Hans Dominik
Lebensstrahlen
Hans Dominik

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William Spranger warf mißmutig einen Brief Eisenlohrs, den er eben seinem Partner vorgelesen hatte, auf den Tisch.

»Ist typisch für alle Erfinder, Kelly, daß sie niemals fertig werden. Eben noch himmelhoch jauchzend, zu größten Taten und Unternehmungen bereit. Dann kommt ihnen wieder eine neue Idee. Sie müssen noch etwas verbessern, irgendwelche Kleinigkeiten noch schöner machen, und vertrödeln darüber kostbare Zeit. Ich hätte nicht gedacht, daß mein Freund Eisenlohr auch nicht anders als die andern ist, aber nach dem Brief hier ist's leider der Fall.«

James Kelly griff nach dem Schreiben Eisenlohrs. Während er es noch einmal für sich durchlas, krauste sich seine Stirn. Er zog ein Gesicht, als ob er nach etwas wittere, brummte, während er zu Ende las, Unverständliches vor sich hin.

»Es wird nicht anders, Kelly, und wenn Sie's auch dreimal lesen«, meinte Spranger. »Wir haben es eben mit einem Erfinder zu tun, der –«

»– der uns abhängen will, weil er etwas Besseres in petto hat.«

»Ausgeschlossen, Kelly! Das würde mein Freund Eisenlohr nicht tun.«

»Freundschaft hin und Freundschaft her – hier dreht sich's um business. Da kann ich mich auf meine Nase verlassen, und der Braten hier ist leicht zu riechen; ich sage Ihnen, Spranger: Der Junge will abspringen!«

Spranger nahm den Brief wieder an sich. »Ich glaube es zwar nicht. Kelly, aber ich werde ihm sofort schreiben.«

Spranger wollte sich erheben, um in sein Zimmer zu gehen. Kelly hielt ihn zurück. »Das hat keinen Zweck, Spranger. Hier heißt es: schnell handeln und entschlossen zupacken, sonst haben wir das Nachsehen.«

Kelly stand auf; er ging zu seinem Schreibtisch, fing an die Schubladen auszuräumen und Schriftstücke in seine Aktentasche zu packen.

»Was haben Sie vor?« fragte Spranger.

»Wir wollen zum Flugplatz fahren. Die Zimmer hier behalten wir. Unser Gepäck bleibt gleichfalls hier. Stecken Sie das Notwendigste in Ihre Handtasche. Wir müssen an Ort und Stelle ausfindig machen, was für Pläne Eisenlohr hat. Beeilen Sie sich, Spranger! Wir haben keine Zeit zu verlieren.«

Noch einmal versuchte Spranger einen Einwand. »Das Frühflugzeug ist fort, Kelly. Das nächste geht erst in vier Stunden. Wir können unsere Vorbereitungen ohne Überstürzung treffen.«

»Sie scheinen in Europa unser amerikanisches Tempo zu verlernen«, erwiderte Kelly mit einem ironischen Seitenblick zu seinem Partner hin. »Ich denke, die Firma Kelly and Company ist noch in der Lage, sich ein Sonderflugzeug zu leisten, wenn es um eine wichtige Sache geht.« –

»Ein Sonderflugzeug wünschen die Herrschaften – nach Deutschland – möglichst sofort?« sagte ein Clerk im Büro des Pariser Flughafens zu Kelly. »Einen Moment, meine Herren! Ich werde sehen. Wollen Sie inzwischen bitte Platz nehmen!«

Er verschwand in einem Nebenraum und kam nach kurzer Zeit in Begleitung eines anderen Angestellten zurück.

»Wann können wir starten?« knurrte Kelly.

»Ich höre soeben, mein Herr«, sagte der Clerk, während er ein paar Verbeugungen riskierte und sich die Hände rieb, »daß eine viersitzige Maschine zum Start bereit steht. Ein deutscher Herr hat sie gechartert. Sie könnten mitfliegen, die Reise würde sich für Sie verbilligen.«

»Also als Beipack. Sozusagen als Zuladung«, brummte Kelly. »Wohin geht die Maschine?«

»Der deutsche Herr hat sie für einen Flug nach Ihlefeld gemietet. Aber die Herrschaften könnten danach selbstverständlich zu jedem andern Hafen gebracht –«

Der Clerk konnte seinen Satz nicht vollenden.

»Ihlefeld? Gut, Mister!« unterbrach ihn Kelly. »Da wollen wir auch hin. Ist der Herr, der die Maschine gechartert hat, bereit, uns mitzunehmen?«

Der Clerk nickte. »Jawohl. Unter der Voraussetzung, daß die Kosten durch drei repartiert werden.«

»Gemacht!« schrie Kelly. »Kommen Sie, Spranger!«

Schnell waren alle Formalitäten erfüllt.

»Den Preis für den Flug hat der andere Herr bereits voll bezahlt«, sagte man Kelly im Büro. »Sie müssen direkt mit ihm abrechnen.«

Und dann gingen die beiden Inhaber der Firma Kelly and Company, von einem Beamten geführt, über das Flugfeld auf eine Maschine zu. Als erster kletterte William Spranger über die Schwinge in die Kabine und blieb erstaunt stehen, als er den Insassen erkannte.

»Herr Reinhard! Hier treffen wir uns wieder! Sie wollen nach Ihlefeld . . . Vermutlich auch zu Doktor Eisenlohr . . .«

»Vielleicht später, Mister Spranger. Zuerst nach Ihlefeld«, antwortete Reinhard, während er den Händedruck des Amerikaners erwiderte und danach Kelly begrüßte.

Die Motoren des Flugzeuges brüllten auf. Es jagte über den weiten Platz, schraubte sich in Kurven empor und schoß auf Ostkurs davon. Während die Felder und Wälder Frankreichs unter der Maschine dahinzogen, brachte Kelly als Busineßman zunächst die Abrechnung mit Reinhard ins klare. Nachdem das erledigt war, versuchte er ein Gespräch mit ihm anzuknüpfen. Reinhard gab willig Antwort auf einige Fragen des Amerikaners und stellte dann selbst eine.

»Übrigens, Mister Kelly, wenn ich danach fragen darf: Ihre Zahnschmerzen sind Sie glücklich losgeworden?«

Kelly warf seinem Partner, der auf einem der Vordersitze Platz genommen hatte, einen verdrießlichen Blick zu.

»Sie hätten auch den Mund halten können, Spranger! War absolut nicht nötig, die dumme Geschichte weiterzuerzählen. Wenn ich den Kerl erwische, der mir das besorgt hat, drehe ich ihm noch nachträglich den Kragen um!«

»Bezähmen Sie Ihren Tatendrang, Mister Kelly!« lachte Reinhard. »Überlassen Sie die Angelegenheit lieber den Behörden.«

»Behörden! Pah! Die kriegen den Kerl ja niemals!« sagte Kelly wegwerfend.

»Vielleicht doch, Mister Kelly. Ich hoffe stark, daß man ihn in Deutschland fassen wird.«

»Was? Bigot ist nach Deutschland gegangen? . . . Geflohen ist wohl richtiger!«

»Nicht Bigot, Mister Kelly! Der andere, sein Komplice – Sie wissen, Mister Spranger, der Mann, der die famosen Barren unter die Leute gebracht hat!«

»Ebenso ein Schwindler wie Bigot«, knurrte Kelly dazwischen.

»Sie denken ihn in Deutschland zu fassen?« fragte Spranger.

»Ich hoffe es stark. Es wird von den Nachrichten abhängen, die ich bei unserer Landung in Ihlefeld vorfinde. Man ist Mister Hartford stark auf den Fersen.«

»Wäre mir noch lieber, wenn Sie den andern Schwindler, den Bigot, faßten«, meinte Kelly und machte sich's in seiner Ecke zu einem Schläfchen bequem. –

Rhein und Weser waren überflogen. Über die grünen Höhen des deutschen Mittelgebirges stürmte die schnelle Maschine in unermüdlicher Jagd weiter. Tief unter ihr reckte sich aus dichtem Buchenlaub, dem der Herbst schon einen leichten Bronzeglanz gegeben hatte, ein grauer Bergfried empor.

»Oh, eine Ruine! So etwas haben wir in Amerika nicht«, sagte Kelly.

»Keine Ruine, old man«, verbesserte ihn Spranger. »Das ist die Eulenburg, auf der Doktor Eisenlohr wohnt.«

Kelly schüttelte den Kopf. Es war ihm unverständlich, wie ein moderner Mensch in solch altem Gemäuer hausen konnte. Noch während er sich anschickte, seine Meinung darüber zu äußern, ließ das Geräusch der Motoren nach. In langem Gleitflug ging der Eindecker nach unten, machte noch eine Kurve gegen den Wind und rollte auf dem Flugplatz von Ihlefeld aus.

Sie waren ohne Zwischenlandung von Paris durchgeflogen. Die Zollrevision mußte hier stattfinden. Dem vielgereisten Kelly fiel es auf, wie überraschend glatt und schnell sie in einer Minute erledigt war, nachdem Reinhard ein paar Worte mit den Zollbeamten gesprochen hatte. Während der Amerikaner sich noch darüber wunderte, eilte bereits ein anderer Mann, den Kelly seiner Uniform nach auf einen Polizeibeamten taxierte, hinzu, grüßte Reinhard militärisch und übergab ihm ein Schriftstück. Leise dämmerte in James Kelly, als er es sah, die Ahnung auf, daß dieser Reinhard, von dem er bisher nur als von einem pensionierten Hauptmann gehört hatte, doch noch etwas anderes sein mußte.

Reinhard durchlas den Bericht, und es war unverkennbar, daß der Inhalt ihn stark überraschte.

»Unglaublich! Das wäre der Gipfel der Frechheit!«

Kelly und Spranger besprachen sich gerade, daß sie sich einen Wagen bestellen wollten.

»Sie können mit mir fahren. Ich muß auch zur Eulenburg«, unterbrach Reinhard ihr Gespräch. »Führen Sie die Herren zu meinem Wagen«, wandte er sich an den Polizisten, sprach dann weiter zu den Amerikanern: »Vorher muß ich noch telephonieren. Ich werde Herrn Doktor Eisenlohr Ihren Besuch melden.« –

»By Jove, das ist ein feiner Wagen!« sagte Kelly zu Spranger, als sie bei einem Kraftwagen haltmachten. »Herr Reinhard scheint ein wohlhabender Mann zu sein!«

»Herr Reinhard ist –«, sagte Spranger und brach ab, ohne den Satz zu Ende zu bringen.

Unterdessen stand Reinhard im Verwaltungsgebäude des Flugplatzes am Telephon und wartete darauf, daß Eisenlohr sich vom andern Ende der Leitung her meldete.

*

Als Hartford am späten Abend noch einmal in das Zimmer Brucks kam, schien der Patient in festem Schlaf zu liegen.

Eine kurze Weile betrachtete ihn Hartford, dann ging er leise wieder aus dem Raum.

Er schläft ruhig und fest! dachte er, während er über den Flur in sein eigenes Zimmer zurückkehrte. Morgen früh werde ich weiter mit ihm reden. –

Percy Hartford irrte sich. Dr. Bruck schlief nicht. Er schlug die Augen auf, sowie Hartford ihn verlassen hatte, bewegte sich, richtete sich auf seinem Lager etwas auf und begann nachzudenken.

Sein ganzes bisheriges Leben zog in dieser Nacht an seinem Geiste vorüber. Das gemeinsame Studium mit Eisenlohr . . . Wanderjahre . . . Taumeljahre danach, in denen er sich fast zu verlieren drohte . . . das zweite Zusammentreffen mit Eisenlohr . . . eine Zeit ernster, zielbewußter Arbeit hier auf der Eulenburg . . . bis von neuem Versuchung an ihn herantrat . . . Goldrausch . . . Millionenrausch . . . Unehrlichkeit gegen Eisenlohr, dem er soviel zu verdanken hatte. Verhandlungen, Abmachungen mit dem Goldmacher aus Frankreich . . .

Er erschrak jetzt bei der Erinnerung daran. Zum zweitenmal dann Untreue, als der Zufall ihm den amerikanischen Professor über den Weg führte . . . Pläne, dem Versucher über den Atlantik zu folgen, alles, was er hier erfahren und gelernt hatte, dort im fremden Dienste gegen den auszuwerten, von dem es doch recht eigentlich stammte, und dann . . .

In einem Flammenmeer hatte er plötzlich zu stehen geglaubt . . . wie ein höllisches zuckendes Feuer hatte es plötzlich seinen Körper durchströmt . . . tausend Gedanken, Erinnerungen, Gefühle hatten im Bruchteil einer Sekunde sein Hirn durchzuckt, und dann war plötzlich alles aus gewesen, tiefe Nacht und Bewußtlosigkeit um ihn.

Er schloß die Augen und öffnete sie wieder, um die Bilder zu verjagen, die auf ihn eindrangen.

Mit Gewalt versuchte er, sich zu klarem Denken zu zwingen. Es war ein Schlag von der elektrischen Hochspannung! Es kam von der Strahlröhre, sagte er sich wieder und immer wieder mit lautlosen Lippen, aber die Erinnerung an das Durchlebte war stärker, riß wie eine Sturmflut alle Dämme nieder, die er mit den Mitteln der Vernunft dagegen aufzubauen versuchte.

Wie der Tag des Jüngsten Gerichts . . . ein Tag, an dem Raum und Zeit nicht mehr galten, erschien ihm auch jetzt noch jener Moment, in dem die Hochspannung seinen Körper traf . . .

Erst nach langen Stunden kam Dr. Bruck wieder zur Ruhe und verfiel bis zum hellen Morgen von neuem in einen tiefen Schlaf. –

»Wo kommen Sie her, Herr Michelmann?« fragte Hartford am nächsten Vormittag Eisenlohrs altes Faktotum, das mit einem Tablett in den Händen über den Flur kam.

»Von Herrn Doktor Bruck, Herr Professor. Der Herr Doktor hat sich das Frühstück auf sein Zimmer bringen lassen, weil er sich von gestern noch etwas angegriffen fühlt.«

»Aber sonst ist er doch wieder wohlauf?«

»Jawohl, Herr Professor. Er ist angezogen und sitzt am Tisch. Er hat auch ordentlich gefrühstückt«, antwortete Michelmann und zog mit seinem Tablett ab.

Percy Hartford klopfte bei Bruck an und trat ein. Während er dem Doktor gegenüber Platz nahm, beobachtete er ihn aufmerksam und mußte eine Veränderung an ihm feststellen, ohne sich über deren Art recht klarwerden zu können. Vorsichtig brachte er die Unterhaltung auf ihre früheren Verabredungen zurück, sprach von Zukunftsplänen und wurde um so lebhafter, je teilnahmloser Bruck ihn anhörte. In lockenden Farben malte er ihm die künftige Zusammenarbeit in Schenektady aus. Enttäuscht ließ er endlich davon ab, als auch das nicht verfing.

»Ich sehe, Herr Doktor«, sagte er bedauernd, »daß Sie noch etwas leidend sind, wir wollen später davon sprechen.« Er machte Miene, sich zu erheben, als Bruck den Mund öffnete.

»Bleiben Sie bitte, Herr Professor! Wir können gleich darüber sprechen.«

Hartford sah ihn erwartungsvoll an. Bruck fuhr fort: »Ich darf nicht von hier fortgehen, Herr Professor. Ich habe gegen Eisenlohr gefehlt, ich muß versuchen, es wiedergutzumachen.«

Der Amerikaner warf ihm einen verwunderten Blick zu und begann ernstlich an dem Geisteszustand Brucks zu zweifeln, als der weitersprach:

»Undankbar und untreu habe ich gehandelt! In der letzten Nacht ist es mir klargeworden. Ich war verblendet! Falscher Ehrgeiz, Sucht nach Reichtum, Neid auf einen andern, der viel mehr weiß und kann als ich, haben mich verführt . . .« Bruck schlug, während er sprach, die Hände vors Gesicht. »Oh, mein Gott, wohin wäre ich gekommen, wenn nicht – der Unfall gestern, der Schlag – ich bin dicht am Tode vorbeigegangen, Herr Professor. Es ist ein Wunder, daß ich noch am Leben bin . . . Einen Unfall mögen Sie es nennen – ich denke anders darüber. Ich sehe einen Wink des Schicksals darin, das mich im letzten Augenblick vom Abgrund zurückriß!«

Hartford saß da, ohne ein Wort zu sprechen. Bruck ließ die Hände wieder sinken und blickte an dem Amerikaner vorbei ins Leere.

»Verblendung war alles! Unrecht! Torheit!« Er griff in seine Tasche, riß die Wechsel Bigots heraus und sprach weiter: »Auch das muß fort! Sündenlohn für den ersten Verrat!« Mit jähem Ruck zerfetzte er die Wechsel, warf die zerrissenen Papiere vor sich auf den Tisch, sank, wie von einer Last befreit, in den Stuhl zurück.

Mit Staunen zuerst, mit steigender Besorgnis danach hatte Hartford das Treiben Brucks beobachtet. Immer klarer wurde es ihm, daß er es mit einem Menschen zu tun hatte, der aufs schwerste erschüttert und wahrscheinlich immer noch krank war. Daß Bruck die Wechsel Bigots zerriß, darüber regte sich Hartford nicht weiter auf, es war nach seiner Meinung das einzig Vernünftige, was man mit den wertlosen Wischen tun konnte. Aber diese geistige Wandlung, die er bei Bruck feststellen mußte, erweckte Befürchtungen in ihm. Wenn der Doktor in solcher Stimmung zu Eisenlohr ging und dort in der gleichen Weise weitersprach, dann mußte auch die zweifelhafte Rolle, die er, Hartford, dabei gespielt hatte, bald zutage kommen, dann war es mit seinem Aufenthalt hier auf der Eulenburg vielleicht noch viel schneller vorbei, als er es so schon fürchten mußte.

Vorsichtig suchte er nach ein paar Worten, um den Erregten zu beruhigen, und veranlaßte ihn, sich auf ein Ruhebett niederzulegen. Sorgfältig breitete er eine Decke über ihn aus und wartete, bis Bruck die Augen wieder schloß. Geräuschlos verließ er danach den Raum und kehrte in sein eigenes Zimmer zurück. –

»Schreiben Sie's mir lieber auf, Herr Doktor, damit ich nichts vergesse. Ich hole schon immer den kleinen Zweisitzer vors Tor«, hatte Michelmann vor zehn Minuten zu Eisenlohr gesagt und war zur Garage gegangen. Jetzt kehrte er in Eisenlohrs Zimmer zurück; der übergab ihm einen langen Zettel, auf dem die Einkäufe notiert standen, die Michelmann in Ihlefeld besorgen sollte. Das alte Faktotum las den Zettel durch und steckte ihn zu sich. Eisenlohr schlug ihm auf die Schulter.

»So, Michelmann, brausen Sie schleunigst ab und vergessen Sie das Wiederkommen nicht!«

»Wird alles schönstens besorgt werden, Herr Doktor«, sagte Michelmann, machte einen Kratzfuß und schlurfte zur Tür. Gerade, als er sie öffnete, klingelte das Telephon auf Eisenlohrs Schreibtisch. Etwas langsamer, als an sich wohl nötig war, zog der Alte die Tür hinter sich zu und hatte so Gelegenheit, noch einiges von dem zu vernehmen, was Eisenlohr in den Apparat sprach.

»Wie . . .? Ein Schwindler . . .? Ein falscher Professor . . .? Ein anderer Hartford . . .?« hörte er Eisenlohr noch sagen; dann hielt er es doch für angebracht, die Tür endgültig zu schließen. Kopfschüttelnd, allerlei vor sich hinbrummelnd, ging er die Treppe hinunter, stieg in den Wagen und fuhr den Burgweg hinab, in Gedanken immer noch mit dem beschäftigt, was er eben aufgeschnappt hatte.

Etwa hundertfünfzig Meter mochte er zurückgelegt haben, als er ein dumpfes Dröhnen hinter sich hörte, ein Geräusch, das ihm nicht unbekannt war. Schon öfter als einmal hatte er es vernommen, wenn Eisenlohr sich veranlaßt sah, die schweren Schiebetüren des Burgtores in Bewegung zu setzen.

Das ist schlau von unserm Herrn Doktor, dachte der Alte bei sich, während er weiterfuhr. Er macht den eisernen Vorhang zu. Er will den falschen Professor erst gar nicht in die Burg 'reinlassen. Sehr richtig. Hätte ich an seiner Stelle ebenso gemacht.

Und dann mußte Michelmann sich um den Weg kümmern, der jetzt ein paar scharfe Kurven machte, und hatte vorläufig nicht mehr Zeit, über das vorhin Vernommene nachzudenken. –

Mit steigender Erregung hörte Eisenlohr am Telephon den Bericht Reinhards an, konnte, wollte das Gehörte nicht glauben, fragte wiederholt dazwischen, bis Reinhard ungeduldig wurde.

»Es ist schon so, Herr Doktor!« rief der auf dem Flugplatz in Ihlefeld in seinen Apparat. »In einer halben Stunde kann ich bei Ihnen sein – Hauptsache ist, daß der Kerl nicht vorher ausrückt!«

»Einen Moment, Herr Hauptmann, in drei Sekunden bin ich wieder da!« rief Eisenlohr zurück, legte den Hörer auf den Tisch, sprang zur Wand und bewegte einen Schalter. Im nächsten Augenblick hatte er den Hörer schon wieder am Ohr.

»Die Klappe ist zu, Herr Reinhard! Wer jetzt in der Burg ist, kann nicht mehr 'raus!« Er mußte es in das Mikrophon schreien, denn ebenso wie in den andern Räumen war auch in seinem Zimmer das rollende Dröhnen der sich schließenden schweren Schiebetüren laut vernehmbar. Erst nachdem es verklungen war, konnte er wieder ruhiger sprechen, konnte Reinhard die Maßnahmen, der er eben getroffen hatte, erklären und ihm Weisung geben, wie er sich bemerkbar zu machen habe, wenn er vor dem verschlossenen Tor ankomme.

Befriedigt hing Reinhard in Ihlefeld den Hörer an den Haken, um zu seinem Wagen zu gehen; erregt warf ihn Eisenlohr bei sich auf die Gabel und stürmte die Treppen hinunter in den Keller, wo er Holthoff und Braun bei den Öfen wußte. Noch außer Atem von dem schnellen Lauf, stand er vor den beiden.

»Was haben Sie, Herr Kollege?« fragte Braun und schob, seine Brille bedächtig von der Stirn auf die Nase. »Sie scheinen etwas erregt zu sein.«

»Mit Grund, Herr Professor. Wissen Sie das Neueste?« Stoßweise kamen die Worte aus Eisenlohrs Mund. »Der Mensch, der hier seit achtundvierzig Stunden bei mir zu Gast ist – der Amerikaner –«

»Sie sprechen vom Kollegen Hartford, Herr Doktor?« fragte Braun befremdet.

»Ein schöner Kollege, Herr Braun . . . ein Schwindler!«

»Herr Professor James Hartford ein Schwindler? Das ist doch unmöglich!«

»Aber begreifen Sie doch endlich, Herr Professor Braun. Professor James Hartford ist noch in Paris. Ein anderer, ein Schwindler – ein weggejagter Laborant hat hier bei uns seine Rolle gespielt – hat uns alle hinters Licht geführt . . .!«

Braun ließ den Unterkiefer sinken. Mit geöffnetem Mund stand er da, schnappte nach Luft, starrte Eisenlohr verdutzt an und bot dabei einen Anblick von überwältigender Komik.

»Es ist schon so, Herr Professor«, sagte Eisenlohr, trotz seines Ärgers hell auflachend. »Wir sind dem Gauner alle aufgesessen!«

Braun schüttelte den Kopf, als ob er gegen die Behauptung Eisenlohrs protestieren wollte.

»Er kam mir doch gleich verdächtig vor, er trug keine Brille«, murmelte er vor sich hin, während er seine eigenen Gläser zu putzen begann. »Er war auch zu umgänglich . . . zu konziliant . . . viel zu bescheiden für einen –« Braun wollte »Professor« sagen, verschluckte jedoch das Wort im letzten Moment und schwieg, als Holthoff sich einmischte:

»Ich werde die Polizei anrufen, Herr Eisenlohr. Raus kann der Mensch ja nicht mehr, dafür sorgt unser eiserner Vorhang.«

»Nicht mehr nötig, Herr Holthoff!« wehrte Eisenlohr ab. »Ich erwarte anderen Sukkurs, aber wir können vorarbeiten. Wir wollen den Burschen in seinem Zimmer einschließen. Kommen Sie, meine Herren, wir wollen zu dritt hinaufgehen! Worauf warten Sie noch? Kommen Sie doch!« forderte er Holthoff ungeduldig auf, als der zögerte und sich suchend umsah.

»Es dürfte nicht unzweckmäßig sein, etwas Handfestes mitzunehmen«, erwiderte Holthoff, während er nach einer soliden Schürstange griff.

»Ach so! Sie haben recht, Holthoff. Man kann nicht wissen, wie der Herr unsern Besuch aufnimmt. Ich denke, das hier kann ganz nützlich sein.« Eisenlohr langte sich ein biegsames Kabelende, ließ es ein paarmal durch die Luft pfeifen und ging damit zur Treppe. Holthoff und Braun folgten ihm. –

Hartford schrak in seinem Zimmer zusammen, als ein metallisches Rollen durch den Raum dröhnte. Er sprang auf, blieb stehen, bis es wie ein fernes Donnergrollen verklungen war. Unheilverkündend schien es ihm zu sein; sofort mußte er erfahren, was es zu bedeuten hatte. Bruck würde es ihm sagen können. Schnell lief er in dessen Zimmer hinüber, um ihn zu fragen. Aber der war wieder in einen festen Schlaf gefallen. Obwohl Hartford ihn rücksichtslos anrief und rüttelte, bedurfte es geraumer Zeit, bis er ihn einigermaßen ermunterte. Mit vieler Mühe holte er ein paar unklare Worte aus ihm heraus.

»Ja? – Ja? – Der Eiserne? – Eisenlohr hat ihn 'runtergelassen – soll keiner 'rein in die Burg – oder keiner 'raus – soll keiner 'raus – Professor . . .«

Bruck warf sich auf die Seite und schlief wieder ein. Hartford kümmerte sich nicht weiter um ihn. Er hatte genug gehört. Der kritische Moment, mit dem er seit zwei Tagen rechnete, war da. Schnellste Flucht war geboten.

Eben öffnete er die Tür, um Brucks Zimmer zu verlassen, als er eilige Schritte auf dem Flur vernahm. Schnell zog er sie wieder zu und lauschte, hörte Stimmen, hörte seinen Namen nennen, hörte, wie die Tür zu seinem Zimmer aufgerissen wurde, hörte, wie Eisenlohr, Braun und Holthoff dort hineinstürmten.

Einen Augenblick drohte sein Herzschlag zu stocken, Leichenblässe überzog sein Gesicht, er mußte sich am Türpfosten stützen. Im nächsten Moment hatte er sich wieder in der Gewalt. Um Bruchteile von Sekunden ging es. Jeden Augenblick konnten die Verfolger auch hierherkommen. Sicher würden sie kommen, sobald sie das andere Zimmer leer fanden.

Hartford lief den Flur entlang, erreichte die Treppe, die nach unten führte, und eilte sie hinab; er kam auf einen andern Flur und folgte ihm ein Stück, blieb atemschöpfend stehen und horchte wieder. Noch war nichts zu hören. Die Verfolger mußten noch weiter entfernt sein. –

Das Zimmer Hartfords war leer; mit einem Blick überzeugten seine drei Verfolger sich davon.

»Er ist nicht mehr hier«, sagte Professor Braun, der an den Schreibtisch getreten war und eine Schublade aufzog.

»Aber er ist noch vor kurzer Zeit hiergewesen«, stellte Holthoff an einer Tabakspfeife fest, aus der noch schwacher Rauch emporkringelte.

Eisenlohr nahm ihm das Korpus delikti aus der Hand und betrachtete es eingehend.

»Es können höchstens fünf Minuten vergangen sein«, meinte er nachdenklich, »seitdem Hartford das Zimmer verließ. Da war das Tor längst geschlossen. Wir haben unseren Mann sicher. Wir brauchen ihn nur zu suchen . . .« Ein Ausruf vom Schreibtisch her ließ Eisenlohr dorthin blicken. Professor Braun stand über ein Dokument gebeugt, dessen Inhalt ihn sichtlich in Aufregung versetzte. Eisenlohr trat zu ihm.

»Was gibt's, Herr Braun?«

Der Professor hielt ihm das Schriftstück hin. »Sehen Sie selbst, Herr Eisenlohr: Seine Ernennung zum Professor . . . Percy Hartford . . . steht hier. Der Mann heißt doch James.«

»Der richtige Mann heißt so, Herr Braun. Das hier war eben der falsche.«

»Aber das Dokument, Herr Eisenlohr! Sehen Sie hier das Siegel der Universität. Die Unterschriften . . . es scheint echt zu sein . . .«

»Scheint, ist es aber nicht, Herr Braun. Daß Mister Percy Hartford auf ein falsches Diplom reist, wußten wir schon lange. Nur daß er auch uns mit seinem Besuch beehren würde, konnten wir freilich nicht ahnen.«

Fassungslos legte Professor Braun das Schriftstück wieder auf den Tisch. Die Welt schien ihm zu wanken. Was hatte in ihr noch Bestand, wenn sogar solche Diplome gefälscht werden konnten?

Holthoff hielt es für an der Zeit, einzugreifen. »Wollen wir nicht weiter suchen?« meinte er mit einem Blick auf die Uhr.

»Keine Überstürzung, mein lieber Holthoff!« wehrte Eisenlohr ab. »Wir bekommen den Burschen sicher, aber natürlich wird er sich versteckt haben. In einer Viertelstunde muß Reinhard mit zwei Begleitern kommen; sie werden bei der Suche eine wertvolle Unterstützung sein. Gehen mir erst einmal zu Bruck 'rüber. Möglich ist es ja, daß wir Percy Hartford dort noch treffen.«

Sie verließen den Raum und traten in das Zimmer Brucks. Der lag schlafend da und reagierte auf die Versuche Holthoffs, ihn zu ermuntern, ebenso schwer wie einige Minuten vorher auf diejenigen Hartfords. Eisenlohr fühlte ihm den Puls, hob ihm ein Augenlid hoch und betrachtete die Pupille.

»Das gefällt mir nicht.« Er sprach die Worte mehr zu sich als zu den anderen. »Ich hätte mich schon früher um ihn kümmern sollen . . .« Er wandte sich an Holthoff: »Gestern nachmittag hat Kollege Bruck den Schwächeanfall gehabt? Wenn ich mich recht erinnere, soll es um vier Uhr herum gewesen sein?«

Holthoff nickte. »Ganz recht, Herr Eisenlohr. Um diese Zeit ist es gewesen. So hat mir's Michelmann erzählt.«

Eisenlohr schwieg. Die Erinnerung kam ihm, wie er um diese Zeit mit Braun zusammensaß und die Alarmglocke von der Hochspannung einmal kurz anschlug. Ein Verdacht stieg in ihm auf. Er wollte ihn verwerfen. Es war ja fast ausgeschlossen, daß ein Mensch, der die Hochspannungsleitung berührte, am Leben blieb, und doch kam er immer wieder darauf zurück. Es wäre eine Erklärung für den rätselhaften Zustand Brucks gewesen.

Holthoff wollte ihn zum Ausbruch drängen. »Hartford kann uns nicht weglaufen«, lehnte Eisenlohr ab. »Das hier ist wichtiger. Bleiben Sie bitte hier. Ich komme wieder.«

Er verließ den Raum und ging in sein Arbeitszimmer hinunter zu einem Wandschrank. Bedächtig suchte er unter den darin aufbewahrten Arzneimitteln heraus, was er für nötig hielt. Ein Kästchen mit kleinen gläsernen Ampullen und eine Injektionsspritze. Schaden kann es ihm nichts, dachte er bei sich, während er wieder nach oben ging. Wenn es so ist, wie ich fürchte, wird es ihn retten.

Er streifte den Ärmel von Brucks Jacke zurück; die Injektionsnadel drang in die Haut. Ein fester Druck, und der Inhalt der Spritze entleerte sich in eine Vene.

Ungeduldig trat Holthoff vom einen Bein auf das andere. Professor Braun wollte etwas sagen. Eisenlohr wehrte ab. »Gedulden Sie sich, meine Herren! Zehn Minuten Ruhe, und das Mittel wird wirken. Seien Sie unbesorgt, der andere entkommt uns nicht.« –

Während Eisenlohr es zu Holthoff und Braun sagte, eilte Hartford durch die weitläufigen Flure der alten Burg. Wieder erreichte er eine Treppe und schaute sich um.

War das nicht der Weg, den er vor vierundzwanzig Stunden mit Bruck gegangen war? Die gleiche Treppe wie damals war diese Wendelstiege hier doch. Er erkannte die starken Mauern des Bergfrieds und die kleinen Fenster wieder und stieg die Stufen weiter hinab. Immer dunkler wurde es um ihn. Er griff in seine Taschen, suchte nach der Taschenlampe. Er hatte sie nicht bei sich, aber etwas anderes fand er dafür, jenen Schlüssel, den er Bruck gestern abgenommen hatte. Fieberhaft umklammerte seine Rechte den Schlüsselschaft. In höchster Not bedeutete dies Stückchen Eisen die Rettung für ihn.

Im Dunkeln tappte er weiter, bis er an der Tür stand, die auch Bruck damals geöffnet hatte. Mit unsicheren Fingern tastete er, bis er das Schlüsselloch fand, bis der Schlüssel schließlich steckte, sich drehte. Die Tür ging auf. Dumpfe Luft schlug ihm entgegen.

In einer plötzlichen Aufwallung wollte er in das Dunkel vor sich hineinlaufen, zwang sich dann aber mit Gewalt zur Ruhe. Nur wenn er die Tür wieder hinter sich verschloß, war er ja – wenigstens vorläufig – in Sicherheit . . . auf wie lange? Nur die Zukunft konnte es lehren.

Wieder ein langes Tasten und Suchen im Dunkeln. Das Schlüsselloch auf der Außenseite war schwerer zu finden als auf der anderen. Schon glaubte er Schritte zu hören . . . Waren die Verfolger auch hier schon auf seiner Spur? . . . Oder war es nur das Blut, das in seinen Ohren trommelte, war es Furcht, die ihn hören ließ, was noch nicht war?

Er wußte es nicht. Mit einer letzten Anstrengung stieß er den Schlüssel in die Tür, schloß zu, riß ihn wieder heraus und sank kraftlos nieder.

»Gerettet!« Wie ein Stoßseufzer kam es von seinen Lippen. Er raffte sich wieder auf, tastete sich in der Finsternis vorwärts, stolperte über ein Hindernis, stieß gegen Kanten und Steine, kämpfte sich mühsam Schritt für Schritt vorwärts, bis endlich von ferne ein Lichtschein winkte. Bis er das Ende des Ganges im Walde erreichte.

Nur kurze Minuten der Rast gönnte er sich. Flucht! war der einzige Gedanke, der in seinem Hirn kreiste. Fort von hier um jeden Preis! die Losung, die ihm neue Kräfte gab.

Die Sonne war noch über dem Horizont, im Westen mußte sie jetzt ungefähr stehen. Ohne sich um Weg und Steg zu kümmern, folgte Hartford der Richtung der Baumschatten nach Westen. Querwaldein setzte er die Flucht über Stock und Stein fort, bis er den Fuß des Burgberges erreichte.

Bald stand er auf der Landstraße, barhäuptig. Nur was er in seinen Taschen bei sich trug, hatte er gerettet. Er griff sich zur Brust. Dort knisterte es, Geldscheine, viele Dollarnoten, steckten dort. Ein Gefühl der Sicherheit überkam ihn, als er die Papiere zwischen seinen Fingern fühlte. Mochten die auf der Burg seinethalben mit dem wertlosen Kram, den er ihnen zurückgelassen hatte, glücklich werden!

Wohin jetzt? war die nächste Frage. Er beschloß, der Landstraße zu folgen, aber die Richtung nach Ihlefeld schlug er nicht ein; die andere wählte er. Etwas weiter war so der Weg bis zur nächsten Stadt, aber sicherer würde er dort untertauchen und verschwinden können. –

Qualvoll langsam verstrichen die Minuten. Unbewegt wie eine Statue fast stand Eisenlohr vor dem Lager Brucks, ohne einen Blick von dessen Gesicht zu lassen. Jetzt schienen die verfallenen Züge sich zu beleben, das Blut kehrte in die blasse Haut zurück. Noch ein paar tiefe Atemzüge, und er schlug die Augen auf.

Verwirrt, wie jemand, der aus einem tiefen Schlaf erwacht, schaute er um sich. Ein Schein des Wiedererkennens glitt über seine Züge, als er Holthoff und Braun sah, aber er schloß die Lider wieder, als er Eisenlohr erblickte, und wandte den Kopf zur Seite.

Eisenlohr griff nach seinem Puls. Voll und kräftig wie der eines Gesunden schlug er jetzt. Er beugte sich zu ihm hinab und begann leise und eindringlich zu ihm zu sprechen.

Waren es die Worte, oder war es das Fluidum eines starken Willens, das auf Bruck überströmte? Er öffnete die Augen wieder, sein Blick traf sich mit dem Eisenlohrs.

»Ich möchte mit Ihnen allein sprechen.« Leise, den anderen kaum verständlich, kamen die Worte von seinen Lippen.

Eisenlohr zog sich einen Stuhl heran und setzte sich neben ihn. Auf seinen Wunsch verließen Braun und Holthoff den Raum und gingen in das Zimmer Hartfords hinüber.

»Merkwürdig, Herr Kollege«, sagte Braun, während er sich wieder mit dem famosen Diplom Percy Hartfords zu schaffen machte; es war zweifelhaft, ob er mit seiner Bemerkung das gefälschte Zeugnis meinte oder jene Vorgänge, die sie eben in Brucks Zimmer miterlebt hatten.

»Ich bewundere die Ruhe des Chefs«, gab Holthoff seiner Ungeduld Ausdruck. »Wir stehen wie auf glühenden Kohlen. Wir wollen den Schwindler aus Amerika fassen, und Eisenlohr setzt sich da gemütlich zu einem Palaver mit Bruck hin. Das hätte doch schließlich bis nachher Zeit gehabt.«

Braun ließ Holthoff reden und kramte in den Schreibtischfächern weiter. Ein altes Notizbuch fiel ihm dabei in die Hände, in dem er zu blättern begann. Zunächst schien ihn der Inhalt nicht sonderlich zu interessieren. Es waren kurze Aufzeichnungen über Geschäftsgänge und Reisen. Daneben standen Angaben und Geldsummen, aus denen Professor Braun nicht recht klug werden konnte, da er ja von den dunklen Verkäufen Hartfords in Paris keine Ahnung hatte. Dann aber kamen technische Skizzen und Angaben über Stromstärken und Spannungen, die ihn sehr bald fesselten.

»Es ist zum Verzagen!« hatte Holthoff eben wieder mit einem Blick auf die Uhr gesagt, als Braun ihm das Notizbuch wies. »Sehen Sie mal her, Kollege: Hier finde ich die ganze Entstehungsgeschichte der Strahlröhren dieses französischen Scharlatans, dieses Bigot. Merkwürdig! Höchst merkwürdig, Herr Kollege!« Professor Braun geriet wieder ins Wundern. »Erst hat er hier ganz unmögliche Werte, vollkommen unsinnige Angaben notiert . . . und dann ganz unvermittelt stehen hier dieselben Werte, mit denen Kollege Eisenlohr arbeitet . . .«

Holthoff vergaß seine Ungeduld über der Mitteilung Brauns und begann, sich zusammen mit ihm in den Inhalt des Büchelchens zu vertiefen. Auch ihm waren die Aufzeichnungen zunächst rätselhaft, aber schneller als der ein wenig weltfremde Professor Braun fand er eine Lösung dafür.

»Das haben die Herrschaften einfach gestohlen«, entschied er den Fall. »Und zwar haben Sie's sicherlich bei uns gestohlen. Es wird wichtig sein, den zu finden, der es ihnen zugesteckt hat.« –

Dr. Bruck kam mit dem, was er Eisenlohr zu sagen hatte, zu Ende. Nur selten unterbrach ihn Eisenlohr dabei durch einen ermutigenden Zuspruch. Eine vollkommene Beichte war es; ein reuiges Bekenntnis der Versuchungen, denen Bruck unterlegen war, der Verfehlungen, die er begangen hatte.

»Können Sie mir verzeihen, Herr Eisenlohr?« endigte er.

Eisenlohr faßte seine Rechte.

»Sie waren krank, mein lieber Bruck. Sie waren schon lange seelisch krank, bevor dieser Unfall Sie traf. Ich wußte es. Mit immer größerer Sorge habe ich Sie von Tag zu Tag beobachtet. Ich sah, daß . . . so oder so . . . eine Lösung kommen mußte, und habe sie – ich sage es Ihnen ganz offen – mit Furcht erwartet.«

»Können Sie mir verzeihen?« wiederholte Bruck seine Frage. Eisenlohr drückte die Hand des andern kräftig.

»Es ist vergeben und vergessen, Sie haben die Krise überwunden, Sie haben von selbst wieder zu sich zurückgefunden.«

Mit einem Seufzer der Erleichterung ließ Bruck sich in das Kissen zurücksinken und schloß die Augen.

»Jetzt müssen Sie erst ganz gesunden, und dann wollen wir wieder so zusammenarbeiten wie früher«, sagte Eisenlohr und strich ihm mit beiden Händen über die Stirn. Beruhigend, einschläfernd wirkte die Berührung auf Bruck. Tief und kräftig wurden seine Atemzüge. Leise stand Eisenlohr auf und ging hinaus.

Vergeblich sah er sich auf dem Flur nach Braun und Holthoff um. Ein Blick auf die Uhr belehrte ihn, daß er eine gute Viertelstunde mit Bruck allein zusammengewesen war. So lange sind sie hier natürlich nicht stehengeblieben, sagte er sich, sie werden drüben sein. Er ging in das Zimmer Hartfords und fand Professor Braun und Holthoff in einer lebhaften Debatte darüber, wie Bigot oder Hartford sich die Werte für die Strahlröhren verschafft haben könnten.

»Lassen Sie es, meine Herren!« unterbrach er ihren Disput. »Es hat jetzt keine Wichtigkeit mehr. Jeden Augenblick können die anderen da sein. Wir wollen sehen, daß wir jetzt unseren unerwünschten Gast zu fassen bekommen.«

Er hatte den Satz kaum ausgesprochen, als der laute, schrille Ton einer Glocke aufgellte.

»Da sind sie schon!« fuhr er fort. »Wir wollen in den Hof hinuntergehen und die Herren mit der nötigen Vorsicht hereinlassen.« –

Gerade so weit ging das schwere Schiebetor auseinander, daß der Kraftwagen zwischen ihnen hindurchfahren konnte. Unmittelbar hinter ihm schoben sich die Flügel wieder dröhnend zusammen. Auf der Mitte des Hofes hielt der Wagen an.

Vergnügt begrüßte William Spranger seinen alten Freund Eisenlohr und machte ihn mit seinem Partner Kelly bekannt, während Reinhard mit sachverständiger Miene das eiserne Tor musterte.

»Das Ding ist solide gebaut, Herr Doktor«, meinte er anerkennend. »Wenn unser Mann keinen andern Ausgang gefunden hat, dann dürfte er uns sicher sein.«

»Einen andern Zugang gibt es nicht, Herr Reinhard«, erklärte Eisenlohr mit Entschiedenheit, »wer in die Burg will, muß hier durch. Es ist ein probates Mittel gegen unerwünschte Gäste.«

Reinhard zuckte die Achseln. Von früheren Besuchen her kannte er die Burg ziemlich genau. Er dachte an gewisse nach der anderen Seite hinausgehende Fenster, und daß sich dort ein einigermaßen gewandter Mensch leicht in den Wald hinablassen konnte, sofern er nur ein Seil oder ein ähnliches Hilfsmittel bei der Hand hatte. Doch was hatte es jetzt für einen Zweck, von solchen Möglichkeiten zu sprechen? Er zog es vor, seine Gedanken für sich zu behalten.

»Wir wollen sofort sechs Mann hoch auf die Suche gehen«, schlug er vor und entwickelte seinen Zuhörern einen Plan, nach dem das am besten vor sich gehen konnte.

Von oben her, vom Dachgeschoß aus, begannen sie systematisch mit der Suche. Strahlenförmig verteilten sie sich von dort aus über die Flure, ließen bei ihren Nachforschungen kein Zimmer und keine Treppe aus und trafen schließlich nach einer guten halben Stunde wieder auf jener Wendeltreppe zusammen, die im Bergfried weiter nach unten führte.

James Kelly wischte sich die Stirn. »Very interesting, indeed!« murmelte er zu Spranger. »Altes, solides Gemäuer! Großartig, Spranger! Wenn man bedenkt, daß das schon stand, als Kolumbus zum erstenmal über den Atlantik fuhr . . .«

»Schon einige Jahrhunderte vorher, old man«, verbesserte ihn sein Partner.

»Meinetwegen auch noch fünfhundert Jahre vorher, Spranger.« Kelly stäubte ein paar Kalkflecken von seinem Rock ab. »Aber als Wohnung sind mir unsere Wolkenkratzer in New York doch lieber. Da gibt's wenigstens einen vernünftigen Lift . . .«

Auch die Bemerkungen Kellys konnten indes nichts an der Tatsache ändern, daß die Streife bisher ergebnislos verlaufen war.

»Es bleiben uns noch die Keller«, gab Reinhard als Parole aus. »Es ist die letzte Möglichkeit.«

Hintereinander gingen sie die steile Wendelstiege hinab. Als die Fenster aufhörten, ließ Reinhard eine starke Taschenlampe aufflammen. Am unteren Ende der Treppe führte ein enger Flur vorbei.

»Da geht es zu den Laboratoriumskellern«, erklärte Eisenlohr, »den anderen Zugang zu ihnen habe ich gesperrt. Nach der anderen Seite hier endet der Gang blind.«

»Sehen wir uns erst mal das blinde Ende an«, entschied Reinhard. Ein Dutzend Schritte weiter hatte er es erreicht und leuchtete die Wände ab.

»Hier ist ja eine Tür?« fragte er Eisenlohr.

»Die ist verschlossen. Sie ist seit Jahrzehnten nicht mehr geöffnet worden. Meine Vorgänger hatten schon den Schlüssel verloren«, erwiderte Eisenlohr.

»Dammie! Was für ein klobiges Ding!« meinte Kelly beim Anblick der mächtigen Eichenbohlen zu Spranger.

Reinhard bückte sich und leuchtete das Schlüsselloch ab. »Das Schloß ist kürzlich neu geölt worden«, sagte er, als er sich wiederaufrichtete, zu Eisenlohr.

»Ich wüßte nicht, wer das getan haben könnte«, meinte der achselzuckend. »Ohne Schlüssel hätte es auch nur wenig Zweck.«

»Wer das gemacht hat, der wird wohl auch einen Schlüssel gehabt haben, Herr Doktor.« Während Reinhard es sagte, suchte er in seinen Taschen, holte ein blankes, stählernes Instrument heraus, fingerte und stellte daran und schob es dann in das Schlüsselloch. Der Stahlhaken faßte den Schloßriegel und schob ihn zurück. Die Tür ging auf. Sie standen am Anfang des unterirdischen Ganges.

»Romantisch! Mächtig romantisch!« brummte Kelly, als sie ihn nun betraten. Reinhard mit seiner Lampe ging voran. Eisenlohr, der ebenfalls eine Taschenlampe bei sich hatte, beschloß den Zug. Die vier anderen zwischen ihnen mußten alle Aufmerksamkeit aufwenden, um in der unsicheren Beleuchtung nicht zu Fall zu kommen. Schon wurde in der Ferne ein Lichtpunkt, das andere Ende des Ganges, sichtbar, als Reinhard plötzlich stehenblieb. Er bückte sich, hob etwas Weißes auf und brachte es in den Lichtkegel seiner Lampe. Es war ein Taschentuch mit den Initialen P. H.

»Zwecklos, weiter zu suchen!« rief er Eisenlohr zu. »Der Mann ist längst über alle Berge, durch diesen Gang hier ist er entkommen.«

Er drehte sich um und wollte zurückgehen, aber die anderen waren dagegen. »Der Wissenschaft halber«, wie Professor Braun sich ausdrückte, wollten sie den Gang bis zum Ende verfolgen. Wenige Minuten später standen sie in einem Waldgebüsch.

»Hier hat Ihr Topf ein Loch, Herr Doktor«, sagte Reinhard zu Eisenlohr. Der schlug sich an die Stirn und schwieg. Er wußte darauf nichts zu erwidern.

»Fassen werden wir den Jungen doch!« tröstete Reinhard. »Über die Grenze kommt er nicht, dafür ist gesorgt.«

Während sie einem Waldpfad folgten, um zum Burgtor zu gelangen, berichtete er Eisenlohr, wie er auf die Spur Percy Hartfords gekommen war. Eine Schlafwagenkarte in Paris, auf den Namen »Professor Hartford« ausgeschrieben, hatte den ersten Anhalt gegeben. Von Frankfurt an wurde die Spur undeutlich – Hartford war mit einem Lokalzug weitergefahren –, aber in Ihlefeld fanden Reinhards Leute sie wieder; geradeswegs in das Hotel »Zum Hohen Stein« führte sie, wo Hartford mit Dr. Bruck zusammenkam. Da war es nicht mehr schwer, den Wagenführer ausfindig zu machen, der den Amerikaner zur Eulenburg gefahren hatte. Aber diese letzte Meldung erhielt Reinhard erst bei der Landung auf dem Flugplatz in Ihlefeld. So war es ihm unmöglich gewesen, schon unterwegs den Draht spielen zu lassen, und Percy Hartford konnte ihnen durch diesen unterirdischen Gang doch noch einmal entkommen.

Eisenlohr und Reinhard waren während ihres Gespräches etwas langsamer gegangen und ein ziemliches Stück hinter den vier anderen zurückgeblieben.

»Sie haben bei Ihrem Unternehmen Pech gehabt, Herr Hauptmann«, meinte Eisenlohr, als Reinhard mit seinem Bericht zu Ende war.

Der machte eine wegwerfende Bewegung.

»Eine nebensächliche Affäre, Herr Doktor. Ich bin nicht vier Wochen in Paris gewesen, um einen kleinen Gauner zu fangen. Wenn wir ihn fassen, ist's schön, wenn er uns entwischt, ist's noch so. Mir kam es ganz gut zupasse, um einen plausiblen Vorwand für meinen Aufenthalt in Frankreich zu haben.«

»So, so! Das ist nicht uninteressant!« Eisenlohr blieb stehen. »Ich will mich nicht in Ihre Geheimnisse drängen, Herr Hauptmann – nur die eine Frage möchte ich mir erlauben: Hatten Sie bei Ihren andern Sachen mehr Glück?«

»Ich hatte es, Herr Doktor. Während ich offiziell in Paris hinter den Herren Bigot und Hartford her war, konnte ich ungestört und unbeargwöhnt Verhandlungen führen und ein Abkommen vorbereiten. Zu guter Letzt hat mir Mister Percy Hartford mit seiner Flucht nach Deutschland noch einen ungewollten Dienst erwiesen. Was war natürlicher und selbstverständlicher, als daß ich ein Flugzeug charterte, um ihm nachzueilen? Daß ich die in Paris bereits paraphierten Abmachungen auf diesem Flug mitnahm, blieb einer gewissen, unseren Verhandlungen und Bestrebungen abgeneigten Stelle verborgen, und das war gut so, Herr Doktor.«

»Also kann man Ihnen trotz Ihres Mißerfolges hier doch gratulieren, Herr Reinhard?«

Reinhard schüttelte die Rechte, die Eisenlohr ihm reichte.

»Sie können es, Herr Doktor. In einer Stunde werde ich weiterfahren, um diese Dokumente«, er deutete auf seine Brusttasche, »an die zuständige Stelle zu bringen. Ich bin überzeugt, daß man dort mit mir zufrieden sein wird.« –

»By Jove, was ist das hier?«

Kelly stellte die Frage, als sie an jene Stelle des Weges kamen, an der das Strahlpulver Eisenlohrs eine riesige Vegetation erzeugt hatte.

»Unglaublich, Spranger!« Staunend betrachtete Kelly die weit über mannshohen Stauden und den Graswuchs, der fast an eine indische Dschungel gemahnte.

»Wachstumsstrahlung, Mister Kelly«, gab ihm Holthoff die Erklärung. »Sie haben hier eins unserer ersten Versuchsfelder vor sich; der Boden wurde weder besonders bearbeitet noch gedüngt. Wir beschränkten uns darauf, über die hier vorhandene Waldflora einfach eine bestimmte Menge jenes strahlenden Pulvers auszustreuen, von dem Sie wohl bereits gehört haben.«

Wie in einer schmerzlichen Erinnerung griff sich Kelly an den Mund. »Ich kenne das Zeug, Doktor! Habe es selber ein paar Tage in meinen Zähnen gehabt und dankte meinem Gott, als ich es wieder los war. Aber daß es solche Wirkungen haben könnte?! Wie ist das nur möglich?«

»Die Strahlung macht es, Mister Kelly«, mischte sich Professor Braun ein. »Wir sind eben dabei, sie zu analysieren. Die strahlende Isotope, die wir hier gestreut haben, sendet außer der schon früher bekannten mitogenetischen Strahlung auch noch multiple Harmonische aus . . .«

»Brrr!« Kelly schüttelte sich, als ob er einen schlechten Schnaps getrunken hätte. »Verschonen Sie mich mit Ihren Fremdwörtern, Professor! Es genügt mir, wenn Sie sagen, daß die Strahlung das Wunder geschafft hat.«

»Aber die wissenschaftliche Erklärung, Mister Kelly! Wir sind jetzt dabei, festzustellen, welche Komponenten der Strahlung die Zelltätigkeit anregen«, versuchte Braun zu widersprechen.

»Stellen Sie es in Gottes Namen fest und werden Sie glücklich damit, Professor!« wehrte Kelly ab. »Ich bin kein Wissenschaftler, sondern ein Mann der Praxis. Mich interessiert etwas anderes. Vor allen Dingen die Frage: Wird der Boden durch das gesteigerte Wachstum nicht verhältnismäßig schnell ausgesaugt? Das zu wissen wäre für unsere Farmbetriebe in USA wichtig.«

»Nicht mehr, als es in der Natur der Dinge liegt«, erwiderte Braun diplomatisch.

»Was soll das heißen?« fragte Kelly ungeduldig. Holthoff hielt es für angebracht, dem Professor zu Hilfe zu kommen. »Selbstverständlich beansprucht das stärkere Wachstum auch den Boden stärker«, erläuterte er Brauns Worte, »aber es schließt ihn auch besser auf. Sie dürfen nicht vergessen, Mister Kelly, daß dem Riesenwuchs, den Sie hier vor Augen haben, ein entsprechendes Wachstum der Wurzeln unter der Erde entspricht. Der Acker wird dadurch viel kräftiger und viel weitgehender aufgeschlossen. Wir sind nach den bisherigen Versuchen zu der Ansicht gekommen, daß die Nachteile, die Sie eben andeuteten, nicht zu befürchten sind.«

Noch andere Fragen stellte Kelly, und abwechselnd gaben ihm Holthoff und Braun Auskunft, die ihn zufriedenstellten.

»Man sollte es jedenfalls in USA versuchen«, sagte er eben, als Eisenlohr und Reinhard wieder hinzukamen.

»Sie werden noch überzeugter sein, Mister Kelly, wenn Sie unsere Versuchsfelder sehen, die wir auf gedüngtem Boden angelegt haben«, sagte Eisenlohr zu ihm. »Da hat das Strahlpulver noch viel stärker gewirkt als hier auf dem unaufgebrochenen Land.«

»Wir werden sehen, Herr Doktor«, meinte Kelly. »Ich glaube, wir werden auch gründen«, fügte er leise und nur für Spranger vernehmbar hinzu. –

Noch eine kurze Strecke ging die Wanderung weiter durch den Wald, dann erreichten sie den Burgweg und kamen vor das geschlossene Tor.

»Die Zugbrücke ist aufgezogen. Wer läßt sie herunter, Herr Doktor?« fragte Reinhard.

»Einen Augenblick, Herr Hauptmann!« Eisenlohr ging vom Weg ab seitwärts in den Wald. Noch bevor er zurückkehrte, kam Bewegung in die eiserne Sperre. Dröhnend rollten die Schiebetore zurück. Der Eingang zum Burghof lag frei.

Reinhard lehnte die Einladung Eisenlohrs zu einem Imbiß ab. Ein kurzer Abschied, ein Händedruck, und er ließ den Motor seines Wagens anspringen. –

Merklich fiel die Abenddämmerung ein, als die anderen den Speiseraum betraten. Eisenlohr griff zum Haustelephon und sprach mit der Küche und gab Befehl, aufzutragen.

»Ich begreife nicht, daß Michelmann noch nicht zurück ist«, wandte er sich an Holthoff, während der erste Gang serviert wurde. Holthoff zuckte die Achseln. »Er wird irgendeinen Aufenthalt gehabt haben, Herr Eisenlohr. Hoffentlich keine Panne.«

»Ausgeschlossen, Holthoff. Michelmann weiß mit dem Wagen Bescheid. Weiß der Teufel, was er wieder in Ihlefeld zu kramen hat! Nun, das soll uns nicht weiter stören.«

In der Tat hatte das alte Faktotum sich in Ihlefeld auf ein Unterfangen eingelassen, von dem weder Eisenlohr noch Holthoff etwas ahnen konnten. Michelmann hatte seine Besorgungen erledigt. Eben trat er aus einem Geschäft auf dem Alten Markt heraus, als er gegenüber der Post das Auto vom Flugplatz halten sah. Nur wenige Personen stiegen aus.

Die meisten schienen ein festes Ziel zu haben; einige wandten sich dem Hotel »Zum Hohen Stein« zu, andere gingen auf der Straße weiter. Nur einer der Fahrgäste blieb stehen und sah sich suchend um, als ob er jemand erwartete. Michelmann konnte beobachten, wie er erst einen Passanten ansprach, eine kurze Weile mit dem redete und dann über den Markt hinweg auf ihn selbst lossteuerte. Er hatte hinreichend Zeit, den Näherkommenden gründlich zu mustern, einen hochgewachsenen Mann, der einen kurzgestutzten Schnurrbart und eine Brille trug.

Sieht ja auch stark nach Amerika aus, dachte sich der Alte und fand seine Vermutung bestätigt, als ihn der Fremde in einem gebrochenen Deutsch mit unverkennbar amerikanischem Tonfall fragte, ob das der bestellte Wagen nach der Eulenburg wäre. Von einem bestellten Wagen war Michelmann nichts bekannt.

»Unbegreiflich!« entrüstete sich der Amerikaner. »Ich habe Herrn Doktor Eisenlohr gestern geschrieben, daß ich heute käme.«

Auch von einem Brief wußte Michelmann nichts und konnte davon nichts wissen, denn jenes Schreiben befand sich noch in den Händen der Post, weil es mit der Eisenbahn gereist war. Der Absender, der das Flugzeug benutzte, hatte seinen Brief überholt und war schneller ans Ziel gekommen.

»Wir erwarten niemand auf der Eulenburg«, erwiderte Michelmann abweisend, »Herr Doktor Eisenlohr hätte es mir bestimmt gesagt, wenn – –«

»Aber doch erwartet er mich!« unterbrach ihn der Amerikaner und hielt es an der Zeit, sich bekannt zu machen. »Ich bin Professor Hartford aus Schenektady. Den Namen haben Sie vielleicht schon gehört.«

In Michelmanns altem Kopf begann es zu arbeiten. Hartford . . . Professor Hartford . . . war ja schon längst auf der Eulenburg, aber was hatte er, Michelmann, noch kurz vor seiner Abfahrt gehört? Ein anderer, ein Schwindler, sollte auf denselben Namen reisen. Ein guter Zufall, daß der Bursche gerade ihm in die Hände lief, den wollte er schon richtig bedienen. Während er noch stand und einen Plan überlegte, sprach der andere weiter:

»Herr Doktor Eisenlohr wird es Ihnen danken, wenn Sie mich jetzt schleunigst zu ihm bringen.«

Michelmann war mit seinen Überlegungen zu einem Schluß gekommen.

»Ich werde Sie hinbringen.« Er öffnete die Tür seines Wagens. »Steigen Sie bitte ein, Herr Professor!« Er zog das Wort »Professor« dabei auffallend in die Länge.

Crazy, old fellow! dachte der Amerikaner, während er im Wagen Platz nahm. Michelmann setzte sich ans Steuer und fuhr los. –

Die Mahlzeit auf der Eulenburg ging ihrem Ende zu. Schon beim Braten drehte sich das Gespräch zwischen Kelly und Eisenlohr um die Gründung einer Radiating Powder Company. Abwartend und zurückhaltend hatte sich Kelly zunächst den Ausführungen Eisenlohrs gegenüber verhalten. Als aber der Doktor einen eigenen Plan zu entwickeln begann, in dem viele jener Ideen enthalten waren, die vierundzwanzig Stunden früher Mr. Percy Hartford an demselben Tisch vorgetragen hatte, begann James Kelly Feuer zu fangen.

Der Gedanke, andere amerikanische Bankengruppen hinzuzuziehen, zu denen Eisenlohr nach seinen eigenen Äußerungen ziemlich enge Beziehungen zu haben schien, war Kelly im höchsten Grade unsympathisch. Allzu viele und allzu starke Partner liebte er bei seinen Geschäften nicht. Entschloß er sich zu einer Transaktion, so übernahm er ohne Zögern das volle Risiko, aber ebenso bestimmt verlangte er auch einen entsprechenden Gewinnanteil.

»Ich denke, wir brauchen alle diese Leute nicht«, widersprach er den Vorschlägen Eisenlohrs. »Wir werden das besser allein machen.« Und nun entwickelte er, von Spranger unterstützt, seinen eigenen Plan, dessen Vorzügen sich Eisenlohr nicht verschließen konnte.

Hin und her flogen Rede und Gegenrede, wobei Professor Braun und Dr. Holthoff stumme Zuhörer blieben. Noch kühner als Percy Hartford jonglierte James Kelly mit Millionen, so daß Professor Braun es kopfschüttelnd aufgab, seinen Ausführungen zu folgen. Im Handumdrehen stellte der Amerikaner einen Finanzierungsplan und ein Arbeitsprogramm auf, die auch schärfster Kritik standhielten.

William Spranger, der die Gepflogenheiten seines Partners kannte, zog einen Schreibblock aus der Tasche und schob ihn ihm hin. In wenigen Minuten bedeckten sich die Seiten unter der Hand Kellys mit Namen amerikanischer Emissionshäuser und mit Zahlen. Beträge von Aktien und Vorzugsaktien wurden notiert. Schon zauberte der Bleistift in Kellys Hand auch das Direktorium und einen Verwaltungsrat für die künftige Gesellschaft auf das Papier. Dann lehnte sich Kelly in seinen Sessel zurück.

»Ich denke, so werden wir's machen, Gentlemen«, erklärte er kategorisch. »Morgen sehe ich mir noch Ihre anderen Versuchsfelder an. Dann machen wir hier einen Vorvertrag. In der kommenden Woche können wir in New York gründen.«

Eisenlohr hatte die Aufzeichnungen Kellys aufgenommen und las sie noch einmal durch.

»Einverstanden, Mister Kelly«, sagte er, während er sie wieder hinlegte. »Nur eine Kleinigkeit noch: Ich dachte daran, auch Professor Hartford aus Schenektady mit in den Verwaltungsrat zu nehmen. Er hat auf einem ähnlichen Gebiet gearbeitet wie wir und könnte uns in mancher Beziehung nützlich sein.«

»Hartford? . . . Schenektady? Meinetwegen, Herr Doktor, wenn Sie besonderen Wert darauf legen.«

Kelly notierte den Namen auf einem der Blätter, als es kräftig an der Tür pochte. Im nächsten Augenblick wurde sie aufgerissen; einigermaßen außer Atem und ersichtlich aufgeregt kam das alte Faktotum herein.

»Was wollen Sie, Michelmann?« Eisenlohr warf ihm einen unwilligen Blick zu.

»Wir haben ihn, Herr Doktor!«

»Wen haben Sie, Michelmann?«

»Den Schwindler, Herr Doktor! Den falschen Professor Hartford. Direkt in die Hände ist mir der Gauner gelaufen.«

»Den falschen Professor Hartford? Ist doch kaum möglich, Michelmann«, sagte Eisenlohr zweifelnd.

»Doch, Herr Doktor! Er ist's. Auf dem Alten Markt in Ihlefeld habe ich ihn erwischt.«

»Kann ich mir nicht denken. Er wird sich schwer hüten, wieder nach Ihlefeld zu gehen«, meinte Eisenlohr immer noch ungläubig; aber William Spranger widersprach ihm:

»Warum sollte es nicht möglich sein, Jonny? Jeder Gauner macht mal eine Dummheit. War natürlich Spezialpech, daß er Michelmann in die Hände laufen mußte. Wo haben Sie den Burschen, old man

»Unten im Wagen auf dem Hofe, Mister Spranger.«

»Hoffentlich ist der famose Kollege nicht schon wieder weggelaufen!« brummte Professor Braun dazwischen.

»Kann er nicht. Dafür ist gesorgt«, sagte Michelmann und zog ein verschmitztes Gesicht.

»Also gehen wir mal 'runter und sehen uns den Kerl an«, entschied Kelly und stand auf. Die übrigen folgten seinem Beispiel und eilten über die große Treppe nach unten. Lärm schlug ihnen entgegen, als sie die Tür zum Burghof öffneten. Stimmengewirr . . . in gebrochenem Deutsch ein empörter Protest gegen Freiheitsberaubung . . . Frechheit, Unverschämtheit! Andere Rufe dazwischen, die beruhigend wirken sollten und nur noch mehr Öl ins Feuer gossen.

Als erster eilte Eisenlohr auf den Wagen zu, aus dem der Krach herkam. Er wollte die Tür aufreißen, als sie schon von selbst aufsprang. Von einem kräftigen Faustschlag getroffen, flog ein Mensch, in dem Eisenlohr einen seiner Waldarbeiter erkannte, heraus und rollte ihm vor die Füße. Im nächsten Augenblick tauchte der Kopf von James Hartford in der Türöffnung auf. Mit einem kräftigen Stoß warf er einen zweiten Mann, der ihn zurückhalten wollte, zur Seite und sprang aus dem Wagen ins Freie.

»Verdammt!« knurrte er wütend und ließ, wahrend er sich bemühte, seine bei der Balgerei mitgenommene Kleidung wieder in Ordnung zu bringen, noch eine Reihe unmißverständlicher Bemerkungen über »verfluchte Idioten« und »blöde Mikrozephalen« vom Stapel, die ihm in seiner Heimat sicherlich eine Anklage wegen »Verwendung unordentlicher Redensarten« eingetragen haben würden. Dann sah er William Spranger und ging auf ihn zu, fragte, immer noch entrüstet: »Bin ich hier in ein Irrenhaus geraten, Mister Spranger?« –

Es bedurfte verschiedener Minuten, bis Spranger den Aufgebrachten einigermaßen beruhigen und über die Verwechslung aufklären konnte, deren Opfer er geworden war. Verständnislos zunächst hörte der amerikanische Professor den Namen Percy Hartford von Spranger. Als er aber endlich begriff, was eigentlich geschehen war, daß sein verflossener Laborant hier an seiner Statt aufgetreten war und Leute wie Dr. Eisenlohr und Professor Braun tagelang hinters Licht geführt hatte, da stellte er sich hin und lachte, daß es von den Burgwänden zurück laut über den weiten Hof hallte.

Ein befreiendes Lachen war es, aller Ärger und Verdruß, der eben noch aus James Hartfords Mienen sprach, löste sich in diesem Gelächter auf.

Ob der Kerl seine Rolle wenigstens gut gespielt hätte, war das erste, was Professor Hartford wissen wollte, als er wieder zu Atem kam.

»Schade, daß der Boy auf die falsche Seite gefallen ist!« meinte er, als er die Lobsprüche hörte, die den schauspielerischen Talenten seines Namensvetters von den Bewohnern der Eulenburg gezollt wurden. »Er hätte es wirklich verdient, auf einen Lehrstuhl für höheren Humbug berufen zu werden.«

Seine Bemerkung löste erneute Heiterkeit aus, an der sich nur zwei nicht beteiligten: Braun, der immer noch nicht darüber hinwegkam, daß er einem falschen Professor aufsitzen konnte, und Michelmann, der wie ein betrübter Lohgerber aussah. Jetzt traf sich sein Blick mit dem von Holthoff. Schuldbewußt schlug das alte Faktotum die Augen nieder.

Der Doktor trat zu ihm und legte ihm die Hand auf die Schulter.

»Sie sind ein altes Kamel, Michelmann«, sagte er. »Aber Sie können nichts dafür; so etwas ist oft angeboren«, fügte er tröstend hinzu. –

Am nächsten Morgen war Professor Hartford nicht von den Karbidöfen fortzubringen. Den geschlagenen Vormittag steckte er mit Dr. Holthoff im Keller und ließ sich alles bis ins letzte erklären, während Eisenlohr sowie Kelly und Spranger in der strahlenden Septembersonne über die Versuchsfelder wanderten. Am Nachmittag schlossen sie einen Vorvertrag.

Acht Tage später gründete die Firma Kelly & Company in New York die »American Radiating Powder Company«. Im Laufe von vierundzwanzig Stunden war das Aktienkapital der neuen Gesellschaft zweimal überzeichnet. Professor James Hartford hatte sich bereit erklärt, in ihren Verwaltungsrat einzutreten.

*

Am Waldhang stand Eisenlohr und sah zu, wie sich unter den Händen geschickter Werkleute ein schimmernder Bau in Glas und Eisen über dem Teich zu wölben begann. Tief hing die Sonne bereits im Westen, als er sich fortwandte, um zur Burg zurückzukehren.

In voller Kraft noch fielen ihre Strahlen zur gleichen Stunde auf die schäumenden stürzenden Fluten des Niagara. Sie brachen sich in den strömenden Wirbeln und beleuchteten auch die mächtigen Betonfundamente des ersten Werkes der Radiating Powder Company, das dort zwischen den Uferfelsen aus dem Boden wuchs.

In Hadlow am rechten Ufer des Lorenzstromes gegenüber der Stadt Quebeck betrat ungefähr zur gleichen Zeit Monsieur François den Parlour-Room einer bescheidenen Cottage und sagte:

»Eine bedauerliche Neuigkeit, Monsieur Bigot: Vor einer Stunde habe ich am Hafen Monsieur Hartford gesehen.«

»Wir gehen nach Montreal, François«, entschied sich Bigot eine Minute später.

»Ich möchte es Monsieur auch empfehlen«, sagte François. »Für uns drei wäre Quebeck zu klein.«

*


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