Johannes Dose
Im Kampf um die Nordmark
Johannes Dose

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Fünfzehnter Abschnitt.

Die Tragödie des Lehrerhauses und der Tod des weißen Gespenstes.

Das war der sonnenmildeste und schönste Herbsttag des Jahres 49, die Luft wunderbar durchsichtig und klar, die weißen Haare des Altweibersommers glänzten in allen Hecken. Die Knechte saßen auf den Pferderücken, baumelten mit den Beinen und sangen den »Tappre Landsoldat«. Die Dänen in Hyllerup waren jetzt obenauf, sehr zufrieden und sehr patriotisch.

In der Studierstube ihres Gatten saß die Pastorin und hielt sich die Ohren zu, denn das ewige blödsinnige Lied vom »Tappren« schnitt wie das Gekreisch eines stumpfen, kratzenden Griffels. Sie war dem Weinen nahe. »Mein Sutor, wir sind jetzt dänisch ... o ... dänisch!« In dem Ton lag die tiefste Empörung und das höchste Entsetzen.

»Wir sind es der Form nach nicht.«

»Aber faktisch, denn der König redet nicht als Herzog, sondern als König mit uns ... wir sind so gut wie inkorporiert ... o über das Unrecht!«

»Gegen den frechen Versuch, uns als dänische Provinz zu behandeln, hat Deutschland protestiert,« sagte der Gatte. »Papierne Proteste! Wir sind durch den Waffenstillstand der Vergewaltigung ausgeliefert worden, und zwar in Berlin, durch Preußen, o! Ein Deutscher muß an Deutschland verzweifeln. Das Preußen des großen Friedrich hat uns verlassen und verraten.«

Das war die Klage und Anklage, die von Millionen von Deutschen erhoben wurde.

Der Pastor sprach gedämpft, vertraulich und tieftraurig: »Die Hofkamarilla schwatzt dem König von Preußen vor, unsre Erhebung sei um kein Haar besser als jede gottlose Revolution und daher eine Gefahr für das Gottesgnadentum. Dazu kommt, daß der Knuten-Kaiser Rußlands seinen lieben Schwager Friedrich Wilhelm für einen Phantasten und Schwächling hält und demgemäß behandelt und einschüchtert ... sein königlicher Vetter und Schwager dürfe keine Königsfeinde beschützen, sondern müsse Schleswig-Holstein seinem Schicksal überlassen und die heilige Legitimität der Könige und des Oldenburger Hauses beschirmen. Immer und überall ist unser Unglück der unselige oder böswillige Irrtum, daß unser Kampf ums Recht als Revolution gestempelt wird, obgleich wir Schleswig-Holsteiner königstreu und konservativ bis in die Knochen sind und nichts als unser Deutschtum behalten wollen. Begreifst du die Lüge und Infernalität, der wir erliegen? Die Großmächte protegieren das kleine Dänemark und wollen die Lüge von unsrem Aufruhr glauben ... Preußen schaudert davor, ein Revolutionshelfer zu sein, zieht seine Hand von uns ab, und die kleinen deutschen Staaten freuen sich hämisch, daß sie die Schmach, Schleswig-Holstein verraten zu haben, den Preußen aufhalsen können. Europa ertrinkt in Niedertracht.«

»Gibt es denn keinen Gott im Himmel? O, wir sind dänisch geworden!«

»Nein, noch sind wir es nicht. Bei Gott ist kein Unmöglich! Mein Glaube, daß unsre Heimat heute oder morgen, in zehn oder zwanzig Jahren ein deutsches Herzogtum sein wird, wankt nimmer und hält mein Haupt über alle Wasser, wie hoch sie gehen.«

»Du bist stark, mein Sutor, und ich ein schwaches Weib, das nur weinen kann. Wir werden aus dem schönen Heim und Amt, darin wir unser Leben zu beschließen hofften, verjagt werden. Die gemeinsame Regierung ist ja ganz eiderdänisch.«

Fangel konnte ein schmales Lächeln nicht lassen und belehrte seine Frau: »Durch diesen elenden Waffenstillstand wurde Schleswig von Holstein getrennt – ach, diese Trennung tat uns so weh –, ganz Schleswig wird von der gemeinsamen Regierung, von dem Herrn von Tillisch, den der Dänenkönig ernannte, und dem Herrn von Eulenburg, dem preußischen Kommissar, während der Waffenruhe verwaltet.«

»Der Engländer Hodges wird doch als der Dritte in dem Herzensbunde genannt,« sagte die Pastorin spöttisch.

»Der Hodges ist vorsichtigerweise für den Fall, daß Tillisch und Eulenburg sich in die Haare geraten, zum Schiedsrichter ernannt worden, braucht aber leider nicht in Tätigkeit zu treten, weil der Preuße sich von dem dänischen Kollegen und Kammerherrn stets ins Schlepptau nehmen läßt.«

»Nun sagst du es ja selbst, daß wir im Dänenrachen sitzen.«

»Nicht ganz, meine Liebe! Eulenburg verhinderte die von Tillisch geplante Massenabsetzung der deutschen Beamten ... allerdings die scheußlichen Schikanen und die rechtlose Vertreibung einiger unsrer besten Männer hat er nicht verhindert.«

»Wie viele hat man ins Elend gejagt, den Pastor in Beck, in Fedstedt, in Ullerup und den einen Hardesvogt in Norderhusen ... dein Bruder, der die Farbe zu wechseln versteht, würde sich halten, selbst wenn wir alle Semester die Regierung wechselten und der Reihe nach englisch, türkisch, russisch und kroatisch würden ... der würde, wenn wir Katholiken würden, vor der Muttergottes, und wenn wir Mohammedaner wären, vor dem Halbmond sich bekreuzigen.«

»Verdammen wir ihn nicht! Klammern wir uns nicht auch mit Händen und Füßen an der Heimat fest? Hängen wir nicht mit allen Herzensfäden an unsrem Hyllerup und unsrem Nordschleswig?«

»Ja, ja ... aber ich fühle und ahne, ich weiß es, daß wir bald in die bittere Verbannung gehen müssen ... doch wir gehen Hand in Hand, mein Sutor.« Die weißhaarige Frau legte ihr Haupt an die Brust des betagten Herzliebsten.

Der Pastor sprach, wie zu sich selber: »Wir werden wohl verjagt ...«

»Bist du nach Norderhusen zitiert?« fragte sie angstvoll.

»Ich muß es dir sagen, Gertrud ... aber weine nicht! Ich habe deine Tränen nie sehen können, ohne die Kontenance zu verlieren ... gerade jetzt müssen wir den Kopf oben behalten und hoch tragen. Das traurige Triumvirat Tillisch-Eulenburg-Hodges regiert in Schleswig im Namen des Königs Frederik und, was ein Rechtsbruch ist, sie versenden alle ihre Verfügungen in dänischer Sprache und im Namen des Königs und nicht des Herzogs. Dir ist ja bekannt, daß wir Prediger alle Reskripte der Regierung von der Kanzel herab verlesen und verkünden müssen von Amts wegen und von Alters her. Kein deutscher, gewissenhafter Geistlicher kann diese Erlasse im Namen des Königs proklamieren, ich kann es nicht, denn ich würde mich dadurch als Untertan des Königs, als Dänen bekennen. Schelte mich nicht kleinlich!«

»Kleinlich? Nein, du bist groß und gewissenhaft. Du darfst das nimmermehr tun, und ob es das Amt uns koste. Pfui! Das wäre ja eine hinterlistig erschlichene Anerkennung der Inkorporation. Du bist im Namen des Herzogs zum Pastor in Hyllerup ernannt worden, du darfst nur herzogliche Erlasse verlesen.« Die Pastorin weinte nicht, sondern schlug mit der Hand auf den Tisch und blitzte mit den Augen. Sie war womöglich noch tapferer und trotziger als ihr Gatte.

Die deutschen Geistlichen Nordschleswigs von 1849 waren ein starkes Geschlecht, das gleichwie in Reiterstiefeln fest und stolz stand und nicht um Haaresbreite von seinem Deutschtum, seiner Ueberzeugung und Treue sich verrücken ließ. Alle, alle weigerten sich, die Reskripte im Namen des Königs zu verlesen. Das war nicht Buchstaben-Starrsinn, sondern ein festes Principiis obsta, eine wahre Charaktergröße. Kein königliches Schleswig, keine hinterlistige Einverleibung durften sie dulden, geschweige denn von der Kanzel verkünden. Ehre den Männern, die im Luthergeiste ihr mutiges »Ich kann nicht anders« sprachen und der Dänenacht verfielen!

Die Pastorin betrachtete zärtlich jedes Stück in der Stube, blickte liebevoll in den schönen Garten hinaus und nach den Blumenrabatten, und die Tränen liefen ihr über die Wangen. »Das alles müssen wir verlassen.«

Er trocknete mit dem Taschentuch ihr Gesicht und tröstete: »Wir verlieren viel, aber wir behalten das Beste, unsere Kinder ... unser Heimreich blieb in der Mordnacht unversehrt und hat bei Lunden ein gutes Quartier. Wahrscheinlich kommt es gar nicht mehr zum Kampfe, und wir behalten unseren Kandidaten.«

»Aber ach, kein Amt für ihn, kein Amt für dich.«

Der zweite Lehrer wurde von der Magd gemeldet.

Lindenhahn machte einen verlegenen Eindruck, eine ungelenke Verbeugung und stotterte ein wenig. »Mein kleiner Knabe hat eine unheimliche Krankheit und wird das Gehen nie lernen, seine Beinchen sind viel zu schwach, auch sein Geist entwickelt sich nicht. Darf ich um einen Tag Urlaub bitten, Herr Pastor?«

»Sie wollen wohl den Physikus in Norderhusen konsultieren?«

Der Lehrer wurde rot. »Ja ... ich muß ... einen Arzt fragen, ob das englische Krankheit oder etwas ganz Schreckliches ist.«

Er erhielt den Urlaub und lief schnell nach dem Küsterhause. Ein Gespenst, das ihn in dunkler Nacht und am hellen Tage ängstigte, verfolgte ihn. Wenn mein Knabe mit den großen Blauaugen idiotisch geboren wäre ... nein, nein, weiche von mir, Wahnsinn!

Lauritzen war seit der Niederlage von Friedericia, die ihm ans Herz griff, viel grauer geworden, und der originelle Schul- und Ackersmann alterte auffallend in diesen Herbsttagen. Vor Jahr und Tag hatte er oft und gern von seinen Jahren und seinem baldigen Abschied gesprochen, und sein Kollege hatte ihn ausgelacht: »Sie sind ja ein rüstiger Mann und viel kräftiger als ich.« Jetzt hingegen, wo des Küsters Kräfte sichtbarlich abnahmen, wollte er es durchaus nicht wahrhaben, im Gegenteil, er glaubte und machte sich jünger und leistungsfähiger, als er war – eine Eigentümlichkeit, die man bei alten Leuten, die wirklich alt werden, oft beobachten wird. Sauer fiel es ihm, die mächtigen Eimer mit flüssigem Dung zu schleppen, und kraft eines unschuldigen Selbstbetruges füllte er sie nur zur Hälfte, was er aber beileibe nicht wissen, geschweige denn hören wollte. Nicht einmal seine Frau durfte ein Wort von Pensionierung und Ruhestand fallen lassen, sofort brummte er los: »Wir werden im Grabe früh genug und lange genug uns ausruhen.«

Als Lindenhahn einmal vor ein paar Wochen dem schwer erkälteten Küster aus Freundlichkeit anbot, den Sonntagsdienst in der Kirche zu übernehmen, sagte der bis zur Unhöflichkeit offenherzige Lauritzen mit einem argwöhnischen Blick, grob und ungerecht: »Nur ein bißchen Geduld! Die Dänen werden mir bald einen Fußtritt versetzen, dann können Sie drankommen.«

Heute lag die Sache umgekehrt, Lindenhahn bat, daß der Küster ihn in der Klasse für ein Paar Stunden vertrete, und fand williges Gehör. »Wird besorgt, mein Kollege! Kann ich leicht ... mit meinen Knabenhelfern könnte ich gleichzeitig vier Klassen haben ... wollen wir wetten?« Der bescheidene Mann wurde zum Großsprecher, nur um sich und anderen eine Vollkraft, die er nicht mehr besaß, vorzutäuschen.

Der Lehrer ging und seufzte tief, als er die Türklinke seiner Wohnung herunterdrückte. Stand ihm etwas Schweres bevor? Er streichelte die blasse Frau und lächelte ihr zu, als wenn nichts sein Herz bedrücke. Alle seine Sorgen, auch das Grauen und Gespenst, das ihn verfolgte, wurden der Kranken verschwiegen und verheimlicht. »Meine Ottilie, erschrick nicht! Unser Liebling ist ja, wie sein Riesenappetit beweist, kerngesund bis auf die schwachen Beine ... wegen des Gehens möchte ich ihn mitnehmen nach Norderhusen und Rat suchen ...«

Die Frau fuhr hoch im Stuhle. »Er darf nicht gequält werden, die Aerzte fassen ihn so hart an, die englische Krankheit wird sich schon geben ... aber manchmal ist es so, als wenn er mich gar nicht kennt.«

Lindenhahn lächelte krampfhaft. »Unsinn, meine Liebe! Sieh mal her! Der Junge hat ja einen Schädel, ein gewaltiges Gehirn und wird ein großer Denker, ein zweiter Hegel werden. Mein Sohn soll aus der Schulmeister-Misere heraus, ich schlüge ihn tot, wenn er Lehrer werden wollte!«

Der Lehrer sah aus dem Fenster, um das zuckende Gesicht zur Ruhe zu bringen, und kehrte sich wieder um. »Ich muß auch um meinetwillen in die Amtsstadt, ich will vor Amtmann und Propst noch einmal auf dem Bauche rutschen.« Er wurde rot, weil er log, und redete überstürzt weiter. »Ich halte Schleswig-Holstein für verloren und unseren Kampf für hoffnungslos, im allerbesten Falle wird Schleswig geteilt, und unser Nordschleswig wird unbedingt dänisch werden. Wenn doch einmal gekrochen und das Lied der Dänen gesungen werden muß, warum soll man nicht ein paar Wochen früher und mit dem Schein der Freiwilligkeit zu Kreuze kriechen und Dänenspeichel lecken? Wir müssen nachher ja doch, um nicht zu verhungern, den Tappre Landsoldat singen.«

Die Frau schrie erschreckt: »Gottlieb, du willst ein Ueberläufer, ein Däne werden?«

Er schüttelte beruhigend den Kopf, als wenn es ein bitterer Galgenscherz sei. »Ottilie, du kennst ja mein deutsches Herz.«

In der nächsten Morgenfrühe wurde das Büblein eingepackt und eine Brot- und Wurstration für drei Mann – der Kleine aß ja für zwei Erwachsene – im Wagen verstaut. Lindenhahn küßte zärtlich seine Frau und bat vorsorglich: »Weil ich die Nacht fortbleibe, bin ich deinetwegen in Angst und die Nacht fürchte ich am meisten, denn wir haben Vollmond.« Seine Stimme flüsterte von dem ängstlich gehüteten Geheimnis des Hauses. »Beuge allem vor ... schließe alle Türen von innen fest zu und lege die Schlüssel in kaltes Wasser, stelle auch die Schalen mit eiskaltem Wasser um das Bett her, damit du im Falle, daß – mit den Füßen hineintrittst und erwachst ... versprich es mir!« –

Lehrer und Sohn saßen vorne auf dem Ferkelwagen des Bauern, der sie umsonst mitnahm. Lindenhahn ging in Norderhusen nicht zu dem Physikus und nicht zu den Aerzten der Stadt, die so teuer und von dem armen Vater schon konsultiert waren.

In der Badstubenstraße wohnte die alte Malle Mogens, die weit berühmte, weiseste Frau im ganzen Amte, die alle Krankheiten, daran die Kunst der Aerzte scheiterte, mit Sympathie und Besprechung, aber auch mit ungewöhnlichen Arzneien, wie Bärenniere, Hundefett, Froschlaich kurierte. Malle Mogens hinkte an zwei Stöcken, weil sie an den Beinen ewig offene Wunden hatte, konnte nicht sich selber, aber um so besser andere heilen, machte über dem Kinde allerlei Hokuspokus, verordnete ein unfehlbares Mittel und streckte ihre schmutzige Hand nach den Moneten – pro Person einen halben Taler, Kinder die Hälfte – geschwind und gierig aus. Lindenhahn schrieb sich im Wirtshaus die kuriose Verordnung auf, um ja nichts zu versäumen. Das Kind solle bei Vollmond um Mitternacht durch eine gespaltene Eiche dreimal gezogen werden, ohne daß ein Wort gesprochen werde.

Der bedauernswerte Lehrer, der immer mehr auf den Hund und jetzt sogar – wie Saul – auf die Hexe gekommen war, hatte sich entschlossen, nicht dem Propsten, sondern einem anderen mächtigen Manne seine Aufwartung zu machen. Bei der Krämerfrau brachte er das Kind unter.

Der Weg nach dem Dorfe des berühmten Laurids Skow war weit. Des Wanderers Schritt wurde schwer und zögernd, als der Bauernhof hinter den Knicks sich zeigte, sein Gewissen schlug, eine Stimme sagte: Kehr um, kehr um! Eine andere raunte: Nach ein Paar Monaten mußt du ja doch heucheln oder hungern, darum heule mit den Wölfen, denke an Frau und Kinder! Um der Liebe willen mußt du ein Notlügner und Notlump sein.

Laurids war zuvorkommend, ließ gastfrei, wie alle Nordschleswiger, Brot, Bier und Branntwein bringen und sagte mit einem verschmitzten Lächeln: »Ja, ja, die Ratten verlassen das Schiff. Ist auch hohe Zeit, mein lieber Herr Schulmeister, und kurz vor Toresschluß. Wir nehmen die Verführten und Reuigen gern auf, wenn sie der verdammten Schleswig-Holsteinerei abschwören und Südjüten werden. Ich verlange immer von den sogenannten Ueberläufern einen schriftlichen Revers, um sie in ihrem Vorsatz und gegen Versuchungen zu festigen. Wollen Sie den unterschreiben?«

»Ja, gewiß.« Dem armen Lehrer war zumute, als wenn er dem Satan seine Seele verschreibe.

Skow nickte befriedigt. »Die Unterschrift wird nicht Ihr Schade sein, Sie bekommen, ehe das Jahr zu Ende ist, eine Küsterstelle ... was Laurids Skow sagt, ist wie das Wort des Königs.« – Nun ging die Eitelkeit mit dem Bauern durch, er prahlte und protzte. »In Hyllerup ist doch der alte, halbverrückte Küster, der mit den Dungeimern läuft und vor Deutschtum riecht ... der meerumschlungene Krippenbeißer muß weg, den kann ich in acht Tagen abwimmeln ... hm, das glauben Sie wohl nicht? Ich, der simple Bauer, gehe in Kopenhagen ins Schloß hinein und spreche mit unserem guten König Frederik, wie mit meinesgleichen ... ich habe auch mehr als einen steifen Grog mit ihm getrunken, und dann geht es sehr gemütlich her ... »Prost, Laurids!« – »Prost, Majestät!« Ja, das ist ein König des Volkes. Sogar bei unserem großartigen Amtmann« – der schien in seinen Augen noch mehr und noch majestätischer zu sein – »bei dem Geheimen Konferenzrat werde ich sofort vorgelassen, und meine Wünsche werden beachtet. Also, der verschrobene Küster wird ausrangiert, Sie bekommen die Stelle. Aber die Voraussetzung ist: Bekehrte Hunde müssen bissige Hunde sein, und dieses Glaubensbekenntnis müssen Sie unterschreiben!«

Das Schriftstück war ein politischer Exorzismus, darin Lindenhahn allem Aufruhr, aller schleswig-holsteinischen Teufelei und Teutscherei entsagte und als guter Südjüte zu leben und zu lehren versprach. Seine zitternde Hand malte einen Namen hin, der mit seiner sonstigen Unterschrift wenig Aehnlichkeit hatte.

Skow schenkte Bier und Branntwein ein, ließ den neuen Südjüten leben und lachte witzig: »Ha, jetzt kommen sehr viele Heimdeutsche zu mir und bitten: Hilf, Laurids! Die Lehrer in Nordschleswig ... in Südjütland« – das Wort war selbst ihm noch nicht geläufig – »werden mich noch zu ihrem Schutzpatron und zum heiligen Laurids machen.« –

Lindenhahn fuhr nach Hause, und ihm war schreckhaft ums Herz, als wenn er seine Seele dem Bösen verschrieben habe.

Am nächsten Nachmittag irrte er bleich und verstört im Walde hin und her, zu den Bäumen emporschauend und den Kopf schüttelnd. Wollte er einen Baum und des Judas Ende erwählen? Nein, er war ruhiger geworden und suchte eine gespaltene Eiche, die er auch nach langem Suchen fand.

Um Mitternacht im Mondenscheine schob der aufgeklärte Lehrer dreimal seinen Knaben durch den Spalt, und das Büblein brüllte bei der Prozedur aus vollem Halse.

Ach, der belesene, wissensdurstige Mann war tief gefallen und in den Sumpf des Abfalls und des Aberglaubens tief hineingeraten.

Das Mittel der Malle Mogens hat nicht geholfen und nichts geheilt, weder die zu kleinen Beine noch den zu großen Kopf. Wahrscheinlich ist durch das Brüllen die Wirkung und Weihe der Zauberei verloren gegangen. –

Während des Berliner Waffenstillstandes, als die Firma Tillisch-Eulenburg im Herzogtum Schleswig Herr war, lag eine tieftrübe Stimmung über dem ganzen Lande, ein tiefes Mißtrauen gegen die deutsche Bruderhülfe, eine bange Ahnung von dem häßlichen Ende des herrlichen Freiheitskampfes und ein noch grimmerer Haß gegen die Dänen, die jetzt Schleswig als sichere Beute betrachteten und als dänische Provinz zu behandeln begannen. Jeder Deutsche sah mit Zagen und mit Zorn in die Zukunft. Preußen war vom Knutenkaiser eingeschüchtert worden und hatte seine Hand von Schleswig-Holstein abgezogen. Deutschland verkroch sich vor dem Dänenkläffer. Es war eine Schande geworden, ein Deutscher zu heißen. Wer dieser schmählichen Zeiten gedenkt, dem muß die Wange schamrot werden.

Im Lande Schleswig sah man nur vergrämte Gesichter. Die Not des Vaterlandes fraß am Herzen, und die Unsicherheit der eigenen Existenz verdüsterte das Antlitz. Kein Beamter, kein Pastor in Nordschleswig wußte, ob er nicht schon übermorgen auf die Straße geworfen sei. Herr von Tillisch hatte eine infernalische Lust, in Nordschleswig einen großen Kehraus, einen allgemeinen Beamten- und Pastorenschub ins Werk zu setzen. Irgendwelche zarte Rücksichten auf die Familienväter bekümmerten ihn nicht, nur die Furcht, daß Deutschland vielleicht sich nicht ungestraft ins Gesicht schlagen lasse, hielt ihn zurück und verzögerte die Brutalität. Um ihr Mütchen zu kühlen, haben die Dänen einige besonders verhaßte Bekenner ihres Deutschtums aus dem Amte, in Elend und Armut getrieben. Jedes amtliche Siegel, das die Post brachte, jagte in jenen bösen Zeiten einen argen Schreck ein.

Auch dem Pastor Fangel fuhr es in alle Glieder, als ein Schreiben ihn vor den Amtmann zitierte. Tief niedergeschlagen saß die Familie um den Tisch und beratschlagte.

»Nach allen Anzeichen steht eine schwere Heimsuchung vor unserer Tür, ich fürchte, daß wir bald Hyllerup verlassen müssen.«

»Was soll dann aus mir werden?« rief Klaus, als wenn das die allerschlimmste Sache und Sorge sei.

»Das Dienstland nimmt natürlich der Nachfolger,« nickte der Vater, »die Pferde und Kühe und das Inventar wird verkauft ... ein Glück noch, daß der Erlös uns eine Zeit lang über Wasser hält und vor dem Aergsten bewahrt.«

Klaus machte einen impertinenten Vorwurf. »Daß ihr auf dieser großen Stelle nichts, rein gar nichts erspart habt in dreißig Jahren, das kann ich nicht und das kann kein Mensch begreifen.«

Die Mutter wurde böse. »Du willst sagen, daß wir Verschwender gewesen sind?«

Der Vater blieb sanftmütig. »Der Erlös aus dem Inventar ist ja unser Erspartes, unser Notpfennig.«

Der Sohn verriet seine geheimsten Gedanken. »Das habe ich durch Fleiß und Sparsamkeit auf solche Höhe gebracht, das sollte doch mir einmal eine Existenz gründen, denn ich habe keinen Heller bekommen und Heimreich hat Tausende verstudiert. Ich sehe alles kommen ... der Erlös wird aufgezehrt ... und ich kann nach Amerika gehen, um als Knecht zu arbeiten. Warum schickt ihr euch nicht in die Zeit? Wenn Vater nur ein wenig dem Propsten nach dem Munde redet, wird man ihn in Hyllerup lassen.« Klaus ging hinaus und warf die Tür ins Schloß.

Der Pastor sprang hoch und rief ihm nach: »Dein Vater ist kein Mantelträger, kein Kriecher und Verleugner.« – –

In der Nacht hatte es gefroren, unter den Rädern knirschten die Eistümpel. Pastor Fangel saß, in den Pelz gehüllt, in seiner Halbchaise und hing schweren Gedanken nach. Wenn wir in Armut sitzen und alles, auch dieses Erbstück, der Biberpelz, verkauft werden muß ... ach, mein Gott, schließe vorher meine Augen! Aber was soll aus meiner Frau und meiner Hilde werden? Heimreich wird als Insurgent niemals von den Dänen eine Anstellung erhalten und kann sie nicht versorgen. Mein Gott, du bist unser Vater und Versorger.

Der Amtmann ließ den auf zwölf Uhr Zitierten eine volle Stunde im Vorzimmer warten, um den alten Herrn zu demütigen. Endlich durfte Fangel vor dem ungnädigen König von Norderhusen sich verneigen, der Konferenzrat nickte kaum und fragte höhnisch: »Sie haben wohl eine Pfründe im großen Vaterlande in Aussicht ... nein? Ich mußte es annehmen, da Sie partout ihres Amtes entledigt werden wollen. Wir werden Sie ohne Pension entlassen.«

»Darf ich wissen warum?«

»Das wissen Sie schon ... unser König kann keine aufsässigen Diener der Kirche gebrauchen. Sie haben aus Trotz im deutschen Aufruhrgeist es unterlassen, die Reskripte des Königs zu publizieren.«

»Nein, fast alle Geistlichen des Landes, und ich mit allen anderen, haben sich geweigert, etwas Unrechtes und Ungesetzliches zu tun. Wir sind auf den Herzog vereidigt worden, und wir dürfen nur herzogliche Erlasse, aber nicht Reskripte des dänischen Königs von der Kanzel verlesen.«

»Eine lächerliche Haarspalterei!«

»Nein, es wäre Hochverrat, solange Schleswig noch ein Herzogtum ist.«

»Das Scheinherzogtum wird bald aufhören, und Ihre Widerspenstigkeit wird Ihnen Ihr Amt kosten.«

Der Pastor zeigte Mut und Standhaftigkeit. »Ich und meine Amtsbrüder stehen in Gottes Hand.«

»Auch ein klein wenig in und unter unserer Hand, haha.«

Fangel beachtete den Hohn nicht und versetzte dem Amtmann einen feinen Hieb. »Alle Pastoren haben sich geweigert, gegen Recht und Eid zu handeln ... ich nehme daher an, daß alle entsetzt werden ... die Massenabsetzung der gesamten Geistlichkeit hat etwas Grauenhaftes, aber die Gemeinsamkeit des Geschicks, das uns trifft, hat auch etwas Tröstliches, Herr Amtmann.«

Der Konferenzrat knirschte förmlich mit den Zähnen, denn er war an die schwache Stelle seines Standpunktes erinnert worden und hatte längst sich selber gesagt, daß die einmütige Auflehnung der gesamten Geistlichkeit die Repressalien erschwere, daß man wohl ohne Aufsehen ein paar Pastoren fortjagen könne, eine Massenabsetzung aber ein ungeheures Geschrei erregen werde und ein reines Ding der Unmöglichkeit sei. Was er selbst mit Aerger erwogen, hatte dieser Dorfpastor ihm mit Ruhe ins Gesicht gesagt. Darum fuhr die Wut in den König von Norderhusen, der die Tür hinter Fangel aufriß und keifend schrie: »Gehen Sie, gehen Sie zum Propsten, der auch mit Ihnen ein Hühnchen zu rupfen hat! Ich gebe Ihnen mein Wort darauf, daß Sie die längste Zeit Pastor in Hyllerup gewesen sind.«

Propst Hertel fing süßlich an. »Lille Fangel, ick habe Sie mitsuteilen, daß Sie mir betrübt haben. Das srecklicke Kirchengebet der Insurgenter-Regierung ist annulliert und streng ferboden worden, ick habe an meine Pastores das neue, sjöne Kirchengebet für unsren gnädicksten Könick versjickt, aber Sie haben nicht für unsren guden Könick gebetet ...«

»Darf ich mich rechtfertigen? Viele Amtsbrüder haben, als das Kirchengebet der provisorischen Regierung verboten wurde, jedes Gebet unterlassen, ich habe jedoch auf der Kanzel den Schutz des Allmächtigen erfleht für unseren Herzog ...«

»O–h, au–h!« Der Propst heulte wie ein Hund, der die Glocken hört. »O–h, das ist noch srecklicker ... Sie haben gebetet für den Hersog, den fersworenen Augustenburger ... das ist Aufruhr, Gotteslästerung, Teufelsanbetung auf die Predigtstuhl ... lille Fangel, wer nich für mich ist, der ist mir suwider.«

»Hören Sie mich doch! Ich habe ja für unseren Herzog, den König Friedrich, gebetet.«

»Unsere Ohren können das gräßlicke Wort Hersog nich fertragen. Wer Hersog sagt und Sleswigholstein mit swei Bindestriche sreibt, is ein Insurgenter. Lille Fangel, Sie werden Ihr sjönes Amt fersmerzen müssen, Sie kriegen Ihren Reisepaß. Ick rate Sie gut ... gehen Sie freiwillick nach die grose Faderland, dort wird man Sie zum Bisjof Fangel machen.«

»Ich werde Nordschleswig nicht verlassen. Gab mir die Heimat so viele gute Jahre, muß ich auch die bösen mit ihr tragen.«

Hertel konnte sein Teuflein nicht länger bändigen und lachte hämisch: »Sie haben ja einen grosen Sohn, der bei die Insurgenter Oberst werden und seine Fader und Mudder fersorgen wird.«

Fangel kehrte dem Präpositus den Rücken zu. Traurig war die Heimfahrt. An der baldigen Entlassung und Amtsentsetzung ohne Untersuchung, Gericht und Urteil war kaum zu zweifeln. Die treue Gattin auf das Unglück vorzubereiten, war ihm eine sehr schmerzliche Pflicht.

Aber am Abend, als er alles sagte, hat sie zu seiner frohen Verwunderung weder geweint noch geklagt, sondern sie hat ihn getröstet. »Wir werden in unserem Alter nicht umkommen, mein Sutor, wir werden die paar letzten Jahre des Lebens Nahrung und Kleidung haben oder von Gott abberufen werden.«

Die Pastorin, die sonst so laut ihr Leid äußerte, ging mit jenem stillen Schmerze, der am tiefsten sitzt, umher. Ueberall, wo sie ging und stand, kamen schmerzliche Erinnerungen und Abschiedsgedanken. Das blanke Kupfergerät in der Küche hatte sie zu ihrem ersten Geburtstage in Hyllerup erbeten und von dem lächelnden Gatten, daß die Stelle solchen Luxus erlaube, sofort erhalten. Wohin würde es in der Auktion wandern? Alles Federvieh im Hofe war unter ihren Händen aufgewachsen. Wer würde es kaufen und schlachten? Die arme Frau wischte sich die Augen. Im Garten waren die Gravensteiner unter ihrer Aufsicht gepflanzt, unter ihrer Obhut gepflückt worden Herbst um Herbst. Wer würde nach ihr die herrlichen Aepfel lesen und in der duftenden Kammer hegen? Eine dänische Pastorin, eine fanatische Kopenhagenerin! Das war ein wehevoller Gedanke für die kerndeutsche Pfarrfrau! Die Spargelbeete waren genau so alt wie Hilde und trugen noch wie seit Jahren. Wer würde zum Lenz die zarten Schößlinge stechen? Ueberall nichts wie Schmerz und Abschiednehmen.

Alle Tage hing das gezückte Schwert der willkürlichen Entlassung über dem trauten Pfarrhofe. Entsetzlich, unerträglich ist dieses ewige Warten auf ein Unglück, das kommen muß. So oft eine Post gebracht wurde, schlug jedes Herz in erwartungsvoller Furcht, und die Finger, die einen Brief anfaßten, zitterten heftig. Jedes Schreiben von unbekannter Hand wurde von angstvollen Augen umringt; und mit Zagen öffnete der Pastor es: Das wird es sein! Das wird die üblichen ominösen Worte enthalten ... der Pastor Sutor Fangel ist seines Amtes entledigt. Ohne Disziplinaruntersuchung, ohne Angabe von Gründen! So brutal war mit einigen Deutschen, die den Dänen besonders lästig und »suwider« waren, verfahren worden.

Die Pastorin fing an zu kränkeln. Der strenge Winter griff ihre Gesundheit noch mehr an und warf sie aufs Krankenlager. Sie wollte keinen Arzt, der zuviel koste, haben, sondern mit Kamillentee sich selbst kurieren. Aber die Wangen fieberten, in ihren Gesprächen redete sie beständig nur von ihrem Sohne Heimreich. Darum ließ Fangel den Physikus in Norderhusen um einen Besuch bitten, Lehrer Lindenhahn, der in der Stadt war, um den Arzt zu konsultieren, hatte es bestellt.

Lindenhahn besuchte zuerst den Propsten, hörte nur Erfreuliches und murmelte auf der Straße: »Das wird glücken, Laurids Skow hat sein Wort gehalten ... Gott sei ...« Mitten im Gebet brach er ab, als wenn er Gott für das Glück nicht danken dürfe, sprach aber mit sich selber, wie er es in der Erregung zu tun pflegte. »Lauritzen sträubt sich wider die ewige Weltordnung, daß die Alten den Jungen Platz machen müssen ... im Daseinskampfe behält der Hungrigste und der Stärkste das Feld. Das Mitleid muß das Maul halten. Ich leide Not und habe das heilige Anrecht des Hungers ... der Küster hat sich ein kleines Vermögen ergeizt und kann völlig sorgenfrei leben.«

Lindenhahn versuchte sein Gewissen in Schlaf zu schwatzen.

Es war die Sprechstunde des Physikus. Der Lehrer trug sein armes Büblein ins Zimmer, schilderte das rätselhafte Stagnieren des Körpers und Geistes und bat mit Tränen, ihm nichts zu verschweigen. Der ergraute Arzt untersuchte den Knaben, seufzte und sagte: »Das arme Kind hat keinen Geist und wird keinen Geist haben.«

Lindenhahn stürzte totenblaß aus dem Sprechzimmer. Sein Todesurteil war gefällt, sein Zukunftstraum, sein schöneres Neuleben im Sohne zerschmettert, vernichtet. So groß aber war seine schonende Liebe, daß er es seiner Frau verschwieg, daß er mit übernatürlicher Kraft seine Verzweiflung ihr verheimlichte, obgleich seine Ottilie es ihm sehr schwer machte und durch ewige Fragen seine gequälte Seele peinigte.

Der Lehrer horchte in den Tagen aufgeregt auf jedes Rädergerassel und rannte ans Fenster, wenn ein fremder Wagen ins Dorf fuhr. Er wußte wohl warum. Der große Laurids Skow war auch ein Prophet, der eine Schulvisitation geweissagt hatte.

Und der Visitator erschien. Propst Hertel stieg aus der Halbchaise und fing mit der Küsterklasse an. Sein erstes Wort war ein Tadel: Daß der Lehrer es sich möglichst bequem und die besten Schüler zu Hülfslehrern mache, sei ganz unpädagogisch und ganz unstatthaft, sofern die hellsten Schüler nicht gefördert und nur benutzt würden, um den Kleinen die Buchstaben beizubringen und dem Lehrer die Arbeit abzunehmen.

Der Propst stellte dann eine theologische und eine törichte Frage. »Wie lautet die Weissagung des Propheten Micha vom Messias?« – »Wie dick war das Seil der Delila?«

Lauritzen trat näher und neigte den Kopf: »Herr Propst, das ist zu hochstudiert für uns ... können Sie uns die Frage beantworten?«

Hertel brüstete sich. »Ich bin hier Examinator und nicht Examinand.«

Jetzt wurde alles in der Klasse, vom Lesen bis zum Singen, aufs gründlichste kritisiert.

Der Küster, der längst Lunte gerochen hatte, lachte ingrimmig in sich hinein und klopfte – wahrhaftig, er klopfte den Propsten auf die Schulter und sagte im treuherzigsten Tone: »Mein lieber Propst, wir wollen keine langen Fisimatenten machen. Da Sie jedenfalls einen guten Dänen für meine Küsterstelle und meinen Abschied in der Tasche haben, wollen wir einander Adjüs und Dank für alles Gute und Schlechte sagen.«

Der Visitator war innerlich entrüstet, lächelte aber arglistig: »Ei, Sie seien ja ein ganses Original, ein präcktick aufricktiger Mensj. Lille Lauritzen, sagen Sie ehrlick und frei von der Leber« – jetzt klopfte der Propst den Küster auf die Schulter – »seien Sie nicht im Herzen ein bissen sleswigholsteinerisj? Heraus mit die Wahrheit!«

Der Küster blickte groß und sehr von oben herab auf den Propsten herunter.

»Ein klein bißchen schleswigholsteinisch soll ich sein? Nein, lille Hertel!«

»Seien Sie aufricktig!«

»Ja, ganz schleswig-holsteinisch, mit ganzem Herzen, ganzer Seele und ganzem Gemüt, mit allen Gedanken und Gefühlen bin ich Schleswig-Holsteiner durch und durch, vom Scheitel bis zur Sohle! Mit allen meinen Gebeten erflehe ich den Sieg der gerechten Sache, mit allen meinen Wünschen wünsche ich die dänischen Pastoren und Pröpste dahin, wo der Pfeffer wächst.«

Dem alten, ehrlichen Küster war das Schweigen und Schwänzeln, das Verstecken und Verschließen seiner Ueberzeugung längst eine Feigheit, ein Greuel und eine Gewissensnot gewesen. Jetzt wurde er zum Bekenner, der seinen heiligen Zorn vom Herzen herunterschrie und dem Propsten ins falsche Antlitz schleuderte.

»Sie Insurgenter, In-sur-gen-ter!« Während Hertel dieses Schimpf- und Schreckenswort wohl zehnmal wiederholte, wandte Lauritzen sich kaltblütig an die Klasse, der er eine ergreifende Abschiedsrede hielt.

Der Propst, der einen förmlichen Wut- und Dummkoller hatte, keifte und kreischte: »Sie Insurgenter! Ick ferbiete Sie, su unterrickten und die Kinder su fergiften ... Sie seien entlassen ... verstanden Sie mir? Auf dem Platse und ohne Pension seien Sie entledigt! Aus dem Sjulhause herr-raus!« Der Propst stampfte mit dem Fuße.

Lauritzen stampfte und trumpfte noch fester mit seiner festen Stiefelsohle. »Ich habe schon meine Entlassung genommen, und Sie haben mir, dem Privatmanne, nichts mehr zu sagen. Verstehen Sie mich?« – Hertel hüpfte aus Furcht vor einem tätlichen Angriff hinter das Pult. – »Nein, ich fasse keinen Propsten und kein Pech an, um mich nicht zu besudeln. Lille Hertel, noch ein letztes Wort! Halten Sie die Holzschuhe stets bereit, denn die Deutschen werden plötzlich kommen und Ihnen den Abschied, die Entledigung, geben.«

Der Küster ging ruhig in seine Wohnung, zog den Kittel an und trug die letzten Dungeimer aufs Feld, auf dem fortan ein anderer ernten sollte.

Als der heftig echauffierte Visitator die zweite Klasse betrat, dienerte Lindenhahn vorn und hinten. Um sich erst zu erholen, befahl der Propst: »Lassen Sie mal hören, wie und was die Kinder singen können!«

Der Lehrer verstand den Wink, strich über die Geige und spielte den »Tappre Landsoldat«, den die Klasse aus vollem Halse sang. Der Propst war sehr erbaut von dem Liede und kargte nicht mit dem Lobe.

Am Schluß der Inspektion erhielt Lindenhahn drei pröpstliche Finger und die tröstliche Verheißung, daß er das Küsteramt erhalten und von heute an interimistisch verwalten solle.

Der arme Lehrer dankte devot, machte aber einen scheuen und vergrämten Eindruck. Seltsamerweise verheimlichte er seinem Weibe das nahe bevorstehende Glück und die baldige Erlösung von der Hungerleiderei, denn er fürchtete sich, seiner kranken, aber kerndeutschen Frau zu bekennen, welchen furchtbaren Preis der Verleugnung er für die Küsterstelle gezahlt habe.

Seine Ottilie erzählte ihm: »Im Pastorate muß es schlimm stehen, der Physikus kommt alle Tage ... gehe doch mal ins Pfarrhaus, um unsere Teilnahme zu zeigen!«

Er sagte Ja-ja und ging nicht hin, denn er wagte nicht dem Pastor unter die Augen zu treten. –

Der Physikus nannte die Krankheit ein schweres Nervenfieber und schrieb immer neue Rezepte. Die kranke Pastorin lag mit hochrotem Kopf in dem hochgeschichteten Federbett und litt von der unerträglichen Körper- und Zimmerhitze, aber auf ärztlichen Befehl durfte kein Fenster geöffnet, kein Luftzug hineingelassen werden. Hilde und der Vater waren bei der Mutter und wachten abwechselnd. Die Kranke hatte Fieberphantasien und nur am Morgen ein klares Bewußtsein. Dann sprach sie vom Scheiden.

»Mein Sutor, ich lasse dich allein ... aber Hilde wird ganz in meiner Weise für dich sorgen – ich hab' es ihr auf die Seele gebunden, und sie hat es mir gelobt – am Sonntagshemd werden alle Knöpfe festgenäht sein, daß du dich nicht zu ärgern brauchst ... am Samstag wird sie am Fenster sitzen, um die Bauern abzufangen, damit sie dich nicht beim Memorieren stören ... bei Leichenreden am Grabe weiß sie genau, wie sie dich einpacken muß, damit du dich nicht erkältest ... heißes Wasser zum Rasieren und zum Reinigen der Pfeife wird pünktlich auf dem Tisch stehen ... wenn sie unsaubere Schnupftücher aus deinen Taschen nimmt, wird sie stets ein reines an die Stelle legen ... weißt du doch, das war der erste Verdruß in unserer Ehe und dem erster Verweis, als ich das Tuch fortgenommen hatte und du dich in der Sakristei mit den Fingern ...«

Die Schwerkranke kicherte leise. »Ja, Hilde hat sich alles aufschreiben müssen. Mir ist gar nicht bange vor dem kalten Bett da oben unter der Esche. Gott holt mich wohl rechtzeitig von Hyllerup ab, damit ich nicht das Unglück des Vaterlandes, die Frechheit der Dänen sehen soll. Gott ruft mich ab, um mir den Abschied vom Pastorate, das Weh der Verbannung zu ersparen. Nur eins drückt mir das Herz ab, daß du hier bleibst, und wo du bleiben wirst.«

»Sorge dich nicht, meine Gertrud! Mein Gott wird mich die paar Jahre, die ich noch habe, nicht verlassen ... und du wirst genesen.«

»Nein, nein, ich sterbe, ohne unseren Heimreich noch einmal gesehen zu haben ... o, o, ich kann nicht scheiden, nicht sterben, ehe ich sein Antlitz gesehen, sein Haar gestreichelt, sein Haupt gesegnet habe.«

Die Kranke fing an zu schluchzen. Immer wieder äußerte sie den einzigen und letzten Wunsch, ihren jüngsten Sohn noch einmal zu umarmen.

Der Pastor zog die Stirn in tiefe Falten. »Wenn ich ihm nach Lunden schreibe, würde er wahrscheinlich in Zivilkleidung nach Hause sich schleichen und alle Rücksichten auf sich selbst außer acht lassen ... aber als Vater darf ich nicht die Anregung dazu geben, kann ich nicht die Verantwortung für ein so tollkühnes Unterfangen auf mich laden. Die Gefahr ist zu groß ... wenn die Dänen ihn abfassen, wären sie imstande, ihn als Spion füsilieren zu lassen.«

»Nein, nein, er darf nicht kommen, ich will ja sterben, ohne ihn geküßt zu haben ... o, o, ich kann nicht sterben ... gib mir sein Bild, sein liebes Bild!«

Die alten Augen betrachteten das mäßige Porträt, das ihn als Studenten darstellte, und begossen es mit Tränen. Sie weinte sich die Augen aus nach ihrem Heimreich, und selbst in ihren Phantasien wimmerte sie fortwährend seinen Namen.

Es schnitt den Angehörigen ins Herz, die Qual, das Sehnen und Schreien des Mutterherzens zu sehen und zu hören. Der Pastor ging hinaus und mußte sich Gewalt antun, um grausam fest und hart zu bleiben. Doch er schrieb nicht an Heimreich, denn er war ein sehr gewissenhafter Mann.

Klaus, um seinen Bruder sehr besorgt, verlangte sehr energisch, daß demselben nichts mitgeteilt werde; denn, wenn Heimreich den Zustand und den Wunsch der Mutter erfahre, werde er unbedingt nach Hause laufen und in sein Unglück hineinrennen. Oder wollte er seinen Bruder von Hyllerup fernhalten?

Bodil hatte sich erboten, für die arme, abgehetzte Hilde eine Nacht um die andere die Krankenwache zu übernehmen.

Frau Gertrud phantasierte, weinte und wehklagte die ganze Nacht von ihrem Heimreich. Die Tochter konnte es nicht länger anhören, nicht länger die Not der Mutter ertragen; ihr gutes Herz wurde matt und schwach, ihr Gewissen sagte entschuldigend, daß man den letzten Wunsch einer Sterbenden erfüllen müsse. Hilde schrieb an ihren Bruder, an den Leutnant Fangel in Lunden.

Der Fähnrich war nämlich bald nach der Mordnacht zum Leutnant befördert worden. Er öffnete ahnungslos den Brief, der die hoffnungslose Erkrankung der Mutter nicht länger verschwieg. Erschüttert warf er sich auf das Kanapee hin und schluchzte verzweifelt. O, ich lebe in den Tag hinein, während meine Mutter ihren letzten Kampf kämpft. O, ich werde keine frohe Stunde mehr haben, wenn ich zu spät komme und ihre treuen Augen geschlossen finde. Nicht weinen, nicht weinen, sondern denken, handeln, eilen und noch in dieser Stunde fahren!

Er riß die Uniform herunter und erwog dann erst, daß er Urlaub haben müsse. Wenn man mir die Permission verweigert – ich müßte desertieren und für drei, vier Tage fahnenflüchtig werden.

Sein Major bewilligte sofort einen Urlaub – nach der Stadt Schleswig und mahnte zur äußersten Vorsicht. »Die Fahrt nach Hyllerup machen Sie auf eigne Faust, da ich von dem Abenteuer nichts wissen darf.«

Eine Viertelstunde später reiste Heimreich in Zivilkleidung und mit Extrapost nach Schleswig. Die Tante lamentierte: »Sie werden dich als Spion arretieren und totschießen.«

Der Senator Brodersen war ein kluger Mann. »Du mußt dich so verkleiden, daß dein leiblicher Vater dich nicht erkennt. Ich habe einen großkarrierten, verrückten Ulster, den ein spleeniger Engländer, der seine ganze Barschaft im Ratskeller verwettete, mir für fünf Taler, um nach Hamburg zu kommen, als Pfand gelassen und nicht eingelöst hat. Den Ulster ziehst du an, ein Paar blonde Backenbärte, ein Paar richtige Koteletten kaufe ich vom Barbier, und du kannst genug englische Phrasen, um den Englishman zu markieren, den englischen Reporter, der an die Times berichten soll, daß in Nordschleswig ausschließlich dänisch gesprochen wird und dänische Sympathien vorherrschen. Verstehst du mir, wie Wrangel sagt? Verbeiße deinen Patriotismus und spiele deine Rolle gut! Hier sind dreißig Taler für alle Fälle! Wenn sie dich einstecken sollten, vergiß nicht, daß jeder Däne seinen Preis hat und sich schmieren läßt!«

Heimreich fuhr mit der Post nach Flensburg. Erst von Flensburg an war die Reise gefährlich. Der verkleidete Insurgent saß, in traurige Gedanken vertieft, unnahbar und schweigsam, wie ein steifstummer Sohn Albions, und wenn ein Passagier neugierig wurde, antwortete er in einem Kauderwelsch, das kein Mensch verstand. Zum Glück wurde Norderhusen am dunklen Spätabend erreicht. Der ihm nur zu gut bekannte Postmeister dienerte tief vor dem großkarrierten Ulster, dem er ein Nachtquartier anbot.

»Nothing slapen hier! No, in best Hotel, wo bed-bugs, heißt sich Wanzen, nicht biten,« näselte der Engländer hochmütig, und noch tiefer dienerte der Meister der Post.

Heimreich wollte in der Nacht nach Hyllerup marschieren. Er lief förmlich Meile um Meile, die Angst, daß sein liebes Mütterchen sterben könne, beflügelte seine Schritte, der Schweiß strömte an ihm herunter, er merkte es erst, als sein einer Backenbart, von der Nässe gelöst, herunterfiel.

Er steckte die Whiskers in die Tasche und rannte vorwärts. Sein Atem keuchte, sein Herz klopfte, seine Seele betete immerzu: Erhalte mir die Mutter, mein Gott, und wenn sie sterben muß, verlängere ihr Leben um ein paar Stunden, damit ich sie noch sehe und gesegnet werde! – –

Im Dorfe Hyllerup war große Aufregung. Der fürchterliche Spuk war aufgeklärt, das weiße Gespenst, das in Mondnächten viele geängstigt hatte, war in grauenhafter Weise entlarvt worden. Viele Leute standen den ganzen, geschlagenen Tag auf dem Friedhofe unter dem Kirchturm herum, obgleich an dem Ort der Katastrophe nichts zu sehen war. An fünfzig Kinder, die keine Schule hatten, lungerten vor dem Lehrerhaus, schielten scheu nach den Fenstern und flüsterten leise. In dem Hause hatte sich eine furchtbare Tragödie ereignet, der arme Lindenhahn war in dem Augenblick, wo die guten Tage anbrechen sollten, von seinem Schicksal und seiner Schuld zerschmettert worden. In der Wohnung schräg gegenüber saß der Küster gebückt in seinem Lehnstuhle und murmelte zum hundertsten Male: Ich habe durch meine Wahrhaftigkeit die Lawine ins Rollen gebracht und das Unglück angerichtet.

Gestern um diese Stunde fing das Verhängnis an. Von dem Amtmann in Norderhusen kam ein Schreiben, das dem Küster kundtat, er sei wegen unverschämten Betragens von seinem Amte enthoben, habe innerhalb einer Woche seine Dienstwohnung zu räumen und sofort alle seine Funktionen als Küster und Lehrer dem zweiten Lehrer, der zum Nachfolger ausersehen sei, zu übergeben.

Lauritzen lachte nur über die Entlassung, die er erwartet und vielleicht gewollt hatte. »Mutter, wir haben uns soviel erspart, daß wir leben können ... die Dänen können mir sonst was. Nun bin ich kein Küster noch Knecht mehr, sondern ein freier, deutscher Mann, der seine Meinung frei-fröhlich sagen kann.« Die Freiheit war ihm eine Freude, aber die bestürzende Nachricht, daß Lindenhahn sein Nachfolger sei, machte ihn fuchswild. »Mein Kollege ist ein Ueberläufer und Lump ... ich muß es ihm ins Gesicht sagen, was er für ein Subjekt ist, sonst ersticke ich noch an meinem Grimm und meiner Galle.«

Im ersten unsinnigen Zorn lief der Küster über die Straße und ins Lehrerhaus. Furios fuhr er auf Lindenhahn, der eben sein elendes Sirupsbrot aß und sich verschluckte, los. »Servus, Servus, Herr und Frau Küster Lindenhahn! Ich gratuliere zu der Küsterei, die Sie erhalten und erheuchelt haben! Wie schön haben Sie den »Tappre Landsoldat« gesungen, haben Sie vor Laurids Skow gekrochen und gewedelt und dem Propsten meine deutschen Schlechtigkeiten hinterbracht.«

Lindenhahn rang die Hände. »So wahr mir Gott helfe, habe ich von Ihnen nie etwas anderes als Gutes gesagt. Ich bin kein Schurke.«

Frau Ottilie legte den Kopf zurück, als wenn sie ohnmächtig würde.

»Schonen Sie meine kranke Frau!«

Lauritzen schonte nicht im Zorn, sondern schrie: »Ich wollte Ihnen nur sagen ... Sie sind ein grauenhafter Lump! Adieu!«

Lindenhahn zuckte, wie unter einem Peitschenhiebe, zusammen und vertrat dem Küster die Tür. »Nehmen Sie den Schimpf zurück ... nehmen Sie das Geld, das Sie mir geliehen haben! Ihre Beschimpfung ist der blutige Wucherzins, den ich zahle.«

Der Lehrer wäre in seiner Wut gewalttätig geworden, wenn nicht die kreischende Stimme seiner Frau an sein Ohr gedrungen wäre. »Mein Gottlieb, mein Gottlieb, was hast du getan!«

Der Küster verließ das unselige Haus mit einem steinharten Gesicht.

Lindenhahn warf sich in wilder Verzweiflung zu den Füßen seines Weibes, denn er wußte, daß der allerschwerste Kampf noch seiner Seele bevorstände.

»Gottlieb, du bist ohne mein Wissen bei dem berüchtigten Skow gewesen?« Er schwieg. »Du hast dich unterkriegen lassen von der Not ... du hast dein Deutschtum verleugnet, um die Küsterstelle zu bekommen?« Er blieb stumm. »Um deinen alten, braven Kollegen aus Amt und Brot zu verdrängen? O, das ist gemein.«

Da schrie der gemarterte Mann, den sein eigenes Weib verdammte, laut auf. »Jene Sünde habe ich begangen, aber diese Gemeinheit nimmermehr. Gott ist mein Zeuge ... ohne mein Zutun ist der Küster entsetzt worden. Aber das andere ist meine erbärmliche Schuld.«

Die Frau wehklagte: »Wie konntest du vor den Dänen heucheln und einen Skow anbetteln? Pfui, pfui! Ich bin eine deutsche Frau und fühle tief die Schmach und Schmählichkeit ... ich habe mit dir gestritten und Hunger gelitten, ich hätte noch weiter die Not ertragen, ohne zu erliegen, aber unter der Schmach breche ich zusammen, die Schande des Verrates, des Abfalles werde ich nicht überleben ... o wäre ich tot! Gottlieb, was hast du getan!«

Der Vorwurf seines Weibes war zu viel für seine gepeinigte Seele. Alles, alles, was er aus Liebe getan und gesündigt, aus Liebe verschwiegen und verheimlicht hatte, schrie er sich vom Herzen herunter. »Ottilie, um deinet-, um der Kinder willen bin ich ein Lügner und Lump geworden. Weil die Schulden nicht mehr quälen und der Hunger nicht mehr wühlen sollte, um womöglich meinen kleinen Liebling durch ärztliche Kunst vor dem geistigen Tode zu retten, nahm ich die Schande und den bösen Schein des Verrats auf meine arme Seele. Das Schweigen aus Liebe war meine Lüge. Die ganze, grause Wahrheit sollst du wissen. Ottilie, sei stark und stirb mir nicht unter meinen schuldbeladenen Händen! Mein Büblein mit den großen, blauen Denkeraugen ist ein unglücklicher Idiot, ein Körper ohne Seele, ein Gehirn ohne Geist. Der Physikus hat es mir gesagt, daß mein Sohn, meine Zukunft, ein armseliger, verblödeter Trottel bleiben und in vertierter Menschengestalt bis zu seinem Tode hinvegetieren wird. Hörst du nicht das Hohnlachen der Hölle?«

Der unglückliche Mann wimmerte wie ein Kind. Ein irres Licht glühte in den Augen der kranken Frau, die das Fassungslose nach und nach begriff. Ein gellender Schrei durchschnitt die Luft, der Schrei einer Mutter, der ihr Kind ermordet wird. »Mein Büblein ist blöde und wird blödsinnig bleiben!«

»Ob ich schweige oder rede, wie ich handle, bin ich ein Verbrecher,« stöhnte der Gatte.

»Gottlieb, der Verrat ist dein Verbrechen und das geistig tote Kind das Gericht.« Unheimlich, unerbittlich kalt und hart klangen ihre Worte, die ihn wie ein Keulenschlag trafen. Ein Schrei brach aus seinem Munde.

Dann war es Stunde um Stunde still, stumm und starr in der Stube, als wenn ein Mordgeselle sich hineingeschlichen und die ganze Familie erschlagen hätte; sogar die Kleinen hockten im Winkel und wagten vor Entsetzen keinen Finger zu rühren. Lindenhahn stierte den Tintenfleck auf der Diele an. Seine Gedanken machten den Kreislauf der Verzweiflung, bis die Erschöpfung, die Todmüdigkeit eintrat. Er warf sich um zehn Uhr, nur halb ausgezogen, aufs Bett und schlief – eine natürliche Reaktion nach der ungeheuren Aufregung – wie ein Toter. Er hatte ganz vergessen, daß der gefährliche Vollmond nach Mitternacht scheinen werde, ganz versäumt, die Fenster zu verhängen und die gefüllten Wasserschalen ums Bett herum zu stellen. Lindenhahn schlief und schlief.

Die Schläferin an seiner Seite erhob sich im weißen Nachtkleide und ging mit geschlossenen Augen durchs Gemach, durch die Stube vorne. Nur ein Schubfach knarrte und weckte ihn nicht. Eine Spitzenhaube, von der Großmutter geerbt, setzte die arme Ottilie sich aufs Haupt, kunstgerecht knüpften ihre Finger die Schleife. Unheimlich huschte die Schläferin hin und her, beugte sich über das kleinste Bett, hob behutsam das schlaftrunkene Büblein, das weiter schlief, auf ihre Arme und ging, ohne zu tasten, durch Küche und Hof in die mondhelle Nacht hinaus.

Mit geschlossenen Augen, aber jeden Stein, jede Pfütze umschreitend, ganz sicher, von einem rätselhaften Instinkt geleitet, wanderte die Mondsüchtige durchs Dorf, über den Friedhof, durch die Turmtür, die der Glöckner aus Bequemlichkeit offen ließ, und die Stiege hinauf.

»Sieh, sieh! Nun schlag' ich lang hin ... das ist das weiße Gespenst,« flüsterte Rolf Krake, der mit drei Kumpanen im Wirtshaus Karten gespielt hatte.

»Hast du Courage, Rolf, so wollen wir dem Gespenst nachgehen ... wir sind drei stramme Kerle.«

Jeder wollte vor den anderen als starken Mann sich zeigen. Alle viere standen unter dem Turm und schielten nach der offenen Turmtür.

»Da verschwand es! Rolf, geh' du voran! Wir folgen.«

Aber keiner der Kumpane wollte den Vortritt haben.

»Kiek!« wisperte Hans Peder.

Das Gespenst stand oben im Schalloche und beugte sich weit vor über die Schwindel erregende Tiefe. Die Helden, denen das Haar schon zu Berge stand, wollten schon Reißaus nehmen, als Rolf Krake das Gesicht des Geistes im hellen Mondlicht deutlich sah und im unwillkürlichen Erstaunen laut rief: »Das ist ja Frau Lindenhahn! Frau Lindenhahn!«

Welch ein unbedachter, grausamer Weckruf, welch ein entsetzliches Erwachen für die arme Nachtwandlerin! Ein Schrei! Ein dumpfer, klatschender Aufschlag!

Zu den Füßen der jungen, übermütigen Leute lag ein lebloser, auf dem Grabstein zerschmetterter Körper. Als die bestürzten Bauern die weiße Gestalt aufhoben, lag der Knabe, von den Mutterarmen umfangen, unter der Frau, erdrückt, erschlagen.

Sie legten die Leichen auf eine Leiter und trugen sie ins Schulhaus. Unbedacht und rücksichtslos, wie Bauern sind, rüttelte man den Lehrer wach und zeigte man ihm die Leichen, die man in die Stube gestellt hatte. Es war kein Wunder, daß der Unglückliche nach diesem Anblick in Wahnsinn verfiel. Zwei Männer mußten ihn halten, weil er sich den Kopf an der Wand zerschmettern wollte. Er wurde erst etwas ruhiger auf der Fahrt nach Norderhusen, als die Wächter ihn in seinem traurigen Irrwahn, daß er ins Gefängnis gebracht und als Mörder seiner Frau und seines Kindes hingerichtet werden solle, beließen, ja um des bequemeren Transportes willen bestärkten.

Der kranke Mann ist im Krankenhause wieder ruhig und klar geworden, der Verstand, den die Schreckensnacht verrückt hatte, kehrte in seine alten Geleise zurück. Aber der unglückliche Lehrer war mit dreiundreißig Jahren ein gebrochener Mann.

Die Bauern fühlten am ersten Tage ein starkes Grauen, aber am zweiten eine angenehme Befreiung von einem Albdruck und einer Angst, sofern der Spuk eine natürliche Aufklärung gefunden habe und das weiße Gespenst nur eine mondsüchtige Frau gewesen sei.


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