Johannes Dose
Im Kampf um die Nordmark
Johannes Dose

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Siebenter Abschnitt.

Der Held und Lebensretter, der in die Zeitung kommt.

Die dicken Pastorpferde zuckelten im Hundetrab, der Wagen schüttelte auf dem Königswege nach der Amtsstadt Norderhusen. Bei dem Bruder des Pastors wurde eingekehrt und abgespannt, denn der Hardesvogt hatte Stall und Pferde und eine standesgemäße Wohnung, machte ein großes Haus, war als Beamter beliebt und als Gesellschafter berühmt.

Sogar der König liebte seine angenehme Art und Unterhaltung, und der Hardesvogt hatte alle Jahre, wenn Christian VIII. seine übliche Sommer- und Badereise nach Föhr antrat, die hohe Ehre, dem Landesherrn von der Grenze bis Flensburg das Geleit zu geben, und die noch höhere Auszeichnung, oft nicht nur an, sondern in den allerhöchsten Wagen und auf den Vordersitz unmittelbar vor dem gnädigen Angesicht der Majestät befohlen zu werden.

Die beiden Söhne, Christian und Frederik, die in Ehrfurcht und Untertanentreue nach den beiden letzten Landesfürsten genannt worden waren, verlebten die Weihnachtszeit im Elternhause. Der ältere war keine Strebernatur und doch trotz seiner sechsundzwanzig Jahre bereits höherer Beamter mit dem Titel Etatsrat in der deutschen Kanzlei in Kopenhagen, der jüngere, Frederik, stand als Leutnant in Rendsburg.

Der Hardesvogt erzählte gern im allerintimsten Kreise von den Reisen in der königlichen Kutsche. »König Christian erkundigt sich huldvoll nach dem Befinden meiner Familie. Tief gerührt danke ich für die große Gnade, die Seine Majestät meinem ältesten Sohne, der Auskultator auf Gottorp geworden sei, erwiesen habe. Der König hat natürlich keine blasse Ahnung von den Auskultatoren in Schleswig, noch von der Existenz meines nach ihm getauften Christian, tut aber total orientiert und bietet mir seine Tabatiere ... dann ist das Wetter gut. Ich gebe meinem ungeheuren Erstaunen über die enorme Personalkenntnis und das landesväterliche Interesse Seiner Majestät für jeden kleinsten Beamten einen stammelnden Ausdruck, ich rede von dem Fleiße und der Loyalität meines Christian, von der ganz unsinnigen Begeisterung des Bengels für das einzige, unvergleichliche Kopenhagen, ich verrate meine väterliche Furcht, seine Leidenschaft für die Schönheit der Königlichen Haupt- und Residenzstadt könne ihn noch zu dem dummen Streiche verleiten, seine gute Karriere aufzugeben und eine subalterne Stellung in Kopenhagen anzunehmen. Schade um den hochbegabten Burschen! Christian VIII. will einen Witz machen, ich merk's an der Miene, an der Nase, die niesen zu wollen scheint, und ich halte ein passendes Gelächter parat. »Wir deportieren ihn zur Strafe nach seinem lieben Kopenhagen und in die deutsche Kanzlei, mein lieber Fangel, die Leidenschaft muß belohnt werden ... sind leider unter meinen schleswigschen Landeskindern recht viele, die eine solche Passion für des Königs Kopenhagen nicht besitzen.« – Na, der Sohn des lieben Fangel war nach zwei Monaten Etatsrat und wird, so Gott will, bei der nächsten Föhrreise des Königs zum Bureauchef mit dem Rang der Räte dritter Klasse befördert werden. Das war im Jahre 46, Anno 45, als die huldvolle Familienfrage gestellt wurde, antwortete ich untertänigst: Ew. Majestät werden sich meines jüngsten Sohnes erinnern ... »Ja, ja, der junge Fangel, der ...« Er wußte natürlich nichts, und ich half nach ... der nach dem hochseligen König Frederik getauft ist. »Richtig, und was ist mit dem?« – Ew. Majestät werden wissen, daß König Frederik bei seiner Anwesenheit in Norderhusen, bei der Besichtigung des Armenhauses und des Schulhofes, Gefallen an dem adretten Jungen fand, ihn fragte, was er werden wolle, und bei der prompten Antwort »Offizier, Ew. Majestät« gnädig lachte und zu sagen geruhte: »Ja, Gott straf mich, das soll der Knirps werden, wenn er ein Kerl von sechs Fuß Länge geworden ist!« Die Länge hat er, und die Leidenschaft fürs Militär ist ihm nicht auszutreiben. Diese rührende Geschichte, die ich – ganz nett, nicht wahr? – aus dem Aermel geschüttelt hatte, gefiel meinem guten König, er sagte mit Würde und Wohlwollen: »Was mein hochseliger Vorgänger versprach, das halte ich.« Ehe das Jahr um war, trug mein Frederik die Epauletten! Ja, lange lebe und viele Föhrreisen mache unser allergnädigster König!«

»... Und Herzog!« sagten Pastor Fangel und Sohn wie aus einem Munde.

Die Söhne des Hardesvogts waren zwei stattliche Menschen, doch hatte der jüngere ein unsympathisches, dünkelhaftes Air und Auftreten und den hochfahrenden Leutnantston. Sie unterhielten sich mit ihrem Vetter, und Frederik spöttelte. »Jetzt mußt du so peu à peu der Welt und ihrer sündhaft süßen Lust und allen schönen, galanten Passionen Valet sagen ... o die Theologen sind zu bemitleiden.«

Der Hardesvogt hörte es und rief hinüber: »Nein, zu beneiden! Du verdienst ewige lumpige Hunderte, das reine Schreibergehalt, und für deine noblen Passionen muß ich meine Haare lassen ... der Heimreich dagegen wird in ein paar Jahren eine Pfründe von zwei-, dreitausend Talern haben und dich auslachen, vorausgesetzt, daß er neutral zu bleiben und klug zu lavieren versteht.«

Pastor Fangel zog die Stirn in Furchen. »Wir hängen den Mantel nicht nach dem Winde. Heimreich! Bist du noch ein Deutscher?«

»Ja, meine deutsche Abstammung und Gesinnung habe und halte ich, aber ich behalte sie hübsch für mich hier drinnen in der diskreten Brust. Wenn unsere importierten Dänen mit Despekt von dem Augustenburger und seinem berühmten Rückenkratzer, den der Leibdiener abends und morgens eine Stunde lang applizieren muß, erzählen, mit stiller Wut von dem Aufruhrgeiste reden, dann beiße ich die Lippen zusammen, um nicht zu lachen, wenn sie von dem neu entdeckten Erdteil Südjütland, von der heiligen Einheit des Gesamtstaates schwatzen, dann schweige ich ...«

»Qui tacet, consentit!« fiel der Pastor in die Rede. »Der Schweiger und der Schwache muß schließlich den Judasgang antreten, vom Verschweigen zum Verleugnen und zum Verraten ist immer nur ein kleiner Schritt ... wie viele gingen im Grenzlande den Weg ... und du, mein Bruder?«

Der Hardesvogt war einer von den Menschen, die nicht leicht beleidigt werden, war aber in seiner glatten, selbstzufriedenen Ruhe gestört worden und gestikulierte lebhaft.

»Mit den Deutschen spreche ich deutsch und mit den Dänen dänisch, und wenn die Importierten mich in die Enge und zu einem Bekenntnis treiben wollen, sage ich freundlich: Wir wollen ein Glas Wein trinken und unseren gnädigen König leben lassen. Man muß nur verstehen, Hitzköpfen und heiklen Fragen auszuweichen.« Der Hardesvogt ging zur Offensive über. »Wer für seine Familie nicht sorgt, ist ohne Zweifel ein schlechter Kerl. Stelle dir die Not vor, in die ein Prediger, der mit sechzig Jahren auf die Straße gesetzt wird, gerät! Denke an deine schöne, schöne Stelle, die nach dem Inventar ihre dreitausend, in Wirklichkeit ihre viertausend Taler bringt ... oder wieviel ist es?«

»Ich weiß es nicht genau, es schwankt ja, wie die Kornpreise.«

»Na, viertausend werden es gewiß sein ... dafür tue ich es nicht, mit allen Sporteln komme ich auf achttausend Taler.« Der Hardesvogt war wieder in selbstzufriedener, lebensfroher Stimmung. »Wenn du das schöne Amt durch unvorsichtige Reden wegwirfst, bist du ein sündhafter Tor, der gegen seine Familie gewissenlos handelt. Es sind genug da, die auf das einträgliche Hyllerup ein gierig-lüsternes Auge geworfen haben. Neulich habe ich mit dem importierten Pastor Hertel in Böstrup wegen einer Schulsache Rücksprache zu nehmen und lasse, weil ich des Weges fahre, den Wagen halten. Ich werde ins Studierzimmer geführt, wo der Pastor in ein dickes Buch, die Bibel, wie ich annehme, vertieft ist. Als er mich begrüßt hat, wird er durch ein Geschrei im Hofe ans Fenster gelockt und rennt im Schlafrock davon – sein Bengel ist in die Jauchegrube gepurzelt – na, ich werfe einen Blick durchs Fenster, wo sie den brüllenden Burschen an den Haaren aus der Pomadekruke herausziehen, und einen neugierigen Blick in die Bibel ... da will ich auf den Rücken fallen, das dickleibige Buch ist die Beschreibung und Statistik der Pastorate in Schleswig, auf Alsen und Aerö, und das aufgeschlagene Blatt handelt von den Zehnten, den Dienstländereien, Gebührnissen und Akzidentien der Pfarrstelle in Hyllerup, ja in Hyllerup! Das ist das Breviarium des Pastors Hertel, das war sein angestrengtes, theologisches Studium. Glaube mir, mein Bruder! Viele deiner dänischen Amtsbrüder treiben das Bibelstudium, hinterbringen dem Amtmann jedes unkluge Wort aus deinem Munde und brennen auf den Augenblick, wo Hyllerup vakant wird.«

Die Geschichte machte ihren Eindruck. Pastor Fangel wußte ja längst, daß nur die schlechten, die skrupellosen Kandidaten Dänemarks, die Stellenjäger, nach Schleswig gingen. Aber stolz hob er das gesunkene Haupt, und schlicht sprach er die Worte, die ihn ehrten, aber auch banden. »Und wenn sie mich von Haus und Hof, von Amt und Existenz jagen, ich werde niemals durch Stillschweigen meine deutsche Gesinnung verleugnen.«

Der Hardesvogt schüttelte den Kopf. Heimreich blickte mit Bewunderung nach seinem Vater hin und wandte sich an seine Vettern. »Wie bald kann der Tag kommen, wo der Federkrieg zum Waffenkampfe wird und für uns alle schwere Konflikte kommen!« Ach, sein Herz litt und stritt schon. »Wenn Schleswig-Holstein schließlich sein gutes Recht erkämpfen muß, wirst du vor einer schweren Entscheidung stehen, Friedrich ... wirst du deine Uniform ausziehen?«

»Ich heiße Frederik von Fangel,« näselte der Leutnant.

»Von?« sagte der Kandidat ironisch.

»Ja, wir haben den Offiziersadel.«

»Ich meine, das deutsche »von« dürfte ein Däne nicht dulden, warum denn nicht radikal Frederik de Fangel?«

Ohne den Hohn zu beachten, warf sich der Leutnant noch mehr in die Brust. »Für den Offizier gibt's keine Frage und keine Entscheidung! Was mein König befiehlt, das tue ich unbesehen, und damit basta! Das ist Offizierskodex.«

»Nein, Kadavergehorsam! Du würdest auf deine Landsleute schießen lassen?«

»Selbstverständlich, wenn mein König es kommandiert, knalle ich die ganze Schleswig-Holsteinerei mit Kartätschen nieder.«

»O, ein furchtbares, frivoles Wort!«

»Pah, du hast von Offizierspflicht und -ehre keine Ahnung. Wofern mein König mich ins Feld führt, würde ich meinen leiblichen Bruder, wenn er unter den Rebellen föchte, mit kaltem Blut niederschießen.«

Alle erstarrten bei der Blasphemie des brüsken Burschen. Aber Christian schnellte hitzköpfig empor. »Das könnte vielleicht geschehen, mein teurer Bruder! Sollte es zum Kriege zwischen Dänemark und Schleswig-Holstein kommen, verlasse ich sofort Kopenhagen, lege ich nicht nur mein Amt nieder, sondern stehe ich auch in dem Heer, dahin ich als Deutscher gehöre ... vielleicht könnte deine Kugel fehlgehen, mein lieber Frederik, und meine Kugel sich verirren und dich treffen, was Gott verhüten möge!«

Der Hardesvogt schrie und lamentierte: »Die Jungens sind verrückt, total verrückt... Christian, du willst dein Amt als Bureauchef, das dir gewiß ist, aufgeben? Du redest wie ein Wahnsinniger.«

»Ich rede wie die andern echtdeutschen Beamten der Kanzlei.«

Das waren die Vorboten des Kampfes, der in die Familien, Geschlechter und Sippen bittere Fehde trug, das die schweren Konflikte der Grenzmark, wo zwischen Vater und Sohn, Bruder und Bruder, Schwager und Schwieger Zwist und Zwietracht entbrannte.

Der Hausherr brachte eine Flasche Wein – sein erprobtes Mittel, um politische Hitzköpfe zu dämpfen –, und allmählich beruhigten sich die Gemüter.

Als er seine Gäste hinausgeleitete, gab er seinem Neffen einige vertrauliche Winke mit auf den Weg. »Du wirst jetzt dein Amtsexamen auf Gottorp machen und bald eine der schönen nordschleswigschen Stellen bekommen ... ich habe einen gewissen Einfluß auf den Amtmann, nicht weil er mich liebt, sondern weil er fürchtet, ich könnte Seiner Majestät einen Floh ins Ohr setzen... Heimreich, ich bringe dich in eine schöne Stelle hinein, aber die conditio sine qua non ist, du mußt dich streng neutral halten.« Heimreich hatte einen scharfen Widerspruch auf der Zunge. »Freilich, wenn du der Genügsamkeit dich befleißigen und partout eine von den lieben, kleinen, bescheidenen Pfarrstellen im idyllischen Jütland haben willst, brauche ich mich nicht zu bemühen.«

Das gräßliche, schwarze Jütland mit seiner öden Heide und seinen stumpfen Holzschuh-Jüten, mit seiner chronischen Krätze und dem ominösen Scheuerpfahl mitten in der Bauernstube war das Grauen und gefürchtete Exil der schleswigschen Kandidaten. Und Heimreich schwieg. Der Abschied von seiner Mutter, die ihn ermahnt hatte: »Halte dir den Propsten warm und sei bemüht, den Amtmann, der ein mächtiger Mann ist, für dich einzunehmen!« ging ihm durch den Kopf. –

Die Geistlichen, die ja am Festtage zu predigen hatten, machten in der Woche dem Amtmann ihre Neujahrsaufwartung; denn er war nicht nur der höchste Verwaltungs- und Gerichtsherr des Kreises, sondern auch ihr weltlicher Präpositus – wie der Propst ihr geistlicher –, der in allen Kirchensachen die entscheidende Stimme hatte. Ja, ein Amtmann von Anno dazumal war ein gewaltiger Herr, der in seinem Gebiete eine nur durch das Ministerium in Kopenhagen beschränkte Monarchie besaß und wie ein kleiner König auftrat, und führte er gar, wie der König von Norderhusen, den Rang und Titel eines Geheimen Konferenzrates, so war er ein ganz großes Tier oder ein sogenannter Elefant, wie man sich ausdrückte, dieweil er meistens den höchsten Orden, den Elefanten von Dänemark – nicht von Siam – besaß und um seinen fetten Hals hängte. Herr von Elsfleth entstammte einer alten oldenburgischen Adelsfamilie, hatte aber vor seiner Krönung sich zum Dänentum bekehrt und durch eine kleine, kuriose Widertaufe seine aufrichtige Sinnesänderung bekundet. Auf dem Marmorschilde vor seiner Residenz im Amtshause stand zu lesen: Geheimer Konferenzrat Henri d'Elsfleth. Auch der Oldenburger Heinrich war umgetauft worden.

Sieben, acht Pastoren wurden en masse empfangen und gratulierten ehrerbietig. Der Konferenzrat war eine sechs Fuß hohe, imposante Erscheinung mit englischen Koteletten und aristokratischen Allüren. Der Kandidat, der von seinem Vater vorgestellt wurde, bemühte sich, eine tadellose Verbeugung und einen angenehmen Eindruck zu machen. Könige wissen alles und fragen doch viel, und der von Norderhusen richtete an den Vorgestellten eine verfängliche Frage: »Sie haben schon unter großem Zulauf gepredigt ... wenn Sie Ihre Rede niederschreiben, denken Sie dann deutsch oder dänisch?«

Heimreich ging nicht aufs Glatteis und antwortete: »Ich denke in beiden Sprachen, denn ich spreche beide.«

Der Amtmann fragte mit lauerndem Blick: »Haben Sie ein Jahr in Kopenhagen studiert?«

»Nein, die Universität in Kiel ist ja unsere Landesuniversität, und die nordschleswigsche Kirchensprache ist mir geläufig.« Der Kandidat tat naiv. Herr von Elsfleth lächelte ironisch. »Sie rechnen bestimmt damit, ein Amt in Nordschleswig zu bekommen? Das Studium in Kopenhagen war Ihnen ein Umweg, den Sie sich ersparten ... aber der Umweg über Kopenhagen ist vielleicht der allerkürzeste Richtweg zum ersehnten Kandidatenziel.«

Der weißhaarige Pastor Petersen aus Beck, der keine Maßregelung mehr fürchtete und wegen seines Freimuts gefürchtet war, nahm mit Verlaub das Wort, obgleich der Gewaltige sofort die Stirn runzelte und die Miene des Jupiter tonans machte. »In einem Staate, wo man auf Umwegen zum Ziele gelangen muß, wird manches faul sein, Herr Geheimrat. Dieses Verfahren, daß dänische Pastoren in unsere Pfarrämter sich hineindrängen und unsere Landessöhne mit einem elenden Amte in Jütland abgespeist werden, das ist eine schreiende Ungerechtigkeit und faul im Staate Dänemark. Dänemark möchte Schleswig unauflöslich an sich knüpfen, müßte also die Schleswiger durch Rücksicht und Liebe locken, aber Dänemark, verbittert seit Jahren, macht Schleswig zur dienenden Magd, zur milchgebenden Kuh, zur Versorgungsanstalt ... das ist die unvernünftige Politik in Kopenhagen ... die hohen Beamten, Herr Geheimrat, haben die Pflicht, unserem gnädigen König darüber die Augen zu öffnen.«

Der Amtmann winkte kalt und wurde sehr königlich. »Was versteht der Dorfmusikant vom Kontrapunkt und der Landpfarrer von der Staatsräson! Die Staatsklugheit will nivellieren, die Gegensätze ausgleichen, die Völker vermischen, die Grenze verwischen und sendet darum Dänen nach Schleswig und Schleswiger nach Jütland. Die Staatsweisheit unsres mit Klugheit begnadeten Königs will die Staatseinheit herbeiführen.«

»Ja, die Staatsweisheit will Schleswig inkorporieren, den Kern- und Kontrapunkt der Sache haben wir längst begriffen ... aber ob die Herzogtümer und der Herrgott im Himmel es dulden werden? Ob die allerhöchste Politik da oben nicht andre Pläne hat?«

Der Amtmann schnitt die Rede ab. Er wollte reden! Wie ein mächtiger König bei der Staatscour dem lauschenden Europa eine hochbedeutsame Neujahrsrede hält, also wollte der Fürst von Norderhusen seinen Beamten das Neujahrsprogramm für 1847 einschärfen. »Es ist mein Wunsch und Wille, daß die mir unterstellten Prediger die dänische Kirchen- und Schulsprache gewissenhaft fördern, nicht nur im amtlichen Verkehr und unter einander sich derselben bedienen, sondern auch in ihrem Hause dieselbe einführen und pflegen. Es ist eine bedauerliche Erscheinung, wenn in einer Gemeinde, wo jedermann dänisch spricht, nur der Pastor mit seiner Familie deutsch plappert und ein übles Exempel gibt. Das provoziert die Bevölkerung und kränkt die Staatsregierung. Ein Diener der Kirche muß die dänische Sprache so hochachten, daß er ihr den Ehrenplatz in seinem Hause gibt. Wenn meine Pastoren diese Weisung befolgen, werden sie und ihre Söhne an mir einen warmen Fürsprecher haben.«

Diese ungeheuerliche Zumutung wollte am Recht der Persönlichkeit, am Heiligtum der Familie sich vergreifen und weckte eine Entrüstung, die zuerst vor Zorn keine Worte fand. Während die deutschen Geistlichen Blicke tauschten, verneigte sich der Pastor Wendelbo, ein importierter Nordjüte, der ein langes, glattes Gesicht, einen eigentümlich geräuschlosen Gang hatte, sehr devot vor der Majestät von Norderhusen. »Herr allergeheimster Konferenzrat! Ick bin genödigt, mit meine liebe Frau und Familie dänis su sprecken, da ick mit meine deutse Sprack von meine liebe Amtsbrüder ausgelackt werde. Ick hoffe, daß meine liebe Amtsbrüder in Sukunft die liebe dänise Sprack sprecken und mit mir in kristeliger Liebe verkehren.«

Pastor Fangel hatte jetzt Worte für seinen Unmut gefunden, hier war ein Fall, wo er nicht schweigen durfte. »Es war seit Jahrhunderten in Nordschleswig Brauch und Herkommen, daß die Pastoren deutsche Bildung besaßen und darum selbstverständlich in ihrem Hause und Verkehr deutsch sprachen ... das heilige Recht lassen wir uns nicht nehmen. Wir sind der Obrigkeit Untertan, jedoch die deutsche Rede in unsrem Hause darf keiner uns verbieten.«

Der Amtmann hatte einen bissigen Mund, hatte die vornehme Reserve und königliche Würde verloren, seine Stimme klang keifend. »Schweigen Sie! Mein Pastor Fangel, ich habe mit Ihnen ein Hühnchen zu rupfen. Aus Ihrer Gemeinde ist Beschwer und Klage gekommen ... Sie haben eine anstößige Neujahrspredigt gehalten, vom Rechte Schleswigs und Holsteins, von den giftigen Federn, mit denen Dänemark fechte, gefabelt und gefaselt ... ja, Sie sollen für den ci-devant-Herzog, den Augustenburger, gebetet haben ... das kann Ihnen Ihr Amt kosten.«

Rolf Krake Hansen oder einer seiner Kumpane war schon hier gewesen und hatte die entstellte Predigt dem Amtmann hinterbracht. Die Pastoren tauschten um des Amtsbruders willen einen erschreckten Blick.

Fangel selbst antwortete mit Gelassenheit: »Leiten Sie die Disziplinaruntersuchung ein, damit meine Schuld oder Unschuld an den Tag komme! Der Hinterbringer hat meine Worte aus Dummheit mißverstanden oder aus Bosheit verdreht. Ich habe, wie es sich gebührt, für den König, unsren Herzog, gebetet ... ist König Christian VIII. nicht unser Herzog und Herr?«

Der Konferenzrat wurde frappiert, die Pastoren aber wurden sehr froh um Fangels willen und wiesen ein- und freimütig die Zumutung des Amtmanns zurück. Alle, bis auf Wendelbo, erklärten nachdrücklich, daß sie stets in ihrem Hause deutsch gesprochen hätten und fernerhin sprechen würden.

Der Amtmann hatte einen roten Kopf und eine grollende Stimme: »Ich habe einen Wunsch, eine Bitte ausgesprochen, es mag der Tag kommen, wo ich befehlen werde.«

Die Gratulationscour war zu Ende, der König von Norderhusen hatte seine Pastoren ungnädig entlassen. Der Kandidat verhehlte sich nicht, daß sein erstes Debüt im Amthause ihm schwerlich die Sympathien des mächtigen Mannes verschafft habe.

Am Nachmittag fuhren die Studenten mit der Diligence nach Flensburg, wo sie übernachteten, und am nächsten Tage nach dem alten, lieben Kiel. Kunz hatte, wenn er nicht von seiner Liebe jodelte, Vorsätze gefaßt und Gelübde abgelegt. »Schwager in spe, höre meine Schwüre! Ich will fortan gut, keusch und wahr, hilfreich, edel und treu und des edelsten Weibes würdig sein. Ich will Tag und Nacht, Nacht und Tag büffeln, eseln und ochsen, bis ich den Doktorhut aufs müde Gehirn mir stülpe und das Summa cum laude als Morgengabe meiner Braut vor die Füße lege.«

Also lauteten Reuters Gelübde.

Bereits aber am Abend ihrer Ankunft saß Reuter bei Wichmann in der Dänischen Straße mitten unter fünfzig, mit langen Pfeifen bewaffneten, mit hohen Bierkrügen kämpfenden Kommilitonen, kam zwei Halbe nach und trank einen Ganzen auf das Wohl der Brüder, schwenkte seine Mütze und ließ das Lied erschallen: »Stoßt an, Kilia lebe, hurra hoch!«

Kunz Reuter sprang auf den Stuhl und hielt eine flammende Rede. Er habe in Nordschleswig mit eigenen Augen die Willkür und Tyrannei der Dänen gesehen. »Der ganze Nordgau soll verdänt und mit Jütland vereinigt werden, ein Stück von dem Leibe der Heimat, ein Stück von unsrem ureignen Fleisch und Blut soll abgeschnitten werden. An dieser langsamen Amputation der Nordmark muß jedes deutsche Herz verbluten, es muß uns allen in die Seele schneiden, das große Deutschland darf es nicht dulden, daß ein dünkelhafter Duodezstaat ein so wertvolles Glied von seinem Leibe abtrennt. So wahr die dreisten Dänengeographen unsren Nordgau auf ihrem Schulatlas als Südjütland bezeichnet und einverleibt haben, so gewiß muß der Kampf um Schleswig kommen. So wahr der Recke Teut erwachen und grimmig sich umgürten wird, so gewiß werden wir, die Elite der Holstenjugend, in blitzende Wehr uns kleiden und in der vordersten Vorhut stehen. Ja, wir Burschen alle wollen für unsre Nordmark, für Schleswig-Holsteins heiliges Recht fechten und streiten. Das schwören wir in dieser hehren Stunde. Ein Hundsfott, wer nicht die Hand gen Himmel reckt!«

Reuter war groß in Schwurgelübden und gewaltig im Pathos der Rede. Hundert Augen flammten, fünfzig Hände flogen empor, und aus allen Kehlen brauste das Schutz- und Trutzlied: »Schleswig-Holstein meerumschlungen.«

Und die Gassenbuben draußen auf der Dänischen Straße brüllten begeistert es mit: »Schleswig-Holstein stammverwandt, wanke nicht, min Faderland.« Ja, die zwei Nachtwächter mit dem langen Säbel an der Seite schritten trotz der Polizeistunde nicht ein, sondern summten leise mit.

Welche überschäumende Begeisterung erfüllte diese akademische Jugend! Viele Reden wurden geschwungen. Ein mächtig und schmächtig langer Student mit großen Feueraugen und einem kleinen Kropfe, mit der Stimme Stentors und der Eloquenz des Demosthenes begabt, schrie: »Silentium, ich hab das Wort.« Das war Rudolf Grote, der Sohn eines gewöhnlichen Arbeiters in Büdelsdorf, der seine Freitische aufgegeben hatte, um nicht in unwürdiger Knechtschaft zu leben, und als Korrektor bei der Zeitung sein Brot verdiente, ein exzentrischer Mensch und großer Redner. Dieser Demosthenes ließ den Präses des Bürgervereins, den bekannten Olshausen, der ein Demokrat vom reinsten, aber lautersten Wasser war, hochleben. Dann sprach er mit zündenden Worten von den Rechten des Volks, von der Rede- und Preßfreiheit, die errungen werden müsse. Alle Zuhörer wurden von ihrem menschenunwürdigen Zustande, von ihrer entehrenden Knechtschaft überzeugt, alle fühlten die Schande der Unmündigkeit und des Maulhaltens, daß sie wie die Hunde seien und einen Maulkorb trügen, solange nicht die Preß- und Redefreiheit erstritten sei.

Der Demosthenes handelte aber auch und setzte eine Adresse an den König-Herzog auf, darin alle Bürger der Universität um Preßfreiheit baten. Das war endlich mal eine Initiative, eine Tat. Alle, alle schrieben mit stolzem Federschwunge ihren Namen. Jetzt, wo alle Welt Proteste und Adressen machte, durften die Studenten nicht fehlen. Die berühmte Adresse der Kieler Studenten zirkulierte, fand tausend Unterschriften in gebildeten Kreisen, ging mit dem Postdampfer nach Kopenhagen, wurde mit verbissenem Lachen von einem Konferenzrat gelesen und ad acta gelegt, ohne des Königs Antlitz gesehen zu haben.

Nach Mitternacht erklang das Schleswig-Holstein-Lied zum fünften Male. Ein blasser Student mit hektischer Röte, mit wallendem Haar und wilden Gesten überschrie den Lärm. Er hieß recht und schlecht Hans Christiansen, wurde aber wegen seiner Brandreden Catilina genannt. »Des Mittelalters Modergerüche haben lange unsre Gaue verpestet, ich wittere Frühlingsluft, die Völkerfreiheit wird die Pest vertreiben. Bald schauen wir den neuen Tag, wo das freie, souveräne Volk sein eigner Herr und König geworden ist ...«

Uwe Fries lallte in die Rede hinein: »Nu swög' man nich mehr, sondern segg' kort und bündig, worup wi supen schüllt!«

Catilina schüttelte die Mähne und ballte die Fäuste. »Ich höre die Ketten brechen, die Throne krachen, die viel zu vielen Thrönlein des Bundes, in Frankfurt wird ein einiger Thron und Tempel errichtet, darin kein Kaiser noch König, sondern die Göttin der Freiheit das Zepter halten und über ein souveränes Volk herrschen wird. Es lebe die freie Republik Germaniens!«

Einige Hitzköpfe riefen Hurra. Aber Uwe lallte: »Tom Düvel mit dim dütsche Republik!« Und Fangel schnellte empor. »O, daß der Schläfer im Kyffhäufer erwache! Es lebe das neue, geeinte Reich, das unsre Herzen ersehnen! Es lebe der kommende Kaiser, den unser Heilruf grüßen wird!«

Da brach ein donnerndes Hoch aus allen Kehlen, wie ein Schrei aus tiefstem Herzen. Das war die heiße, ungestüme Sehnsucht nach Kaiser und Reich. Nur Catilina trank einen stillen Verachtungsschluck und knurrte: »O Knechtseligkeit dein Name ist Deutscher!«

Ohne Aufforderung des Präses sangen alle das Lied: »Was ist des Deutschen Vaterland?«

Und andächtig, inbrünstig wie ein Choral klang der Kehrreim: »Nein, nein, nein, nein, mein Vaterland muß größer sein.«

Heimreich verließ das Lokal, als die Fidelitas anfing, Kunz ging fort, als sie aufhörte und die sogenannte Bestialitas begann. –

Reuter wollte sich in die Arbeit stürzen, konnte jedoch am nächsten Tage nicht anfangen, weil er sich marode und nur zum Flanieren fähig fühlte. Der folgende Tag war leider ein Freitag, ein böser Tag, an dem man prinzipiell nichts, geschweige denn ein neues Leben anfangen darf. Am Samstag konstatierte er mit Seufzen, daß die betreffenden Bücher erst aus der Bibliothek geholt werden müßten. Am Sonntag war natürlich strenger Sabbat; am Ruhetage zu arbeiten, wäre einem Reuter eine Todsünde gewesen. Am Montag schien die Sonne zu schön, ein solcher Wintertag mußte zu einem Erholungsausflug benutzt werden. Am Dienstag endlich ist geochst worden, bis ihm dumm im Kopfe wurde; dann schrieb er mit gutem Gewissen eine Epistel an seine Hilde, darin er seines Herzens große Liebe, seines Geistes Riesenarbeit, seines Körpers schwere Erschlaffung schilderte. Am nächsten Morgen mußte er sich eine Ausspannung gönnen, und am Abend war der Komment bei Wichmann, der natürlich den Donnerstag zum dies nefas, zum arbeitsunfähigen Tag, machte. Ach, viele Störungen und Hemmnisse verschworen sich wider den fleißigen Kunz.

Alle Wochen kam ein Brief aus Hyllerup, der die ganze Hingabe und Größe der ersten Liebe offenbarte. Jeden Sonntag besuchte Kunz seinen Freund und Zukunftsschwager, mit dem Briefe, aus dem er ausgewählte Stücke dem aufmerksamen Bruder vorlas. Heimreich machte große, ungläubige Augen, als jener befriedigt die Stelle betonte: »Ich bitte dich, mein Schatz, nicht bis zur Erschöpfung zu arbeiten, sondern jede Überanstrengung zu vermeiden.«

»Du und Überanstrengung, das paßt wie die Faust aufs Auge.« Der Mediziner sagte still gekränkt, ohne mit der Wimper zu zucken: »Wenn ich an einem Tage neun Stunden auf einem Sitz schufte, nennst du das Faulenzerei?« – Ja, an einem!

Der ehrliche Theologe glaubte ihm, glaubte an ein Mirakel der Liebe, um so mehr, da er selbst in Studien und Repetitionen sich vergrub. Jede unmittelbare Examensvorbereitung ist ein Aufstapeln und Anordnen des Stoffes im Gedächtnisspeicher, so daß man bei jeder nicht allzu speziellen Frage, wenn auch nicht einen Sack voll Gelehrsamkeit, so doch einige Körner Weisheit aus dem Speicher hervorholen und an den Mann bringen kann.

Am Werkeltage kargte Heimreich mit jeder Minute, nur am Sonntag ging er aus, am liebsten in die freie Natur. Heute stürmte Kunz, die Schlittschuhe in der Hand, in die Stube hinein und sofort wieder heraus. Der andere, der noch gar nicht wußte, daß Eisbahn sei, holte seine Eisen hervor und lief ihm nach. In dieser Woche hatte die breite, blanke Föhrde dem guten Kunz auch nicht eine seßhafte Stunde gelassen; seit Montag lief er bis in die Nacht hinein auf dem Eise, machte er, wo Zuschauer standen, seine graziösen Kapriolen und Kunstläufe, schrieb er seinen zärtlich geliebten Namen, sein K und R, mit den Füßen ins Eis.

An dem Sonntag waren viele Menschen auf der Föhrde, die Reichen im Biber auf modernen Eisen, die Armen auf dem Pekschlitten, und die Ärmsten steckten die Hände in die Taschen und glitschten auf ihren Holzpantoffeln, um auch etwas vom Eisvergnügen zu haben. Kunz ritzte ein H nach dem andern auf die spiegelblanke Tafel, Heimreich hatte seine Freude an dem Schwager, der ihren Namen in alle, selbst des Eises Rinde schrieb.

Auf der Südseite der Föhrde war weniger Volk und freiere Bahn, aber man mußte vor den Waken, welche die Ellerbecker Fischer ins Eis gehauen und zur Warnung mit einem Strohwisch bezeichnet hatten, sich hüten. Hier liefen die beiden in langen Stößen, Hand in Hand, voll hoher Lust, denn jede ungemeine, flugähnliche Schnelligkeit entrückt den Menschen dem Schwergewichte der Erde, so daß er nicht mehr als Wurm kriecht, sondern als höheres Wesen sich wähnt.

Plötzlich erscholl ein aufgeregtes Geschrei, zur Rechten ballte sich im Nu ein schwärzliches Menschengewimmel. In einer Sekunde waren die beiden zur Stelle, hörten kreischende Stimmen – ein Knabe sei eingebrochen –, drängten sich vor und sahen einen kraushaarigen Kopf im Wasser, eine Pelzmütze, die auf einer Eisscholle schaukelte, und ein junges Mädchen, das längelang auf dem Eise lag und mit ausgestreckten Händen nach dem Kopfe griff. Vierzig, fünfzig Männer standen rat- und tatlos rund um die Wake, immer mehr rannten herbei, reckten die Hälse, um das Schauspiel zu sehen, und rührten keinen Finger, Weiber weinten oder heulten oder schrien um Hilfe.

Ein wohlbeleibter Herr im Marderpelz, dem der Zylinder entfallen war, riß sich im Haar, rang die Hände und rief immer wieder: »Mein Kind, mein Kind! Ich bin der Schiffs-Meier! Leute! Tausend Mark dem, der mein Kind rettet! Zweitausend Mark! Ich bin der Schiffs-Meier!« – Der Vater hielt etwas – eine Börse war's – in der Hand – »Hier, hier, zweitausend Mark!« – und tat in seiner kläglichen Verzweiflung nichts, um sein Kind aus dem Wasser zu fischen.

Auf das Quadrat der Wake wagte sich keiner. Da gellte ein Schreckensschrei, das Eis brach, die Menge stob zurück, einige stürzten. Das tapfere Mädchen war immer weiter gerutscht, um den Bruder zu retten, und dabei eingebrochen.

»Hier, hier ... dreitausend Mark!« keuchte und kreischte der Vater.

Reuter hatte seinen Rock vom Leibe, seine Stiefel mit den Schlittschuhen von den Füßen gerissen. Heimreich faßte seinen Arm: »Das ist der Tod ... Du kommst unter das Eis! He! Männer her! Wir legen uns hin und bilden eine Kette, ich will der Vorderste sein, faßt mich an!« Er warf sich hin und glitt vorwärts und hörte in dieser Situation eine gefühlvolle Damenstimme: »Ja, ja, die Kieler Föhrde will alle Jahre ihr Eisopfer haben.« Heimreich kroch zu spät, denn sein Freund sprang. Kunz, einer von jenen leichtlebigen Menschen, die ein großer Augenblick zur Menschengröße erhebt, stand hochgereckt, in Hemdsärmeln und Strümpfen und doch wie ein Held, der zu fragen scheint: Könnt ihr das? Und er sprang ins eisige Wasser, packte sogleich das Mädchen und hob die Gestalt aus dem Eise, daß die Hände sie griffen.

O, er war wahrlich ein Mann voll Geistesgegenwart in der Gefahr, voll Todesverachtung im dräuenden Tod und ein ganzer Held, der sein eigenes, egoistisches Leben für ein anderes Menschenleben wagt und hinwirft. Denn er tat das Grauenhafte, das jedes Herz erstarren ließ, und tauchte unter die Eisschollen der Wake, die ihn unter das fußdicke, feste Eis schleudern oder in die dunkle Tiefe drücken konnten.

Die Zuschauer krampften die Hände, stierten mit den Augen, jeder Atemzug stockte, in der plötzlichen Totenstille hörte man nur eine schluchzende, sich überschreiende Stimme: »Ich bin Schiffs-Meier! Mein Kind! O mein Gott! Dreitausend Mark! Viertausend!«

Heimreich lag auf dem Bauche und glotzte in das grabähnliche Loch, das die sorglosen Fischer ohne Strohwisch gelassen hatten, und zwei Männer hielten seine Füße. »Gott sei gepriesen! Kunz! Hier!«

Reuter tauchte aus dem Tartarus empor und hielt den Knaben. Der atmete noch, wurde gerollt und spie viel Wasser. Heimreich zerrte seinen Freund auf das feste Eis und umarmte den Durchnäßten. »Ich hatte solche Angst um Hilde ... und um dich.« In solchem Moment geht das Herz in unbedachten Worten über die Lippen. »Haha, um Hilde zumeist!« lachte Reuter, auch jetzt in der lächerlich klatschnassen Figur ein ganzer Held und in Heldenpose.

Des Vaters wahnsinnige Verzweiflung war zu einer wahnsinnigen Freude geworden. Der wohlbeleibte Herr watschelte hin und her, streichelte den Knaben – »Mein Karlchen, mein süßer Bengel, du kommst mir nie wieder aufs Eis« – und tätschelte das Mädchen. »Trudchen, du wirst dich erkälten ... lauf, lauf, um warm zu werden!« Herr Meier stürzte auf den Retter, der seinen Rock anzog, los und umarmte ihn. »Die viertausend Kurant-Mark bekommen Sie ... ja, was ich sage, ist wie geschrieben, wie ein Wechsel. Wie heißen Sie, mein teuerster Herr? Ich bin der bekannte Reeder Meier, Schiffs-Meier.«

»Mein Name ist Reuter, Kandidat der Medizin. Ich wage nicht mein Leben für Geld, ich will keinen Lohn.« Dieser junge Herr zeigte einen edlen Stolz und war noch größer in den Augen der Zuschauer, von denen fünf, sechs ein etwas schüchternes Hoch ausbrachten und zweimal Hurra riefen.

Schiffs-Meier weinte vor Rührung und stopfte voll Dankbarkeit seine Börse, seine prachtvolle Repetier-Uhr in die Rocktasche des Retters, der das gar nicht zu bemerken schien und doch merken mußte, und bat bescheiden: »Sie müssen mich besuchen, am Kleinen Kiel, na, ich bin ja bekannt wie ein bunter Hund ... ich komme morgen zu Ihnen ... Sie edler Herr, ich werde mein Leben lang Ihr Schuldner sein, ein dankbarer Schuldner.«

Kunz wurde von seinem Freunde nach Hause und ins Bett gebracht. Dieser machte auf den Inhalt der Rocktasche aufmerksam und zugleich die Bemerkung: »Du mußt den alten, rührenden Onkel besuchen ... Du hast die Ovationen des Hauses und eine öffentliche Anerkennung ehrlich verdient.«

Kunz stutzte anscheinend und sagte stolz: »Das weiß ich noch nicht ... diese Art und Weise ist wenig taktvoll ... die Börse gebe ich natürlich dem guten Meier zurück. Hast du irgendwelche Kenntnisse von den Antezedentien und Aktiven der Familie? Reiche Leute? Oder gar von unsre Leut? Und Emporkömmlinge?«

»Nein, kein Kind Israels ... emporgekommen ist er, aber geachtet und achtbar und sehr reich, was natürlich das Ansehen und die Achtung sehr erhöht. Er war ein einfacher Schiffsbauer in Eckernförde, machte einen sogenannten »dunen« Handel, kaufte beim sechsten Glase Grog einem Besitzer, der sein Herzeleid vertrank, eine große, gestrandete Brigg mit der Ladung ab, eine Brigg, die nach menschlicher Voraussicht brechen mußte und nur als Strandgut zu bewerten war, für 1200 Kurantmark. Der Wind sprang plötzlich nach Osten um, Meier kriegte die Schute flott, was alle Kapitäne für ein Wunder erklärten, stopfte das Leck, barg die Ladung, die aus wertvollem Teak-, Sandel- und Zedernholz bestand, verkaufte Brigg und Inhalt für 86 000 Mark und war durch den dunen Handel ein gemachter Mann. Er baute dann Barken und Vollschiffe und wurde ein reicher Mann. Jetzt soll er elf Schiffe besitzen, die er nach Ostindien fahren läßt, und wird ein Millionär genannt. Weise die ausgestreckte Hand des Glückspilzes nicht zurück!«

Kunz horchte aufmerksam, und seine Hochachtung vor dem wohlbeleibten Herrn stieg von Wort zu Wort.

Und die Börse ist nicht zu ihrem früheren Besitzer zurückgekehrt. –

Der Reeder Meier, der im Volksmunde nur Schiffs-Meier hieß und klug genug war, den Beinamen zu akzeptieren und selbst anzuwenden, besaß und bewohnte ein schönes Haus. Er hatte am Vormittag den Lebensretter seines einzigen Sohnes besucht und ihn gebeten, das Haus am Kleinen Kiel als seine Heimat zu betrachten und als Mitglied seiner Familie sich zu fühlen. Reuter kam, sah und siegte, auch über das Herz der einsichtsvollen Mutter, fand andere Gäste vor und merkte freudig, daß ihm zu Ehren ein Festdiner gegeben werde, bei welchem Festessen er mitten zwischen den Geretteten saß und so ausgiebig fetiert und bewundert wurde, daß selbst auf seine Wangen ein bescheidenes Erröten sich stahl.

Trudchen war ein scharmantes, aus der Backfischmauser schlüpfendes, munteres Geschöpf, das die kecke Nase der Mutter, den heiteren Sinn des Vaters und den Liebreiz der frischen Mädchenjugend besaß, und das begreiflicherweise große Sympathie für Reuter hegte und in kindlicher Unschuld nicht verhehlte.

Der Kandidat der Medizin, der in der Zeitung öffentlich belobt wurde, nach allgemeinem Urteil ein Held und zur Zeit in Kiel ein berühmter Mann war, kam in dieser großen Epoche seines Lebens nicht zum kleinlichen Arbeiten und vergaß auch ganz und zum ersten Male, den Wochenbrief nach Hyllerup abzufertigen, nur die Kommilitonen und den Abend bei Wichmann versäumte der Gewissenhafte nicht. Auf der blanken Föhrde war er alle Tage von zwei Uhr an und noch beim Schein der Fackeln, denn das Eis in diesen nördlichen Breitengraden Cimbriens, das in manchem Winter überhaupt nicht erscheint, steht meist nicht lange und muß benutzt werden.

Am Mittwoch nach dem Rettungs- und Ruhmessonntag, als er seine Eisen angeschnallt, lief Fräulein Meier irgendwoher und lächelnd auf ihn zu, und er scherzte: »Kind, Sie bleiben bei mir, damit Sie nicht wieder ins Wasser geraten!« Nur zu gern blieb sie in seiner Nähe und ließ sich behüten von dem stattlichen Herrn und Helden. Er zeigte seine graziösen Künste, schrieb sein K und R und zuletzt, um jede Fertigkeit, die er besaß, zu offenbaren, ein schwungvolles H ins Eis hinein. Das kleine Fräulein errötete bis zum blonden Haar, bekam ein starkes Herzklopfen und lachte glücklich, aber mit eigentümlich ernsthaften Augen. »O wie scharmant und galant! Woher wissen Sie meinen Namen, und daß ich Hiltrud heiße?«

Er hatte sie nur Trudchen nennen hören und keine blasse Ahnung von ihrem altgermanischen Namen, faßte sich aber schnell und freute sich des lieben Zufalls, der ihm so freundlich gesinnt war. »Kann nicht ein Taschentuch es verraten? Kann nicht der Instinkt des Herzens es mir gesagt haben?« Der Schwerenöter klärte nicht den Irrtum auf, sondern nahm ihre warmen Hände und lief mit der klug und kindlich schwatzenden Hiltrud bis zum dunklen Abend. Ganz zufällig – o der freundlich liebe Zufall! – traf er sie am nächsten Tage wieder auf dem Eise. Auch war Reuter ein hochwillkommener und häufiger Gast am Kleinen Kiel. –

Heimreich lebte seinen Studien und in einer anderen Welt, so daß er kaum seines Freundes Fernbleiben am Sonntag beachtete. Nach acht Tagen stellte Kunz sich ein, wohlgemut wie immer, und holte Hildes letzten Brief aus der Tasche.

Er lautete: »Meine Unruhe, weil dein regelmäßiger, heißersehnter Brief ausblieb, war groß, aber, Gott sei Dank, töricht. Du hast zwei Menschen das Leben gerettet und durch das kalte Bad eine kleine Erkältung dir geholt! Ich bin sehr stolz auf deinen Besitz, sehr glücklich, einem so hochgemuten Manne zu gehören, aber ich darf nicht verschweigen, daß eine Angst um meinen Herrn und Helden mich oft beschleicht und böse Träume mir bereitet. Oft ist es eine schreckliche Ahnung, daß ich dich verliere. Mein Kunz! Hast du bei dem kühnen Sprung in die Tiefe gar nicht an mich gedacht, gar nicht bedacht, daß es dein und mein Tod sein könnte? Allzu sehr ist dein Leben mein Leben geworden, so daß auch dein Tod mein Sterben sein müßte. Verzeihe mir, mein Herzensmann! Schelte nicht meine kleinliche, quälende Unruhe! Ich träume oft, du versinkst vor meinen Augen, und ich falle in einen Abgrund ohne Grund und Ende. Bilde ich es mir nur ein, du seiest kränker, als du schreiben magst? Eben jetzt wieder schrecke ich von einem stechenden Weh empor und weiß nicht, von wannen es kommt. Ist es die Trennung, die verzehrende Sehnsucht? Ich bitte dich, laß alle törichten Wagnisse, die dein kecker und leichter Sinn liebt, um meinetwillen! Dein Tod ist mein Tod, und ohne dich ist das Leben ein unerträgliches Leid.«

Kunz war tief gerührt.

»Da ist eine Träne auf den Bogen gefallen,« sagte Heimreich nachdenklich. »Meine Schwester, die ein treues Herz, eine liebe Seele, ein tiefes Gemüt hat, darf nicht weinen. Du mußt in manchen Dingen anders, du mußt nicht nur ein Held, sondern – ein Mann werden. Hast du gearbeitet?«

»Mein Herr Seelsorger und Pastor! Ist schon vor dem Examen der Geist der Philister über dich gekommen? In dieser Woche wurde ich natürlich häßlich abgehalten, weil gewisse Folgen des Bades sich einstellten.« Er log nicht, die Besuche am Kleinen Kiel waren ja die Folgen des kalten und kühnen Bades.

Nach der Träne kam des Briefes zweiter Teil, der mit seiner Heiterkeit in so starkem Kontrast zum ersten stand, als wenn zwei Personen ihn geschrieben hätten. »Leutnant Bosen besucht oft unser Pfarrhaus und ist ein amüsanter Erzähler. Bei seiner letzten Anwesenheit bemerkten wir, daß er reine Wäsche sehr nötig brauche, darum erhielt ich ein Paket mit Wäsche von der Mutter und legte es dem Leutnant ins Haus, heimlich natürlich, denn das Ehrgefühl des alten Herrn weist alle Geschenke zurück, die nicht mit Takt gemacht werden. In der Räucherkate ist die Atmosphäre noch penetranter und die Menagerie bedeutend vermehrt worden. In allen Ecken hockt und kreucht allerlei Getier, wie in der Arche Noah, und unter der feindseligen, sich fressenden Kreatur herrschte ein Gottesfriede, der mir viel Spaß machte. Aus einem langen Troge fraßen gleichzeitig drei Füchse, vier Kaninchen, zwei Katzen, fünf Hunde, ein Lämmchen, zwei Krähen, ein Habicht und mehrere Hühner in guter Eintracht. Bosen saß auf einem Stuhle, beobachtete mit dem großen Auge die Mahlzeit und zeigte stolz auf sein Dressurkunststück: »Sehen Sie! Es lassen sich die Tiere auf eine höhere Kulturstufe bringen, so daß der niederträchtige, menschgewordene Affe, der seinem Bruder keinen Bissen gönnt, sich an den Bestien ein Beispiel nehmen könnte.« – Die Vorführung machte mir viel Freude, nur der Geruch vertrieb mich aus der Arche Noah.

»Bei einem Besuch im Pastorat bedauerte der Kauz von Leutnant, daß Jep Hansen wohl mit seiner Jagd und Fischerei zufrieden sei, aber für seine Lieblinge gar kein Interesse habe und durchaus nicht begreifen könne, daß all das liebe Viehzeug sein tägliches und verschiedenes Futter, und daß ein erwachsener Mensch nicht nur Haus und Kost, sondern auch Hemd und Rock und ein paar Schillinge in der Tasche haben müsse. Ein kleines Gehalt wolle Jep ihm nicht bewilligen, weshalb er wohl den Wanderstab weiter setzen müsse. Da hat unser guter Vater auf eigenen Antrieb hin zehn Papier-Spezies in ein Kuvert getan, das ich unbemerkt in den recht schäbigen Ueberrock, der auf dem Flure hing, hineingeschmuggelt habe. Der Leutnant hat den Fund wie ein Beichtgeheimnis verschwiegen, jedoch seinen sinnigen Dank dadurch abgestattet, daß er ein niedliches Kätzchen mir zum Geschenk machte, wobei er mit dem kleinen Auge blinkerte: heute haben meine Schüler ein Festessen gehabt. Allerdings beim nächsten Besuch in der Räucherkate machte ein neuer Nebengeruch sich bemerkbar, ein Parfüm, das Erinnerungen an Rum und Schnaps und die Vermutung wachrief, daß die zehn Spezies nicht nur zur Sättigung der Menagerie, sondern auch zur Löschung des Durstes gedient haben. Bosen observierte meine Nase und sagte voll Unschuld: ich habe eben etwas in Spiritus gesetzt. Keine Unwahrheit, wenn er selbst das Spirituspräparat war. Dann kam Bodil, um Bosen zu rufen, blieb aber vor dem Fenster draußen stehen, fragte nach einem gewissen Kandidaten Fangel und hat nach einigem Zaudern einen herzlichen Gruß mir aufgetragen. Dieser Gruß folgt als Anlage und ist an meinen Bruder abzuliefern.«

Heimreich hatte jetzt mit seinen eigenen Angelegenheiten soviel zu schaffen, daß er für die Briefe seiner Schwester und die Gefühle seines Freundes kein Interesse mehr hatte.

Es vergingen zwei ganze Wochen, ehe sein zukünftiger Schwager sich wieder einfand. Kunz war von den Glanzstiefeln bis zum Seidenhute neu und stutzerhaft gekleidet, duftete nach Kölnisch-Wasser und hatte die Allüren eines Grandseigneurs. Schiff-Meiers Prämie von viertausend Mark war nach einigen aristokratischen Protesten in seine Tasche geglitten.

Heimreich guckte und inquirierte: »Hast du eine Erbschaft gemacht oder Schiff-Meiers ...?«

Reuter machte nur die wegwerfende Gebärde des Ehrenmannes, kramte in allen Taschen und erklärte mit ärgerlicher Nonchalance, daß er Hildes Brief verlegt habe. Heimreich, den ein plötzlicher Argwohn durchzuckte, fixierte mit einem finsteren Blick den flotten Kavalier.

Aber Kunz beruhigte ihn durch die gleichmütige Bemerkung: »Ich werde den Brief nächstesmal mitbringen.«

Der Kandidat arbeitete den ganzen Tag und hat die wenigen Minuten, wo er träumen durfte, mit seinen eigenen Herzensangelegenheiten sich beschäftigt.


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