Hans Dominik
Lebensstrahlen
Hans Dominik

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Dr. Harper, der bevorzugte Zahnarzt der amerikanischen Kolonie in Paris, war an sonderbare Wünsche seiner reichen und des öfteren auch reichlich spleenigen Patienten gewöhnt und pflegte sich durch Rechnungen von entsprechender Höhe dafür schadlos zu halten. Aber daß man ihn mitten in der Nacht aus dem Schlaf klingelte, um ein paar Goldplomben herauszunehmen, die er erst vor wenigen Tagen mit vollendeter Meisterschaft gelegt hatte, das passierte ihm doch zum erstenmal. James Kelly war es, der das von ihm verlangte und sein Ansinnen mit wenig schmeichelhaften Bemerkungen über Harpers ärztliche Kunst begründete.

Schweigend ließ der Doktor ihn gewähren, entschlossen, für jede der Injurien, die er zu hören bekam, einen Sonderbetrag auf die Rechnung zu setzen. Er wurde indes nachdenklich, als er seinen widerhaarigen Patienten genauer untersuchte, denn was er dabei feststellen mußte, sah ganz nach einer schon ziemlich weit vorgeschrittenen Wurzelhautentzündung aus. Eine Erklärung dafür konnte er nicht finden.

Sollte ihm zum ersten Male in seiner langen Praxis doch ein Kunstfehler unterlaufen sein? Er hielt es für ausgeschlossen, aber angesichts der Sachlage schien es ihm das richtigste, dem Wunsche zu willfahren. Die Bohrmaschine begann zu arbeiten, und bald waren Kellys Zahnhöhlen wieder frei von jeder Spur jenes Goldes, das Dr. Harper kürzlich mit so viel Kunst und Wissenschaft in sie hineingesetzt hatte. Einen leichten, lindernden Kitt brachte der Arzt dafür hinein, gab dem Patienten noch ein paar Kokainspritzen in das Zahnfleisch und entließ ihn mit den besten Wünschen für eine ruhige Nacht.

James Kelly stieg in seinen Wagen und fuhr ins Hotel zurück. Die Betäubungsmittel Dr. Harpers hatten seine Schmerzen zwar fast verschwinden lassen, aber seine Stimmung war immer noch alles andere als sanftmütig, als er zu Spranger, der noch auf war und ihn erwartete, ins Zimmer trat.

Unwirsch wies er die teilnehmenden Worte, mit denen sein Partner ihn empfing, zurück.

»Lassen Sie die Fragerei, Spranger! Sie machen mich wahnsinnig damit.« Sein Blick fiel auf die kleine Schreibmaschine auf Sprangers Tisch. »Tun Sie mir den Gefallen, und setzen Sie sich an die Maschine. Ich möchte einen Brief diktieren. Mir wird erst wohler sein, wenn ich Monsieur Bigot meine Meinung gesagt habe.«

Spranger spannte einen Bogen ein und setzte sich in Bereitschaft.

Kelly begann zu diktieren, sein Partner schrieb aber schon nach wenigen Zeilen nicht weiter.

»So geht das nicht, Kelly. ›Schuft und Lump und Gauner‹ dürfen Sie wirklich nicht schreiben, wenn es auch noch so sehr Ihre Meinung ist. Bigot würde es benutzen, um recht erhebliches Geld aus Ihnen herauszuholen . . .« Er spannte einen neuen Bogen ein, aber auch der zweite, dritte und vierte Entwurf glückten noch nicht. Erst beim fünften Male kam ein Schriftstück zustande, das man nach Sprangers Meinung zur Not abschicken konnte, ohne eine Beleidigungsklage gewärtigen zu müssen.

»Viel zu sanft für den Halunken!« knurrte Kelly vor sich hin, als er in sein Schlafzimmer ging. –

Zwischen Bigot und seinem Komplicen hatte es gleich damals, als Hartford von dem Geschäft mit Dubois zurückkam, eine scharfe Auseinandersetzung gegeben. Bigot wollte einfach nicht glauben, daß ein Kunde, der bis dahin immer glatt zahlte, plötzlich einen solchen Abzug an der Kaufsumme machte. Unverblümt warf er Hartford Betrug vor und beschuldigte ihn, in seine eigene Tasche zu wirtschaften. Hätte die Not sie nicht gezwungen, weiter zusammenzuhalten, so wäre es vielleicht sofort zu einem offenen Bruch zwischen den beiden gekommen. So indessen arbeitete Bigot notgedrungen weiter, bald mit der Strahlröhre, bald am Schmelztiegel, goß neue Barren und vertröstete dazwischen die Gläubiger, während Percy Hartford sich intensiv nach neuen Abnehmern umsah und sie dank seinen unterirdischen Beziehungen auch fand.

Mit Genugtuung erzählte er Bigot davon, doch der blieb nach wie vor mißtrauisch. Hartford war ihm als Kumpan willkommen gewesen, als es galt, Kapitalisten hinter das Licht zu führen. Aber er war ganz und gar nicht gewillt, sich selber von ihm übers Ohr hauen zu lassen. Mit gemischten Gefühlen sah er zu, wie Hartford nach dem Einbruch der Abenddämmerung drei Goldbarren in den Taschen seines Anzuges verschwinden ließ und sich zum Ausgehen fertig machte.

»Wohin wollen Sie damit?« fragte er.

»Zu dem neuen Abnehmer, von dem ich Ihnen heute vormittag sprach, Bigot.«

»Aber diesmal keine Abzüge, Hartford! Das bitte ich mir aus! Sie geben die Ware nur gegen den vollen Preis her, sonst . . .«

»Sonst, Bigot . . .?

»Sonst müßte ich mich selber um den Absatz kümmern, Mister Hartford.«

Hartford zuckte die Achseln. Lächerlich, was Bigot da sagte! Der sollte sich mal erst die Verbindungen verschaffen, über die er, Hartford, seit langem verfügte. Dinge und Wunder würde er dabei erleben – überflüssig, überhaupt ein Wort darüber zu verlieren . . . »Ich gehe jetzt«, sagte er kurz und ging zur Tür.

»Sie kennen meine Meinung, Hartford. Handeln Sie danach!« rief ihm Bigot noch nach. Nur wenige Sekunden wartete er, dann griff er ebenfalls nach Mantel und Hut. Als Hartford die Haustür hinter sich zuschlug, ging auch Bigot bereits die Treppe hinab. Er hatte die Absicht, ihm ungesehen zu folgen und ihn soweit wie möglich bei dem bevorstehenden Geschäft zu überwachen.

Die Dunkelheit war inzwischen angebrochen, die Straßenlaternen brannten. Es wurde Bigot nicht schwer, sein Vorhaben auszuführen, ohne dabei von Hartford bemerkt zu werden. Durch Straßen, Gassen und schließlich durch Gäßchen führte Hartfords Weg in das Markthallenviertel. Vor einem verwahrlosten Haus blieb er stehen und drückte die unverschlossene Tür auf. Bigot sah ihn verschwinden und bezog zunächst einen Beobachtungsposten in einem Hausflur gegenüber. Wenigstens zehn Minuten wollte er verstreichen lassen, bevor er dem anderen nachging. Während er stand und wartete, versuchte er, sich den Namen des neuen Kunden ins Gedächtnis zurückzurufen, den Hartford am Vormittag gesprächsweise erwähnt hatte.

Marmonier . . . Marmoutier . . . Marmosset . . . so ähnlich hatte er gelautet. Genau konnte sich Bigot zu seinem Bedauern nicht darauf besinnen. Sicherlich würde der Name ihm aber wieder einfallen, wenn er ihn auf einem Türschild geschrieben sah. –

Hartford war inzwischen eine steile und in der Dunkelheit doppelt halsbrecherische Treppe hinaufgestiegen. Vor einer Tür im dritten Stock machte er halt und ließ seine Taschenlampe aufblitzen. Bei ihrem Schein fand er einen Klingelknopf, auf den er in einem bestimmten Rhythmus bald kurz, bald lang drückte – ein Kenner des Morsealphabetes hätte dabei gewisse Buchstaben heraushören können. Gleich danach wurde die Tür geöffnet. Hartford nannte seinen Namen und wurde von dem Inhaber der Wohnung über einen dunklen Flur in ein mäßig beleuchtetes Zimmer geführt. Wie in dem Büro eines Winkelkonsulenten sah es hier aus: Regale mit verstaubten Akten vollgepfropft an den Wänden. Ein einfacher Tisch aus Fichtenholz und ein paar Stühle aus dem gleichen Material nahmen die Mitte des kleinen Raumes ein.

Hatte der vorletzte Kunde Hartfords wie ein Markthelfer ausgesehen, so konnte der jetzige etwa ein kleiner Büroangestellter sein, vielleicht ein Greffier aus irgendeiner Notariatskanzlei. Verstärkt wurde dieser Eindruck noch durch einen Schreibschutz aus schwarzem Taft, den er über den rechten Ärmel gezogen hatte, und einen grünen Augenschirm, der den größten Teil seines Gesichts im Dunkeln ließ.

Abgesehen von diesen äußerlichen Unterschieden vollzog sich die Verhandlung zwischen ihm und Hartford ähnlich wie vor kurzem mit Monsieur Dubois. Auch hier wurde zuerst eine Waage zu Hilfe genommen und danach mit Probierstein und Ätzwasser der Feingehalt der drei Barren, die Hartford mitgebracht hatte, geprüft. Dann ging es schnell und für Hartford erfreulich glatt weiter. Der Mann mit dem grünen Augenschirm rechnete den Preis aus und legte den errechneten Betrag in guten amerikanischen Hundertdollarnoten vor Hartford auf den Tisch, ohne, wie Monsieur Dubois, zu mäkeln und Abzüge zu versuchen. In zehn Minuten war das ganze Geschäft erledigt. Hartford stand auf und machte sich zum Gehen bereit, als ihn der andere noch einmal zurückhielt.

»Sie haben Geschäfte mit Dubois gehabt, Mister Hartford?«

Hartford zuckte zusammen, als er den Namen hörte. Es war ihm unbegreiflich, daß sein neuer Kunde um die alten Beziehungen wußte. Bevor er noch etwas antworten konnte, sprach der weiter:

»Seien Sie vorsichtig, Mister Hartford! Man will Ihnen von dieser Seite übel.«

Hartford stotterte in seiner Verwirrung etwas Unsinniges zusammen. Der andere zuckte die Achseln.

»Konkurrenzneid . . . was weiß ich . . . Sie gehen jetzt besser zu einem anderen Ausgang hinaus. Ich werde Sie führen.«

Der Weg ging kreuz und quer über endlose Korridore, bald ein Stockwerk in die Höhe, dann wieder Treppen hinab, bis Hartford von dem anderen endlich durch eine enge Tür ins Freie geschoben wurde. Er befand sich in einem kleinen, ihm bis dahin unbekannten Nebengäßchen und brauchte einige Zeit, um sich zurechtzufinden. Auf Umwegen erreichte er sein Hotel. Bigot war nicht da, als er zurückkam. So hatte er Gelegenheit, noch einmal in aller Muße die schöne große Summe zu überzählen, die das letzte Geschäft eingebracht hatte. Sein Gesicht verriet Befriedigung und Genuß, während er die einzelnen Banknoten durch die Finger gleiten ließ. –

Ungeduldig trat Bigot auf seinem Beobachtungsposten vom einen Fuß auf den anderen. Eine Viertelstunde war Hartford bereits in dem Haus drüben. Es wurde Zeit, ihm nachzugehen, wenn er noch etwas von dessen Verhandlungen mit dem neuen Kunden erlauschen wollte. Vorsichtig sah er sich um; weit und breit war die Gasse menschenleer. Schnell eilte er über den Damm und ging durch die gleiche Tür, hinter der vorhin Hartford verschwunden war.

Aber Bigot hatte keine Taschenlampe bei sich, und bald mußte er einsehen, daß sein Unternehmen ziemlich hoffnungslos war. Eine lebensgefährliche Stiege, unwahrscheinlich enge Treppenabsätze, keine Möglichkeit, in der Dunkelheit Türschilder zu erkennen, wenn überhaupt welche vorhanden waren. Dazu eine fast unheimlich wirkende Stille. Vergeblich lauschte er an den Türen, in der Hoffnung, etwas zu hören und dadurch auf die richtige Spur zu kommen. So tastete er sich bis zum fünften Stockwerk hinauf, um dann unverrichtetersache umzukehren. Sein Versuch, Hartford auf die Sprünge zu kommen, war gescheitert. Mißmutig kletterte er von Absatz zu Absatz hinab und war froh, als er endlich wieder die Haustür erreichte.

Einen Augenblick blieb er stehen und sah sich um. Nach wie vor schien die Straße völlig verlassen zu sein. Mißmutig schlug er seinen Mantelkragen empor und trat ein paar Schritte vorwärts, als er hinter sich ein Geräusch zu vernehmen glaubte. Leichte, kaum vernehmbare Schritte, ein Raunen von Stimmen. Noch ehe er sich umdrehen konnte, sauste von hinten her über seinen Rücken ein Schlag, der ihn vor Schmerz aufschreien ließ, und hageldicht folgten in den nächsten Sekunden weitere Schläge von der gleichen saftigen Sorte.

Wie im Nebel sah er drei Gestalten um sich, die mit Gummischläuchen, Kabelenden oder ähnlichen Dingen auf ihn einhieben. Vergeblich streckte er die Arme vor, um seinen Kopf zu schützen. Auch auf den Armen und Händen brannten die Hiebe wie höllisches Feuer, wie ein Trommelwirbel fielen sie von allen Seiten auf ihn hernieder.

Monsieur Bigot bekam von Pariser Apachen eine Tracht Prügel, die weder qualitativ noch quantitativ etwas zu wünschen übrigließ. Es wurde ihm schwarz vor den Augen; er war im Begriff, zusammenzusinken, als seine Gegner plötzlich von ihm abließen. Kurze Worte hörte er:

»Das ist er nicht! Wir haben einen Falschen erwischt!« Dann schwanden ihm die Sinne. –

Percy Hartford wurde allmählich über das lange Ausbleiben Bigots unruhig. Es war ihm unerklärlich, was der so lange außerhalb zu suchen hatte. Sein Platz war doch hier, bei der Strahlröhre und den anderen Apparaten. Hier sollte er arbeiten und fleißig Gold fabrizieren. Sollte er Dummheiten gemacht haben? In eine Falle geraten sein? Mit unangenehmer Deutlichkeit erinnerte sich Hartford jetzt der letzten Worte, die er vor seinem Weggang noch mit ihm gewechselt hatte. »Sonst muß ich mich selber um den Absatz kümmern«, hatte Bigot gesagt. Hatte er es wirklich versucht? . . . Dann war mit allen möglichen und wahrscheinlich recht unangenehmen Überraschungen zu rechnen . . .

Während Hartford sich noch solchen Vermutungen hingab, klingelte es. Er ging zur Tür, um zu öffnen. Zwei Flics, Angehörige der Pariser Polizei, standen davor, in ihrer Mitte führten und stützten sie Bigot. Hartford fuhr entsetzt zurück, als er ihn erblickte. Er sah seine schlimmsten Erwartungen übertroffen.

Der Mantel Bigots war zerrissen. Hut und Stock waren ihm unterwegs abhanden gekommen. Sein Gesicht war durch Beulen und Striemen entstellt, eine rote Kruste verriet, daß er aus Mund und Nase geblutet hatte. Sein linkes Auge war halb zugequollen, auch seine Hände zeigten Spuren der erlittenen Mißhandlung. Mit Hilfe der beiden Polizisten brachte ihn Hartford zunächst einmal auf ein Ruhebett und flößte ihm ein Weinglas voll Kognak ein, versuchte dann von seinen Begleitern zu erfahren, was eigentlich geschehen sei.

Die wußten nicht viel zu melden. Ein Überfall in einer übelberüchtigten Gasse, wie er in Paris jede Woche einmal vorkam. Der Herr wäre unvorsichtig gewesen, sich allein, noch dazu bei Dunkelheit, in diese Gegend zu begeben . . . zum Glück sei es noch glimpflich abgelaufen. Gefährlich verletzt wäre er nicht, augenblicklich nur noch benommen. Es hätte viel schlimmer kommen können . . . Eine Anzeige erstatten? Viel Zweck hätte es kaum. Immerhin, wenn der Herr es wünsche, würden sie eine Anzeige gegen Unbekannt machen.

Die Polizisten wollten bereits wieder gehen, als Hartford sie noch nach dem Ort des Überfalls fragte. Er stutzte, als er den Namen der Straße und die genaue Stelle erfuhr. Dicht bei jener Tür war es gewesen, durch die er selbst wieder herausgekommen wäre, wenn ihn sein neuer Kunde nicht auf einem andern Weg ins Freie gebracht hätte. Während die Polizisten sich entfernten, blieb Hartford sorgenvoll zurück. Immer klarer wurde es ihm, daß dieser Überfall wohl eigentlich ihm selber gegolten hatte. Daß er nur durch die Vorsicht dieses Monsieur Marmottier den Schlägen entgangen war, die durch ein merkwürdiges Quidproquo Bigot an seiner Stelle bekommen hatte. Merkwürdig – ja, in der Tat merkwürdig war es, daß der gerade zu dieser Zeit an dieser Stelle sein mußte. Wie kam er dorthin?

Hartfords Gedanken gingen der Frage nach und kamen zu einer Antwort, die sein Blut in Wallung brachte. Nur eine Erklärung gab es für diesen eigenartigen Zufall. Bigot traute ihm nicht mehr. Bigot war ihm nachgegangen, um ihn zu belauern . . . um seinen Verbindungen nachzuspüren . . . vielleicht, um selber Beziehungen anzuknüpfen, um ihn später ganz ausschalten und beiseitewerfen zu können.

Er warf einen wütenden Blick zu dem Ruhelager hin, wollte etwas sagen und unterdrückte es, als er Bigot schärfer betrachtete. Der war in einen unruhigen Halbschlummer gefallen, bewegte sich hin und wieder und stöhnte dabei. Jede Stelle seines Körpers schien ihn zu schmerzen. Mit einem Ruck wandte sich Hartford von ihm ab. Sonst für moralische Betrachtungen nicht besonders eingenommen, glaubte er im Augenblick an so etwas wie eine ausgleichende Gerechtigkeit. Sein Kumpan hatte ihn verraten wollen und dafür Prügel bekommen, die eigentlich für ihn, Hartford, bestimmt waren.

Schade um jeden Schlag, der danebenging! beendete er seine Überlegung, um sofort eine neue zu beginnen. Was heute mißlungen war, konnte morgen gelingen. Zweifellos hatte die Bande um Dubois ihn aufs Korn genommen und würde den Überfall bei nächster Gelegenheit wiederholen. Die Andeutungen, die ihm Marmottier darüber machte, waren ja kaum mißzuverstehen. Trafen Sie aber zu, dann war er hier in Paris ernstlich bedroht – war vielleicht nicht einmal mehr seines Lebens sicher. Dann war es für ihn – wie schon des öfteren in seinem Leben – einmal wieder an der Zeit, den Schauplatz seiner Taten anderswohin zu verlegen.

Wohin? In Frankreich kam natürlich nur Paris in Frage. USA war im Augenblick auch kein gesunder Boden für ihn . . . vielleicht Deutschland? Wenn er dorthin ging . . . vielleicht versuchte, irgendwie Anschluß an die Gruppe Eisenlohr zu finden? . . . Dieser Dr. Bruck, über den Bigot wiederholt mit ihm gesprochen hatte, könnte vielleicht der richtige Mann sein, um das zu vermitteln. Man müßte sich mit ihm in Verbindung setzen, ihm schreiben – noch besser ihm ein Telegramm schicken.

Hartford griff nach Stock und Hut, um noch einmal auszugehen. Er wollte das Plänchen, über dem er nun schon seit Minuten brütete, erst einmal klar überdenken. Ärgerlich war's ja immerhin, von hier fortzugehen und Bigot das große Geschäft mit Kelly & Company allein zu überlassen. Als er zur Haustür kam, reichte ihm die Concierge aus ihrer Loge heraus einen Brief. Hartford nahm ihn mit einem kurzen »Danke!« an sich und warf einen Blick auf den Umschlag. Er war an Bigot gerichtet.

Percy Hartford hinderte das keinen Augenblick, ihn aufzureißen und zu lesen. Es war jenes wenig schmeichelhafte Schreiben, das James Kelly nach seiner Rückkehr von Dr. Harper seinem Partner in die Maschine diktiert hatte. Der Inhalt ließ an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Kelly bezeichnete darin die Tätigkeit Bigots grob und grad als Humbug und nannte das von ihm hergestellte Gold einen lebensgefährlichen Dreck. Hartford brauchte den Brief nicht ein zweites Mal zu lesen; schon beim erstenmal wurde ihm vollkommen klar, daß an irgendein Geschäft mit der Firma Kelly & Company nicht mehr zu denken war, und diese Erkenntnis bestärkte ihn in seinem Entschluß, schleunigst aus Paris zu entschwinden.

Er griff nach seiner linken Brustseite. Angenehm für sein Ohr knisterten dort unter dem Rocktuch die Banknoten Marmottiers.

Kurz entschlossen stieg er die Treppe wieder hinauf und kehrte in die Wohnung zurück. Bigot war inzwischen in einen tiefen Schlaf der Erschöpfung versunken; trotzdem vermied Hartford sorgfältig jedes Geräusch. Eilig raffte er ein paar Kleidungsstücke zusammen, packte sie in einen Handkoffer und verließ zum zweitenmal – diesmal für immer – die Wohnung.

Auf der Fahrt zum Bahnhof überlegte er die nächsten Schritte. Sollte er gleich von hier ein Telegramm an Bruck aufgeben? Es schien ihm rätlicher, damit zu warten, bis er die französische Grenze hinter sich hatte.

Eine Stunde später streckte er sich in einem Schlafwagen zur Ruhe aus. –

Am nächsten Morgen bekam Spranger einen Besuch von Reinhard. Der Hauptmann berichtete ihm, daß die Formalitäten in Sachen Percy Hartford doch etwas zeitraubender wären, als er ursprünglich geglaubt hätte, und erkundigte sich dann nach dem Befinden Kellys.

Spranger gab bereitwillig Auskunft. Geschwulst und Schmerzen wären in den letzten vierundzwanzig Stunden zurückgegangen, und danach sei die Laune seines Partners wieder eine bessere geworden.

»Aber vorgestern, Herr Reinhard, als er von Doktor Harper zurückkam, war er in einer schauderhaften Stimmung. Noch in der Nacht hat er an Bigot geschrieben. Ich habe hier einen Durchschlag davon . . .« Spranger holte die Kopie und gab sie Reinhard. Der überlas sie und runzelte die Stirn.

»Halten Sie den Brief für zu scharf?« fragte der Amerikaner.

»Ich fürchte, Mister Spranger, er kann uns die Vögel verscheuchen, bevor das Netz zuklappt. Dumm! – Dumme Geschichte! – Natürlich hat Bigot den Brief längst gelesen und wird seine Konsequenzen daraus ziehen. Schade, Mister Spranger . . . "

Spranger überlegte einen Moment, begann dann zögernd zu sprechen. »Der Brief ist von Kelly und nicht von mir. Was halten Sie davon, wenn ich jetzt Bigot besuchen würde?«

Reinhard nickte. »Versuchen könnten Sie es schließlich. Zu verderben ist dabei kaum etwas. Mir liegt daran, daß das Schwindlerpaar noch acht Tage hierbleibt. Wenn Sie das erreichen können, leisten Sie der Gerechtigkeit einen guten Dienst.«

»Well, Captain!« Spranger stand auf. »Ich werde gleich hinfahren und sehen, was sich machen läßt.« –

Als Spranger eine Viertelstunde später vor der Tür von Bigots Wohnung stand, hörte er drinnen einen Wortwechsel. Er unterschied die Stimme von Bigots Diener, der, im Gegensatz zu seiner sonstigen Art, ziemlich laut und grob mit zwei anderen Leuten sprach. Die Herren möchten mit ihren Rechnungen ein andermal wiederkommen. Monsieur Bigot läge krank zu Bett, und Mr. Hartford sei ausgegangen. Gleich danach wurde die Tür geöffnet. Spranger trat zur Seite und sah zwei Männer herauskommen, die durch ihre Äußerungen noch während des Hinuntergehens keinen Zweifel darüber ließen, daß sie vergeblich um Geld dagewesen waren.

Ihn selbst schien der Livrierte auch für einen Gläubiger zu halten. Erst als er ihn erkannte, wurde er höflich. Aber Monsieur Bigot sprechen?

»Beim besten Willen unmöglich, Mister Spranger. Monsieur Bigot liegt bedenklich erkrankt danieder. Er ist gegenwärtig nicht in der Lage, Besuche zu empfangen.«

Mit diesem Bescheid mußte Spranger sich begnügen

*

»Ich bewundere Sie, Herr Eisenlohr«, sagte Professor Braun, hingerissen von dem, was er während der letzten Stunden gesehen hatte. Er sagte es in einem mächtigen Kellerraum der Burg, der ebenso wie die übrigen Keller aus dem massiven Basaltgestein herausgesprengt war.

Erst vor einer Woche hatte Eisenlohr diesen früher unbenutzten Raum für seine Zwecke in Gebrauch genommen, und mit überraschender Schnelligkeit waren hier die Einrichtungen und Anlagen entstanden, denen die Lobesworte Brauns galten.

Ein Dutzend würfelförmiger Gebilde, jedes einzelne etwa anderthalb Meter im Kubus messend, waren dort aus ausgesucht feuerfesten Bausteinen aufgemauert. In Reih und Glied standen sie da, schenkelstarke Stromkabel führten zu jedem einzelnen, und wurde einer der gewaltigen Schalter an der Kellerwand bewegt, dann strömte Elektrizität im Betrage von vielen Hunderten von Kilowatt in einen dieser Öfen. Dann wandelte die elektrische Energie sich dort auf kleinstem Raum zu Wärme, zu Hitze, zu Höllenglut. Dann kletterten die Pyrometerzeiger über die Zahl dreitausend, während im Ofenraum Kohlenstoff und erdige Mineralien im feurigen Fluß zusammenströmten und chemische Bindungen eingingen, um schließlich jene mannigfachen Karbide zu ergeben, die für die neuen Versuche benötigt wurden.

Eisenlohr und Braun traten zu einem Ofen, der schon seit Stunden unter Strom stand.

Nur ein leises Dröhnen und Brausen ließ etwas von den gewaltigen Energiemengen ahnen, die in dem mächtigen Steinwürfel durch menschlichen Erfindergeist gebändigt und gelenkt am Werke waren.

»Sie haben in einem geradezu amerikanischen Tempo gearbeitet, Herr Kollege«, nahm Braun das Gespräch von vorhin wieder auf.

Eisenlohr nickte. »Es mußte während der letzten Woche in drei Schichten gearbeitet werden, Herr Braun. Es ging um Stunden: Die Werkleute der abtretenden Schicht drückten denen der nachfolgenden die Mauerkelle oder Zange einfach in die Hand, und die Arbeit ging, ohne eine Minute zu verlieren, weiter –«

Eisenlohr unterbrach seine Erklärung und sah sich suchend in dem Raum um.

»Wo steckt denn Bruck?« fragte er Holthoff, der damit beschäftigt war, abgewogene Chemikalien in einen andern kalten Ofen einzubringen.

»Vor einer halben Stunde war er noch hier unten bei den Öfen«, erwiderte Holthoff. »Vermutlich ist er oben im Laboratorium.«

Eisenlohr unterdrückte eine mißbilligende Bemerkung, die ihm auf den Lippen lag. »Es ist Zeit, Herr Kollege«, sagte er zu Holthoff, »den Ofen hier können wir abstechen.«

Holthoff schob einen feuerfesten Tiegel heran und stieß mit einer Stange einen Pfropf aus der Ofenwand. Im Augenblick war der ganze große Raum bis in die letzten Winkel hell erleuchtet. In schimmernder blendender Blauglut strömte es wie eine feurige Schlange aus dem Ofen in den Tiegel.

»Tempo, Tempo und nochmals Tempo, Herr Professor, das ist für uns die Losung!« sprach Eisenlohr derweil zu Braun weiter. »Erst hatten wir höchste Eile, um fertig zu werden, bevor uns Professor Hartford aus Schenektady über den Hals käme, und jetzt wiederholen wir milliardenfach schneller, was uns die Natur vor Äonen von Jahren einmal vormachte.«

»Professor Hartford?« Braun dehnte den Namen beim Sprechen, als ob er auf etwas Zähem kaute, und schnitt dabei ein Gesicht. »Ich bin von diesem amerikanischen Besuch nicht sehr erbaut, Herr Eisenlohr.«

Eisenlohr lachte. »Vorläufig ist er ja noch gar nicht hier. Es war für uns ein glücklicher Zufall, daß er in Paris aufgehalten wurde. Jetzt mag er in Gottes Namen kommen, denn nun können wir ihn vor vollendete Tatsachen stellen.«

Braun zuckte die Achseln. »Tatsache hin, Tatsache her! Dieser amerikanische Professor wird doch behaupten, daß die Idee zu dem Ganzen von ihm stamme, und den Ruhm für sich in Anspruch nehmen. Es klingt vielleicht nicht sehr kollegial, was ich sage, Herr Eisenlohr, aber passen Sie auf, es wird sicher so kommen.«

»Ausgeschlossen, mein verehrter Herr Professor Braun. Diesmal sind wir Gott sei Dank doch die Schnelleren gewesen, und bei unseren Arbeiten haben wir uns nicht auf eine amerikanische Anregung, sondern auf feststehende Ergebnisse unserer deutschen Forschung gestützt.«

»Der Amerikaner wird diese Forschungen in Zweifel stellen«, warf Braun ein.

»Das dürfte ihm ziemlich schwerfallen, Herr Professor. Die einzige Voraussetzung, die wir bei unseren Arbeiten gemacht haben, ist die Hypothese, daß auf der Erdoberfläche einmal eine Temperatur von dreitausend Grad geherrscht hat, und die wird er uns nicht wegdisputieren können. Den Zustand sehen Sie hier.«

Eisenlohr deutete auf das flüssige Karbid in dem Tiegel, das sich inzwischen bis zu einer hellen Rotglut abgekühlt hatte.

»In dieser geologischen Periode müssen sich die Urkarbide gebildet haben. Die ganze Erdoberfläche muß damals aus ihnen bestanden haben. Weiter ging dann die Abkühlung, und die Wirkung einer hauptsächlich aus Stickstoff bestehenden Atmosphäre machte sich geltend. Was damals im großen geschah, das können Sie hier im kleinen wiederholt sehen.«

Er zog den Professor zu einem anderen Ofen hin. Ein mit einer Quarzplatte abgedecktes Schauloch bot die Möglichkeit, in das Ofeninnere zu sehen. Kleinstückig geschichtet lag hier das in anderen Öfen gewonnene Karbid, nur in mäßiger Rotglut leuchtete es noch, während eine Pumpe heißen Stickstoff durch den Ofen trieb. Neue Zyanverbindungen bildete das Karbid dabei. Weiter zog Eisenlohr den Professor zu einem großen Gefäß aus glasklarem Quarz, in dem Nebel in wechselnden Formen wogte und wallte.

»Hier sind wir schon in die Zeit gekommen«, erklärte er weiter, »zu der die ersten Regentropfen zur Erde fallen konnten. Noch heiß war dieser Regen, fast sofort verdampften die Tropfen wieder beim Aufschlagen. Endloser Nebel muß unseren Erdball damals eingehüllt haben, aber unter und in ihm bildeten sich aus jenen Stoffen, die in der Rotglut aus Stickstoff und Karbiden entstanden, wieder neue Verbindungen, aus denen das Leben geboren werden sollte.«

Er griff Braun beim Arm und zog ihn mit sich fort. »Kommen Sie, Herr Braun. Wir wollen weitergehen und nicht vergessen, daß wir mit jedem Schritt Jahrmillionen der Erdgeschichte überspringen. Sehen Sie hier«, er machte vor einem Quarzgefäß halt, »hier dampft und nebelt es kaum noch. Hier ist der Regen nur noch lauwarm, und unter ihm flutet bereits das Urmeer. Lichter, leichter ist die Atmosphäre geworden. Weltraumstrahlung kann in das Wasser dringen . . ."

Er zog Braun weiter mit sich, bis in eine Ecke des Raumes. Auch hier stand ein Quarzgefäß von gleicher Art wie die vorhergehenden, zu einem Drittel mit einer trüben, opalisierenden Flüssigkeit gefüllt. Über ihm eine Strahlröhre, noch gewaltiger und mächtiger als alle anderen, die Professor Braun bisher auf der Eulenburg gesehen hatte. »Da haben wir das Urmeer im kleinen, haben die Weltraumstrahlung darüber . . .« Eisenlohr machte eine kurze Pause, als wollte er dem Folgenden mehr Nachdruck verleihen. »Beides zusammen muß nach unseren Theorien ergeben . . . was muß es ergeben, Herr Professor?«

Braun machte eine unsichere Bewegung.

»Das Leben muß es ergeben, Herr Braun. Das lebendige Leben . . . und hat es bereits ergeben. Amöboides Leben ist in diesem winzigen Urmeer hier vorhanden. Was jener Amerikaner, der Professor Hartford, vermutete, war richtig . . .«

Brauns Miene verdüsterte sich, als er wieder den Namen Hartford hörte; Eisenlohr übersah es. »Aber wir hier, Herr Braun«, fuhr er fast triumphierend fort, »sind die ersten, die auf diesem neuen Wege wirklich Leben gezeugt haben. Wir können die Priorität dafür in Anspruch nehmen.«

Brauns Gesichtsausdruck wurde kritisch. »Vorausgesetzt, Herr Eisenlohr, daß der Amerikaner nicht schon früher erfolgreiche Versuche gemacht hat.«

Eisenlohr schüttelte energisch den Kopf. »Ich kenne die Yankees, Herr Professor. Wenn er es getan hätte, würde er sein Licht nicht unter den Scheffel stellen. Aber er hat kein Wort darüber geschrieben, nur eine Theorie entwickelt, die uns nicht mehr neu war. Diese Entdeckung gehört uns.«

Eisenlohr zog sich mit Professor Braun in sein Arbeitszimmer zurück, um die nächsten Maßnahmen zu besprechen, die im Anschluß an die neue Entdeckung zu treffen wären, während Dr. Holthoff bei den Karbidöfen blieb. Zeit ging darüber hin; keiner von den dreien dachte mehr an Dr. Bruck, der bereits vor Stunden die Burg verlassen hatte. –

Wie ein Träumender war Bruck in diesen letzten Tagen einhergewandelt, schwankend zwischen Hoffnung und Verzweiflung, brennend von innerer Unruhe und Aufregung, gepeinigt von Selbstvorwürfen.

Wie ein Donnerschlag hatte es ihn getroffen, als er vor einer Woche an den Teich kam, um zu nächtlicher Stunde seine heimliche Goldmacherei zu betreiben, und als er das Nest leer fand. Wer hatte die Apparate dort aus dem Versteck im Moose fortgenommen? Um diese eine Frage drehten sich seit Tagen alle seine Gedanken.

Hatte ein Fremder sie zufällig gefunden – dann war's ein störender Zwischenfall – oder hatte Eisenlohr sie entdeckt und an sich genommen? Dann waren seine, Brucks, Tage auf der Eulenburg wohl gezählt. Dann war's Zeit für ihn, sein Bündel zu schnüren und zu Monsieur Bigot hinüberzuwechseln. Aber Eisenlohr hatte kein Wort darüber gesagt, hatte auch in seinem Verhalten ihm gegenüber nichts davon merken lassen, und bis zur Unerträglichkeit quälte diese Ungewißheit Bruck nachgerade.

Er hatte einen langen Brief an Bigot geschrieben, dem Franzosen seine Mitarbeit angeboten, ihn mit Mitteilungen über neue wichtige Entdeckungen zu ködern versucht. Fiebernd vor Ungeduld hatte er Tag für Tag auf eine Antwort gelauert; sie war nicht gekommen.

Und dann heute früh doch endlich ein Brief. Erwartungsvoll nahm Bruck ihn in Empfang, warf einen Blick auf den Umschlag – und war enttäuscht. Keine französischen Marken. Ihlefeld gab der Poststempel als Aufgabeort an. Sollte Bigot wieder wie das letztemal selber nach Deutschland gekommen sein, um persönlich mit ihm zu verhandeln? Erst in seinem Zimmer riß er den Umschlag auf, faltete den Bogen auseinander und stutzte, als er den Briefkopf sah. »Professor Hartford.« Was hatte das zu bedeuten? Professor Hartford aus Schenektady hatte sich doch bei Eisenlohr angesagt und wurde von dem eigentlich schon jeden Tag erwartet . . . Wie kam der dazu, jetzt an ihn zu schreiben? Ein Irrtum war ausgeschlossen. »Mein lieber Herr Dr. Bruck . . .« begann der Brief.

Bruck machte sich daran, ihn zu lesen, und stutzte gelegentlich, während er von Satz zu Satz weiterkam. In einer Weise, die Bruck übertrieben schien, betonte der Schreiber dessen Mitwirkung bei den Arbeiten, die auf der Eulenburg geleistet worden waren, und gab dann der angenehmen Erwartung Ausdruck, bald auch Herrn Dr. Eisenlohr persönlich kennenzulernen . . .

Bruck schüttelte den Kopf, während er den Satz las. Warum schrieb der Professor das an ihn? Das war doch alles schon längst mit Eisenlohr direkt schriftlich abgemacht. Eigenartig, daß der Briefschreiber es noch einmal vorbrachte. Bruck fuhr mit seiner Lektüre fort. Aha, jetzt kam wohl die Hauptsache. Mr. Hartford sprach den Wunsch aus, vor der Zusammenkunft mit Eisenlohr erst einmal mit Bruck zusammenzutreffen, um sich mit ihm über einige wichtige Fragen auszusprechen.

»Ein sonderbarer Heiliger, dieser Professor Hartford!« murmelte Bruck vor sich hin, während er den Brief wieder zusammenfaltete. Warum will er erst den Assistenten kennenlernen, bevor er die Bekanntschaft des Chefs macht? – Will er mich vielleicht erst aushorchen? – Denkt er etwa, er könne von mir erfahren, was ihm Eisenlohr selber nicht sagen würde? . . . Ist gar nicht mal so unintelligent von dem Yankee. Will sich bei mir erst Kenntnisse verschaffen, mit denen er Eisenlohr später imponieren kann . . . Na, mein lieber Professor Hartford, wir sind auch schon seit einiger Zeit aus den Windeln heraus. Was du nicht wissen sollst, wirst du von mir auch nicht zu hören bekommen . . .

Jäh nahmen die Überlegungen Brucks eine andere Wendung. Gehörte er denn überhaupt noch zur Gruppe Eisenlohr? War der Boden hier für ihn nicht reichlich unsicher geworden? . . . Wie wär's, wenn er die günstige Gelegenheit ergriffe . . . wenn er sich von Anfang an offen auf die Seite dieses amerikanischen Professors stellte . . . ihm wirklich nützliche Informationen gab? Der war doch ein großes Tier im National-Laboratorium von Schenektady . . . vielleicht konnte er zu dessen Stab übertreten . . . den Staub hier von seinen Füßen schütteln, nach Amerika gehen . . .?

Nach langen Tagen einer quälenden Unrast sah Bruck hier eine Möglichkeit, vielleicht mit einem Schlage aus allen seinen Verlegenheiten herauszukommen, und beschloß, sie sofort zu nutzen. Noch einmal schlenderte er durch das Laboratorium und den Keller und wechselte dabei ein paar Worte mit Holthoff. Eine halbe Stunde, bevor Eisenlohr bei den Öfen einmal kurz nach ihm fragte, war das geschehen. Möglichst unauffällig hatte er sich danach wieder entfernt und einen Wagen aus der Garage geholt. Während Eisenlohr und Professor Braun noch den Gang der chemischen Reaktionen vom glühenden Thermit bis zum Urmeer verfolgten, jagte er bereits auf der Landstraße in der Richtung nach Ihlefeld dahin. Eine halbe Stunde später hielt er vor dem Hotel »Zum Hohen Stein«, das der amerikanische Professor als seine derzeitige Adresse angegeben hatte. –

Mr. Percy Hartford lief unruhig in seinem Hotelzimmer in Ihlefeld hin und her. Jetzt, hier in der Nähe, sahen die Dinge doch etwas anders aus als vor sechsunddreißig Stunden in Paris. Frühere vergebliche Versuche Bigots, eine Verbindung mit Eisenlohr aufzunehmen, kamen ihm wieder in die Erinnerung. Die Wahrscheinlichkeit, daß er selber einen besseren Erfolg haben würde, war nicht sehr groß. Alles würde davon abhängen, wie sich Dr. Bruck zu ihm und seinen Wünschen stellte.

Auf Bruck konnte er nötigenfalls nach dem, was er über seine dunklen Geschäfte mit Bigot wußte, einen Druck ausüben. Aber vorsichtig – äußerst vorsichtig mußte das geschehen, wenn er sich den Mann nicht vergrämen wollte. Deshalb hatte er ja auch seinen Brief an ihn so farblos gehalten und jede Anspielung aus Bigot darin vermieden. Spätestens heute früh mußte Bruck dieses Schreiben gehabt haben. Würde er daraufhin sofort zu ihm kommen, oder würde er auch erst schreiben und einen späteren Termin verabreden? Hartford wußte es nicht, und die Ungewißheit quälte ihn von Viertelstunde zu Viertelstunde immer mehr. In Gedanken begann er sich das Gespräch zurechtzulegen, das er mit Bruck führen wollte, wenn der erst einmal glücklich hier wäre. Er formulierte halblaut Sätze, um sie bald wieder zu verwerfen. Immer klarer wurde ihm dabei, daß bei dieser Unterredung sehr viel Diplomatie von seiner Seite nötig sein würde, wenn er sein Ziel wirklich erreichen wollte. Selber möglichst wenig sagen, lieber immer den andern reden lassen! Das war das Ergebnis, zu dem er schließlich gelangte. Nur kommen mußte Bruck, dann würde es in der Art, wie er es sich jetzt vorgenommen hatte, schon gehen. So weit war Hartford mit seinen Überlegungen gekommen, als Bruck draußen vor dem Hotel vorfuhr. –

Mit ausgesuchter Höflichkeit empfing Hartford den Doktor und bedankte sich, daß er seiner Einladung so schnell gefolgt sei. Mit viel Anerkennung sprach er von den Arbeiten Brucks, aber sorgfältig vermied er es dabei, auf den eigentlichen Zweck seines Besuches zu sprechen zu kommen. Vorläufig bewegte sich die Unterhaltung von seiner Seite in Gemeinplätzen, und in ähnlicher Weise liefen zunächst auch die Antworten Brucks.

»Ich will nicht leugnen, Herr Professor«, sagte er, »daß wir auf der Eulenburg recht beachtliche Erfolge erzielt haben, und es freut mich besonders, daß ein Fachmann von Ihrer Bedeutung meinen Anteil dabei richtig einschätzt. Allzu häufig ist es ja leider so, daß die Assistenten die Arbeit haben und der Chef den Ruhm einheimst.«

Einen Augenblick stutzte Hartford. »Einen Fachmann von Ihrer Bedeutung« hatte Bruck zu ihm gesagt. Bevor er noch weiter darüber nachdenken konnte, fuhr der bereits fort:

»Gerade Sie, Herr Professor, der Sie den gewaltigen Apparat des National-Laboratoriums in Schenektady zu Ihrer Verfügung haben, werden unsere Arbeiten, die mit geringeren Mitteln durchgeführt werden mußten, am besten würdigen können.«

Hartford spielte nervös mit einem Bleistift, um seine Erregung zu verbergen. Eine Ahnung, die während der letzten Worte Brucks in wenigen Sekunden zur Gewißheit wurde, kam ihm: daß hier eine schwere Verwechslung vorlag. Dieser Deutsche hielt ihn, Percy Hartford, offenbar für den wirklichen Professor James Hartford. Sollte er den Irrtum sofort zerstören? Den andern weiterreden lassen! kam ihm sein altes Programm ins Gedächtnis.

»Gewiß, Herr Doktor, wir sind in Schenektady gut eingerichtet«, sagte er in der Erinnerung an seine eigene dortige Laboratoriumszeit. »Um so höher schätzen wir aber Erfolge, die mit geringen Mitteln erzielt wurden.«

»Ich weiß es, Herr Professor«, sagte Bruck, »Ihr Schreiben an Herrn Doktor Eisenlohr brachte das ja sehr anerkennend zum Ausdruck.«

Einen Augenblick verhielt Hartford den Atem. Was war das? Sein früherer Chef hatte in dieser Angelegenheit an Eisenlohr geschrieben? Nun hieß es für ihn doppelt vorsichtig sein und jedes Wort auf die Goldwaage legen.

»Ja, ich schrieb vor einiger Zeit auch an Herrn Eisenlohr«, sagte er aufs Geratewohl.

»Jawohl, Herr Professor, den Brief aus Schenektady, von dem ich eben sprach. Aber dann bekamen wir leider Ihre Nachricht aus Paris, daß Sie dort noch für unbestimmte Zeit aufgehalten wären. Herr Eisenlohr hat es sehr bedauert. Um so mehr wird es ihn freuen, daß Sie nun doch unvermutet gekommen sind.«

»Ja, leider hatte ich in Paris einen unerwarteten Aufenthalt«, sagte Hartford, um überhaupt nur etwas zu sagen. In rasender Eile versuchte er dabei, das zu verarbeiten, was er eben von Bruck erfuhr. Sein früherer Chef war in Paris. Noch nachträglich erschrak er bei dem Gedanken daran. Ein Glück, daß er ihm dort nicht über den Weg gelaufen war! Das Zusammentreffen hätte für ihn, Percy Hartford, fatale Folgen haben können. Wer lang oder kurz wurde sein Namensvetter hier erwartet. Auch hier würde also seines eigenen Bleibens nicht lange sein können. Alles kam darauf an, die Zeit auszunutzen.

Im Moment war er sich darüber klar, daß die Verwechslung ihm eine großartige Gelegenheit bot, Eisenlohr in die Karten zu gucken und wichtige Dinge zu erfahren, die ihm sonst wohl immer ein Geheimnis bleiben würden. Ebenso deutlich sah er freilich auch die Gefahr, in die er sich dabei begab. Nicht nur, daß er jeden Augenblick bereit sein mußte, spurlos zu verschwinden, sobald der richtige Professor Hartford auf der Bildfläche erschien – auch vorher durfte er sich keine Blöße geben, und dazu war es vor allen Dingen einmal nötig, diesen etwas zweifelhaften Assistenten Eisenlohrs einzuwickeln und nach allen Regeln der Kunst auszuholen.

»Sie äußerten sich vorhin, Herr Doktor«, leitete er sein Manöver ein, »daß meistens die Assistenten die Arbeit hätten, während dem Chef die Ehre zufiele. Sehen Sie, das war ja gerade der Grund, warum ich mich auch an Sie gewandt habe, denn darüber denke ich grundsätzlich anders. Bei mir wird jeder Mitarbeiter nach seinen wahren Verdiensten gewürdigt. Ich wollte zunächst einmal aus Ihrem eigenen Mund hören, was Sie bei der Sache geschafft haben, bevor ich Herrn Eisenlohr selber aufsuche.«

Der Köder war ziemlich plump, aber Bruck nahm ihn gierig an und begann eilfertig zu berichten, wobei er sich selber vieles gutschrieb, was richtiger auf das Konto von Eisenlohr und Holthoff zu setzen war.

»Selbstverständlich, Herr Doktor«, unterbrach ihn Hartford nach einiger Zeit, »ist unser Gespräch hier absolut vertraulich. Was Sie mir sagen, bleibt bei mir; es wäre mir lieb, wenn auch Sie darüber Schweigen bewahren würden. Herr Eisenlohr könnte es vielleicht falsch auffassen, daß ich mich vorher mit Ihnen besprochen habe. Ich möchte Ihnen das sagen, damit Sie sich in Ihren Mitteilungen nicht unnütz Zwang auferlegen.«

Auch diesen Brocken schluckte Bruck glatt hinunter und legte sich nun gar keine Zügel mehr an. Von Autokratenmanieren Eisenlohrs erzählte er dem Amerikaner und ließ durchblicken, daß er lieber heute als morgen seine Stellung wechseln würde.

Hartford tat einen Augenblick, als überlege er. »Nun, Herr Doktor«, meinte er dann, »Sie gefallen mir. Für tüchtige Leute ist in unserm Laboratorium immer noch Platz. Wir könnten auch darüber reden, aber streng vertraulich, wenn ich bitten darf. Herr Eisenlohr würde es mir nie verzeihen, wenn ich ihm seinen Ersten Assistenten wegengagierte, das könnte erst gemacht werden, nachdem ich Deutschland wieder verlassen habe.«

Bruck sah sich der Erfüllung seiner kühnsten Träume nahe. Er hatte dem berühmten Wissenschaftler gefallen. Ganz unmißverständlich hatte der von einem Engagement nach Schenektady gesprochen. Wie frei und offen gab sich dieser Mann überhaupt im Gegensatz zu dem stets etwas zugeknöpften Eisenlohr! Wie gerecht dachte er über die Leistungen seiner Mitarbeiter! Jetzt dem nur weiter gefallen, ihm jeden Wunsch von den Augen ablesen, und bald würde der Tag kommen, an dem er der Eulenburg ade sagen konnte.

Bisher hatte bei dieser Besprechung hauptsächlich Bruck geredet, nun begann auch Hartford zu fragen, und bereitwillig gab Bruck Antwort. Alles, was Hartford für seinen Aufenthalt auf der Eulenburg zu wissen notwendig und nützlich war, erfuhr er, alles über die Arbeiten Eisenlohrs, alles über die Rolle, die Professor Braun dort spielte, sogar auch alles, was Professor James Hartford an Eisenlohr geschrieben und ihm mitgeteilt hatte. Auch die Fragen danach beantwortete Bruck in seinem Eifer, ohne sich darüber Gedanken zu machen. So vorbereitet, konnte Mr. Percy Hartford es wohl unternehmen, sich in die Höhle des Löwen zu wagen.

Blieb noch die eine Frage, wie er sich dort einführen sollte. Entweder jetzt sofort mit Bruck zusammen kommen? . . . Ein zufälliges Zusammentreffen vorschützen? . . . Oder aber später allein kommen? . . . An und für sich wäre eine Einführung durch Bruck gut. Sie würde über die ersten kritischen Minuten hinweghelfen. Noch überlegte Hartford, wie sich das am besten bewerkstelligen ließe, als Bruck mit einer Frage dazwischenkam:

»Wollen Sie gleich mit mir fahren, Herr Professor? Mein Wagen steht vor der Tür, aber leider habe ich nicht viel Zeit. Ich muß machen, daß ich zurückkomme.«

Während Bruck sprach, kam Hartford mit sich ins reine. »Nein, Herr Doktor Bruck«, entschied er sich, »das wollen wir anders arrangieren. Es ist besser, wenn Sie jetzt vorausfahren und sich erst einmal bei Ihren Leuten sehen lassen. Ich werde mir hier einen andern Wagen nehmen und in einer halben Stunde nachkommen. Richten Sie es so ein, daß Sie mir in nächster Nähe der Burg begegnen. Das würde dann ein vollkommen unverdächtiges Zusammentreffen geben, und wenn irgendeiner Ihrer Leute es zufällig mit ansähe, wäre das auch kein Fehler; es könnte eher nützlich sein. Ich denke, Sie verstehen mich, Herr Doktor?«

Bruck hatte voll und ganz begriffen. Er stieg wieder in seinen Wagen, sauste im Eiltempo zur Eulenburg zurück und stellte mit Befriedigung fest, daß seine Abwesenheit nicht sonderlich aufgefallen war. Im Keller traf er Dr. Holthoff, der mit der Vorbereitung neuer Chargen für die Thermitöfen beschäftigt war, und erfuhr auf seine Frage nach Eisenlohr und Braun, daß die Herren sich zu einer Besprechung zurückgezogen hätten. Eine gute Viertelstunde leistete er Holthoff Gesellschaft, dann ging er wieder nach oben. Auf dem Flur zum Laboratorium lief ihm Michelmann in den Weg.

»Hallo, Michelmann!« hielt Bruck das alte Faktotum an. »Gut, daß ich Sie gerade treffe. An der ersten Bank auf dem Burgweg sind ein paar Latten lose. Holen Sie sich Werkzeug, wir wollen die Sache gleich in Ordnung bringen!«

Michelmann nahm einen Hammer und eine Handvoll Nägel und schlurfte neben Bruck den Burgweg hinab, bis sie zu der Bank kamen.

»Na ja, Herr Doktor«, meinte er, nachdem er sich den Schaden besehen hatte, »etwas wacklig ist die Bank ja, aber eine Weile wär's wohl noch so gegangen.«

»Unsinn, Michelmann!« fuhr ihn Bruck an. »Sehen Sie nicht, wie die Nägel überall 'rausstehen? Wer sich hier hinsetzt, reißt sich mit Sicherheit ein Dreieck in den Hosenboden. Nun mal keine Müdigkeit vorgeschützt! Schlagen Sie die Latten wieder fest und geben Sie noch ein paar neue Nägel hinzu –« Er hielt inne, weil hinter ihm eine Autohupe ertönte, sprach aber danach zu Michelmann weiter: »Was kommt denn da angefahren . . . ein Mietswagen aus Ihlefeld . . .«

Auch Michelmann richtete sich von seiner Arbeit auf und besah sich neugierig den Wagen, der langsam herankam. »Wird wohl wieder ein Geschäftsreisender sein, der uns irgend etwas verkaufen will«, brummte er vor sich hin. »Am besten, Herr Doktor, Sie fertigen ihn gleich hier ab, damit unsere Herren nicht gestört werden.«

»Richtig, Michelmann, das wird das beste sein«, sagte Bruck und trat an den Wagen heran, der jetzt unmittelbar bei ihnen hielt.

Michelmann konnte beobachten, wie Bruck den Fremden ziemlich barsch nach seinem Begehr fragte, sah dann, wie er plötzlich sehr höflich wurde, den Hut zog, eine Verbeugung machte, und hörte ihn sprechen:

»Ah, Herr Professor Hartford! Welche Ehre für mich, Sie hier als erster begrüßen zu können! Wir erwarteten Sie erst später. Ich werde Sie dem Chef sofort melden, Herr Professor.«

»Hartford? Professor Hartford . . .?« murmelte Michelmann vor sich hin, während er den Besuch eingehend musterte. Aus früher aufgefangenen Gesprächsbrocken wußte er, daß ein amerikanischer Wissenschaftler dieses Namens erwartet wurde. Wenn er nicht selber sagte, daß er's wäre, hätte ich ihn doch für einen Handlungsreisenden gehalten, sinnierte er weiter vor sich hin. Na, mag sein, daß die Amerikaner alle so aussehen. Bin neugierig, was der jetzt bei uns anstellen wird.

»Kommen Sie, Michelmann«, riß ihn Bruck aus seinen Selbstgesprächen. »Jetzt wird's in der Küche etwas für Sie zu tun geben.«

»Das ist unser alter Michelmann, der für unser leibliches Wohl sorgt«, stellte er ihn danach Hartford vor. Der nickte ihm zu, schüttelte ihm kräftig die Hand und ließ den Wagen langsam wieder anrollen. Bruck und Michelmann gingen das kurze Stück bis zum Burgtor zu Fuß nebenher. Dort verschwand Michelmann in die Richtung auf die Küche, während Bruck den neuen Gast in ein Empfangszimmer führte und dann ging, um ihn bei Eisenlohr anzumelden. –

Eisenlohr und Professor Braun saßen seit einer guten Stunde im Arbeitszimmer des ersteren beisammen und besprachen das durch die letzten gelungenen Versuche Erreichte. Eisenlohr resümierte noch einmal:

»Wir sind von den chemischen Elementen Kohlenstoff und Stickstoff und von Metalloxyden bei einer Glut von dreitausend Grad ausgegangen, die bestimmt einmal auf unserer Erdoberfläche vorhanden war . . .«

»Zweifellos war sie das«, pflichtete Professor Braun ihm bei.

»Wir haben dann«, setzte Eisenlohr seine Ausführungen fort, »die Temperatur langsam von hellster Weißglut bis auf Blutwärme absinken lassen und zum gegebenen Zeitpunkt Wasserdampf und Wasser auf unsere Stoffe wirken lassen . . . Wir haben die wässrige Substanz, die sich dabei bildete, schließlich einer ultraharten Strahlung ausgesetzt und Leben in ihr erzeugt . . .«

Braun nickte. »So ist es verlaufen, Herr Kollege. Besonderen Wert möchte ich noch auf die Feststellung legen, daß die Versuchsreihe absolut steril durchgeführt wurde. Es ist ausgeschlossen, daß von außen her irgendwelche Keime in die Substanz hineingekommen sind. Jene Lehre von der Panspermie, derzufolge die Keime des ersten Lebens unserer Erde einmal durch den Weltraum von andern Gestirnen zugeflogen sein müssen, ist meiner Meinung nach ein für allemal erledigt. Das möchte ich in unserer nächsten Veröffentlichung besonders unterstreichen.«

»Sehr richtig, Herr Braun«, stimmte ihm Eisenlohr zu. »Unsere Veröffentlichung – damit kommen Sie auf das, was uns jetzt zunächst obliegt. Wir müssen so schnell wie möglich einen Bericht über unsere Arbeiten an die Fachpresse geben. Es wäre mir lieb, wenn er schon gedruckt vorläge, bevor Herr Professor Hartford hierherkommt.«

»In der Tat sehr erwünscht«, pflichtete ihm Braun bei. »Wir hätten dann eine geklärte Situation. Der Amerikaner könnte –« Er brach ab, weil es klopfte. Dr. Bruck öffnete von außen die Tür ein wenig und machte Eisenlohr, von Braun ungesehen, ein Zeichen, herauszukommen.

»Einen Augenblick, Herr Kollege!« entschuldigte sich Eisenlohr bei Braun und ging hinaus.

»Was haben Sie, Bruck?« fragte er unwillig über die Störung.

»Herr Professor Hartford ist soeben angekommen«, platzte Bruck mit seiner Neuigkeit heraus. Eisenlohr machte ein ungläubiges Gesicht.

»Was? Herr Professor Hartford ist jetzt schon gekommen?« fragte er offensichtlich verwundert und ließ sich von Bruck genau berichten, wie er ihn getroffen habe. »Merkwürdig – merkwürdig –« warf er ein paarmal dazwischen, während Bruck von dem Zusammentreffen bei der Bank am Burgweg erzählte. Bruck konnte nichts besonders Merkwürdiges daran finden. Er wußte auch freilich nichts von einem Brief, den Eisenlohr erst vor drei Tagen von Professor Hartford aus Paris bekommen hatte.

»Wo ist der Professor?« fragte Eisenlohr kurz, als Bruck mit seinem Bericht zu Ende war.

»Im Empfangszimmer, Herr Eisenlohr.«

»Gut! Ich werde zu ihm gehen.« –

Neugierig sah sich Percy Hartford in dem Zimmer um, in das Dr. Bruck ihn geführt hatte. Es war ein großer, gut ausgestatteter Raum. Ein breites Fenster bot freie Aussicht über den Berghang und das weiter entfernte Gelände. Ein schwerer Teppich und bequeme Sitzmöbel gaben dem Raum Behaglichkeit, nichts in ihm deutete auf physikalische Forschungen und Arbeiten.

Nur kurze Zeit blieb Hartford in dem Sessel sitzen, den Bruck ihm angeboten hatte, dann sprang er auf und begann im Zimmer hin und her zu gehen. Er war doch aufgeregter, als er es sich selber eingestehen wollte, und das Herz schlug ihm bis an den Hals, als sich jetzt die Tür öffnete und Eisenlohr hereinkam.

Eine kurze Verneigung von dessen Seite. »Herr Professor James Hartford, wenn ich recht unterrichtet bin?«

Percy Hartford erwiderte die Verbeugung. »Hartford ist mein Name. Ich bin früher zu Ihnen gekommen, als ich ursprünglich glaubte – hoffentlich komme ich Ihnen gelegen.«

Eisenlohr hatte während dieser Worte Zeit gehabt, seinen Gast zu mustern. Er blickte in ein nicht unintelligentes bartloses Gesicht, dessen Kinn Energie verriet. Die Kleidung des Amerikaners war elegant.

Fast etwas zu elegant, ging es Eisenlohr durch den Sinn, der dabei an die saloppe Garderobe von Professor Braun denken mußte.

»Aber durchaus, Herr Professor«, beantwortete Eisenlohr die Frage seines Gastes. »Ich freue mich aufrichtig, Sie bei uns zu sehen, obwohl ich Sie nach Ihrem letzten Schreiben eigentlich erst in der nächsten Woche erwartete.«

Hartford fühlte sich unsicher, denn von einem solchen Termin hatte ihm Bruck nichts sagen können.

»Es ging zuletzt in Paris alles glatter und schneller, als es anfangs den Anschein hatte, Herr Eisenlohr«, sagte er vorsichtig.

»Um so erfreulicher für Sie, Herr Professor. Behörden sind gewöhnlich langweilig, und die Justizbehörden ganz besonders.«

»Ja, die Justizbehörden ganz besonders«, bestätigte Hartfort die Bemerkung Eisenlohrs. »Man kann jedem gratulieren, der nichts mit ihnen zu tun hat.« Er sagte die Worte aufs Geratewohl, da er keine Ahnung hatte, was Eisenlohr eigentlich meinte.

»Haben Sie wenigstens den gewünschten Erfolg gehabt?« fragte Eisenlohr weiter. Mit Sekundenschnelle überlegte Hartford: Sollte er ja oder nein sagen? Er entschied sich für ja.

»Gott sei Dank, der Erfolg ist nicht ausgeblieben, Herr Eisenlohr.«

»Ah, das freut mich wirklich! Es ist Ihnen also gelungen, den Schwindler – es ist leider ein Namensvetter von Ihnen –, diesen Percy Hartford von der französischen Justiz festsetzen zu lassen?«

»Es ist mir gelungen, Herr Eisenlohr!« sagte Hartford. Er wußte selber nicht, wie er es fertigbekam, die Worte glatt und ohne Stocken auszusprechen, denn er fühlte seine Kehle trocken werden und spürte ein würgendes Gefühl am Hals. Mit eiserner Energie mußte er sich zwingen, eine unbewegte Miene zu zeigen, während sein Puls raste.

Die wenigen Worte Eisenlohrs stellten ihn vor eine vollkommen veränderte Situation. Für die nächsten Tage war er hier einigermaßen sicher. Das war das Erfreuliche, was er zuerst aus Eisenlohrs Mitteilungen herausgehört hatte. Freilich war auch diese Sicherheit nur sehr bedingt. Ein Brief, ja eine einfache Ansichtskarte aus Paris konnte den Betrug offenbaren, und mit jeder Post konnte schließlich etwas Derartiges auf die Eulenburg kommen. Weit schlimmer noch war aber das andere, was er zuletzt gehört hatte. Sein früherer Chef war hinter ihm her, stand im Begriff, ihm die französischen und sicher wohl auch die amerikanischen Justizbehörden auf den Hals zu hetzen. Ganz böse war das. USA und Frankreich waren ihm dadurch versperrt, bald wahrscheinlich auch Deutschland.

Während er Höflichkeitsphrasen drechselte, um das Gespräch mit Eisenlohr nicht ins Stocken kommen zu lassen, ging ihm das alles in Sekunden durch den Kopf und verdichtete sich zu einem Entschluß. Nur jetzt die Haltung bewahren und glücklich über die nächsten Stunden kommen! Später, bei ruhigem Nachdenken, würde er vielleicht einen Ausweg aus dieser Lage finden, so verzweifelt sie im Augenblick für ihn auch aussah.

*


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