Hans Dominik
Lebensstrahlen
Hans Dominik

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Im Laboratorium hielt Dr. Bruck ein Reagenzglas gegen das Licht und ließ aus einer Pipette ein paar Tropfen hineinfallen. Sofort begann die in dem Glase enthaltene klare Flüssigkeit sich zu verfärben.

»Sehen Sie, Eisenlohr! Klare Reaktion auf Au!« Er hielt Eisenlohr das Glas hin.

Der wollte eben danach greifen, als eine Glocke ertönte, eine Klingel mit einem eigenartigen Doppelton. Eisenlohr stutzte und blieb stehen. »Das ist doch . . .?«

»Wenn mich meine Ohren nicht täuschen, Telephon C 3 vom Hauptweg«, sagte Bruck, der immer noch die Veränderungen in dem Reagenzglas in seiner Hand verfolgte.

»Telephon C 3? . . . Sollte Holthoff schon zurück sein?«

Während Eisenlohr es vor sich hinsprach, ging er zur Wand und hob einen Hörer ab.

»Wer da? Holthoff, Sie? Hatte Sie erst für morgen erwartet. Sie bringen Oberwachtmeister Stange in Ihrem Wagen mit? Sehr gut . . . Die Sicherungen 'rausnehmen? . . . Ich werde den Burgweg frei machen. Bis Stelle C 0. Rufen Sie von da noch einmal an. Das Haupttor möchte ich geschlossen halten, bis Sie davor sind . . . Sagen Sie dem Wachtmeister, daß er auf seiner Hut ist. Das Gesindel könnte noch in der Nähe sein.«

Eisenlohr hängte den Hörer wieder an und ging zu jenem Teil der Schaltwand, wo sich die Hebel eines komplizierten Sicherungssystems befanden. Hier und dort legte er einen Hebel um, und gleichzeitig gingen weit draußen auf dem Hange des Burgberges allerlei Veränderungen vor sich. Sperrende Gatter klappten zurück, Lampen flammten auf. Gut beleuchtet lag ein bequemer Fahrweg zur Burg hinauf offen.

Eisenlohr wollte eben wieder an seinen Arbeitstisch zurückkehren. Noch einmal ließ er den Blick kurz über die Schaltwand gleiten und stutzte.

»Hallo, Bruck! Was ist das? Die Kellersicherungen sind ja nicht eingeschaltet!«

»Keine Ahnung, Eisenlohr. Ich habe sie nicht ausgeschaltet«, antwortete Dr. Bruck, der ganz von den Vorgängen in seinem Reagenzglas in Anspruch genommen war.

»Michelmann wird taperig«, murmelte Eisenlohr vor sich hin und schaltete die Hebel der Kellersicherung ein. Im gleichen Moment flammte eine rote Neonlampe an der Wand auf, und das Geräusch eines elektrischen Summers wurde vernehmbar.

»Himmeldonnerwetter! Bruck! Kommen Sie doch mal her!«

Zögernd stellte Dr. Bruck das Reagenzglas in ein Stativ. Nur langsam machten sich seine Gedanken von der Untersuchung los; dann sah auch er das rote Licht, hörte das Summen und stand neben Eisenlohr.

»Was gibt's, Eisenlohr?«

»Jemand im Keller!? Bruck!«

»Wer?«

»Wird sich finden!« Während Eisenlohr es noch sagte, legte er einige Schalter um; es geschah in dem gleichen Moment, in dem Reinhard und Walke durch ein Geräusch erschreckt wurden und ihre Lampe auslöschten.

»Wenn es die Banditen sind, Eisenlohr?«

»Haben wir sie jetzt in Nummer Sicher, Bruck. Wir wollen warten, bis Holthoff und der Wachtmeister hier sind.«

*

Auf dem Burgweg rollte ein Kraftwagen bergaufwärts. Am Steuer saß Dr. Holthoff, ein Mann, der eben die Mitte der Zwanziger überschritten haben mochte. Neben ihm spähte Oberwachtmeister Stange sorgfältig nach beiden Seiten aus.

»Ich hoffe, Ihre Sorge ist überflüssig«, sagte Holthoff.

Der Wachtmeister schüttelte den Kopf. »Ich will zufrieden sein, Herr Doktor, wenn wir oben sind. Hier könnten die Kerls in dem dichten Unterholz dicht an den Weg 'rankommen, ohne daß wir etwas von merken. Ich hätte meinen Hund mitnehmen sollen.«

Holthoff mußte die Richtigkeit dieser Bemerkung anerkennen; er gab mehr Gas, um schneller vorwärtszukommen. Noch eine letzte starke Steigung, eine kurze Kurve, und der Wagen hielt vor dem Burgtor.

»Nanu!?« sagte der Wachtmeister erstaunt. »Das sieht hier ja heut ganz anders aus!«

Holthoff lachte. »Ach, das kennen Sie noch nicht? Eisenlohr hat den ›Eisernen‹ vorgeschoben. Da muß die Geschichte wirklich nicht ganz unbedenklich sein!« Er sprang aus dem Wagen und ging zu einem Baum. Auch hier ein geschickt in einer Höhlung des Stammes untergebrachtes Telephon. Dr. Holthoff sprach nur wenige Worte. Schon wichen die eisernen Flügel auseinander, der Wagen fuhr in den hell erleuchteten Burghof, dröhnend schloß sich das Tor wieder hinter ihm.

»Besser konnten sich die alten Ritter auch nicht verbarrikadieren«, meinte Stange, während er aus dem Wagen kletterte. »So leicht kommt hier gegen Ihren Willen wohl keiner 'rein?«

»Stimmt, Herr Wachtmeister. Für unerwünschten Besuch sind wir einfach nicht zu sprechen. Der kann sich unsertwegen draußen die Fäuste wund trommeln. Da bleiben wir taub und stumm.«

Kopfschüttelnd betrachtete der Wachtmeister das aus schweren Stahlblechen zusammengenietete Schiebetor.

»Ja, ist denn so etwas in unserer Zeit noch notwendig?« fragte er verwundert.

»Sehr notwendig, Herr Wachtmeister. Es gibt zuviel Neugierige, die uns in die Karte gucken möchten. Irgendwie ist etwas davon durchgesickert, daß Herr Doktor Eisenlohr an einer grundlegenden Sache arbeitet. Man möchte natürlich mehr wissen . . . man versucht es auf jede erdenkliche Weise . . .«

»Man . . . man? Wer ist ›man‹?« fragte Stange.

»Leute aus aller Welt, Herr Wachtmeister – Leute aus Paris zum Beispiel oder aus USA, die für einen Blick in unser Laboratorium viel riskieren . . . Aber da kommt Doktor Eisenlohr. Wir wollen hören, was er uns zu sagen hat.«

Mit kräftigem Händedruck begrüßte Eisenlohr Dr. Holthoff und Stange. »Gut, daß Sie so schnell gekommen sind, Herr Wachtmeister.«

»Es hat sich gut getroffen, Herr Doktor. Gerade, als ich aus dem Haus ging, kam Herr Doktor Holthoff mit seinem Wagen vorbei. Er hat mich mitgenommen.«

Eisenlohr nickte. »Aha! So war das. Nun, ich denke, zu viert werden wir's wohl schaffen; unsern alten Michelmann möchte ich nicht erst aus seinem Bett holen. Viel helfen könnte er uns ja kaum.«

Oberwachtmeister Stange sah Eisenlohr zweifelnd an. »Ich weiß nicht, Herr Doktor . . . Jede Hand mehr kann uns nützlich sein, wir werden den ganzen Berg systematisch absuchen müssen.«

Eisenlohr lachte. »Sie irren sich, mein lieber Herr Stange. Die Burschen sitzen im Keller fest. Wir brauchen sie nur 'rauszuholen. Bitte, kommen Sie doch mit ins Haus!«

Eisenlohr führte die beiden ins Labor und gab Stange Kenntnis von dem, was sich inzwischen ereignet hatte.

»Na ja, denn wollen wir mal«, sagte Stange und faßte nach seiner Pistole.

*

Vorsichtig hatten sich Reinhard und Walke weitergetastet. Nur für kurze Sekunden ließ Reinhard hin und wieder die Lampe aufleuchten, und was er dabei erspähte, war wenig geeignet, ihn heiter zu stimmen. Vor das Fenster, durch das sie in den Keller gekommen waren, hatte sich ein schwerer eiserner Laden geschoben. Schon eine oberflächliche Prüfung zeigte, daß es so gut wie aussichtslos war, dem geglückten Einbruch hier einen Ausbruch folgen zu lassen. Das starke Stahlblech des Ladens lief in tiefen Nuten des Basaltgesteins und war unangreifbar.

»Wir sind in eine Falle geraten, Herr Reinhard«, erlaubte sich Walke zu äußern.

»Sie merken aber auch alles, Walke«, sagte Reinhard mit einem Anflug von Galgenhumor.

»Was sollen wir jetzt tun?« flüsterte Walke zurück.

»Die Treppe suchen! Und dann nach oben, Mann Gottes! Wäre ja gelacht, wenn wir aus dem Rattenloch nicht 'rauskämen!«

Von neuem ließ Reinhard die Lampe aufleuchten und begann in ihrem Schein nach der Treppe zu suchen.

»Das Licht wird uns vorzeitig verraten«, sagte Walke besorgt.

»Kommt jetzt nicht mehr darauf an, ob's früher oder später geschieht«, knurrte Reinhard ärgerlich zurück; er hatte sich den Kopf an dem Balancier einer Presse gestoßen. Einen Augenblick blieb er stehen und ließ den Strahl der Lampe über die Maschine gleiten. »Das haben wir vorhin noch gar nicht gesehen«, murmelte er vor sich hin. »Wirklich hübsche Sachen haben die Leute hier. Komplett eingerichtet sind sie, das muß man ihnen lassen.« Er leuchtete weiter und entdeckte nach kurzem Suchen eine schmale eiserne Wendeltreppe, die in einer Ecke des Kellers nach oben führte.

»Halten Sie Ihre Waffe bereit!« sagte er zu Walke und begann die Stufen emporzusteigen. In kurzem Abstand folgte ihm sein Begleiter.

»Verflucht und dreimal zugenäht!« knirschte Reinhard, als er auf der obersten Treppenstufe vor einer geschlossenen eisernen Tür stand.

»Was machen wir jetzt, Herr Reinhard?« fragte Walke.

»Krach! Skandal! Radau, Mensch! Die Kerls sollen schon munter werden. Halten Sie sich am Geländer fest, damit Sie bei einem Angriff nicht überrannt werden!«

Mit aller Kraft schlug Reinhard mit beiden Fäusten gegen die Tür. Dumpf wie ein Gong dröhnte das Stahlblech unter den Schlägen.

»Aufmachen!« brüllte er dazu aus vollem Halse.

Als ob die Tür dem Kommando gehorche, schwang sie lautlos zurück. Reinhard blickte in das hell erleuchtete Laboratorium. Fünf Schritte entfernt von ihm stand ein Mann in der Uniform eines Oberwachtmeisters, der eine Pistole auf ihn richtete. Hinter dem drei andere, ebenfalls bewaffnet. Zwei von ihnen hatte Reinhard vor etwa einer Stunde im Keller an der Stanze hantieren gesehen.

»Hände hoch!« kommandierte der Wachtmeister, wollte noch etwas anderes sagen und ließ im nächsten Augenblick die Waffe sinken, während er den Gefährten Reinhards verdutzt ansah. Es dauerte Sekunden, bis Stange wieder Worte fand.

»Walke!? Mensch, bist du's wirklich? Täuschen mich meine Augen nicht?«

Walke bot in diesem Moment ein Bild, das den Vergleich mit einem begossenen Pudel durchaus rechtfertigte, und seine Haltung wurde nicht besser, als Stange weitersprach: »Bist wohl ganz und gar verrückt geworden, Walke? Warst doch früher ein anständiger Kerl – und bemengst dich auf deine alten Tage mit Einbrechern? Junge, Junge! Wenn das man gut abgeht!«

»Sie kennen den Mann, Herr Wachtmeister?« fragte Eisenlohr, der die Entwicklung der Dinge bisher schweigend beobachtet hatte.

»Jawohl, Herr Doktor. Ist ein alter Kamerad und Kollege von mir. Haben zusammen gedient. Waren auch später bei der Polizei zusammen . . . Du altes Tränentier!« wandte sich Stange wieder an Walke, »plagt euch der Deibel? Was habt ihr denn hier bei Nacht und Nebel in einem fremden Keller zu suchen?«

Nur widerwillig tat Walke den Mund auf. »Mußt den Chef nach fragen, Stange.« Mehr brachte er nicht heraus.

»Also den anderen«, mischte sich Eisenlohr ein. »Würden Sie die Güte haben, Herr . . . Herr, Herr . . .?«

Reinhard zog eine Besuchskarte aus der Tasche und überreichte sie schweigend Eisenlohr. Der warf einen kurzen Blick darauf, einen fragenden auf Reinhard, und sprach weiter: »Sie haben einen eigenartigen Weg gewählt, um zu mir zu kommen. Sie dürfen sich nicht wundern, wenn der Empfang dementsprechend ausgefallen ist. Ihr Auftreten meinem alten Diener gegenüber grenzt hart an einen räuberischen Überfall. Sie sind dafür gehörig in die Nesseln geflogen«, fuhr er fort, als Reinhard eine abwehrende Bewegung machte. »Das mag also meinetwegen gleich gegen gleich zueinander aufgehen. Aber jetzt haben wir Sie in flagranti bei einem Einbruch ertappt. Es würde mich interessieren, was Sie zu Ihrer Entschuldigung vorzubringen haben.«

»Es wäre mir lieb, Herr Doktor, wenn ich unter vier Augen mit Ihnen sprechen könnte«, sagte Reinhard. Es waren die ersten Worte, die er sprach, seitdem er hier im Laboratorium stand.

»Bitte sehr, Herr Hauptmann. Die Gelegenheit dazu will ich Ihnen geben.«

Eisenlohr deutete auf eine Tür und ließ Reinhard vorangehen. Auf einen Wink von ihm schloß sich Holthoff an. Leicht verstimmt blickte Dr. Bruck ihnen nach. Er hätte gern gewußt, was Eisenlohr dort in Gegenwart des jüngeren Assistenten mit diesem Gentlemaneinbrecher zu verhandeln hatte. Ähnliche Gedanken bewegten auch Walke und den Wachtmeister Stange.

»Merkwürdige Sache«, brummte Walke, »erst sah's nach schwerem Krach aus, und jetzt verhandeln die Herren hinter verschlossenen Türen. Da soll der Deibel draus klug werden!«

»Na, sei froh, wenn es im Guten ausgeht«, meinte Stange. »Es sollte mir leid tun, wenn ich dich altes Kamel doch noch mitnehmen und über Nacht ins Spritzenhaus sperren müßte. Mit Ruhm habt ihr euch alle beide bei der Sache nicht bedeckt.« –

Ruhig hörte sich Eisenlohr an, was ihm Reinhard mitzuteilen hatte. Nur bisweilen tauschte er einen Blick mit Holthoff und warf eine kurze Bemerkung dazwischen, die für Reinhard manches, was ihm bisher unbekannt geblieben war, blitzlichtartig erhellte.

»Ja, so ist das nun also zustande gekommen, Herr Doktor«, schloß Reinhard seinen Bericht und sah Eisenlohr erwartungsvoll an. Der verzog die Lippen.

»Nicht ungeschickt von den Leuten; das muß man ihnen lassen. Geht es nicht auf die eine Weise, versuchen sie es zur Abwechslung mal auf eine andere. Man sprengt das Gerücht aus, daß auf der Eulenburg falsches Geld gemacht würde. Man bringt die Sicherungsvorrichtungen, die ich aus ganz anderen Gründen anlegen mußte, raffiniert damit in Verbindung und täuscht schließlich sogar einen alten erfahrenen Kriminalisten wie Sie.«

»Leider, Herr Doktor. Ich kann es nicht leugnen, man hat mich 'reingelegt wie einen Anfänger. Jetzt, nachdem ich die Beweggründe dieser Leute kenne, mache ich mir selbst schwere Vorwürfe, daß ich ihre Verdächtigungen für bare Münze genommen habe . . .«

Reinhard stockte, suchte nach Worten, um eine Entschuldigung vorzubringen.

»Trösten Sie sich, Herr Hauptmann«, unterbrach ihn Eisenlohr lächelnd. »Auf den Leim sind schon lange vor Ihnen andere Leute gekrochen, die ebenfalls das Prädikat ›erfahrene Kriminalisten‹ für sich beanspruchen durften. Ich könnte mir eigentlich sogar etwas darauf einbilden, daß es mir ebenso ergangen ist wie unserm alten Gottlieb Daimler. Sie kennen die Geschichte wohl nicht«, fuhr er fort, als er den fragenden Blick Reinhards bemerkte. »Als Daimler seinen ersten leichten Motor baute, arbeitete er ebenso wie ich in einer abgelegenen Werkstatt, um sein Geheimnis zu wahren. Und da hieß es eines Nachts auch plötzlich: ›Aufmachen! Polizei! Hände hoch!‹ Also eine ganz ähnliche Geschichte wie heute nacht bei mir. Man hatte Daimler auch der Falschmünzerei verdächtigt, das erste Pochen seines Motors für das Arbeiten einer Prägepresse gehalten, und die brave Polizei zog erst wieder ab, nachdem sie die Werkstatt von oben bis unten durchsucht hatte.«

»Ist das Tatsache, Herr Doktor?« fragte Reinhard.

»Sie können's in seinen Lebenserinnerungen heute noch nachlesen, wenn Sie's mir nicht glauben wollen«, lachte Eisenlohr. »Aber jetzt wollen wir unter dieser Sache einen Strich machen. Ich glaube, ich kann Ihnen einiges andere mitteilen, dem nachzugehen wohl der Mühe wert wäre . . .«

Und nun begann Eisenlohr zu sprechen. Erst leichthin und fast im Plauderton, bald aber ernster und jeden Satz sorgsam wägend, und Reinhard begnügte sich auch sehr bald nicht damit, einfach zuzuhören, sondern bedeckte in seinem Notizbuch eine Seite nach der anderen mit Aufzeichnungen.

»Ich glaube, Herr Holthoff, das wäre wohl alles, was Herr Reinhard in unseren Angelegenheiten wissen müßte«, beendete Eisenlohr seine Mitteilungen. »Wenn Sie danach für uns arbeiten wollten . . . selbstverständlich zu den Bedingungen Ihres Unternehmens . . . wäre ich Ihnen sehr verbunden.« –

Während die Verhandlung zwischen Eisenlohr und Reinhard hinter verschlossenen Türen weiterging, setzten sich draußen im Laboratorium die beiden Kameraden Stange und Walke auf ihre Weise auseinander.

»Ich kann dich immer noch nicht begreifen, Walke«, meinte Stange. »Dein früherer Chef hat den Staatsdienst an den Nagel gehängt und sich selbständig gemacht. Na, meinetwegen! Er wird wissen, warum er's getan hat . . .«

»Weiß er auch sehr genau, Stange«, fiel ihm Walke dazwischen.

»Gut! Soll er! Aber warum bist du auch abgegangen? Warst doch längst festangestellt. Gibst das alles einfach auf, stürzt dich hier in zweifelhafte Abenteuer . . . na!« Stange zuckte die Achseln. »Des Menschen Wille ist sein Himmelreich. Wirst sehen müssen, wie du zurechtkommst.«

»Brauchst dir um mich keine Sorgen zu machen, Stange. Gebe zu, daß wir uns heute mal verhauen haben; dafür hat es verschiedene Male glänzend geklappt.«

»Kannst sagen, was du willst, Walke: Staatsdienst bleibt Staatsdienst. Ich hätte es an deiner Stelle nicht getan . . .«

»Mußt du mir schon überlassen . . . übrigens, Herr Oberwachtmeister, wer sagt dir denn, daß wir für immer draußen bleiben? Vielleicht sind wir eines Tages schneller wieder drin, als du – –«

Er brach ab, weil die Tür sich öffnete. Eisenlohr und Holthoff kamen mit Reinhard zurück.

»Das wird alles bestens besorgt werden, Herr Doktor«, sagte Reinhard beim Abschied zu Eisenlohr. »Sehr nett von Ihnen, Herr Doktor, daß Sie uns noch ein Stückchen in Ihrem Wagen mitnehmen«, wandte er sich zu Holthoff.

»Bitte sehr, keine Ursache«, erwiderte Holthoff. »Es ist ja derselbe Weg. – Herr Stange«, fuhr er zum Oberwachtmeister gewendet fort, »ich bringe Sie wieder nach Hause. Wir fahren alle zusammen.«

Wenige Minuten später hörten Dr. Bruck und Eisenlohr den Wagenmotor im Hof anspringen.

Dr. Bruck wollte sich wieder an den Arbeitstisch setzen, Eisenlohr winkte ab.

»Genug für heute, Bruck. Morgen ist auch noch ein Tag, und zwar ein ziemlich anstrengender. Morgen müssen wir die neue Röhre einbauen, die uns Holthoff mitgebracht hat. Der Tag wird darüber hingehen.«

»Dann können wir erst übermorgen mit der neuen Versuchsreihe beginnen«, wandte Dr. Bruck ein.

»Vielleicht auch noch etwas später, mein lieber Bruck«, zügelte Eisenlohr die Ungeduld seines Assistenten. »In den nächsten Tagen hoffe ich Professor Braun hier zu haben. Wir korrespondieren bereits seit einiger Zeit miteinander. Es trifft sich günstig, daß er zufällig in der Nähe ist.«

»Professor Braun? Meinen Sie den bekannten Heidelberger Biologen, Herr Eisenlohr? Er ist stark besetzt. Ich fürchte, er wird wenig Zeit für uns übrig haben.«

»Im Gegenteil, Herr Bruck. Er ist gegebenenfalls bereit, sich uns für die ganze Dauer der Universitätsferien zur Verfügung zu stellen. Ich verspreche mir sehr viel von seiner Unterstützung. Sein Name hat in der wissenschaftlichen Welt einen guten Klang. Aber jetzt, mein Lieber . . .«

Eisenlohr warf einen Blick auf die Uhr. »Schon halb zwei! Höchste Zeit, daß wir ins Bett kommen. Feierabend für heute!«

*

Vor dem Hotel »Zum Hohen Stein« hielt Dr. Holthoff seinen Wagen an und fragte am Empfangsschalter nach Professor Braun. Er erhielt die Auskunft, daß der Professor auf seinem Zimmer wäre, und ging weiter.

»Hallo, Doc!« klang es ihm aus einem Klubsessel entgegen, als er die Vorhalle durchschritt.

»Hallo, Mister Spranger!« erwiderte Holthoff den Gruß und schüttelte dem anderen kräftig die Hand. »Eisenlohr hat sich sehr gefreut, von Ihnen zu hören. Er hofft, daß Sie ein paar Tage für ihn übrig haben werden.«

»Selbstverständlich«, lachte William Spranger. »Glauben Sie etwa, Doktor, daß ich mir das entgehen lasse, auf einer alten Burg einzukehren, die schon stand, bevor Kolumbus nach Amerika kam! Wenigstens eine Nacht möchte ich da oben auf eurem alten Eulennest bleiben. Vielleicht habe ich Glück und bekomme ein paar Gespenster zu Gesicht.«

Auch Holthoff wurde von der guten Laune des Amerikaners angesteckt. »Wir wollen sehen, was sich machen läßt, Mister Spranger«, meinte er ebenfalls lächelnd und wandte sich einem zweiten Herrn zu, der neben Spranger saß und sich mit einem Whisky-Soda beschäftigte.

»Guten Tag, Monsieur Bigot! Wie gefällt es Ihnen bei uns in Deutschland?«

Holthoff sprach noch ein paar weitere Sätze, während sein Blick suchend durch die Halle ging.

»Ach, da sitzt ja noch ein alter Bekannter von mir«, unterbrach er sich plötzlich, »dem muß ich auch mal schnell guten Tag sagen.«

Er ging nach einer andern Ecke der Vorhalle, um dort einen einzelnen Gast zu begrüßen, und kam schnell in ein Gespräch mit ihm. –

»Sie wollen Doktor Eisenlohr auf seiner Burg besuchen?« fragte Bigot inzwischen den Amerikaner.

William Spranger nickte. »Aber ganz bestimmt, Monsieur Bigot. Eisenlohr ist ein alter Studienfreund von mir. Die Gelegenheit, ihn jetzt mal wiederzusehen, will ich mir nicht entgehen lassen.«

»Eisenlohr? . . . Doktor Eisenlohr?« fuhr der Franzose fragend fort. »Ich hörte den Namen in Verbindung mit physikalischen Forschungen . . . Strahlungsforschungen, wenn ich mich recht erinnere . . . ein hervorragender Wissenschaftler . . . nicht in staatlicher Stellung . . . ein Privatgelehrter . . . es müßte hochinteressant sein, den Mann und sein Laboratorium kennenzulernen. Glauben Sie, daß es möglich wäre, ihn aufzusuchen?«

Spranger machte eine unbestimmte Bewegung. »Das kann ich Ihnen nicht sagen. Da fragen Sie besser Doktor Holthoff, der kann Ihnen eher Bescheid geben.«

Während Spranger es sagte, winkte er zu Holthoff hinüber, um ihn noch einmal an seinen Tisch zu bitten. Der Doktor erhob sich auch, aber offenbar hatte er den Wink als eine allgemeine Einladung aufgefaßt, denn er kam mit dem anderen, mit dem er zusammengesessen hatte, herüber.

»Darf ich die Herrschaften bekannt machen? Herr Hauptmann Reinhard«, führte er ihn ein.

»Oh, Sie sind Offizier im deutschen Heer?« fragte Spranger mit dem Interesse, das die Nordamerikaner von jeher für das deutsche Militär haben.

»Gewesen, Mister Spranger«, wehrte Reinhard ab. »Ich mußte wegen einer Dienstbeschädigung meinen Abschied nehmen.«

William Spranger wünschte genauer zu wissen, was eine Dienstbeschädigung wäre, und verwickelte Reinhard in ein längeres Frage-und-Antwort-Spiel über das Thema, während Holthoff und Bigot ein wenig beiseite ein Sondergespräch hatten. Obwohl es mit gedämpfter Stimme geführt wurde, gelang es Reinhard doch, wesentliche Teile davon zu hören.

»Es tut mir aufrichtig leid, Monsieur Bigot«, hörte er Holthoff sagen, »aber ich glaube nicht, daß Herr Doktor Eisenlohr seinen Standpunkt in dieser Angelegenheit geändert hat. Vorläufig müssen die Arbeiten, mit denen er sich beschäftigt, unbedingt geheim bleiben. Eine vorzeitige Bekanntgabe könnte unabsehbaren Schaden bringen. Gewiß, wenn Sie darauf bestehen, will ich Doktor Eisenlohr Ihren Wunsch nochmals mitteilen, aber ich glaube nicht . . .«

Reinhard mußte seine Aufmerksamkeit wieder Mr. Spranger zuwenden, dessen Wissensdrang immer noch nicht erschöpft war. Im stillen belustigte er sich über die Naivität dieses amerikanischen Naturburschen, wie er ihn bei sich nannte. Äußerlich ließ er sich nichts anmerken und beantwortete die Frage, die der eben gestellt hatte, ein wenig ausweichend.

»Du lieber Gott, Mister Spranger! Das ist sehr verschieden. Manche Kameraden finden nach der Verabschiedung eine passende Anstellung im Staatsdienst; andere kommen in der Industrie unter. Manche betätigen sich auch selbständig, beteiligen sich zum Beispiel, wenn sie über Kapital verfügen, an einem Unternehmen . . .«

»Und was tun Sie, Herr Hauptmann?« platzte Spranger mit einer Frage dazwischen.

Hemdsärmelig wie alle Yankees, dachte Reinhard bei sich; laut fuhr er fort: »Ich hatte zunächst ein Gut übernommen. Habe es ein paar Jahre mit ganz gutem Erfolg bewirtschaftet, vor kurzem aber wieder verkauft . . .«

William Spranger wurde lebhaft. »Oh, ich verstehe, Sie glauben, daß Sie mit Ihrem Geld woanders besser wirtschaften können. Die Farmer haben nur eine schlechte Verzinsung von ihrem Kapital. Das ist bei uns in den Staaten ebenso. In der Industrie würden Sie höhere Prozente bekommen.«

Reinhard nickte zustimmend. »Sie haben das Richtige getroffen, Mister Spranger. Eine gute Industriebeteiligung – das ist das, was ich jetzt suche. An Angeboten fehlt's mir nicht, aber man muß vorsichtig sein. Natürlich will ich mich nur an einer guten Sache beteiligen . . .«

»Gute Sachen sind selten«, warf Holthoff dazwischen.

»Sehr selten«, bestätigte Spranger. »Erst glaubt man, man ist beteiligt, und hinterher ist man benachteiligt.«

»Doch nicht immer, meine Herren«, mischte sich Mr. Bigot in die allgemeine Unterhaltung. »Man muß nur den richtigen Flair haben; dann kann man sein Kapital in kurzer Zeit verdoppeln und verdreifachen . . . ich kenne auch Fälle, in denen es im Laufe eines Jahres verzehnfacht wurde. Die richtige Witterung, meine Herren, das ist die Hauptsache, und dann ein rascher Entschluß. Das Glück ist eine wetterwendische Dame; wenn man den rechten Augenblick versäumt, wendet's seine Gunst einem anderen zu. Oh, ich könnte Ihnen Beispiele geben; ich habe mancherlei erlebt.«

Mr. Bigot begann aus seinen Erinnerungen zu erzählen, und Reinhard hörte ihm mit steigendem Interesse zu. Die goldenen Berge, die der Franzose hier vor seinen Augen aufbaute, schienen ihm recht verlockend zu sein. –

Für Dr. Holthoff wurde es Zeit, seinen Besuch bei Professor Braun zu machen. Er stand auf und verabschiedete sich.

Auf halbem Weg zum Fahrstuhl kam ihm Spranger nach und hielt ihn noch einmal an.

»Was haben Sie noch auf dem Herzen, Mister Spranger?« fragte der Doktor.

»Sie sollten Ihren Freund nicht mit dem Franzosen allein lassen!« platzte Spranger los. »Der Mann ist kein geeigneter Umgang für einen deutschen Offizier.«

»Ja, aber Sie verkehren doch mit ihm!« warf Holthoff ein.

Der Amerikaner zuckte die Achseln. »Eine Reisebekanntschaft, auf der Überfahrt von New York nach Le Havre gemacht. Mein Partner Kelly fand Gefallen an Monsieur Bigot und seinen Projekten. Ich halte weniger davon, aber . . . Sie wissen ja, wie das so geht, Herr Doktor, man lernt sich an Bord kennen und wird die Leute nachher nicht mehr los.«

»Mein Freund Reinhard wird ihn schon wieder loswerden, wenn er genug von ihm hat«, meinte Holthoff. Dem Amerikaner entging ein unmerkliches Lächeln, das bei diesen Worten um die Lippen des Doktors spielte.

»Man müßte den geschäftsunkundigen Hauptmann doch irgendwie warnen!« beharrte Spranger bei seiner Meinung.

»Sehr menschenfreundlich von Ihnen, Mister Spranger. Ich glaube aber, Sie unterschätzen die Lebenstüchtigkeit unserer Offiziere ein wenig.« Das Lächeln auf Holthoffs Zügen verstärkte sich. »Es ist mir zum mindesten zweifelhaft, wer von den beiden den andern am Ende einwickeln wird. Wenn's eine Wette gilt, würde ich auf den Hauptmann tippen.«

Kopfschüttelnd ging Spranger an den Tisch zurück, für seinen Teil entschlossen, den deutschen Offizier zu warnen. Holthoff trat in den Fahrstuhl und ließ sich in den zweiten Stock emporfahren. In einem geräumigen Zimmer traf er Professor Braun, der ihn bereits erwartete.

»Ich kenne Herrn Eisenlohr als einen ernsthaften Forscher«, eröffnete der Professor die Unterhaltung, »aber ich will Ihnen nicht verhehlen, daß ich recht skeptisch bin.«

»Je skeptischer, desto besser, Herr Professor«, erwiderte Holthoff. »Es ist uns nicht unbekannt, daß es auf dem von uns bearbeiteten Gebiet schon viele Enttäuschungen gegeben hat.«

»Sehr viele, Herr Doktor«, bestätigte Professor Braun Holthoffs Worte. »Wir wissen zwar heute, daß die Grenze zwischen anorganischen und organischen Individuen, zwischen Kristallen und Amöben eine unsichere ist, aber zu überschreiten hat sie bisher noch niemand vermocht.«

Holthoff stellte ein winziges Köfferchen auf den Tisch, öffnete es, entnahm ihm ein Reagenzglas, das mit einem Wattebausch verschlossen war.

»Würden Sie die Güte haben, sich das einmal näher zu betrachten?« sagte er, während er es dem Professor hinreichte.

Professor Braun nahm das Röhrchen in die Hand und drehte es hin und her. Sein Blick blieb auf einem kleinen Etikett haften, das auf die Glaswand aufgeklebt war. Er las eine Zahl ab.

»2318 steht hier notiert. Was hat das zu bedeuten, Herr Doktor Holthoff?«

»Es ist das Ergebnis unserer zweitausenddreihundertachtzehnten Versuchsanordnung, Herr Professor.«

Der Professor stutzte. »Versuchsanordnung, sagten Sie . . . zweitausendste Anordnung? – Ja, wie viele Versuche haben Sie denn gemacht?«

»Mehr als zehntausend, Herr Professor Braun. Wir sitzen jetzt im vierten Jahr über dem Problem. Schritt für Schritt haben wir uns immer näher an eine Lösung herangearbeitet. Wieder und immer wieder haben wir die Frequenz und die Stärke der Strahlung . . . die Dauer ihrer Einwirkung geändert. Was Sie in dem Glas dort sehen, ist die Frucht einer langen Arbeit.«

Der Professor griff nach einer Lupe und trat ans Fenster, um besseres Licht zu haben. Das kleine Reagenzglas, das Holthoff ihm mitgebracht hatte, war zur knappen Hälfte mit einer wasserklaren Gelatine gefüllt. Auf der Oberfläche der Gelatine befand sich eine etwa erbsengroße trübere Stelle. Lange Minuten hindurch starrte Professor Braun durch das stark vergrößernde Glas auf dieses Fleckchen; er drehte und wendete das Röhrchen dabei hin und her, um noch besser sehen zu können, während seine Lippen sich immer fester zusammenpreßten. Kopfschüttelnd ließ er das Reagenzglas endlich sinken.

»Sind Sie sicher, Herr Doktor, daß Ihr Ausgangsmaterial steril war und daß während Ihrer Versuche keine Keime von außen hineingelangen konnten?«

Holthoff wußte, was alles in dieser Frage lag. »Wir sind unserer Sache sicher«, antwortete er mit Entschiedenheit. »Die Gelatine wurde absolut sterilisiert und danach mit allen Mitteln, welche die Wissenschaft kennt, gegen die Einwanderung neuer Keime geschützt.«

Professor Braun kehrte zu einem Tisch im Zimmer zurück, auf dem verschiedenes physikalisches Gerät stand. Sein Fingerdruck brachte eine Lampe zum Aufleuchten, die einen scharfen polarisierten Lichtstrahl aussandte. Er brachte das Glasröhrchen in das Licht und beobachtete es ein zweitesmal gründlich durch eine andere, noch stärkere Lupe. Geduldig wartete Holthoff auf das Ergebnis der Untersuchung . . . wartete auf ein Urteil aus berufenem Munde, das entscheiden sollte, ob jahrelange angestrengte Arbeit fruchtbar oder unfruchtbar gewesen war.

Endlich öffnete Professor Braun die Lippen zum Sprechen. »Ich glaube eine Amöboidbewegung zu sehen, Herr Doktor . . .«

Obwohl Holthoff auch vorher nicht gezweifelt hatte, ließen die wenigen Worte sein Herz doch schneller schlagen.

»Können Sie den Versuch in Ihrem Laboratorium in meiner Gegenwart wiederholen?« fragte der Professor weiter.

»Jederzeit, Herr Professor Braun.«

»Gut, Herr Doktor. Herr Eisenlohr schrieb mir, daß ihm der morgige Tag recht sei. Es wäre mir lieber, wenn es in fünf Tagen sein könnte. Ich habe noch einige Vorbereitungen nötig.«

»Wie Sie wünschen, Herr Professor. Jede Zeit wird uns recht sein.«

»Dann werde ich heute über fünf Tagen bei Ihnen sein. Würden Sie mir das hier« – der Professor wies auf das Reagenzglas – »zu einer Untersuchung dalassen?«

Holthoff nickte.

»Ich müßte das Glas freilich öffnen«, fuhr Braun fort, »und den Stoff angreifen, um ihn unter das Mikroskop nehmen zu können. Wären Sie damit einverstanden?«

»Durchaus, Herr Professor. Wir sind in der Lage, uns jederzeit den Versuch zu wiederholen . . .«

Professor Braun warf ihm einen fragenden Blick zu.

»Sie wollen sagen, Herr Doktor, daß Sie in der Lage sind, jederzeit den Versuch zu wiederholen . . .«

Holthoff machte eine verneinende Bewegung. »Es ist kein Versuch mehr, Herr Professor. Es ist eine Reaktion, die wir sicher beherrschen.« Entdeckerstolz klang aus seinen Worten, während er weitersprach: »Behandeln wir Gelatine nach den Vorschriften unserer Protokollbücher, so wird sie amöboid . . . ebenso sicher, Herr Professor, wie Wasserstoff frei wird, wenn man Zink in Schwefelsäure steckt.«

»Man könnte Sie um Ihre Zuversichtlichkeit beneiden, Herr Doktor.« In Gedanken versunken sprach Professor Braun die Worte mehr zu sich selbst als zu Holthoff, während sein Blick immer noch wie fasziniert an dem Reagenzglas hing. Seine Gedanken wanderten rückwärts. Daten, Jahreszahlen, die Gedenktage großer Entdeckungen kamen ihm in den Sinn, die wie Marksteine am Wege der Menschheit emporragen. Erst nach Minuten riß er sich aus seinem Grübeln.

»Es bleibt bei unserer Verabredung, Herr Doktor Holthoff. Ich komme zu Ihnen auf die Eulenburg!«

Er reichte seinem Besucher die Hand zum Abschied.

»Vielleicht, Herr Professor«, sagte Holthoff, »werden wir Ihnen dann schon mehr und noch Größeres zeigen können.«

»Mehr und noch Größeres?« flüsterte Professor Braun vor sich hin, nachdem sich die Tür hinter Holthoff geschlossen hatte. »Für ein Menschenleben ist es genug, wenn sich nur das bewahrheitet, was ich jetzt sah.«

*

In der Gegend von Hersfeld ging der Frankfurter Schnelltriebwagen mit voller Geschwindigkeit durch eine Kurve. Fest und sicher lagen die Räder des Fahrzeuges auf den Schienen des überhöhten Geleises. Die beiden Reisenden, die ein Abteil für sich hatten, spürten kaum etwas von der Bewegung; nur aus einer Tasse, die auf dem Tischchen am Wagenfenster stand, spritzte unter dem Einfluß der Fliehkraft ein wenig Fleischbrühe heraus.

»Verzeihung, mein Herr!« sagte der eine der beiden, zog ein Tuch und begann die wenigen Spritzer vom Rock des andern abzutupfen. Der ließ die Zeitung sinken, in der er bis dahin gelesen hatte. Erst jetzt bemerkte er überhaupt, was geschehen war.

»Ist nicht der Rede wert«, meinte er abwehrend und wollte sich wieder seiner Zeitung zuwenden, doch der andere schien Lust zu einem Gespräch zu haben.

»Dreihundert Stundenkilometer und Bouillon in der Tasse, das verträgt sich doch nicht so recht miteinander«, fuhr er fort, »man dürfte sich in diesen Schnellwagen eigentlich nur feste Sachen bestellen . . .«

Während er weitersprach, nahm der andere Gelegenheit, ihn näher zu mustern . . . Sicher ein Ausländer. Wahrscheinlich aus dem Süden. Franzose oder Italiener . . . könnte allenfalls auch vom Balkan sein, ging es ihm durch den Sinn, während sein Blick über das fast blauschwarze Haar und das gelbliche, scharfgeschnittene Gesicht seines Gegenübers glitt.

»Der Mensch braucht aber auch auf solcher Schnellfahrt etwas H2O oder ähnliche Flüssigkeiten«, fuhr der andere fort. »Da müßte die Bahnverwaltung noch etwas erfinden, damit man sich das ohne Zwischenfälle leisten kann.«

Bei den Worten H2O sah der Angeredete auf.

»Ich nehme an, Sie sind Chemiker oder Physiker«, meinte er ein wenig belustigt.

»Beides, mein Herr.« Der Schwarzhaarige verneigte sich leicht. »Gestatten Sie: Doktor Bigot, Paris.«

Die Höflichkeit erforderte es, daß darauf auch der andere seinen Namen bekanntgab.

»Doktor Bruck«, sagte er reichlich undeutlich und machte noch einmal einen Versuch, sich hinter seine Zeitung zurückzuziehen. Doch auch diesmal wurde nichts daraus, denn Monsieur Bigot tat, als bemerke er es nicht, und plauderte weiter.

Von den Rekordleistungen der chemischen Industrie in Deutschland sprach er und ließ durchblicken, daß er die bedeutendsten Werke besichtigt hätte und bei seinen Besuchen mit großer Gastfreundlichkeit aufgenommen worden sei.

Sie werden dir auch nur gezeigt haben, was du sehen durftest, mein Lieber, dachte Dr. Bruck bei sich, während er hin und wieder eine zustimmende Bemerkung in das Gespräch warf, um nicht unhöflich zu erscheinen. Ohne es zu wollen, mußte er dabei an den Auftrag denken, um dessentwillen er nach Frankfurt fuhr. In seiner Aktentasche lagen die Zeichnungen zu neuen Hochspannungsröhren, die er dort bei einer Spezialfirma in Auftrag geben sollte. Es würde sicherlich nicht nur Geld, sondern auch einige Überredungskunst kosten, sie so schnell zu bekommen, wie Eisenlohr sie haben wollte. In seine Gedanken klangen wieder Worte Bigots, die ihn aufmerken ließen. Auf Probleme der Kernphysik kam er jetzt und gab dabei der Meinung Ausdruck, daß die deutsche Forschung auf diesem Gebiet doch ein wenig ins Hintertreffen geraten sei. Dr. Bruck versuchte zu widersprechen, aber der andere ließ doch seine Einwände nicht gelten . . . Er zählte die neuesten Erfolge amerikanischer und englischer Forscher auf und erwähnte schließlich scheinbar wie nebensächlich auch seine eigenen Leistungen auf dem Gebiet der Atomumwandlung.

Bis dahin hatte Dr. Bruck das Gespräch Bigots über sich ergehen lassen, weil er es nicht vermeiden konnte; jetzt aber begann es ihn zu interessieren. Häufiger als bisher warf er Fragen dazwischen, und mehr als einmal verriet sein Mienenspiel Erstaunen über die Antworten, die er auf seine Fragen erhielt.

Was war das für ein Mensch, der ihm gegenübersaß und über die letzten und schwierigsten Fragen der Forschung mit – Bruck mußte sich selber eingestehen, daß es so war – mit einer weltmännischen Gewandtheit plauderte? War das ein ernster Forscher oder ein Phantast, der haltlosen Theorien nachjagte? Glaubte der wirklich an das, was er da mit einer gewissen Selbstverständlichkeit vortrug, oder sagte er es nur, um andere zu bluffen? Fast gegen seinen Willen folgte Dr. Bruck des anderen Gedankengängen ein Stückchen, um ihn desto besser widerlegen zu können, aber so leicht war der nicht zu schlagen.

»Sie behaupten, daß es so nicht möglich wäre«, sagte er schließlich auf eine ziemlich scharfe Entgegnung von Bruck, »dann will ich Ihnen den praktischen Beweis liefern, daß es doch geht.« Mr. Bigot stand auf, hob seinen Koffer aus dem Gepäcknetz und entnahm ihm eine Metallprobe. Ein Stückchen Bleiblech schien es dem Gewicht und der stumpfgrauen Farbe nach zu sein. Nur an der einen Seite zeigte es eine Veränderung. Dort ging das Grau allmählich in ein schmutziges Braungelb über, und an der äußersten Kante schimmerte es goldig.

»Sehen Sie sich das einmal an, Herr Doktor«, sagte Bigot, während er ihm das Stück reichte. Bruck wog es prüfend in der Hand und betrachtete es nachdenklich.

»Hm! Ja! So läßt sich natürlich nichts Genaues sagen«, meinte er schließlich zweifelnd, »was soll es denn sein?«

»Sehen Sie es nicht an der Farbe, Herr Doktor Bruck? Es ist Gold. An dem Rand dort, wo die Einwirkung besonders stark war, sind die Bleiatome in Goldatome verwandelt worden. Genau so, wie die Theorie es verlangt, die Sie bestreiten.«

Dr. Bruck setzte sich zur Wehr. »Verzeihung, Monsieur Bigot! Ich bestreite durchaus nicht, daß das Bleiatom ein Goldatom wird, wenn man zehn Protonen aus seinem Kern fortnimmt. Ich bestreite nur, daß es auf dem von Ihnen angegebenen Wege möglich ist.«

»Es ist aber möglich gewesen!« versteifte sich Bigot auf seine frühere Behauptung. »Sie haben den praktischen Beweis vor Augen. Sehen Sie, Herr Doktor, so etwas kann man in Deutschland noch nicht. Hier hat die französische Forschung einen Vorsprung, der so leicht nicht einzuholen sein wird. Ich will mit Ihnen wetten«, fuhr er fort, als Dr. Bruck eine Weile nachdenklich schwieg, »daß sich etwas Ähnliches in ganz Deutschland nicht finden läßt.«

»Wetten Sie lieber nicht, Monsieur Bigot!« Während Bruck es sagte, warf er einen kurzen Blick auf das Gesicht des anderen. Maskenhaft erschien es ihm in diesem Moment, wirbelnd liefen seine Gedanken durcheinander. Ein inneres Gefühl wollte ihn warnen, sich mit diesem undefinierbaren Ausländer näher einzulassen. Was bewies denn schließlich jene Metallprobe, die er ihm als Beweismittel für seine wissenschaftlich nicht vertretbaren Behauptungen zeigte? Mit ein wenig Galvanoplastik konnte man am Ende jedes Bleiblech so herrichten und leichtgläubigen Gemütern damit imponieren.

»Ich bin meiner Sache absolut sicher, Herr Doktor«, sprach Bigot weiter. »Warum sollte ich nicht wetten? Ich würde die Wette sicher gewinnen . . .«

»Oder verlieren, Monsieur Bigot.«

»Ausgeschlossen, mein Herr! Bitte, schlagen Sie eine Summe vor, um die es gehen soll, und . . . ja, man müßte eine Frist ausmachen, innerhalb der Sie den Beweis für Ihre Behauptungen liefern . . . einen Monat . . . das wäre zu wenig . . . sagen wir drei Monate. Ich würde Ihnen ein Vierteljahr . . .«

»Ich will nicht wetten!« fiel ihm Bruck schroff ins Wort.

Die Mienen Bigots veränderten sich. Triumph, Schadenfreude und daneben auch etwas wie Enttäuschung glaubte Bruck in ihnen lesen zu können. Nur undeutlich verstand er, was der Franzose halblaut vor sich hin sprach. »Sie geben es als unmöglich auf«, glaubte er aus den Worten herauszuhören. Die abfällige Bemerkung trieb ihm das Blut ins Gesicht und riß ihn zu einer Handlung hin, die er in ruhiger Stimmung wohl unterlassen hätte.

»Ich wette nicht, weil es nicht fair wäre«, fuhr er auf. »Aber den Beweis für meine Behauptung will ich Ihnen geben, sofort, Mister Bigot, nicht erst in drei Monaten.« Noch während er es sagte, griff er nach seiner Aktentasche und brachte eine größere Anzahl von Metallplättchen zum Vorschein, runde Bleiblechscheiben von der Größe eines Fünfmarkstückes ungefähr. In der Mitte zeigte jede der Scheiben eine Veränderung. Genau kreisrund glänzte und gleißte es dort in dem dunkelgrauen Blei wie lauteres Gold. Haarscharf war die Grenze zwischen beiden Metallen. Ohne Übergang fügte sich das eine an das andere. Man hätte wohl glauben können, daß das Mittelstück von einem geschickten Goldschmied in die Bleiplatte eingesetzt worden sei.

Ohne ein Wort zu sprechen drückte Dr. Bruck dem Franzosen die Platten in die Hand. Ebenso wortlos starrte der sie an, bewegte sie, schob sie hin und her, wog sie auf den Fingern, ließ sie wieder sinken. Nur das einförmige Geräusch des Schnellwagens war zu vernehmen, bis Dr. Bruck das Schweigen brach.

»Nun, Monsieur Bigot, was sagen Sie dazu?«

Bigot schüttelte den Kopf. »Wer hätte das für möglich gehalten? Ich gebe mich geschlagen, Herr Doktor! Sie sind viel weiter als wir. Das hier« – er ließ die Metallscheiben durch seine Finger gleiten – »unzählige Millionen ist das wert, Herr Doktor. Wenn Sie verstehen, es richtig zu verwerten.« Dr. Bruck horchte auf, als das Wort »Millionen« fiel. »Glauben Sie wirklich, Herr Kollege?« fragte er zögernd. »Bei uns denkt man anders darüber. Man meint, daß ein Bekanntwerden der Erfindung nur Unruhe und Verwirrung stiften müßte.«

»Wer spricht von Bekanntwerden?« griff Bigot den Einwand Brucks auf. »Selbstverständlich muß die Sache absolut geheim bleiben. Dann aber eröffnen sich für den Erfinder ungeheure Verdienstmöglichkeiten.«

Brucks Miene zeigte Zweifel. Wohl wollten ihm die Worte Bigots einleuchten, aber allzusehr widersprachen sie doch dem, was Eisenlohr darüber geäußert hatte. Dem Franzosen entging das Schwanken Brucks nicht. Er entschloß sich, zu stärkeren Mitteln zu greifen, um den Zögernden auf seine Seite zu bringen.

»Ich habe weniger als Sie erreicht, Herr Doktor«, fuhr er fort, »trotzdem liegt bereits ein ernsthaftes Angebot einer amerikanischen Kapitalistengruppe vor. Die Herren sind schon jetzt bereit, für eine Option auf meine Erfindungen eine bare Million Dollar auf den Tisch zu legen.«

Deutlich spiegelte sich die Wirkung seiner Worte in den Zügen des Deutschen wider.

»Das ist natürlich nur ein Anfang«, sprach Bigot weiter. »Hätte ich schon das, was Sie hier haben, so würde ich unbedenklich ein Mehrfaches für die Option verlangen – und auch bekommen, Herr Doktor.«

Dr. Bruck suchte nach Worten, um der Gedankenflut, die ihm durch den Kopf ging, Ausdruck zu geben, und vermochte sie nicht zu finden. Verschiedene Male setzte er an und stockte doch immer wieder.

»Der Chef will es doch nicht«, brachte er schließlich resigniert heraus. Er glaubte damit den Angriff abgeschlagen zu haben, doch der Versucher ließ nicht locker.

»Brauchen Sie Ihren Chef dazu? Können Sie es nicht selber machen, Herr Doktor?« fragte Bigot.

»Gewiß kann ich's selber machen, aber . . .«

»Hat Herr Eisenlohr Patente darauf genommen?« unterbrach ihn Bigot.

Dr. Bruck schüttelte den Kopf.

»Dann, mein Lieber, sind Sie vollkommen frei. Was hindert Sie, das große Geschäft mit mir zusammen zu machen? Sie haben das verbesserte Verfahren, ich habe die Kapitalisten an der Hand. Ich schlage halbpart vor, Herr Doktor.«

Bigot sprach nicht weiter, er beobachtete nur das Gesicht des andern. Diesen Mann glaubte er gewonnen zu haben.

Von widerstreitenden Gedanken ganz in Anspruch genommen, schob Dr. Bruck seine Metallplättchen achtlos in die Aktentasche zurück. Unschlüssig blickte er auf, als Bigot ihm seine Besuchskarte hinhielt.

»Hier meine Pariser Adresse, Herr Doktor. Schreiben Sie mir recht bald, wie Sie über meinen Vorschlag denken. Ich werde Ihnen ebenfalls schreiben –«

Dr. Bruck raffte sich auf: »Bitte keine Korrespondenz nach der Eulenburg! Das möchte ich nicht . . .«

»Ich begreife vollkommen, Herr Doktor. Jede Indiskretion könnte unseren Plänen verhängnisvoll werden. Ich werde meine Briefe postlagernd nach Ihlefeld schicken.«

Der Triebwagen verlangsamte sein Tempo.

»Oh, schon Gelnhausen! Hier muß ich aussteigen.« Bigot raffte seine Sachen zusammen. »Nur eine Minute Aufenthalt. Ich muß mich beeilen. Vergessen Sie nicht, in den nächsten Tagen auf dem Postamt in Ihlefeld nachzufragen. Auf Wiedersehen, Herr Doktor!« Er stieg aus, sowie der Zug stand. Nur einen kurzen Augenblick schaute ihm Dr. Bruck nach. Zerstreut und unruhig griff er nach seinen Röhrenzeichnungen, um sich für die Besprechung in Frankfurt vorzubereiten, während schon wieder das eintönige Spiel der rollenden Räder einsetzte.

Als er eine mehrfach zusammengekniffte Zeichnung auseinanderfaltete, fiel eins der Metallplättchen aus ihr heraus auf den Boden des Abteils. Er hob es wieder auf, um es in die Mappe zurückzutun. Dabei bemerkte er, daß er die Plättchen vorhin nicht wieder in ein dafür bestimmtes Seitenfach der Tasche gesteckt hatte. Vielmehr lagen sie wahllos zwischen den Zeichnungen und Plänen.

Dr. Bruck machte sich daran, das wieder in Ordnung zu bringen. Eine Zeichnung nach der andern nahm er heraus, faltete sie auf dem Platz, den vor kurzem noch Monsieur Bigot eingenommen hatte, auseinander und steckte jedes Metallstück, das ihm dabei in die Hände fiel, in das Seitenfach. Jetzt war der letzte Plan herausgenommen, die Tasche war leer.

Der Doktor stutzte. Sieben Plättchen hatte er bis jetzt gezählt. Waren es heute früh nicht neun gewesen? Noch einmal untersuchte er jede Zeichnung, jeden Winkel der Mappe, sah auf dem Wagenboden nach, fühlte unter die Sitzbänke, untersuchte die Polsterung – es blieb bei dem alten Ergebnis. Es waren sieben Plättchen und wurden nicht mehr. Er wurde unsicher. Sollte er sich am Ende doch geirrt haben? Viel Zeit zum Grübeln blieb ihm nicht mehr. Denn schon wieder verlangsamte der Wagen seine Fahrt; die ersten Häuser von Frankfurt kamen in Sicht. Er mußte sich zum Aussteigen fertigmachen.

*


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