhaupt verstehen sie es besser als wir, mit ihren Sachen fertig zu werden. Sie können in den Lagen, die ihnen am wenigsten naturgemäß sind, ganz auf ihre Art weiterleben, und in den fremdesten Verhältnissen ganz sie selbst bleiben. Wir verstehen das nicht so.«

»Wer: sie? Ich verstehe Sie nicht ganz.«

»Das Volk, lieber Freund, ich spreche vom Volke. Es hat diese große, lebendige Kraft und seine historische Dauerbarkeit auf moralischem wie auf politischem Gebiete erwiesen. Aber, um wieder zu unserem speziellen Fall zu kommen, möchte ich dir von deiner Mutter noch sagen, daß sie auch nicht immer schweigt; deine Mutter sagt zuweilen auch ihre Meinung, aber sie sagt sie so, daß du auf den ersten Blick siehst, du hast mit allem deinem Reden nur Zeit verloren, und magst du sie fünf Jahre lang ganz allmählich vorbereitet haben. Und dann hatte sie die überraschendsten Widerreden. Ich sage dir noch einmal, ich nenne sie durchaus nicht dumm, sie ist in ihrer Art klug, und sogar auffallend klug; übrigens, das mit der Klugheit wirst du mir vielleicht nicht glauben wollen . . .«

»Warum denn nicht? Ich glaube nur nicht, daß Sie selber an ihre Klugheit glauben, aufrichtig und ohne Verstellung.«

»So? Du hältst mich also für so ein Chamäleon? Lieber Freund, ich erlaube dir ein bißchen sehr viel . . . wie einem verwöhnten Sohne . . . aber mag es für dies eine Mal denn so bleiben.«

»Sagen Sie mir, wenn Sie können, die Wahrheit über meinen Vater.«

»Über Makar Iwanowitsch? Makar Iwanowitsch ist, wie du schon weißt, ein ehemaliger Leibeigener, der sozusagen von einer gewissen Ruhmbegier beseelt ist . . .«

»Ich möchte wetten, daß Sie ihn in diesem Augenblick um irgend etwas beneiden!«

»Ganz im Gegenteil, lieber Freund, wirklich ganz im Gegenteil; und wenn du willst, bin ich sehr froh, daß ich dich jetzt hier in einer so spitzfindig grüblerischen Geistesverfassung vor mir sehe; mein heiliges Ehrenwort, ich bin gerade jetzt in einer höchst reuigen Stimmung, und stehe gerade in diesem Augenblick, vielleicht zum tausendsten Mal in meinem Leben, in machtlosem Bedauern vor dem, was vor zwanzig Jahren geschehen ist. Übrigens ist das alles damals, Gott sei mein Zeuge, höchst unverhofft gekommen . . . nun, und dann nachher . . . habe ich die Sache so human angefaßt, wie ich konnte; wenigstens nach meinen damaligen Begriffen von Humanität. Oh, wir kochten damals alle vor Eifer, Gutes zu tun, dem Gemeinwohl zu dienen, einer höheren Idee; wir verachteten Ämter und Würden, die Vorrechte unserer Geburt, unseren Besitz und sogar die Kreditanstalten, wenigstens einige unter uns . . . Mein Ehrenwort darauf. Es waren unser nicht viele, aber wir sprachen gut, und, du kannst es mir glauben, handelten manchmal sogar gut.«

»Das war damals, als Sie an seinem Halse weinten?«

»Lieber Freund, ich bin im voraus mit allem einverstanden, was du sagen willst; übrigens das mit dem Weinen hast du von mir selber gehört, und mißbrauchst also in diesem Moment meine Aufrichtigkeit und mein Zutrauen; aber du wirst wohl selbst zugeben, daß diese Sache mit dem Weinen nicht ganz so dumm war, wie sie auf den ersten Blick erscheinen mag, besonders wenn man die damalige Zeit in Anrechnung bringt; wir fingen damals ja eben erst an. Natürlich war das Pose von mir, aber ich wußte doch damals nicht, daß es Pose war. Kommt es zum Beispiel bei dir nie vor, daß du in praktischen Fällen posierst?«

»Ich habe mich jetzt eben unten etwas gar zu sehr von meinem Gefühl hinreißen lassen, und es war mir, als ich wieder hier oben war, ein äußerst peinlicher Gedanke, daß Sie glauben könnten, es wäre Pose von mir gewesen. Es ist ja richtig, manchmal kann man noch so aufrichtig empfinden, man verstellt sich doch; aber das vorhin war alles natürlich, das kann ich beschwören.«

»Das ist es ja eben; du hast es sehr glücklich mit einem Worte definiert: ›man kann noch so aufrichtig empfinden, man verstellt sich doch‹; nun, und ganz dieselbe Geschichte war es damals mit mir: wenn ich mich auch verstellte, ich heulte doch vollkommen aufrichtig. Ich bestreite gar nicht, daß Makar Iwanowitsch diese Tränen als einen noch blutigeren Hohn hätte auffassen können, wenn er scharfsichtiger gewesen wäre, aber seine Biederkeit stand seinem Scharfblick damals im Lichte. Ich weiß nur nicht, ob ich ihm damals leid tat oder nicht; ich weiß nur noch, daß ich ihm sehr gern leid getan hätte.«

»Wissen Sie was,« unterbrach ich ihn, »auch jetzt noch, wo Sie mir dies erzählen, spotten Sie heimlich darüber. Und überhaupt haben Sie die ganze Zeit über, wenn Sie mit mir gesprochen haben, diesen ganzen Monat hindurch, immer heimlich gespottet. Warum haben Sie das immer getan, wenn Sie mit mir sprachen?«

»Glaubst du?« erwiderte er sanft. »Du bist sehr mißtrauisch; übrigens, wenn ich spotte, so bist du nicht der Gegenstand meines Spottes, oder wenigstens nicht du allein, sei ganz ruhig. Aber ich spotte jetzt gar nicht, und damals – kurz und gut, ich hab' damals alles getan, was ich konnte, und durchaus nicht zu meinem Vorteil gehandelt, das kannst du mir glauben. Wir, die höher gebildeten Menschen, im Gegensatz zum Volke, verstanden es damals überhaupt nicht, zu unserem Vorteil zu handeln; ganz im Gegenteil, wir schadeten uns selber soviel wie möglich, und ich habe so eine Ahnung, daß wir das damals für eine Art von ›höherem Vorteil für uns‹ hielten, selbstverständlich im höheren Sinne. Die gebildeten jungen Leute aus der heutigen Generation sind viel mehr auf ihren Nutzen bedacht. Ich habe damals, noch bevor die Sünde begangen war, Makar Iwanowitsch alles mit der größten Offenheit erklärt. Heute bin ich ja auch der Ansicht, daß ich vieles davon durchaus nicht hätte zu sagen brauchen, namentlich nicht so offen und grade heraus: wir wollen gar nicht von der Humanität reden, es wäre sogar taktvoller gewesen; aber probier's mal und halte an dich, wenn du so recht im Tanzen bist und grade einen recht schönen Pas machen willst! Ach, vielleicht sind die Forderungen, die das Schöne und Gute an uns stellt, wirklich so beschaffen, ich hab' mein Leben lang zu keinem Schluß darüber kommen können. Übrigens, das ist ein zu tiefes Thema für unsere oberflächliche Unterhaltung, aber ich kann dir schwören, daß ich mich jetzt noch manchmal zum Sterben schäme, wenn ich daran zurückdenke. Ich bot ihm damals dreitausend Rubel an und weiß noch, daß er die ganze Zeit schwieg und ich ganz allein redete. Stell' dir vor, ich hatte den Eindruck, daß er sich vor mir fürchtete, das heißt, vor meinem Herrenrecht, und ich weiß noch, daß ich mir alle Mühe gab, ihm Mut zu machen; ich redete ihm zu, er sollte ohne Furcht vor irgend etwas alle seine Wünsche aussprechen und auch mit seiner Kritik durchaus nicht zurückhalten. Als Garantie gab ich ihm mein Wort, für den Fall, daß er nicht auf meine Bedingungen eingehen wollte, das heißt: dreitausend Rubel, Entlassung aus der Leibeigenschaft (für ihn und seine Frau selbstverständlich), und die Freiheit, zu ziehen, wohin er wollte (ohne Frau selbstverständlich) – falls er also darauf nicht einginge, würde ich ihm dennoch sofort den Freibrief geben, seine Frau zu ihm zurückschicken, ihnen beiden eine Entschädigung zahlen, auch wieder dreitausend Rubel, glaub' ich, und dann brauchten sie auch nicht fortzugehen, sondern ich würde auf drei Jahre nach Italien reisen, mutterseelenallein. Mon ami, ich hätte wahrhaftig kein Fräulein Saposhkowa nach Italien mitgenommen: ich war sehr rein in jenen Augenblicken. Und was geschah? Diesem Makar war es vollkommen klar, daß ich erfüllen würde, was ich ihm versprochen hatte; aber er sagte noch immer nichts, und erst als ich schon zum drittenmal anfing, in ihn zu dringen, wich er zurück, machte eine abwehrende Handbewegung und verließ dann das Zimmer, ich muß sogar sagen mit einer Formlosigkeit, die mich damals direkt in Verwunderung setzte. Ich sah mich gleich darauf im Vorbeigehen flüchtig im Spiegel und kann das nicht vergessen. Überhaupt, wenn solche Leute nichts sagen – das ist das schlimmste, und dies war ein finsterer Charakter, und ich gestehe ganz offen, als ich ihn in mein Kabinett rufen ließ, traute ich ihm nicht nur nicht, sondern hatte sogar furchtbare Angst: in diesem Milieu gibt es Charaktere und sehr viele, die sozusagen Personifikationen der Unanständigkeit darstellen, und vor so was fürchtet man sich natürlich mehr als vor Schlägen. Sic! Und was für Ungelegenheiten ich mich aussetzte, was alles passieren konnte! Wenn er das nun über den ganzen Hof geschrien, gebrüllt hätte, dieser ländliche Uria – ja, was hätte ich dann gemacht, so ein kleiner David wie ich war, und was hätte ich dann machen können? Deshalb hatte ich auch zuerst das von den dreitausend Rubeln gesagt, ganz instinktiv, aber ich hatte mich zum Glück getäuscht: dieser Makar Iwanowitsch war ganz etwas anderes . . .«

»Sagen Sie, war die Sünde schon geschehen? Sie sagten eben, Sie hätten ihn rufen lassen, bevor die Sünde begangen war?«

»Das heißt, siehst du, das ist so zu verstehen . . .«

»Also, es war geschehen! Sie sagten eben, Sie hätten sich in ihm getäuscht gehabt, er wäre etwas ganz anderes gewesen; was anderes, was heißt das?«

»Ja, was er eigentlich war, weiß ich bis zum heutigen Tage noch nicht. Aber er war etwas anderes, und weißt du, er war sogar höchst anständig; ich schließe das daraus, daß mein Gewissen sich nachher dreimal so belastet fühlte als vorher. Am nächsten Tage willigte er ein, fortzugehen, ohne viel Worte, und selbstverständlich ohne eine einzige der von mir versprochenen Entschädigungen zu vergessen.«

»Er nahm das Geld?«

»Ob er's nahm! Und weißt du, lieber Freund, in dem Punkte hat er mich sogar äußerst verblüfft. Dreitausend Rubel hatte ich damals natürlich nicht in der Tasche, aber ich brachte siebenhundert zusammen und gab sie ihm fürs erste; und was tat er? Er verlangte von mir einen Schuldschein über den Rest von zweitausenddreihundert Rubeln, der Sicherheit halber, mit der Bürgschaft eines Kaufmanns. Und dann nach zwei Jahren trieb er diese Summe auf Grund des Schuldscheins mit Zinsen gerichtlich ein, was mich wiederum höchlichst wunderte, zumal er damals buchstäblich herumzog und Geld für Kirchenbauten sammelte, und diese ganzen zwanzig Jahre seit der Zeit ist er doch Pilger geblieben. Ich begreife nicht, wozu ein Pilger so viel eigenes Geld braucht. Geld, das ist doch so eine weltliche Sache . . . Ich hatte ihm die Summe damals natürlich ganz aufrichtig angeboten, sozusagen in der ersten Hitze, aber nachher, als so viel Zeit vergangen war, hatte ich natürlich ruhiger darüber nachgedacht . . . und ich hatte darauf gerechnet, er würde wenigstens Nachsicht mit mir haben . . . oder, sozusagen, Nachsicht mit uns, mit mir und ihr, er würde doch wenigstens Geduld haben und warten können. Aber nicht einmal warten wollte er . . .«

(Ich muß hier ein notwendiges Notabene einschalten: wenn der Fall eingetreten wäre, daß meine Mutter Herrn Wersilow überlebt hätte, so wäre sie in ihrem Alter buchstäblich ohne einen Groschen zurückgeblieben, wenn nicht diese dreitausend Rubel von Makar Iwanowitsch gewesen wären, die sich durch die Zinsen längst verdoppelt hatten, und die er ihr vollkommen unberührt, bis zum letzten Rubel, im vorigen Jahre, testamentarisch vermacht hat. So früh schon hatte er meinen Wersilow erkannt und seine Zukunft vorausgeahnt.)

»Sie sagten mir einmal, Makar Iwanowitsch wäre öfters zu Ihnen zu Besuch gekommen und dann immer in Mamas Wohnung abgestiegen?«

»Jawohl, lieber Freund, und ich muß dir offen gestehen, anfangs hatte ich große Angst vor diesen Besuchen. In dieser ganzen Zeit, den zwanzig Jahren, ist er im ganzen sechs- oder siebenmal dagewesen, und die ersten Male ging ich ihm aus dem Wege, wenn ich gerade zu Hause war. Ich konnte anfangs überhaupt nicht verstehen, was das bedeuten sollte und weshalb er eigentlich kam. Aber nachher, als ich mir die Sache nach verschiedenen Seiten überlegt hatte, schien es mir durchaus nicht mehr so dumm von ihm zu sein. Und später einmal erfaßte mich eine gewisse Neugier, und ich kam heraus, um ihn mir mal anzusehen und bekam einen sehr originellen Eindruck von ihm, kannst du mir glauben. Das war erst bei seinem dritten oder vierten Besuch, in jener Epoche, als ich Friedensrichter geworden war und deshalb selbstverständlich aus allen Kräften bemüht war, Rußland und die Russen recht gründlich kennenzulernen. Ich habe von ihm tatsächlich außerordentlich viel Neues gehört. Außerdem fand ich in ihm einen Menschen, wie ich ihn nicht im entferntesten zu finden erwartet hatte: einen Menschen von großer Herzensgüte, von gleichmäßigem Charakter und, was mich am meisten in Erstaunen setzte, ein beinahe fröhliches Gemüt. Nicht die kleinste Anspielung auf die Geschichte (tu comprends?) und im höchsten Grade die Gabe, vernünftig und sachlich zu sprechen, und dabei sprach er ausgezeichnet, das heißt, ohne jenen üblichen bäuerischen Tiefsinn, den ich, das muß ich trotz aller meiner demokratischen Gesinnung bekennen, in den Tod nicht leiden kann, und ohne jene gewaltsamen Russizismen, deren in unseren Romanen und auf dem Theater sich die ›richtigen Russen‹ zu bedienen pflegen. Und dabei sprach er sehr wenig von der Religion, wenn man nicht selbst davon anfing, und wußte in ihrer Art wirklich sehr nette Geschichten aus den Klöstern und dem Klosterleben zu erzählen, wenn man etwas davon wissen wollte. Und was die Hauptsache war – seine Ehrerbietigkeit, diese bescheidene Ehrerbietigkeit, eben jene Ehrerbietigkeit, ohne die es eine Gleichheit im höheren Sinne gar nicht geben kann, ja mehr noch, ohne die nach meiner Meinung ein Mensch auch gar keine Überlegenheit über andere erlangen kann. Eben wo jede Spur von Eigendünkel fehlt, erscheint die höchste Vornehmheit, und man sieht einen Menschen vor sich, der sich selbst ohne jeden Zweifel achtet und eben in seiner Stellung, mag sie sein, welche sie will, und mag das Schicksal ihn gestellt haben, wohin es will. Diese Fähigkeit, sich selbst eben in seiner Stellung zu achten, ist außerordentlich selten auf Erden zu finden, wenigstens ebenso selten, wie die aufrichtige Selbstachtung . . . Das wirst du selber auch noch sehen, wenn du länger lebst. Aber mehr als alles ist mir aufgefallen, und zwar auch erst später, anfangs nicht,« fügte Wersilow hinzu, »wie auffallend wohlgestaltet dieser Makar war und wie auffallend hübsch, kann ich dir versichern. Er war ja alt, aber

›. . . dunkelhäutig, groß und stolz . . .‹,

schlicht und würdig; ich wunderte mich sogar, daß meine arme Sophia mich damals ihm hatte vorziehen können; damals war er fünfzig, aber immer noch ein fester, schneidiger Bursche, und ich war, an ihm gemessen, doch nur ein leichter Grünspecht. Übrigens erinnere ich mich, daß er schon auffallend grau war, wahrscheinlich war er schon, als sie ihn heiratete, so grau gewesen . . . Vielleicht, daß das dabei mitgesprochen hat.«

Wersilow hatte eine äußerst unangenehme Manier aus der Gesprächsweise der höheren Gesellschaftsklassen an sich: er sagte manchmal (wenn es nicht anders ging) sehr kluge und schöne Sachen und schloß dann plötzlich absichtlich mit irgendeiner Albernheit, wie zum Beispiel dieser Geschichte von Makar Iwanowitschs grauen Haaren und ihrem möglichen Einfluß auf meine Mutter. Er tat das absichtlich, und wahrscheinlich, ohne selbst zu wissen warum, aus einer ganz dummen gesellschaftlichen Manier heraus. Wenn man ihm so zuhörte, konnte man meinen, er spräche ganz ernsthaft, aber dabei schnitt er heimlich für sich Grimassen oder grinste.

 

3

Ich begreife nicht, warum mich da auf einmal so ein furchtbarer Zorn packte. Überhaupt denke ich mit großem Mißbehagen an einige von meinen Ausbrüchen in jenen Minuten zurück; ich sprang auf einmal von meinem Stuhl auf:

»Wissen Sie was,« sagte ich, »Sie sagten ja, Sie wären hauptsächlich gekommen, um meine Mutter glauben zu machen, wir hätten uns versöhnt. Die Zeit ist jetzt lang genug, daß sie das glauben kann; wollen Sie nicht so gut sein und mich allein lassen.«

Er wurde etwas rot und erhob sich.

»Lieber Freund, du bist äußerst unhöflich gegen mich. Übrigens auf Wiedersehen; mit Gewalt kann ich dich nicht liebenswürdig machen. Ich erlaube mir nur noch eine Frage: willst du wirklich nicht mehr zum Fürsten gehen?«

»Aha! Ich hab's doch gewußt, daß Sie Ihren ganz besonderen Zweck hatten . . .«

»Das heißt also, du hast mich in Verdacht, ich wäre gekommen, um dich zu überreden, beim Fürsten zu bleiben, weil ich darin Vorteile für mich sehe. Aber lieber Freund, warum denkst du nicht gleich, ich hätte dich aus Moskau kommen lassen, weil ich dabei irgendeinen Vorteil für mich im Auge gehabt hätte? Ach, wie mißtrauisch du bist! Ich wünsche dir im Gegenteil Glück und Gelingen in allem. Ich würde es jetzt, wo sich meine Verhältnisse so sehr gebessert haben, sogar sehr gern sehen, wenn du es deiner Mutter und mir, manchmal wenigstens, erlauben würdest, dir zu helfen.«

»Ich liebe Sie nicht, Wersilow.«

»Jetzt auch noch ›Wersilow‹? Übrigens, ich bedaure es sehr, daß ich nicht in der Lage war, dir diesen Namen zu vererben, weil in Wirklichkeit eben hierin meine ganze Schuld besteht, wenn überhaupt von einer Schuld die Rede sein kann, nicht wahr? Aber ich wiederhole es, ich konnte doch keine verheiratete Frau heiraten, das mußt du selbst zugeben.«

»Das war wahrscheinlich auch der Grund, weshalb Sie eine Unverheiratete heiraten wollten?«

Ein leichtes Zittern lief über sein Gesicht.

»Du sprichst von Ems. Hör' mal, Arkadij, du hast dir schon unten, in Gegenwart deiner Mutter, denselben Ausfall erlaubt und dabei mit dem Finger auf mich gewiesen. Ich kann dir nur sagen, daß du damit am weitesten vorbeigeschossen hast. Von der Geschichte mit der verstorbenen Lydia Achmakowa weißt du nicht das geringste. Du weißt auch nicht, wieweit deine Mutter selbst an dieser Geschichte beteiligt war, jawohl, trotzdem sie damals nicht bei mir war; und wenn ich jemals eine durch und durch gute Frau gesehen habe, so war es damals, wenn ich deine Mutter ansah. Aber genug davon; das alles ist fürs erste noch ein Geheimnis, und du – du redest von Dingen, die du nicht verstehst, und ein Fremder spricht aus dir.«

»Aber gerade der Fürst hat mir heute gesagt, Sie wären ein Liebhaber von noch nicht flügge gewordenen Mädchen.«

»Das hat der Fürst gesagt?«

»Ja. Noch eins: wenn Sie wollen, sag' ich Ihnen ganz genau, weswegen Sie jetzt zu mir gekommen sind? Ich hab' die ganze Zeit gesessen und mich gefragt, wo wohl das Geheimnis dieser Visite liegt, jetzt endlich hab' ich es, glaub' ich, erraten.«

Er war schon im Begriff zu gehen, hielt aber inne und wendete mir erwartungsvoll sein Gesicht zu.

»Vorhin habe ich flüchtig etwas davon fallen lassen, daß Touchards Brief an Tatjana Pawlowna, der unter Andronikows Papiere gekommen war, sich nach dessen Tode in Moskau in Maria Iwanownas Händen befunden hätte. Ich bemerkte, daß dabei plötzlich etwas in Ihrem Gesicht aufblitzte und bin erst jetzt eben darauf gekommen, als noch einmal dasselbe Aufblitzen über Ihr Gesicht ging. Sie sind vorhin dort unten auf die Idee gekommen, wenn sich schon ein Brief aus Andronikows Besitz bei Maria Iwanowna vorgefunden hätte, warum sich dann nicht auch noch ein anderer bei ihr befinden könnte. Und in Andronikows Nachlaß haben sich doch recht wichtige Briefe befinden können, was? Nicht wahr?«

»Und ich bin zu dir gekommen, um dich dazu zu bringen, daß du dich über irgend etwas verplapperst?«

»Das wissen Sie selbst am besten.«

Er wurde sehr bleich.

»Das hast du dir nicht selbst ausgedacht; da seh' ich den Einfluß einer Frau; und wieviel Haß schon in deinen Worten liegt – in deiner plumpen Unterstellung.«

»Eine Frau? Und ich habe diese Frau gerade heute gesehen! Deshalb wollen Sie wahrscheinlich auch gerade, daß ich beim Fürsten bleibe, um ihr nachzuspionieren?«

»Ich sehe jedenfalls das eine, daß du auf deinem neuen Wege recht weit kommst. Ist das am Ende gar ›deine Idee‹? Fahr nur so fort, lieber Freund, du hast unbestreitbare Anlagen zum Untersuchungsrichter. Wenn man ein Talent hat, muß man es auch pflegen.«

Er hielt inne, um Atem zu schöpfen.

»Nehmen Sie sich in acht, Wersilow, machen Sie mich nicht zu Ihrem Feind!«

»Lieber Freund, seine letzten Gedanken spricht in solchen Fällen kein Mensch aus, sondern behält sie lieber für sich. Und nun leuchte mir, bitte. Wenn du auch mein Feind bist, so geht es, hoff' ich, doch nicht so weit, daß du mir wünschst, ich soll mir das Genick brechen. Tiens, mon ami,« fuhr er fort, während er die Treppe hinunterstieg, »stell' dir vor, ich hatte dich diesen ganzen Monat über für einen guten Kerl gehalten. Du möchtest so gern leben und hast so einen Durst zu leben, ich glaube, wenn man dir drei Menschenleben gäbe, du hättest auch daran noch nicht genug: das steht auf deinem Gesicht geschrieben; nun, und solche Leute sind meistens gute Kerle. Und so sehr habe ich mich getäuscht!«

 

4

Ich kann nicht beschreiben, wie sich mir mein Herz zusammenkrampfte, als ich wieder allein war: mir war, als hätte ich mir bei lebendigem Leibe ein Stück von meinem eigenen Fleische ausgeschnitten! Weswegen war ich nur auf einmal so wütend geworden, und weshalb hatte ich ihn so beleidigt – so gewaltsam und so absichtlich – ich könnte das jetzt nicht sagen, und damals natürlich auch nicht. Und wie bleich er geworden war! Und dann: dieses Erbleichen war vielleicht der Ausdruck des aufrichtigsten und reinsten Gefühls und des tiefsten Kummers und nicht des Zorns und des Gekränktseins. Mir ist es immer so vorgekommen, als ob es Minuten gäbe, in denen er mich sehr liebte. Warum, ach warum kann ich heute nicht daran glauben, zumal mir heute schon so vieles klar geworden ist?

Und auf einmal wütend geworden war ich, und geradezu die Tür gewiesen hatte ich ihm vielleicht deshalb, weil mir plötzlich eingefallen war, er könnte zu mir gekommen sein, um herauszubringen, ob Maria Iwanowna nicht noch andere Briefe aus Andronikows Nachlaß in Verwahrung hätte. Daß er diese Briefe suchen mußte und sie suchte – das wußte ich. Aber wer konnte wissen, ob ich mich damals, eben in jener Minute, am Ende nicht sehr getäuscht hatte. Und wer konnte wissen, ob ich ihn nicht vielleicht, eben durch diesen Irrtum, erst auf den Gedanken an Maria Iwanowna gebracht hatte und auf die Möglichkeit, daß sie Briefe in Verwahrung haben könnte.

Und schließlich noch ein sonderbarer Umstand: wieder hatte er Wort für Wort meinen Gedanken (von den drei Menschenleben) wiederholt, den ich kurz vorher Kraft gegenüber ausgesprochen hatte, und was die Hauptsache war, mit meinen eigenen Worten. Das Zusammentreffen der Worte war ja wieder ein Zufall, aber trotz alledem, wie konnte er das Wesen meiner Natur so gut kennen: welch ein Blick, was für ein Ahnungsvermögen! Aber wenn er eines so gut verstand, warum verstand er das andere so gar nicht? Und sollte er denn nicht nur posiert haben, sondern wirklich nicht imstande sein, zu erraten, daß es sich für mich nicht um den Wersilowschen Adel handelte, daß es nicht meine Geburt war, was ich ihm nicht verzeihen konnte, sondern daß es sich für mich mein Leben lang um ihn selbst, Wersilow, gehandelt hatte, den ganzen Menschen, um den Vater, und daß mir dieser Gedanke schon ganz in Fleisch und Blut übergegangen war? Konnte ein so feiner Mensch denn wirklich so stumpf und schwer von Verständnis sein? Und war das nicht der Fall, wozu reizte er mich dann so, warum verstellte er sich so? . . .

 


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