Johannes Dose
Im Kampf um die Nordmark
Johannes Dose

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Achter Abschnitt.

Das Gottesurteil im Walde und der Gnade des Dänenkönigs.

Der Küster Lauritz Lauritzen in Hyllerup mußte sich und seinen Tag, wie er sagte, in drei Teile zerlegen, denn er war Organist, Lehrer und Landmann zugleich und doch eine ganz einheitliche Persönlichkeit. Sonntags und in der Woche bei Leichen und Trauungen diente er der Kirche als Organist, in der Schule war er Schulmeister, aber von vier Uhr morgens bis Schulanfang und nachmittags nach Schulschluß Landmann. Auch als Oekonom war er originell, und den Küsteracker bewirtschaftete er nach seiner eigenen Agrariermethode. Seine Tätigkeit bekundete sich auch in seiner dreifachen Bekleidung. Als Organist trug er den langschößigen, schwarzen Bratenrock, als Lehrer die Lodenjoppe, und als Landmann hüllte er seinen hageren Leib in einen langen, blauen Kittel.

Früh um vier fütterte Lauritzen sein Vieh und seine Schweine. Dann holte er im Sommer Grünfutter vom Felde, er war der Erste, der im Dorfe Stallfütterung einführte. In eine große Grube warf er allen Dung, den er mit Wasser zu einem Brei verrührte. Und diesen Dungbrei trug er täglich stundenlang auf den Acker hinaus; von dieser Arbeit jahraus jahrein waren seine Schultern hoch und sein Rücken krumm geworden. Die Bauern hatten über diese Dungmethode weidlich gegrinst und gewitzelt, Lauritzen ließ sie lachen und trug mit Ausdauer seinen Dungbrei aufs Feld. Längst machten die Klugen ein dummes Gesicht, und der Küster lächelte. Nirgends standen Korn und Klee so üppig, wie auf dem Küsteracker. Sein Vorgänger hatte kaum drei Kühe halten können, jetzt standen im Stalle sieben Stück blankes Vieh.

Lauritzen füllte just die schweren Eimer, als sein Kollege Lindenhahn mit einem wahren Unglücksgesicht über den Hof kam, wie in einem inneren Kampfe stehen blieb und umkehren wollte. Der Küster rief ihn heran und redete derb: »Wer Schulden macht, sägt den Ast ab, auf dem er sitzt, sägt lustig weiter, bis – Perdauz! – der Krach kommt ... dann liegt der Mensch, wie ein umgeworfener Mistkäfer, auf dem Rücken und brüllt um Hülfe.«

Lindenhahn seufzte: »Meine Lage ist so verzweifelt, daß ich mir das Leben nehmen möchte.«

»Tun Sie das in Gottes Namen, mein Lieber! Wer erbärmlich aus der Welt sich stehlen will, sobald eine Widrigkeit zu überwinden ist, der ist nicht wert, in dieser Welt zu bleiben. Was ist denn los?«

»Krämer, Schuster, Bäcker und Fleischer drohen mit Pfändung ... zwei Kaufleute in der Stadt wollen dem Propsten und Amtmann Anzeige erstatten, damit Gehaltabzüge gemacht werden. Von zweihundert Talern Gehalt können fünf Menschen nicht satt werden ... wenn noch Abzüge gemacht werden, müssen wir buchstäblich verhungern ... wollen Sie es uns verübeln, wenn wir ein schnelles Ende dem langsamen Hungertode vorziehen?«

Lauritzen wurde weich, kaute mit den Lippen und polterte: »Wenn Sie den Schulacker ordentlich bewirtschafteten, hätten Sie Brot und Butter, Speck und Eier und so viele Lebensmittel, daß Sie beim besten Willen nicht verhungern könnten.«

Lindenhahn fühlte, daß der Vorwurf nicht unbegründet sei, und klagte: »Ich bin ja leider kein Landmann, sondern nur Lehrer ... ich habe kein Futter für meine hungernden Kühe.«

Lauritzen hatte von jeder Sache die einzig und absolut richtige Ansicht und sagte stets offen seine Meinung. »Ja, solange was da ist, bis Weihnachten wird das Futter armweise vorgeworfen, so daß die Kühe das liebe Heu wie Streu verasen ... Sie verstehen nicht, mit Ihren Vorräten und Ihrer Einnahme hauszuhalten.«

Der unglückliche Lehrer wollte mit trostloser Miene sich entfernen. In demselben scheltenden Tone rief der Küster ihm nach: »Ich verborge nichts, keinen Heller! Aber ich werde dreißig Kuranttaler Ihnen bringen und die eine Kuh bis Maitag in Futter nehmen, auch dem reichen Jep klar machen, daß er die andere durchwintern soll. Das will ich!« Die Worte wurden wie eine Bedrohung gebrummt.

Dem armen Lehrer klangen sie wie ein Weihnachtsevangelium. Mit einer Träne im Auge wollte er dem Retter in der Not die Hand drücken. Aber der Kauz sagte: »Sie mögen ja den lieben Dunggeruch nicht ... darum bleiben Sie mir vom Leibe, meine Finger sind nicht sehr fein und sauber.«

Als ehrlicher Mann hatte Lindenhahn ein Bedenken. »Darf ich die dreißig Taler annehmen? Ich weiß ja nicht, wann ich das Darlehen zurückzahlen kann.«

»Das weiß ich noch viel weniger ... ein Darlehen ist es nicht ... nee, so dumm bin ich nicht mehr, einen Menschen mir spinnefeind zu machen dadurch, daß ich ihm Geld borge. Es ist eine Beihülfe. Wenn Sie aber mal eine bessere Stelle bekommen und mir dreißig Taler auf den Tisch legen, werde ich das Geld gleich und gern nehmen und die angenehme Erfahrung machen, daß es in der Welt wenigstens einen anständigen und noblen Menschen gibt.«

»Ach, um eine Küsterstelle habe ich mich vierzigmal beworben ... ich werde übergangen, weil ich ein Deutscher bin. Man möchte manchmal vor Ingrimm aus seiner deutschen Haut fahren und dänische Gesinnung heucheln ... die Not bringt einen noch so weit, daß man sein Gewissen über Bord wirft.«

»Gehen Sie, Mosjö! Ich gebe Ihnen nichts ... mit Lumpen habe ich nichts zu schaffen.«

Lindenhahn flehte: »Halten Sie es doch meiner Verzweiflung zugute, wenn ich verrücktes Zeug rede! Wollte ich ein Heuchler sein, wäre ich längst Küster in Agerskow. Das Elend verfolgt mich, meine arme Frau ist immer krank, es ist eine rätselhafte, unheimliche Krankheit ... und mein süßer Knabe ... o.« Die Stimme schlug ihm über, er schluchzte in Seelenqual. »Mein Liebling mit den großen, blauen Wunderaugen, mein Sohn, der meine Freude und Hoffnung war, müßte lang gehen können und läßt schlaff die Beinchen hängen und lächelt kaum ... das arme Kind ist mir eine bittere Sorge geworden.«

Lauritzen tröstete herzlich, der Kleine werde die englische Krankheit haben.

»Krank ist er nicht, denn immer möchte er essen und trinken ... es ist unheimlich, was er in sich stopfen kann, und meine Frau überfüttert unverständig den kleinen Schrei- und Schlinghals, der noch nicht stubenrein ist ... ist das nicht schrecklich?«

Der Küster holte aus dem Hause, aus der Kiste unter dem Alkovenbett, die dreißig Taler, die er seinem Kollegen in die Hand drückte. Als dieser danken wollte, schob er ihn barsch zur Hoftür hinaus, warf den Kittel ab und wusch sich am Ziehbrunnen. Nachdem er den Organistenrock angezogen und die Pfeife angezündet, schlenderte er nach Hylleruphof. Er ging stets den geradesten Weg.

»Jep Hansen! Ich möchte Ihnen ein Rechenexempel aufgeben ... wenn ich sieben Stück Vieh habe und die eine Kuh des Lehrers bis Maitag füttere und ein Großbauer, ein guter Christ nebenbei, siebzig Kühe im Stalle hat, wieviele Lehrerkühe muß der Großbauer und gute Christ von Rechts wegen nehmen?«

Die also eingekleidete Bitte fand eine schroffe Ablehnung. »Ich füttere dem Lindenhahn kein Kalb, geschweige denn eine Kuh. Die Lehrerfrau liegt den halben Tag im Bett und liest die halbe Nacht Romane. Im Hause Schlamperei und überall Schulden! Solchen Leuten ist nicht zu helfen und soll man nicht helfen.«

Bodil blickte erst bittend und dann böse nach dem Vater hin, jedoch alles war umsonst, auch die Grobheit des Küsters, der seine Pfeife ausklopfte und seinen Tabaksbeutel hervorholte. »Erlauben Sie, daß ich mir eine Pfeife stopfe aus meinem eigenen Beutel? Ich habe meinen eigenen Tabak mitgebracht, um Sie nicht in Unkosten zu stürzen. Ob ich wohl noch Sie als Leiche aussingen werde, Jep Hansen? Sollte mich nicht wundern, wenn Sie nach dem Tode mit der Geldkatze unter dem Arm wiedergehen und um Mitternacht oben auf dem Kirchhof spazieren.«

Auch diese groteske Predigt hat das Bauernherz nicht erweicht. Jep half oft den armen Leuten, und wenn der einstige Ziegelstreicher durchaus nicht frei von Geldliebe, ja Geiz war, so war doch der Grund seiner jetzigen Hartherzigkeit der Widerwille, den jede lüderliche Wirtschaft ihm einflößte. Unordnung, Unsparsamkeit und Verschwendung waren ihm Todsünden und ein Greuel, der seinen sittlichen Zorn erregte.

Bodil warf umsonst böse Blicke, hatte am Munde den eigensinnigen Zug und flüsterte dem Küster zu, daß sie den Pastor bitten werde, die Kuh zu nehmen. Schon am Nachmittage war sie im Studierzimmer des Pastorats. Fangel erklärte sich persönlich bereit, aber auch für inkompetent, sintemal er seinem Sohne die Landwirtschaft mit allen Rechten und Pflichten übertragen und über Stall und Acker nicht allein zu bestimmen habe.

Der freundliche Herr ging sofort den richtigen Instanzenweg und zu dem Sohne, der drüben auf der Tenne das gedroschene Korn mit dem Scheffel maß. Klaus warf den leeren Scheffel hart hin und schlug es rundweg ab. Man habe knapp Futter fürs eigene Vieh, und ob man etwa zwei Fuder Heu zukaufen solle, um die Lehrerkuh durchzuwintern?

»Können wir nicht unseren Kühen eine kleine Gabe abknappen, mein Sohn?«

Klaus sagte noch energischer Nein. »Nein, meine Kühe sollen nicht die Milch verlieren, weil der Lehrer seine Fourage im Herbst vergeudet ... oder heimlich verkauft und daher im Januar schnorren muß.«

Der Pastor kam nach dem Mißerfolge mit einem langen Gesicht zurück und räusperte sich. »Hm, hm, ich werde dem Lindenhahn zehn Taler geben, um Futter zu kaufen. Mein Sohn hat selbst kaum Futter genug und will die Kuh nicht nehmen.«

»Er muß! Ich will mit ihm reden,« sagte Bodil scharf und ging resolut nach der Tenne.

Der junge Fangel war ein fleißiger Landwirt und raffig wie ein richtiger Bauer. Warum sorgte und schaffte, kalkulierte und rechnete er von früh bis spät? Um auf dem Pfarrhofe ein kleines Vermögen zu erwerben, um einmal später – der Vater lebte ja nicht ewig – selbständig zu werden und ein Bauerngut zu kaufen.

Als Bodil zu ihm auf die Tenne kam, zog er mit einem Schwunge die Mütze und behielt sie in der Hand.

»Sie wollen die Kuh des armen Lindenhahn nicht die paar Monate durchfüttern?«

Jep Hansens Tochter hatte die steife, kampfbereite Kopfhaltung.

Doch es kam zu keinem Wortgefecht. Klaus entwaffnete sie durch seine Liebenswürdigkeit. »Sicherlich und sofort, da Sie es wünschen!«

Da reichte sie ihm die Hand mit einem holdseligen Lächeln. Das dünkte ihm eine günstige Gelegenheit, seine Hochachtung auszudrücken, seine Gefühle anzudeuten und einen Fühler auszustrecken. »Ich ehre und schätze Sie so sehr, daß Ihr Wunsch mir Befehl ist ... ehren und schätzen ist noch zu wenig gesagt ...«

Das Weitere blieb ihm im Halse stecken, so verwundert und vornehm guckte sie Heimreichs galanten Bruder an. Aber kein Weib wird einem Manne seine Wertschätzung verübeln. Sehr freundlich erkundigte sie sich nach dem Erdrusch des Weizens, ob sie schon frischmelkende Kühe, und ob die Hühner zu legen begonnen hätten. Zuletzt kehrte sie noch einmal den Kopf, um beiläufig eine beinahe vergessene Frage zu stellen. »Haben Sie kürzlich etwas von dem Kandidaten gehört?«

Klaus antwortete negativ: »Nein, in der letzten Zeit leider nicht.«

Er blickte durch die Ritze der Tennentür dem Mädchen nach. Wie hoch und kräftig und doch wie graziös und stattlich sie war! Das gab eine ausgezeichnete Gattin und Gehülfin für einen Landmann. Wer Bodil heirate, werde einmal unfehlbar Herr und Hofbesitzer auf Hylleruphof. Das war oft ein Traum seiner Phantasie und leider auch ein Luftschloß, das viele Bauernsöhne der Gegend bauten. Klaus träumte fortan noch öfter und intensiver.

Bodil ging vom Pastorat nach der Wohnung des zweiten Lehrers. Unterwegs zählte sie den Inhalt ihrer gehäkelten, straff gefüllten Börse und steckte fünfzehn Taler in die linke Tasche. Der Ertrag des Hühnerhofes und des Federviehes, das sie mit dem Abfallkorn umsonst fütterte, gehörte ihr als Nadelgeld und gab einen schönen Batzen. Sie sagte, daß der Pastor eine Kuh nehmen werde, und Lindenhahn dankte bewegt.

»Gott möge es Ihnen hundertmal vergelten und das Beste und Liebste Ihnen gewähren! Ich komme nicht auf einen grünen Zweig, weil ich ein Deutscher bin.«

»Sie sind doch ein geborener Nordschleswiger, aber ein sogenannter Heimdeutscher ... und das sind häufig die hitzigsten Heißsporne. Können Sie in Ihrem Urteil und Verhalten nicht milder und maßvoller sein? Können Sie sich nicht fernhalten von der leidigen Schleswig-Holsteinerei, die dem König die Hälfte seines Reiches entreißen will? Wollen Sie nicht gerechter über die Dänen urteilen?«

Der arme Lehrer in seiner Dankbarkeit versprach es um so leichter, als keine bindende Pflicht ihm auferlegt wurde.

Das wurde belohnt, die Jungfer Hansen legte taktvoll fünfzehn Taler auf den Tisch. »Das soll ich Ihnen von einem Dänen bringen ...«

Das Büblein mit den blauen Augen fing bei dem Anblick der Taler höchst unmotiviert zu heulen an, obgleich es himmelhoch hätte jauchzen müssen.

Der Lehrer beruhigte das merkwürdige Kind und war tief gerührt. »Sie haben mich vor dem Bankerott bewahrt! O, das hätte ich von Ihnen nicht erwartet ...«

»Sie haben eben ein Vorurteil gegen das Dänentum ... wir Dänen sind weit bessere Menschen, als die Leute im großen Vaterlande glauben. Man schilt uns, weil man uns nicht kennt. Hören Sie je etwas anderes als die deutsche Darstellung und Entstellung? Haben Sie jemals unseren Führern und Rednern ein Ohr geschenkt? Heute abend ist Versammlung im Kruge, der bekannte Laurids Skow wird sprechen. Wollen Sie mal gerecht sein und den Gegner anhören? Wollen Sie mir versprechen hinzugehen? Ein Glaube, der Gegengründe nicht zu hören verträgt, steht auf schwachen Füßen.«

Lindenhahn versprach es in seinem überströmenden Dankgefühl, ohne die Tragweite zu bedenken. Während Bodil mit dem stolzen Bewußtsein, eine Seele vom Irrtum bekehrt zu haben, fortging, betrachtete er bedenklich, zuletzt erschrocken, die fünfzehn Taler, als wären sie ein Kaufgeld. Doch er rannte schnell mit den Talern fort, um im Dorfe Schulden zu bezahlen und nicht wankelmütig zu werden.

Während seiner Abwesenheit erschien die Pastortochter, die am Freitag jeder Woche allerlei Eßbares brachte und ein paar Stunden lang im Lehrerhause aufräumte und reinigte. Aufgeschürzt und aufgestülpt arbeitete Hilde besser als eine bezahlte Magd, wusch und säuberte sie die Kinder, fegte und feudelte sie die Stube. Auch die grobe Arbeit kann voll Anmut sein, flink flogen ihre Hände, nur das liebreizende Lächeln war seltener, ihr ganzes Wesen ernster, sozusagen erwachsener geworden. Es fiel keinem, nur den Mutteraugen auf, die Pastorin fragte: »Kind, was fehlt dir? Er schreibt ja alle Woche einen langen Brief.« – Obwohl der letzte Brief voll von Koseworten war, fühlte Hilde doch, daß ein Schmelz ihm fehle.

Während das feine Fräulein die Küche schrubbte, saß die Lehrerfrau vorne im Lehnstuhl so apathisch, daß die Kleine in den Torfkasten kroch.

Hilde ordnete ihr Haar und wollte sich entfernen. »Adieu, Frau Lindenhahn.« Keine Antwort! Das junge Mädchen bemerkte jetzt, daß die Frau mit geschlossenen Augen im Stuhle lehnte, und rief angstvoll: »Frau Lindenhahn, Frau Lindenhahn!«

Die Ruhende holte tief Atem und murmelte Sinnloses. Die Zuhörerin blieb mit der Klinke in der Hand an der Tür fluchtbereit stehen, die Schläferin sprach deutliche Worte. »O, Rauch und Feuer ... Hadersleben raucht, und Kolding brennt ... das ist die Apotheke am Markt ... die Flammen züngeln.«

Hilde fragte bebend: »Wird Krieg in unserem Lande sein?«

»Ja, ein Krieg und wieder ein Krieg und noch ein Krieg. Hier auf der Diele liegen vierundzwanzig, Rücken an Rücken.«

Hilde rüttelte die Schläferin, die nicht reagierte und gedämpfter redete: »Fräulein, o ... der Brief! Verbrennen Sie den langen, bösen Brief! Wie lange weinen Sie? Fünf Jahre ... und Sie werden getröstet werden.«

Blaß und zitternd ging die Pastortochter von dannen. Besaß die kranke Frau das zweite Gesicht? Ein Brief sollte ihr Herzeleid bereiten ... ein Brief von Reuter? Hilde lief in die Einsamkeit ihrer Giebelstube, wo sie die Tränen rinnen ließ. Ein bitteres Leid war ihr bestimmt. Ein Brief, daß Kunz durch seine Tollkühnheit umgekommen oder im Duell gefallen sei? Plötzlich schlug das Wetter um, und das Weinen versiegte. Ihre Vernunft bäumte sich gegen das unsinnige Geschwätz auf, die Reden einer überspönigen Person sollten ihr nicht den Verstand verrücken.

Hilde hatte die äußere Ruhe, die sich nichts merken läßt; aber ihre Seele ging mit Beklommenheit dem Samstag, der regelmäßig den Kieler Brief brachte, entgegen.

Am Sonnabend kam gar kein Brief, auch nicht am Sonntag. Am Montag quälte Hilde ihr Gemüt mit all den Unglücksfällen, die Kunz betroffen hätten. Am Dienstag schrieb die Mutter ohne Wissen der Tochter, deren elender Zustand ihr Sorge machte, an Reuter, daß er sofort antworten solle. Von Mittwoch bis Freitag war jeder Tag eine Folter.

Hans Kuchenfrau, der für seine gichtgelähmte Stine, die zwanzig Jahre lang bei jedem Wetter gegangen war, jetzt die Körbe schleppte, auch kleine Gewerbe und Briefe aus Norderhusen besorgte und darum als Fortsetzung der Firma »Stine Kuchenfrau« »Hans Kuchenfrau« hieß, schneuzte sich mit den Fingern und nahm den Brief, der oben auf den Heisewecken lag. Die Pastorin riß ihm das Schriftstück aus der Hand, lief, so schnell sie watscheln konnte, nach der Stube und rief triumphierend: »Hier ist der Tröster, nun trockne deine Tränen, mein Kind!«

Hilde lächelte leise beim Anblick der geliebten Handschrift, öffnete die Hülle mit der Schere, ihre Hand zitterte, ihr Herz klopfte und stand jählings still. Ein Schrei gellte, der kurze, wehe, wunde Aufschrei eines tief, ja tödlich getroffenen Herzens schnitt durch die Luft, und die kleine Pastortochter sank wie tot hin. Doch der Atem stockte nicht. Es war jene tiefe Ohnmacht, die den Geist in sanfte Bewußtlosigkeit bettet und dadurch den ersten tückischen, leicht tödlichen Stoß auffängt. Frau Gertrud holte in dieser Not ihren Gatten und mußte das gut gewahrte Geheimnis verraten.

Pastor Fangel las den Brief und ließ die Pfeife ausgehen. Ja, Reuter blieb auch in dieser fatalen Situation der Gentleman, der also schrieb: Unbedingte Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit gegen sich und andere sei das höchste sittliche Gebot, und die Selbsterkenntnis ein kategorischer Imperativ, dem er gehorchen müsse, so hart es seinem Herzen falle. Aus Mitleid dürfe er nicht länger schweigen, sondern müsse er mit schmerzlicher Verzweiflung bekennen, daß er zu der bitteren Einsicht gekommen sei, seine Verliebtheit sei Selbsttäuschung und seine Verlobung Uebereilung gewesen. Es sei ja sein Fehler, sein Fluch, daß der Augenblick ihn hinreiße und sein starkes Gefühl mit ihm durchgehe. Auf den Knien bitte er Fräulein Fangel, ihm sein übereiltes Wort zurückzugeben und ihm nicht zu zürnen, sondern mit jener engelhaften Güte, die ihn geblendet habe, ihm zu verzeihen. Mit der heiligen Versicherung, daß er einen Engel verliere, aber vor Ehre und Gewissen nicht anders handeln könne, daß sie als eine der edelsten Frauen, die er je kennen gelernt, einen Ehrenplatz in seiner Erinnerung behalten werde, schloß der Abschieds- und Scheidebrief.

Der Pastor schüttelte sein Haupt. »Ich habe dem Menschen nie vertraut und nie verstanden, daß Heimreich diese Freundschaft schloß. Zwei Geister wohnen unvermittelt in Reuters Brust, ein lebhafter, begabter, hochgemuter, leicht zu großen Taten hingerissener Geist, aber auch ein eitler, hohler, selbstgefälliger und leichtfertiger Mensch, der im Affekt der Größe, doch auch der Gemeinheit fähig ist. Mein Kind, er ist deiner nicht wert.«

»Er ist ein schlechter Mensch, ein Schurke.« Die Mutter verdammte den Treulosen.

Doch Hilde richtete sich auf und verteidigte ihn. »Keiner darf ihn schelten! Er hat sich weil er meine Liebe sah, geirrt, er hat das angenehme, eitle Gefühl, geliebt zu werden, für eigene Liebe gehalten.«

Frau Gertrud polterte. »Ich glaube, das törichte Ding hat den erbärmlichen Menschen noch immer lieb.«

»Nicht den erbärmlichen, sondern den edlen Menschen, der in ihm ist, liebte ich ... und werde ich lieben,« sagte die Tochter.

Der Vater nickte und streichelte ihr Haar. »Dich kann kein anderer trösten als Gott der Herr, der ein guter Arzt, aber auch die Zeit ist eine treffliche Aerztin ... ich habe noch keinen Menschenschmerz gesehen, den die Jahre nicht heilten.«

In den nächsten Wochen sahen die Eltern mit Sorge, wie blaß Hildes Wangen wurden, wie das sanfte Lächeln verschwunden war und statt der Grübchen ein schmerzlicher Zug um den Mund sich legte, doch sie wunderten sich, daß sie nie eine Träne weinte, sondern still ihre Arbeit tat und mit Ergebung ihren Schmerz trug. Nur die Samaritertätigkeit im Lehrerhause unterblieb vorläufig, denn die Pastortochter hatte vor der Hellseherin ein inneres Grauen.

Pastor Fangel hatte seinem Sohne in Kiel die traurige Affäre mitgeteilt und mit väterlichem Ernst ihm befohlen, jede Zuredestellung zu unterlassen, jeder Begegnung mit Reuter und jedem Rencontre auszuweichen. Heimreich hatte seit zwei Wochen seinen Freund nicht gesehen und erwartete bestimmt seinen Besuch am dritten Sonntag, ließ eine Flasche Wein holen und lächelte: ein guter Tropfen soll die Freundschaft warm halten. Reuter kam nicht, wohl aber eine Ahnung, daß etwas nicht geheuer sei. Als es dunkelte, zog Heimreich den Ueberrock an, um durch die Gassen zu flanieren, instinktiv gingen seine Füße nach dem Kleinen Kiel, und vor dem hell erleuchteten Hause des Schiffsreeders blieb er stehen. Da drinnen bewegten sich viele Gäste, und war eine glänzende Fete, bei der Kunz nicht fehlen werde. Die Gestalt lehnte draußen am Gitter, horchte und spähte nach dem Fenster. Hinter der Gardine hob sich ein schlanker Schatten, diese charakteristische Schattenfigur war kein anderer als Reuter. Neben ihn trat – die Palmen bildeten einen Vorhang und verbargen den Gästen das Paar –, an ihn schmiegte sich eine kleine, zierliche Figur mit langen Zöpfen. Im Versteck berührten ihre Lippen sich, es war ein urkomisches Schattenbild und Intermezzo. Aber Heimreich wurde toternst und tieffinster. O, das mußte der Backfisch sein, der im Eise schwamm, als Schiffsmeier seine Börse hielt und viertausend Kurantmark für das Leben seines Kindes bot. O, die Schatten reden und verraten. Ein scheußlicher Argwohn, ein wütender Grimm wühlte in des Kandidaten Seele.

Am Montag erhielt er den Brief seines Vaters, der trotz seines gestrigen Gesichts wie ein Donnerschlag ihn traf. Meine arme, kleine Schwester! Ich habe mit einem Erbärmling Freundschaft geschlossen und den Elenden in unser Haus geführt, ich bin der Urheber deines Jammers. O, über meine sündhafte Torheit! Sah ich nicht oft die Flatterhaftigkeit seiner Seele, und daß er bei allem männlichen Trugschein ein charakterloser Schwächling war, der nicht von eigener Willenskraft und sittlichen Gesetzen geleitet, sondern von augenblicklichen Sinnen und Trieben beherrscht wurde? Würde nicht jeder andere Bruder den Lump vor seine Klinge fordern? Aber der besorgte Vater bindet mir die Hände. Also heißt es, ein gehorsamer Sohn sein und den Zorn in sich schlucken. – Der gutmütige, menschenfreundliche Heimreich war an dem Tage ein rachsüchtiger Mensch, und dennoch faßte er den guten Entschluß, die Infamie ungesühnt, den studentischen Ehrenkodex und den ehrlosen Kerl zum Teufel fahren zu lassen und jedem Rencontre auszuweichen.

Kiel aber war eine kleine Stadt von 15 000 Einwohnern. Auch ist eine tiefe Gemütsstille die Vorbedingung des geistigen Fleißes. Der Theologe hatte kein rechtes Sitzfleisch, keine innere Sammlung und Ruhe, warf das Repetitorium als ein ödes Wiederkäuen hin und ging an die Luft, um ziemlich planlos zu promenieren. Einmal sah er Reuter, der im vollen Wichs der Burschenschaft wohl von der Mensur kam, durch die Holstenstraße flanieren – der Anblick erregte eine Wut in ihm – doch der Herr huschte um die Fleethörn-Ecke.

Es war ein Freitag, der dem Tagwähler als Unglückstag gilt und in der Tat mit Aerger anfing, mit kleinen Tücken des Objekts. Den Henkel der Kaffetasse behielt er beim ersten Schluck in der Hand, und die Tasse lag auf dem Teppich in Scherben. Die verschlagene Magd hatte ihm die durch ihre Fahrlässigkeit gesprungene Tasse hingestellt, damit ein anderer Schuld und Schaden habe. Kein gutes Omen sind Scherben am Morgen, hatte seine Mutter ihm eingeschärft. Im Hemd fehlten zwei Knöpfe! Hol's der Geier! Er mußte es ausziehen und die Nadel nehmen, er stach und stocherte und traf die kleinen Löcher nicht. Ja, beim zweiten Einfädeln fiel ihm die Nadel aus der nervösen Hand. Es war seine letzte, die er auf dem Teppich wie eine Stecknadel suchen mußte. Ein fader, trockener Geschmack im Munde belästigte ihn. Da stand noch unberührt die Flasche, die als Lockmittel für den sauberen Herrn Schwager bestimmt gewesen war. Er trank ein Glas gegen die Trockenheit und noch ein stilles Verachtungsglas auf das Unwohl des Esels.

Als Heimreich endlich zum Bibelkommentar griff, da lief eine feiste Spinne über das Blatt und eine fette Laus ihm über die Leber. Mit einem dänischen Fluch – die Dänensprache ist darin reich wie keine andere – klappte er das Buch zu und quetschte er die Spinne tot, die Morgenspinne. Der Tag taugte nicht zum Arbeiten und wurde zum Ausgehen benutzt. Können so lächerlich kleine Dinge ein Menschenschicksal bestimmen?

Fangel traf den Studenten Catilina, der nie Geld und immer Durst hatte und, wo er Moos vermutete, ein Kleber war. Bloß weil er nicht das einzige Wort »Nein« zu sagen vermag, geht mancher einen heillosen Weg. Aus purer Nachgiebigkeit ließ Fangel sich nach dem Lokal von Wichmann verschleppen. Ein paar bemooste Häupter nahmen den unentbehrlichen Frühtrunk, der dem Neuling gefährlich ist. »Der Rum geht ins Blut!« rief Catilina, entzückt von der raschen Wirkung.

Fangel erwiderte jedes Prosit und blinzelte schlau. »Einem Theologen trinkt jeder gern zu, aber hinter dem Ohre sitzt ein Schelm, der dem Gottesmann ein Räuschlein anhängen möchte. Mich kriegt man nicht unter den Tisch ... und warum nicht? Weil dieses Glas mein letztes ist. Prosit!«

Er trank aus und wollte sich entfernen. Warum nicht eine Minute früher? Bestimmt eine Minute ein Menschenschicksal?

Plötzlich stand Kunz hinter ihm in der Gaststube, faßte sich schnell und grüßte mit einer liebenswürdigen Handbewegung den ganzen Tisch. Der Anblick des erbärmlichen Menschen entzündete alle Leidenschaften in der alkoholerhitzten Seele des Theologen. Doch er wäre gegangen, wenn nicht Catilina und alle anderen Kommilitonen aufgesprungen wären und die Hände ausgestreckt hätten: »Wir gratulieren zu Ihrer Verlobung mit der Tochter des reichen Schiffsmei- Schiffsreeders. Eine grandiose Partie! Weg mit dem plebejischen Punsch! He, Vater Wichmann! Der Schwiegersohn eines Millionärs wird Champagnerwein befehlen.«

So erfuhr Heimreich die gestern publizierte Verlobung. Der Elende hatte noch gemeiner gehandelt, hatte seine Schwester verlassen, um mit einem schwerreichen Mädchen sich zu verloben. Es kochte und siedete in dem stummen, starren Mann, die Glut wurde zur Wut, die Blässe des weißen Zornes überzog das rote Gesicht mit ihrer graufahlen Farbe. Dennoch trat er einen Schritt zurück, um zu gehen. Reuter drückte der Reihe nach die Hände und dankte für die Glückwünsche. Da geschah das Unerwartete, Unerhörte, das Widernatürliche – Reuter streckte dem finsteren Kandidaten die Hand entgegen und sagte frechfreundlich: »Sei mir nicht böse! Ich konnte nicht anders! Laß die häßliche Geschichte vergessen sein, gib die Versöhnungshand her, Holger Deutscher!«

Heimreich, der mit seinem studentischen Spitznamen Holger Deutscher hieß, war von der maßlosen Unverfrorenheit und Heuchelei so konsterniert, daß er Reuter ausreden ließ und nach Luft rang; aber ein Vulkan von Grimm raste in ihm und kam zur jähen Eruption. Mit der geballten Faust schlug er die falsche Hand herunter, stieß er Reuter vor die Brust, so daß dieser taumelte. »Du wortbrüchiger, nichtswürdiger Lump, bleibe mir drei Schritt vom Leibe, oder ich züchtige dich wie einen Buben, dem man durch Prügel Mores beibringt!«

Die Kameraden nahmen für den Angegriffenen Partei, schrien und schalten: »Bist du betrunken oder verrückt?« Der Wirt Wichmann breitete die Arme beschirmend um seine teuren Gläser und lamentierte: »Kinners, Kinners, makt mi nich unglücklich!«

Kunz Reuter stand in Geistesgegenwart und Größe. »Ich prügele mich nicht, wie die Bauernrüpel in Hyllerup, aber ich werde mir für die unglaubliche Injurie volle Satisfaktion verschaffen.«

Heimreich spürte jetzt nach der Eruption keine Aufregung mehr, sondern eine seelische und körperliche Erleichterung, als wenn er ein Gift, das tagelang an seiner Seele gefressen, ausgespien habe. Mit viel Haltung verließ er die Gaststube, ging nach Hause und hielt ein langes Mittagschläfchen, das keine Reue oder Furcht störte. Er schlummerte noch, als es energisch klopfte, und Reuters Kartellträger traten ein. Es waren zwei mit Reuter bekannte Mitglieder des Korps Holsatia, die offenbar von ihrer eigenen Bedeutung und der Größe ihrer Mission – bei einem wirklichen Duell Zwischenträger zu sein – ganz durchdrungen waren, würdevoll, wie eines Königs Legaten, auftraten und mit aller Förmlichkeit und Feierlichkeit eine Forderung auf schwere Säbel ohne Binden und Bandagen, bis der eine Kontrahent nicht mehr stehen könne, überbrachten.

Heimreich erklärte ruhig, auf das ungeschriebene Gesetz sich berufend, daß er sich zum Examen vorbereite, nicht mit einer frischen Blessur in die Prüfung gehen könne und daher eine Säbelmensur ablehnen müsse, doch sei er zu jedem anderen Zweikampfe bereit, obgleich er Reuter nicht für einen Ehrenmann halte.

Der Wortführer der Holsaten wurde noch feierlicher in Haltung und Miene und fügte mit schnarrender Stimme: In dem Falle wähle ihr Klient Pistolen als Waffe und die schweren Konditionen, fünfzehn Schritte Distanz und fortgesetzten Kugelwechsel bis zur Kampfunfähigkeit des einen Kontrahenten.

Der Theologe schaute sinnend aus dem Fenster. Das ging auf Tod und Leben. Doch gab es keinen Ausweg aus der Sackgasse, wenn er seine studentische Ehre behalten wollte. Mit gut gespielter Kaltblütigkeit nahm er die Bedingungen an, war auch mit Ort und Stunde einverstanden. Zeremoniell verbeugte man sich hüben und drüben. Die feierliche Staatsaktion fand aber einen lächerlichen Abschluß, insofern der eine würdevoll steife Legat mit der Tasche seines Rockschoßes in der Türklinke hängen blieb. Und Heimreich lächelte boshaft.

Es war sein letztes Lachen in dieser Woche, die ein steter Zweikampf seiner widerstreitenden Gefühle war. Eine Stimme trotzte und tröstete: das soll ein Gottesurteil sein zwischen ihm und mir; der allmächtige Gott wird mir beistehen, weil ich nicht meine Sache verfechte, sondern für gottloses Unrecht heilige Vergeltung suche. Eine andere Stimme aber schalt und strafte: Du Tor, meinst du, daß die Vorsehung in das frivole Spiel um ein Menschenleben die Finger steckt oder dich in deinem Frevel beschirmen wird? Du Narr, wer hat dich zum Rächer berufen? Du gewisserloser Sohn willst deinem Vater ungehorsam sein, deiner Mutter Herzeleid bereiten und wider Gottes Gebot sündigen. Es waren böse Tage und bange Nächte, obwohl keine Furcht vor der Kugel ihn beklemmte. Der Theologe lernte in der Not das Beten, das Flehen und Feilschen mit Gott. Aber zu dem heroischen Entschluß, dem gottwidrigen Zweikampf zu entsagen und den Schein der Feigheit auf sich zu nehmen, hat er sich nicht durchgerungen.

Die Universitätsbehörde hatte in letzter Zeit kraft eines Winks von oben – weil die Herren in Kopenhagen für die studentischen, germanischen Gepflogenheiten absolut kein Verständnis und vor den barbarischen Gesichtsverzierungen einen Horror hatten – schärfere Erlasse gegen alle Raufhändel, Paukereien und Mensuren ans schwarze Brett geschlagen, und mit manchem Pfui Teufel behauptete man, daß üble Subjekte Denunziantendienste täten. Daher wurde das mit Relegation bedrohte Pistolenduell aufs vorsichtigste inszeniert. In den Hörsälen und Wandelgängen erzählte man sich im tiefsten Vertrauen, daß am 4. März frühmorgens im hinteren Saale bei Wichmann die viel besprochene Affäre zum Austrag komme.

In aller Herrgottsfrühe des vierten stürmten die spürnasigen Pedelle das Lokal von Wichmann, erschreckten das Dienstmädchen, das einen Schreikrampf bekam, und drangen mit dem Rufe »Im Namen des Königs und Herzogs« in die gähnende Leere des Saales hinein. Der Wirt hörte den Lärm und brüllte durchs Fenster auf die Gasse: »Einbrechers, Mörders! Poli–sei, Poli–sei–ei–ei!« Als die Pedelle erschienen und mit Amtsmiene ein scharfes Verhör anfingen, stand Wichmann in der Unterhose vor ihnen und rang die Hände: »Kinners, Kinners, makt mi nich unglücklich!«

Zwei Polizisten kamen im Laufschritt an und verhafteten Wichmann im Namen des Königs, bis die Sache sich aufklärte. Alle tranken ein großes Glas Grog, das der Wirt ausgab, um die Hüter des Gesetzes zu erwärmen und sich warm zu halten.

Pünktlich zu derselben Stunde wurde weit draußen im Düsternbrooker Walde der Zweikampf ausgefochten. Ein alter Mediziner, durch sein Bäuchlein und seine sechzehn Semester berühmt, saß auf einem Baumstumpf, fingerte in dem Verbandskasten herum und fühlte sich offenbar am wohlsten von allen, sintemal er endlich Arzt – wenn auch nur Paukarzt – geworden war. Die anderen jungen Herren benahmen sich sehr steif und zeremoniell, Reuter redete viel, rauchte keck und zeigte viel Courage. Fangel machte einen blassen, fröstelnden Eindruck und sprach mit seinen Sekundanten, Mitgliedern der Burschenschaft Albertina, denen er einen Brief gab, der nur im Falle, daß – abgesandt werden solle.

»Wie Ihre Hand zittert! Nehmen Sie sich zusammen!« flüsterte der eine Albertine.

Die Waffen waren geladen und von den Sekundanten geprüft worden. Der Unparteiische, der die Distanz maß, machte sehr lange Schritte, um die Entfernung zu vergrößern. Reuter tat noch einen letzten Zug und blies Rauchringe in die Luft, um seine gigantische Gemütsruhe zu zeigen, ergriff die Pistole und hielt die brennende Zigarre in der Linken, um gleich nach Erledigung der Affäre weiter zu rauchen.

Zwei Schüsse krachten. Nichts fiel, nichts floß. Dann ein Laufen und Lachen! Der Paukarzt rief: »Potztausend, die Kugel pfiff an meinem Kopfe vorbei,« und lief mit seinem Kasten hinter eine Eiche.

Die Pistolen wurden geladen. Eine Krähe, vom Geschieße aufgeschreckt, flog über die Lichtung und ließ vor Angst etwas fallen. Das tropfte vom Himmel auf Heimreichs Rock; sein Sekundant sah das Omen und sagte: »Das bedeutet Glück.«

Zwei Schüsse fielen kurz hintereinander. Reuter stand groß und heldenhaft und nahm die Zigarre in den Mund. Fangel jedoch stürzte hintenüber und griff nach der Brust. Schien eine schlagende Widerlegung der eben ausgesprochenen Verheißung! Aber keine Blessur, kein Blut war zu entdecken. Der Gefallene sprang ebenso plötzlich auf die Füße und sagte energisch, er könne stehen.

Nach dem dritten Kugelwechsel stand Heimreich auf seiner Stelle und stierte nach dem Gegner hinüber. Der machte eine kuriose Bewegung, als wenn er einen Kriegs- oder Freudentanz anfange, drehte sich auf einem Beine um sich selber, taumelte und stürzte. Die Kugel saß im Oberschenkel, wie der Paukarzt konstatierte. Als dieser mit der Zange in der Wunde herumwühlte, um die Kugel zu fassen, brüllte Reuter, nicht wie ein Stoiker, sondern mehr wie ein armes Schlachttier, das man vor Weihnachten schreien hört.

Der Theologe, der sehr niedrig gezielt hatte, spürte einen Schmerz in der Brust und knöpfte die Weste auf.

Ein Holsate fragte recht spöttisch: »Warum machten Sie den Purzelbaum, der nicht programmäßig war?«

»Darum!« lautete die Antwort. Die Kugel, die den ihr gewiesenen Weg nach dem Herzen richtig eingeschlagen hatte, war von einer unsichtbaren Hand pariert worden, war an der Metallschnalle des Hosenträgers abgeprallt und hatte die Schnalle ganz platt gedrückt und die Spitzen ins Fleisch hineingetrieben.

Nachdem Fangel vernommen, daß Reuters Verwundung nicht lebensgefährlich sei, hat er sich schnell entfernt, ohne dem Gegner die Hand zu reichen. –

Piepgras, der Pedell, horchte überall hin und her. Im Auftrag des Senats und Syndikus besuchte er den Studiosus Reuter, der im Hause Schiff-Meiers von sanfter Hand gepflegt wurde. Der Patient erklärte, daß er bei einem Spaziergange in Düsternbrook von irgend einer verirrten Kugel getroffen worden sei. »Nicht wahr, mein lieber Piepgras? Wer Pech hat, der stolpert im Grase, fällt auf den Rücken und bricht die Nase.«

Der Pedell nahm eine Prise und sagte: »Ich werde auf den fahrlässigen Schützen fahnden und ihn finden.«

Er fand ihn. Es wurde allgemein geglaubt, daß der Demokrat Catilina der Verräter und Geheimagent der Universitätspolizei sei. Fangel wurde am dritten Tage nach dem Duell von dem freudig grinsenden Oberpedellen zu einem Besuch bei dem Universitätsrichter abgeholt und von dem Richter vernommen.

Weil er sofort alles eingestand und nicht aus unedlen Beweggründen den Streit provoziert hatte, war man zur Milde geneigt. Er ist von seinen gnädigen Richtern nicht relegiert, sondern zu einem Jahre Festung verurteilt worden. Die Strafe wurde aber dadurch verschärft, daß die Regierung in Kopenhagen ihm die dänische Festung Nyborg auf Fühnen anwies und seine Bitte, in Rendsburg seine Strafe zu verbüßen, schroff abschlug. War das auch eine praktische Anwendung der berüchtigten Austauschtheorie? Oder eine kleine Bosheit?

Heimreich ging auf dem Seewege, um der Heimat und einem schmerzlichen Wiedersehen auszuweichen, ins Exil. Schwermütig saß er auf dem Ankerspill der »Najade«, und kein Hoffnungsstrahl erhellte seine düsteren Gedanken. Ein ganzes Jahr seines Lebens ging nicht nur nutzlos verloren, sondern war auch höchst nachteilig für alle Zeit; denn, wenn es auch eine sogenannte custodia honesta – eine Ehrenhaft – war, so drückte sie doch dem Theologen, der sich nicht duellieren darf, ein Brandmal auf. Sein Examen war vertagt, vielleicht in Frage gestellt, seine Zukunft gefährdet, sein Ziel – ein trauliches Pfarrhaus und eine traute Pfarrfrau – in weite Ferne gerückt. Ein Jahr war ihm eine unabsehbare, unendliche Zeit.

Sein Vater hatte sehr wehmütig, seine Schwester, für deren Ehre er gekämpft, so bittere Wahrheiten ihm geschrieben: Wehe, wenn du Reuter getötet hättest, ich würde vor meinem Bruder ein Grauen gehabt haben; seine Mutter hatte so laut geklagt: Nun haben die Dänen einen Vorwand, deine Ordination und Anstellung hinzuhalten. Heimreich war noch nie so mißmutig und hoffnungsarm gewesen.

Der Kapitän der »Najade«, ein schlichter Schiffer, blieb vor dem grübelnden Passagier stehen, drehte den Tabak im Munde und blinkerte gutmütig: »Je schwerer der Sturm, desto schneller hat er ausgetobt. Das weiß der dümmste Seemann. Das Unglück ist nur, daß wir uns vor dem Unglück so gräsig gruseln. Der Mensch im Malheur fährt, wie der Schiffer im Nebel herum, und sieht Gespenster. Das allergrößte Unglück, das wie eine riesige Viermastbrigg an Backbord aufkommt und uns in den Grund bohren will, ist, wenn die Sonne durchbricht, nur ein alter Ewer, der uns den Achtern zukehrt. Lernt man so was nicht in Kiel, wo die Gelehrsamkeit mit Löffeln gegessen wird? Vor vier Jahren verlor ich bei Skagen mein Schiff und mein bißchen Eigentum und Armut, denn ich war Partner. Da hätte manch einer laut geheult im Dünensand, ich habe aber an meinem heilen Kadaver heruntergefühlt und gelacht: Hurra, ich hab' das Leben, ein bannig langes und schönes Leben gerettet! Seitdem freue ich mich jeden Morgen wie ein Kind, daß ich in meiner warmen Koje und nicht in hundert Faden Wasser liege, bei jeder Pfeife, bei jedem Glas Grog, das ich in den vier Jahren getrunken habe, schlage ich mir auf den Schenkel und spreche den Seemannsspruch: Gott si Dank, Krischan Kühl, datt du levst, datt din Eten und Drinken, din Grog und Priem und Piep di smeckt!«

Die einfache, drastische Schifferweisheit war ein guter Tröster, von dem eine sich ermannende Kraft ausging. Heimreich raffte sich auf und dachte: Gott sei Dank, daß die Hosenschnalle zum Schilde wurde, daß ich nicht auf dem Kieler Kirchhof liege! Was ist ein Jahr, wenn noch ein ganzes Menschenleben zur Verfügung steht?

Freilich, die nächste Zukunft war scheußlich und die Festung Nyborg in Kiel übel verschrien als ein ödes Exil und elendes Kapua der Geister. Aber wie angenehm enttäuschte ihn die freundliche Lage der Stadt am Großen Belt, wie sehr ähnelte die hübsche Umgebung mit ihren Hügeln, Knicks und kleinen Buchenwäldern seiner nordschleswigschen Ostküste, so daß er gar nicht im fremden Land sich fühlte. Sein Ohr freilich merkte sofort, daß das singende Idiom des Fynbo, des Fühnbewohners, eine ganz andere, wenn auch verständliche Sprache sei.

Über dem einen Stadttor war ein Stockwerk, darin ihm zwei Zimmer, die er so komfortabel, als seine Mittel es ihm erlaubten, ausmöblieren mochte, als Gefängnis zugewiesen wurden. Ein äußerst humanes Gefängnis, eine sehr wohnliche, fast trauliche Sträflingszelle, in der sich mit Lust studieren ließ. Von den nicht vergitterten Fenstern schweifte der Blick über den kleinen, netten Hafen und den glänzenden, meilenbreiten Belt, der eine rege Schiffsstraße ist. Ein Stündchen alle Tage beobachtete er das Spiel der Wellen, die verschiedenen Segler und vorbeiziehenden Dampfer. Da der Häftling weder Hede noch Hanf zupfen sollte, trieb er seine Studien.

Der Kommandant der Festung, bei dem er sich meldete, empfing ihn höflich, versprach möglichst wenig Freiheitsbeschränkung und lud ihn sogar ein, seine Familie zu besuchen. Das übertraf seine Erwartungen. Der Hardesvogt der Stadt, der ein Studiengenosse seines Onkels und dem er empfohlen war, invitierte ihn ein für allemal zum Mittagessen am Sonntag. Der Familienverkehr erheiterte das Gemüt des Gefangenen, der alle Tage auf den Wällen und bald außerhalb der Festung spazieren durfte. Freilich, ein Soldat folgte ihm in einiger Entfernung wie sein Schatten, weil es Vorschrift war; doch der gutmütige Jüte Jens wurde, statt Wächter, immer mehr zum Bedienten, der Mantel und Schirm trug. Die Bewohner der Stadt gafften erst neugierig und grüßten dann den freundlichen Fremdling und seinen Arrestanten, besonders nachdem dieser beim Kommandanten und auch beim Oberst zum Abendessen gewesen war und die höchste Ehre in Nyborg genossen hatte.

Freilich, die letztere Ehre und Einladung hatte Ursachen, der urbane Oberst besaß einen Knaben, der dem Kandidaten als ein ungemein begabtes Kind, das ein geborenes Sprachgenie sei und das brennende Verlangen, die deutsche Sprache zu erlernen, hege, vorgestellt wurde. Fangel verstand den zarten Wink – daß die eben verzehrte Abendwurst ein Wurf nach dem Schinken gewesen – und unterrichtete den mediokren Burschen, um sein Exil zu einem Erholungsort zu machen. Die sogenannte Festungshaft war und ist fast immer keine Strafe, sondern eine von der gestrengen Frau Justitia aufgeführte Farce. Der junge Herr verkehrte in den besten Familien und war in der kleinen Stadt ein großer Herr, dem Jens, sein Leibdiener, die Gummischuhe aus- und anzog.

Dennoch blieb er ein Fremdling und sein Herz in der Heimat, die in den Briefen von zu Hause mit ihrer Traulichkeit und ihren täglichen Interessen zu ihm kam. Triumphierend meldete Frau Gertrud, daß die Untersuchung wegen der entstellten Neujahrspredigt in ihrer Nichtigkeit erkannt und in tiefster Stille niedergeschlagen sei; aber bald berichtete sie, daß der Amtmann auf eine Gelegenheit warte, um einen neuen Angriffspunkt zu finden.

Das war betrübend, aber Hildes Briefe erquickten ihn. Sie schien den schweren Schmerz überwunden und den erbärmlichen Menschen, den sie nie erwähnte, aus dem Sinn gerissen zu haben. Von Eskild Thorö erzählte sie ausführlich, daß dieser nach langer Zeit einen Besuch gemacht und schüchtern-ungelenk um Entschuldigung für sein langes Fernbleiben und jetziges Erscheinen gebeten habe; er sei ein grundguter Mensch, der rührend blöde gestammelt habe: »Ich weiß, was Ihnen so weh tut, aber Sie werden es verwinden, weil Sie gut sind. Man muß geduldig sein und auf das Glück zu warten wissen.« Wie er ihr Geheimnis erraten, sei ihr ein Rätsel.

Der Bruder las es und lächelte: Mit dem Instinkt der Liebe, die blind sein soll und so tief blickt. O, wenn sie den Lump vergäße und mit dem braven Eskild sich verlobte! Der Gedanke lag ihm nahe – und lag ihr meilenfern.

Hilde siechte nicht, wie eine sentimentale Törin und Tränenliese, am gebrochenen Herzen dahin. Kunz war ihr ein Gestorbener, von dem man nicht spricht, weil er kein schönes Ende nahm. Aber man redet, wenn es sein muß, nur Gutes von dem Toten. – – –

Eines Tages erhielt Heimreich eine schmerzliche Nachricht durch die wenig zarten Worte der Mutter: »Mein Sohn, hänge nur nicht dein Herz an eine Dänin in Nyborg und schlage dir die Bodil Hansen aus dem Sinn, denn sie ist eine fanatische Südjütin und besucht fleißig die Agitationsversammlungen im Kruge, wo Laurids Skow die Eidergrenze fordert und Rolf Krake auf die deutschen Pfaffen schimpft.« Das war ihm eine bittere Kunde, denn er hatte im stillen gehofft, daß die Trennung ihren Trotz erweichen und die Sehnsucht eine Brücke bauen werde. Nun machte Bodil den Zaun noch höher, den Graben noch tiefer, so daß ihre Herzen vielleicht nimmer zusammen kämen.

Im Kruge zu Hyllerup war eine Versammlung gewesen. Sechs Rüböllampen und zehn Talglichter brannten im Saale, Bauern, Knechte, Tagelöhner, die einen guten Rock angezogen, aber die Holzschuhe an den Füßen, die Pfeife im Munde hatten, auch einige Frauen im Kopftuch füllten die Bänke, alle rauchten, spuckten und guckten nach dem Rednerpult, einer mit rotweißen Kattunstreifen patriotisch bekleideten Zuckerkiste, auf der zwei Lichter und eine sogenannte Kontortasse mit Kaffepunsch zur Stärkung des Rhetors standen.

Skow, ein viertelgebildeter, aber ganz eingebildeter und sehr redegewandter Bauer, der die Schlagworte der Eiderdänen zu brüllen verstand, nahm seine Kopfbedeckung vom Haupte und fing an: »Ich nehme meinen Hut ab vor allen dänischen Männern und Frauen, die heute gekommen sind, und ich hebe hochachtungsvoll meine Rockschöße auf vor allen Deutschen, die hier erschienen sind.« – Bravo, bravo! schrie Kaffepunsch-Hansens Sohn entzückt. Das war ein Witz, den die Bauern verstanden. Bodil rümpfte die Nase.

Der Redner schilderte die Bedrückungen, welche die Dänen seit Jahrhunderten, von dem glatzköpfigen Grafen Gert bis in die jüngste Zeit, von den Deutschen erlitten hätten, in den gelehrten Schulen sei deutsch gelehrt, in den Gerichtssälen deutsch gerichtet, sogar am Königshofe in Kopenhagen sei noch unter dem verbrecherischen Struensee deutsch geplärrt worden, das fremde, freche Kauderwelsch des Südens habe als Herrensprache sich breit gemacht, und die sang- und klangvolle Dänenzunge, die tönende Sprache der Edda und Nordlandshelden, sei zur Magd und Sklavin des deutschen Geplärrs erniedrigt und in den Hütten der Knechte, unter dem Strohdach des Bauern geduldet worden. Aber jetzt sei die Sprache Thors und der Asengötter zu hohen Ehren gekommen, keine auf Erden habe so lieblichen Wohllaut, so mächtigen Klang, so starke Gewalt, die Barden mit Balders Geist zu salben, die Krieger mit dem Hammer Thors zu wappnen. Die dänische Muttersprache sei von allen Zungen Babels die Königin, die jetzt in Hütte und Königshof, in Schule und Kirche, in den Sälen des Gerichts und der Stände herrsche, und das deutsche Gekrächz sei verstummt und ein knechtisches Gestammel geworden, das scheu hinter den verschlossenen Türen der Pastorate und der paar heimdeutschen Häuser sich verkrieche. Die Dänenzunge werde herrschen vom Sund bis zur Eider, vom Oster- bis zum Westersalz, gepriesen seien Odin und Thor und alle Asengötter!

Der große Laurids nahm den großen Kaffepunsch, um seine Kehle und Seele zu stärken. Seine patriotische Hand verschüttete ein wenig, als wenn er von dem Branntweingebräu eine feierliche Libation den Dänengöttern bringe. Bodils Augen leuchteten, denn sie liebte die Sprache und die Dichter der Dänen.

Fortan gingen die Schlagwörter im Bauerngehirn des Agitators etwas durcheinander, aber es blitzte und donnerte wild: »Es lebe der sechste Frederik, denn er war der Erste, der dem Friedrich einen königlichen Fußtritt versetzte und Frederik sich nannte! Es lebe die Muttersprache, die bis zur Eider herrschen soll! Von Ewigkeit her ist die Eider als Grenze von Gott gesetzt. Tausend Jahre haben wir den Grenzwall, das Dannevirke, verteidigt, tausend Jahre wollen wir ihn wehren gegen das deutsche Gewimmel und Geschrei. Ich habe die Geschichte geprüft und will mit meinem Eide bezeugen: die Eider war und ist die Grenze und Völkerscheide zwischen den Freien und Knechten, zwischen den Dänen in schimmernder Wehr und dem zerrissenen Bettlerrock des deutschen Bundes, zwischen der dänischen Königssprache und dem germanischen Sklavengelispel. Die Eider ist die Grenze ...«

»Nein, die Königsau!« rief ein Hitzkopf von irgendwoher. Ein Tumult entstand. »Schmeißt ihn heraus! Schlagt ihm den Puckel voll!« Der Danebrogsmand Hans Peder Sjöberg, der seine Dekoration trug, ging mit seinem Knotenstock von Bank zu Bank, um die Exekution zu vollstrecken. Doch der Übeltäter, der seinem Herzen Luft gemacht, meldete sich nicht.

Als dem großen Laurids Stoff und Odem ausgingen, nahm Rolf Krake das Wort. »Es ist bewiesen worden, daß diese unsre Heimat Südjütland ein dänisches Land ist, aber hier und da in Kirche und Schule sitzen noch die heimlichen Heimdeutschen. Verdammt sei alle Deutscherei in Südjütland und alles deutsche Gelispel! Heraus mit allen Heimdeutschen, her–r–raus! Allen schleswig-holsteinischen Schreiern muß es mit blutigen Striemen auf den Rücken geschrieben werden, daß sie Dänen sind und bleiben sollen. Wir müssen reinen Tisch machen. Fort mit den Deutschen, die als Beamte von unsren Steuern sich mästen! Zum Teufel mit allen Hardesvögten, Schulmeistern und Pfaffen! Wir wollen ihnen ein Paar Holzschuhe und einen Haselstock vor die Haustür stellen, damit sie die Zeichen der Zeit verstehen und sich schnell auf die Socken machen.«

»Mit Verlaub, dann brauchen wir doch keine Zehnten mehr zu bezahlen?« fragte eine Stimme aus der Versammlung.

Rolf Krake überhörte den Zwischenruf und machte eine hauende Geste. »Wenn sie den Wink nicht verstehen, prügeln wir sie zum Lande heraus, haste mich gesehen, aus Südjütland her–r–raus.«

Als der radikale Redner am Kaffepunsch sich stärkte, stand Bodil rasch auf und rauschte aus dem Saale; man sah es ihren schmalen Lippen an, daß die Rede nicht nach ihrem Geschmack war. Der arme Lindenhahn, der einmal protestiert und sich hinter seinen Vordermann geduckt hatte, stürzte ihr nach und machte sich aus dem Staube, nachdem er sein übereiltes Wort gehalten hatte.

Im Dorfe bleibt nichts verschwiegen. Der Küster erfuhr schon morgens um fünf Uhr von dem ersten Tagelöhner, der aufs Feld ging, Lindenhahns Missetat. Seine Knie wurden ihm so knickerig, daß er nur zwei Eimer Dungbrei auf den Acker trug. Als er in seine Klasse ging, erwiderte er nicht den Gruß des Kollegen. Die Pfeife, die er stets, auf dem Pultsitz thronend, rauchte – um die schlechte Luft zu verbessern, wie er sagte – ging ihm oft aus, aber der Retstock klatschte häufiger als sonst auf dem Rücken der Faulen. Die großen Schüler stießen sich an: »He hett datt nich god hüt ... wahrschinlich hett sin Fru em ferhauen, und nu ferhaut he uns.« Die acht tüchtigsten Knaben waren seine Gehilfen, die je eine Abteilung unterrichteten. Ein Helfer überhörte den Katechismus, ein zweiter prüfte die Rechenaufgaben, ein dritter lehrte Schönschreiben, ein vierter ließ eine Abteilung lesen, der letzte trichterte den Analphabeten die Buchstaben ein, alle unter den Augen des Küsters, der vom Thron aus durch Wort und Wink regierte. In einer Ecke war ein großer, flacher Sandkasten, ringsumher kauerten die kleinen Schüler, die mit dem Zeigefinger im Sande malten und ihre ersten Schreibübungen machten. Während der letzten anderthalb Stunden schrieb oder rechnete die große Masse der Schüler, und die acht Helfer wurden vom Küster in der höheren Volksschulweisheit der letzten Hauptstücke, des Briefschreibens, der Erdkunde und Kaufmannsrechnung unterrichtet. So war die pädagogische Methode des Küsters, dessen Schüler meistens praktische und tüchtige Leute wurden.

Beim Beginn der Mittagspause, beim Geklapper der zweihundert Holzschuhe blieb Lindenhahn an der Außentür stehen und nahm mit Ostentation vor dem Kollegen den Hut ab. Lauritzen schaute geradeaus, als wenn um ihn her Luft und Leere wäre. »Warum erwidern Sie nicht meinen Gruß?«

»Das will ich sagen ... weil ich Leute, die sich zu Lumpen entwickeln, nicht kenne.«

Lindenhahn prallte zurück und parierte den plumpen Hieb durch den Nadelstich der Ironie. »Leute, deren Überzeugung auf so schwachen Füßen steht, daß sie durch die Gründe der Gegenpartei umgeworfen werden, müssen freilich der Versammlung fern bleiben.«

»Sie zupfen sich in schöner Selbsterkenntnis an Ihrer eignen Nase. Wer die wüste Hetzrede eines Skow ohne Protest anhört, ist ein Halber, auf beiden Seiten Hinkender. Jeder Verrat fängt mit der sogenannten Objektivität, mit dem Anhören an ... jeder Verräter lügt sich selbst die Haut voll.«

Der zweite Lehrer bebte. »Ein Gläubiger kann es sich erlauben, so grausam grobe, unverschämte Zinsen zu nehmen.«

»Was? Sie schulden mir keinen Schilling!«

»Sie haben mir doch dreißig Taler vorgestreckt ...«

»Höchstens könnte ich sie verschenkt haben, doch davon weiß ich nichts mehr.« Lauritzen machte sich von dannen, weil er eben gelogen hatte, und rief hinter sich, um sein Gewissen zu erleichtern: »Davon will ich nichts wissen.«

Lindenhahn ging den ganzen Tag unglücklich umher und begab sich am Abend zum Küster, um zu beichten, wie er durch ein unbedachtes Versprechen in die Versammlung geraten sei.

Lauritzen strich sich den Bartkranz und sträubte die Brauen. »Ja, die Weiber haben schon manchen Mann zum Weibe gemacht. Wie oft machte ich in Nordschleswig die traurige Erfahrung, daß die geriebenen dänischen Frauenzimmer einen gut deutschen Mann heirateten und ihn in Kürze zum halben oder ganzen Dänenaffen machten. Das ist der alte deutsche Jammer, daß keine Nation, kein Engländer und Franzose, seine Nationalität so oft und erbärmlich verliert, wie der Deutsche. Ich bin sogar überzeugt, wenn der Sohn unsres wackren Pastors, der Klaus, die Bodil kriegen könnte, daß er sich breit schlagen lassen, zuerst zur sogenannten Objektivität – haha –, zur goldenen Mitte und zuletzt zum vulgären Dänentum sich bekehren würde.« –

Im Dorfe schwatzte und klatschte man viel. Die Hökerfrau erzählte allen Kunden, daß Klaus Fangel nach der reichen Bauerntochter seine fünf Finger sich lecke, seine zwei Beine sich ablaufe. Tatsache war, daß Klaus alle Woche auf Hylleruphof für ein Stündchen einkehrte, mit Jep Hansen laut bewundernd, und im stillen beneidend, durch die Ställe ging und möglichst dem Alten nach dem Munde redete. Nachher trank er Kaffe in der Stube und plauderte mit Bodil; eine immer neue Freude war es ihm, wie das Prachtmädchen für alle landwirtschaftlichen Dinge Interesse und Verständnis hatte. Das gäbe eine Musterfrau für einen Landwirt, auch ohne Mitgift. Aber sie brachte einen Hof – und was für einen! – mit in die Ehe. Dieser Gedanke war so schwindelerregend, daß dem guten Klaus ganz beklommen wurde; denn ein sehr reiches Mädchen ist auch sehr wählerisch und wird sehr viele Freier haben. Doch er tat, was in seinen Kräften und seiner Klugheit stand, um alles zu vermeiden, was ihr mißfiel, und alles zu sagen, was sie gern hörte.

Sie horchte, wenn er seinen politischen Glaubensstandpunkt erklärte: »Ich bin ein friedfertiger Mann und halte mich fern von allem Streit. Ich rede dänisch mit den Dänen und deutsch mit den Deutschen, aber ich bin ein ausgesprochener Feind aller Unbotmäßigkeit und Revolution und unsrem König in Aufrichtigkeit untertan.« – Unsrem König! Das hätte sein Vater, sein Bruder hören sollen.

Bodil wälzte die schmerzliche Frage: Warum konnte Heimreich nicht so moderat, so unpolitisch und passiv, wie sein einfacher Bruder, sich verhalten? O dann wäre ich ihm weit, weit entgegengekommen und alles einmal gut geworden. Sie nickte vor sich hin und blickte den Besucher freundlich an. Klaus las aus dem Blick mehr heraus, und seine schüchterne Hoffnung wuchs kräftig und schoß mächtig ins Kraut. Seine praktischen Träume bauten als Luftschloß ein neues Wohnhaus auf Hylleruphof und beschäftigten sich mit der zu nassen Wiese, die dräniert werden müsse. Nur ein Einziges war seinem Optimismus ein Ärgernis. Jedes einzige, ewige Mal, wenn er kam oder ging, erkundigte sich Bodil nach seinem Bruder, zwar mit einer nichtssagenden Miene, aber behende-beharrlich holte sie aus Klaus alles, was er von Heimreichs Befinden, Verkehr, Briefwechsel wußte, allmählich heraus.

Jep Hansens Tochter ging immer seltener ins Pastorat, weil ihr Taktgefühl ihr sagte, daß ihre Beteiligung an den Versammlungen dem Pastor schmerzlich und der Pastorin anstößig sei.

Als starker Charakter ging sie auf der betretenen Bahn noch weiter. Zu Mittsommer schloß Bodil sich der Völkerwanderung an, die nach dem Skamlingsbanke sich ergoß. Mit Unlust ließ ihr Vater anspannen, setzte sich auf den Bock, um den Kutscher zu sparen, und fuhr im Zuckeltrab die zwei Meilen; am Fuße des Berges stieg Jep herunter und trottete nebenher, auf den Sandweg und die Dummheit scheltend und die Pferde schonend. Tausende von Menschen erkletterten die Höhe, um hier des Dänenfeuers voll zu werden und den großen Zauberer, der in neuen Zungen redete, zu hören.

Skamlingsbank ist der höchste »Berg« des Grenzlandes, von wo der Blick meilenweit über des Kleinen Beltes Silberband und den blauen Koldinger Busen, über die grüne Insel Fühnen, über zwanzig, dreißig weiße Kirchen und ein prächtiges Stück Erde schweift, wo Heimatliebe und Heimatstolz das Herz erfüllen. Der große Grundtvig war erschienen, um auf dem höchsten Berge Nordschleswigs den Dänengöttern einen Altar zu bauen und das heilige Dänenfeuer zu entzünden. Dieser Prediger, Dichter, Redner und Reformator war eine nach unsrem Geschmack exzentrische, aber eigenartige und ungemeine Persönlichkeit, mit viel Verschrobenheit verbrämt, die ihrer Zeit den Stempel ihres Geistes aufdrückte, eine nachhaltige Wirkung übte und bis auf diesen Tag eine große Gemeinde, die auf Grundtvigs Evangelium schwur und nach ihm genannt wurde, behalten hat. Das maßlose, lächerliche Selbstbewußtsein des kleinen Volkes, das in Größenwahn ausartete und schließlich in Selbstverblendung und Verderben führte, hat er geweckt. Ihm war das winzige Dänenvolk das neue Israel, das auserwählte Volk Gottes, das zu Hohem berufen und zum Sauerteig der faden Welt bestimmt sei. Unermüdlich und mit poetischem Überschwang predigte er von den Tagen der Größe und des Glanzes, als Dänemark eine Großmacht Europas, eine Königin der Ost- und Nordsee war, von den edlen Recken des Nordens und den hohen Asengöttern.

Grundtvig verkündete auch in der Sprache der Edda ein spezifisch dänisches Christentum, das oft eine unreine, ja ungereimte Verquickung von Bibelwahrheit und heidnischer Götterlehre ist. Sein radikaler Patriotismus wollte auch die Schrift im Dänengeiste übersetzen und auslegen und schreckte selbst vor grotesken Geschmacklosigkeiten nicht zurück. Nach Luthers Bibel verkaufte Esau sein Erstgeburtsrecht für ein Linsengericht; nach dem Urtexte aber sagt Isaaks leichtsinniger Sohn: »Gib mir von dem roten, dem roten Gericht da, und du kannst meinetwegen den Schmarren meiner Erstgeburt dir nehmen.« Grundtvig übersetzte unverfroren: Gib mir deine Rotegrütze – ein dänisches Nationalgericht – für meine Erstgeburt!

Und die Gemeinde lachte nicht bei solchen Bibel-Burlesken, sondern lauschte sehr andächtig. Seine Person und Rede ging oft ins Extreme, liebte die Pose, die höchsten Affekte und haschte nach Effekten, doch sein Feuergeist und seine Dichtersprache entzündete einen flammenden Patriotismus und schleuderte Feuer und Glut in die kühl bedächtigen Bauerngemüter. Grundtvig war der Mann, der in Nordschleswig die Flamme des Fanatismus entfachte, war der Zauberer, der die Massen bannte, die Männer begeisterte und die Frauen berückte, doch dieser Herzensbezwinger war auch ein toller Prophet, der über das nüchterne Nordland einen Geist der Großmannssucht ausgoß, sich und sein Volk mit dem Taumelbecher der Selbstüberhebung trunken machte und betrog.

Damals auf der Skamlingsbanker Höhe stand der Mann auf der Höhe seiner Geistesherrschaft und Macht. Von imponierender Gestalt und Gebärde, mit Seherblick, Poetengeist und Rednerzunge begabt, stand er als Hohepriester vor dem dort neu erbauten Altare des dänischen Chauvinismus. Der große Zauberer verschmähte aber durchaus nicht die kleinen Mittel des geriebenen Zaubermeisters, ja des Charletans, liebte die mystischen Allüren und Andeutungen, warf mit dröhnenden, dunklen Pythia-Worten, die er selbst nicht verstand, um sich und machte sogar allerlei symbolischen Hokuspokus, der, wie alles Blendwerk, auf den beschränkten Bauernverstand einen riesigen Eindruck machte. Unter prophetischen Gesten und Zeremonien, mit dem Finger in der Luft und auf der Erde und dem Altare Runen ritzend, zündete er auf dem Altare ein neues, reales Holzfeuer an, welches das heilige Feuer der Vaterlandsliebe hieß, das, heute hier entfacht, an dieser Stätte nie erlöschen und in allen Dänenherzen lohen solle von Ewigkeit zu Ewigkeit.

Grundtvig weihte den Berg, der Dänemarks Tabor und Tabernakel sei und die heilige Flamme bewahre, mit Runen und raunender Rede. Er segnete die vieltausendköpfige Masse nicht mit dem Kreuzes-, sondern mit dem Hammerzeichen, mit dem Hammer Thors, dem Wappen und der Waffe des Donnerers. Er segnete die Männer vom blondlockigen Knaben bis zum weißhaarigen Greise zu wahren Danemännern, zu Wikinger- und Walhall-Helden, die furchtlos und reckengroß am Tage des Kampfes mit Schwert und Keule sich wappnen, um den giftgeschwollenen, deutschen Drachen mit der Keule zu erschlagen und dem greulichen Fenriswolf des Südens, der die schaurige Höllenweise »Schleswig-Holstein meerumschlungen« heule, das Schwert in die Kehle zu stoßen und das geifernde Maul ihm auf ewig zu stopfen. Er segnete die Frauen mit dem Hammerzeichen und weihte sie alle von der blauäugigen Jungfrau bis zur welken Ahnmutter zu Priesterinnen des Volkes und Hüterinnen des heiligen Feuers der Vaterlandsliebe. Die Frauen, die am stillen Herde walten und weben, hätten die herrlichste und heiligste Pflicht, dem Danavolke starke Helden zu gebären, im Herzen ihres Gatten, ihres Bruders und Bräutigams die heilige Glut zu schüren.

Grundtvig nahm ihnen einen Eid ab mit den Worten: »Jedes echte Danaweib, das mit seinen begeisterten Freiaaugen in dieser Stunde zu mir emporblickt, erhebe die Hand und schwöre mir bei Asathor: Ich will das Feuer, das ich von Skamlingsbanke heimtrage, nie erlöschen lassen in meinem Herzen und Hause! Ich will der elenden Midgardsschlange der Verräterei mit Fuß und Ferse den Kopf zerstampfen! Ich will den Neiding und Feigling, den flauen und lauen und weibischen Mann verschmähen und verachten, ausreißen aus meinem Gedächtnis und ausspeien aus meinem Munde. Ich will keinen anderen als einen wahren Danemann ehren und lieben, inniglich und minniglich in mein Herz und meine Arme schließen, so wahr ich ein Danaweib bin! Ich habe es geschworen bei Odin, Asathor und allen Göttern, die in Hlidskjalf thronen.«

Bodil Hansen war, wie die meisten Frauen und Jungfrauen, bewegt, bezaubert und ganz im Bann des Propheten und Hohepriesters. Sie reckte dreimal die Hand empor zum patriotischen Schwurgelübde. Aber bei dem vierten und letzten »Ich will« erschrak ihr Blick, bissen ihre Lippen sich aufeinander, und ihre bebende Hand sank kraftlos in den Schoß zurück, ohne den letzten, furchtbaren Eid auf ihre Seele zu laden. Nach all den heiligen Schauern ging es eiskalt über ihren Rücken.

Jedoch bei dem brausenden Schlußgesang verflog das Grauen. In tiefer Bewegung fuhr Bodil vom Berge herunter, der Vater schaute, ob der Hemmschuh hielt, und brummte vor sich hin.

»War das nicht eine wunderbare Rede?« fragte die Tochter noch immer benommen und berückt.

»Nein, das war die Reise nicht wert und für meine Ohren ein fürchterliches Gequatsch,« lautete die prompte Antwort. »Ich mußte manchmal denken: Ist der Kerl mit seinem Feuer und Firlefanz ganz richtig im Kopfe? Der Grundtvig könnte sich auf dem Michaelismarkt in Hadersleben als Harlekin sehen lassen.«

Bodil war noch in verklärter Stimmung und wurde so empört über die rohe Kritik, daß sie vor Zorn die Sprache verlor und auf dem Rückwege kein Wort mehr sprach. – – –

Klaus Fangel hatte seinem lieben Bruder in Nyborg stets brüderliche Grüße gesandt, aber selbst nicht geschrieben, dieweil das Briefschreiben nicht seine Stärke war und er nie etwas Rechtes zu schreiben wußte. Jetzt im Juli hatte Klaus Stoff, wußte Klaus Neues, Wissenswertes, das den Festungsgefangenen wohl interessieren werde; trotz der hilden Heuernte setzte er sich hin und schrieb einen langen, liebevollen Brief, worin er ausführlich die Skamlingsbankfahrt schilderte, so wie sie ihm von der Wallfahrerin selbst begeistert beschrieben worden war. Klaus vergaß nichts, auch nicht einen Gruß zu bestellen. Bodil lasse ihn schön grüßen und hübsch bitten, die freie-unfreie Zeit und die gute Gelegenheit fleißig zu benutzen, um in Nyborg ein korrektes und feines Dänisch zu lernen.

Er hatte ihre Worte verdreht oder falsch verstanden, denn Bodil seufzte und sagte: »Wenn Heimreich ein halbes Jahr nach Kopenhagen gegangen wäre, so wäre das unselige Duell nicht gekommen, und er säße nicht in Nyborg, um unfreiwillige dänische Studien zu treiben.«

Heimreich las den Brief und legte den Kopf in die Hände, um nicht seine Tränen zu sehen und sich ihrer zu schämen, denn ein Mann soll und darf nicht weinen. Nun war der Riß unheilbar, die Kluft unüberbrückbar und seine Hoffnung gestorben. Darum war der Schmerz so bitter, weil er aus den ihm hinterbrachten Worten einen leisen Hohn heraushörte. Die Liebe kann schelten und zürnen und sogar hassen, aber die wahre Liebe kann nimmer höhnen oder spotten.

Der Festungsgefangene machte in der Woche keine Besuche und blieb in seinem komfortablen Gefängnis. Schließlich konnte er sich der Visiten der guten Nyborger, die ihm zwanzig Hausmittel gegen Unpäßlichkeit brachten, nicht erwehren, auch hatten die acht Tage den ersten, ärgsten Schmerz geheilt. Es ist ein gesundes, wackeres Herz gar nicht umzubringen, so wenig wie die Hoffnung, die Himmelsblume, die noch am Grabe blüht und das perennierende, zäheste Gewächs der Erde ist. Ob von Hitze verdorrt, von Tränen ertränkt, ob von Fäusten zerrissen, von Füßen zerstampft, wird die Blume beim ersten Sonnenstrahl ein frisches Herzblatt treiben. Heimreich hoffte wieder schüchtern und träumte von einem Wiedersehen, das kommen, von einem Wunder, das geschehen werde, und von einer großen Liebe, die das schiere Wunder zur schönen Wirklichkeit mache.

Schnell verging der Sommer in der Festungshaft, die Hälfte der gnädigen Strafe war verbüßt. Der Kandidat hatte seine Studien getrieben und ohne Studium seine hochdänische Sprache verfeinert, so daß er lachte und dachte: Bodil werde an seinem Dänisch ihre helle Freude haben. Als der Herbst, der griesgrämige Gassenkehrer, die jetzt so welke Blätter- und Blütenpracht des Lenzes mit dem Besen des Boreas wegkehrte, fühlte sich der fröstelnde Gefangene als ein Fremdling auf Fünen, und voll Heimweh beneidete er die Zugvögel, die auf freien Schwingen dieses Land verließen. Er zählte die Tage, die er noch in der Verbannung zu verbüßen habe – hundertzweiundsiebzig Tage und Nächte! Wie sollte er den endlosen Winter überwinden? Wohl trösteten ihn die guten Nyborger, daß sie vier Réunions mit Ball, auch einen l'Hombre-Klub hätten und die feinen Familien der Stadt einen »Mittag«, d. i. ein Diner zu geben pflegten.

Als die Oststürme heulten und das Meer vor dem Fenster in Aufruhr brachten, als die gischtgekrönten Wellen in langen Kolonnen heranstürmten, als wenn sie die Festung Nyborg berennen und bezwingen wollten, betrachtete er stundenlang das grandiose Schauspiel. Doch es wurde auch alltäglich, das bunte Bilderbuch des Großen Belts fesselte nicht mehr.

Eines Tages gab er im Hause des Obersten, dessen Sohn durch Faulheit den Germanisierungsbestrebungen viel Widerstand leistete, gratis und frustra eine Sprachstunde. Am Schluß sagte der wohlwollende Offizier urplötzlich: »In der nächsten Woche wird Seine Majestät nach Nyborg kommen, allergnädigst eine Parade ab- und ein Frühstück an- und einnehmen. Wenn Christian VIII. gut geschlafen und gut gegessen hat und gut gelaunt ist, ist Christian VIII. ein gnädiger Herr ...«

»Ja, seine Gnade wird in einem Ordensregen über Nyborg niedergehen ... aber ich nehme an, daß er mich nicht dekorieren noch zum Danebrog-Ritter schlagen wird,« sagte der Kandidat mit Galgenhumor.

»Wahrscheinlich nicht, aber vielleicht begnadigen ...«

Da schnellte der Kandidat wie ein Hampelmann in die Höhe und glotzte wie ein Laubfrosch, der aus seinem Glaskäfig entsprungen ist.

»Wir stellen Sie hin, wo das Auge der Majestät auf Sie fallen muß ... Christian VIII. ist sehr neugierig und wird fragen, wer der Herr ist. Ich rühme Ihr musterhaftes Betragen, Ihre reumütige Gesinnung, Ihre tiefe Königstreue und den Kummer Ihrer höchst loyalen Eltern. Ich wette, der König wird herantreten und ein paar Fragen an Sie richten.«

»Und ich bitte untertänigst um meine Begnadigung.«

»Nein, beileibe nur das nicht! Da kennen Sie Christian VIII. schlecht! Nein, Sie verbeugen sich tief, danken Seiner Majestät devot für die große Gnade, da Sie eine größere und härtere Strafe verdient hätten. Das Weitere wird sich finden, wird gut ... oder schief gehen.«

Heimreich lebte in Unruhe und Erwartung. Wenn nur das Wasser blinkstill wurde, damit der König über den Großen Belt sich wage! An dem großen Morgen schien die Sonne, und glitzerte das Wasser – das war das sprichwörtliche Glück Christian VIII., den man in Kopenhagen den »Gutwetter-König« nannte. Der Gefangene war von sieben Uhr an in voller Gala, fuhr nervös mit der Bürste immer wieder über Hut und Rock, befahl seinem Leibburschen Jens, ein Fernrohr zu beschaffen, und stand am Fenster, sich die Augen aus dem Kopfe stierend. Keine Begleit- und Orlogschiffe zu sehen! Der König kam nicht. Da donnerten die Salutschüsse der Batterien. In einer schlichten Schaluppe landete der Landesherr am Bollwerk.

Heimreich stürzte von dannen, um auf dem Exerzierplatze seine ihm angewiesene Aufstellung zu nehmen und des Königs Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Pfui Tücke! Kein Taschentuch war in all seinen Taschen. Um nicht mit langer Nase vor der Majestät zu stehen und mit noch längerer Nase abzuziehen, borgte er sich von seinem Burschen und Wächter das rotgeblümte Nastuch des tapferen Jens, ging er in ein nahes Schilderhaus, wo man ihn beim Erscheinen der Majestät trompeten hörte.

Christian war ein sehr stattlicher Herr von königlicher Erscheinung, besaß Geist und Verstand und wußte durch sein Wesen die Menschen für sich einzunehmen, aber selbst in seinem freundlichsten Blick war etwas, das kein Vertrauen erweckte, und sogar seine Intimsten sahen nie in sein Herz hinein, noch was seine innerste Ueberzeugung war. Der achte Christian hatte keine sogenannten Königsaugen, aber ein paar kluge Lichter, die alles sahen, schielte ein wenig nach dem fein gekleideten Herrn und dem unbekannten Gesicht, das seine Neugierde erregte und erregen sollte. Er kannte ja so ziemlich alle anständig gekleideten Leute in seinem ziemlich kleinen Königreich und mußte wissen, wer das sei. Seine Majestät wurde orientiert, schritt die Front ab, richtete ein paar Worte an den Festungsgefangenen und scherzte sogar: »Sie haben sich ja bei Wasser und Brot vorzüglich konserviert. Woher haben Sie trotz des Arrestes die blühende Gesichtsfarbe?«

»Majestät von Gottes Gnaden!« Der witzige Kandidat ließ hinter Majestät das Komma fort.

Der Fürst lachte über die gute Antwort, lachte herzhaft und klopfte dem Häftling jovial die Schulter. »Ich habe schon bemerkt, daß der Oberst mich breit schlagen und meine Barmherzigkeit erregen will ... aber Sie sind just kein Anblick zum Erbarmen.«

Heimreich hatte wenig Hoffnung und hielt es nicht für nötig, ans Bollwerk zu gehen und bei der Abfahrt des Königs Hurra zu rufen.

Der Oberst kam vom Hafen, stieg in Paradeuniform die Treppe des Torhauses hinauf und brüllte: »Hurra! Sie sind begnadigt! Bringen Sie Wein her!« Die rauhe, rostige Kommandierkehle klang wie die Stimme eines Engels.

Fangel verließ das trauliche Torgefängnis und das gastfreie Nyborg. Beim Abschied haben viele Bürger ihm die Hand geschüttelt, und ein Mann weinte. Sein Wächter und Bursche, der brave Jens und Jüte, vergoß eine große, dicke Träne. Freilich, nun hörten die schönen Trinkgelder auf, und das Exerzieren und Schildwachstehen beim Battaillon fing wieder von vorne an. Der Scheidende fuhr mit dem Schiff nach Kiel und wollte seine Heimat nicht wiedersehen, ehe er die Scharte ausgewetzt, das Examen bestanden und seinen Ruf rehabilitiert habe. Er ging nach Kiel und sofort nach Schleswig, wo er bei dem Onkel und der Tante Brodersen – einem wohlsituierten Herrn, ehrbaren Senator der Stadt und Schwager seiner Mutter – wohnte, um sein Gesuch um Zulassung zur Prüfung persönlich zu befürworten. Die Sache konnte nämlich für einen frisch entlassenen Festungsgefangenen einen Haken haben. Der Vorsitzende der geistlichen Behörde auf Schloß Gottorp erklärte ihm kühl, daß ein blutig verlaufenes Pistolenduell für einen Kandidaten der Theologie eine sehr zweifelhafte Rekommandation sei, und daß er auf einem Bogen Stempelpapier einen Antrag zu machen und die Entscheidung abzuwarten habe. Zu seinem Glück war sein Onkel, der Senator, Nachbar des hochwürdigen und wackeren Generalsuperintendenten. Ein so kleiner und menschlicher Umstand kann eines Menschen Schicksal bestimmen und die Sünden eines armen Kandidaten zudecken.

Heimreich rechnete schon niedergeschlagen damit, daß die Heimat ihm verschlossen sei – was dem Schleswig-Holsteiner, der nördlich der Königsau als Fremdling und südlich der Elbe auch nicht wohl sich fühlt, das schwerste Mißgeschick ist –, und daß er irgendwo in Deutschland sein Glück versuchen müsse. Doch der Senator sprach mit dem Generalsuperintendenten und dieser mit dem Konsistorium.

Heimreich wurde zum examen rigorosum, das im Dezember auf Gottorp abgehalten wurde, zugelassen und ging nach Kiel, um schnell die Bibliothek für die eine schriftliche Arbeit zu benutzen. Selten verließ er sein Zimmer, sah Reuter nicht und hörte nur von anderen, daß sein einstiger Freund gesund und noch immer mit Fräulein Meier verlobt sei und noch immer unmittelbar vor dem Doktorexamen stünde. Das fleißige Studium in Nyborg trug jetzt volle Früchte. Schwer mit Weisheit beladen ging er in die Prüfung, die er trotz des schwarzen Kreuzes in seiner Konduite mit der rühmlichen Auszeichnung bestand.

Jubelnd schrieb er es nach Hause. Das war ein Freudentag im Hyllerupper Pastorat, und Frau Fangel in ihrem redseligen Glück erzählte allen Leuten, daß ihr Sohn die rühmliche Auszeichnung habe, die sehr rar sei und die – im Vertrauen gesagt – nicht einmal ihr lieber Mann, der doch gewiß ein gelehrter Herr sei, im Amtsexamen erlangt habe.

Es ist ein banales, verbrauchtes und bleibt darum doch ein wahres Wort, daß ein Glück selten allein kommt. Heimreich erhielt einen Brief von Bodil Hansen – sein Herz ging in Stößen und Stürmen. Sie sandte ihren herzlichen Glückwunsch, erzählte vom Vater und von Bosen und sagte zum Schluß, daß sie auch die Bibel und besonders Römer 4, V. 18 studiere.

Er ritz die Schrift vom Borde, blätterte hastig und las die Stelle: Er hat geglaubt auf Hoffnung, da nichts zu hoffen war. Das gab seiner Liebe neue Lebenskraft und seiner Hoffnung neue Geduld.

Das Konsistorium empfahl dem Kandidaten eine praktische Prädikanten-Tätigkeit. Ein alter, apoplektischer Pastor in Gaarden bei Kiel begehre sofort, damit die Weihnachtspredigten gehalten würden, einen Kandidaten zur Aushülfe. Heimreich liebte zwar nicht die geistliche Zwitterstellung, wo ein Kandidat im Kellnerfrack auf der Kanzel predigt und am Grabe pastoriert, fügte sich aber der höheren konsistorialen Fügung und Verfügung. Er fand in Gaarden einen armen, halb gelähmten Greis, dem die Zunge nicht gehorchte, und der mit stotterndem Eifer und kindlich-seniler Einfalt ihm erzählte, daß er ein paar kleine Ohnmachtanfälle gehabt habe, aber sehr bald sich erholen und dann selbst der Mann sein werde.

Das Prädikantenamt fand bald ein Ende.


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