Hans Dominik
Lebensstrahlen
Hans Dominik

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»Na, Holthoff, wie steht's bei Ihnen?« fragte Eisenlohr seinen Assistenten.

Dr. Holthoff machte einen überarbeiteten Eindruck. Die Anstrengungen dieser letzten Wochen waren nicht spurlos an ihm vorübergegangen.

»Wir sind bei Probe Nummer einhundertachtzig, Herr Eisenlohr.«

»Also Aussicht, daß Sie mit der Geschichte bald zu Ende kommen. Etwas Neues hat sich wohl kaum ergeben? Ich verstehe nicht, warum Braun sich darauf versteift, alle diese Proben durchzuarbeiten.«

»Ich habe es zuerst auch nicht recht einsehen wollen, Herr Eisenlohr. Aber« – die Stimme Holthoffs wurde lebhafter, während er sprach, die Müdigkeit schien von ihm abzufallen – »nach den letzten Beobachtungen jetzt bereue ich die Arbeit nicht mehr. Gerade die Proben, die wir zuletzt vornahmen, zeigen ganz eigenartige, von den früheren abweichende Erscheinungen.«

Eisenlohr wurde neugierig. »Abweichend, Herr Holthoff? Es muß doch immer dasselbe sein: Molekularbewegungen – amöboide Bewegungen – Amöben und im günstigsten Falle vollständige Zellen.«

»Ich habe es auch geglaubt, Herr Eisenlohr, bis wir zu dieser Probe Nummer einhundertachtzig kamen.«

»Ist es da anders gewesen, Holthoff?«

»Es kam anders. Es entstanden natürlich auch Zellen. Aber sie blieben nicht isoliert. Sie fügten sich zu größeren Gebilden zusammen. Es entstanden Zellenkolonien, aus denen man – unter Zuhilfenahme einiger Phantasie – die Formen gewisser Urtiere herauslesen könnte.«

»Wo haben Sie die Probe, Holthoff?«

»Braun hat sie unten im Brutschrank.«

Eisenlohr machte eine ungeduldige Bewegung. »Immer das gleiche! Warum bestrahlt er sie nicht länger? Die Entwicklung könnte dadurch gefördert werden.«

Holthoff zuckte die Achseln. »Sie kennen doch Braun. Er arbeitet nach Schema F. Davon läßt er sich nicht abbringen. Für etwas Neues wird er erst zu haben sein, wenn er alle seine Gelatinesorten nach diesem Schema durchgearbeitet hat.«

»Also lassen wir ihn in Gottes Namen dabei, Holthoff! Aber die Probe Nummer einhundertachtzig muß aufgehoben werden. Die wollen wir uns später selber vornehmen. In ein paar Tagen muß Braun doch mit seinem Kram fertig sein.«

Eisenlohr verließ das Laboratorium und ging in Brucks Zimmer.

Er fand ihn in die Lektüre einer französischen Zeitung vertieft, warf einen Blick darauf und meinte leichthin: »Was sagen Sie dazu, Bruck? Sprangers Partner ist dem Schwindler doch mit fünfzigtausend Dollar auf den Leim gegangen. Trotz einer telegraphischen Warnung von hier. Man sollte es kaum für möglich halten!«

»Fünfzigtausend, Herr Eisenlohr? In der Zeitung steht etwas von einer Million!«

»Stimmt nicht, Bruck. So naiv ist Mister Kelly denn doch nicht gewesen. Aber auch fünfzigtausend sind schmerzlich.«

Brucks Gedanken liefen im Wirbel durcheinander. Von einer Million schrieb die Zeitung; von einer Million hatte auch Bigot zu ihm gesprochen. Wie war das, wenn's nur fünfzigtausend waren? Würde Bigot denn noch neunhundertfünfzigtausend für sich allein abziehen dürfen, bevor er einen Dollar an ihn, Bruck, auszahlte?

Würde der Franzose überhaupt noch etwas von den Amerikanern bekommen, nachdem die Zeitungen den Schwindel an die große Glocke gehängt hatten?

Immer zweifelhafter erschien ihm der Wert jenes Vertrages und der Wechsel Bigots, die er in seiner Brieftasche trug. Die Stimme Eisenlohrs gab seinen Gedanken eine andere Richtung.

»Kommen Sie mit, Bruck! Wir wollen zusammen an den Teich gehen. Wollen mal sehen, was es da gibt.«

Gefolgt von Bruck ging Eisenlohr erst in sein eigenes Zimmer und schaltete dort die Hochspannungsleitung nach dem Teich hin aus. Dann griff er nach einer Reisetasche aus Wachstuch, die neu zu sein schien und die Bruck hier zum erstenmal sah, und machte sich mit dem Assistenten auf den Weg.

Nach kurzem Abstieg erreichten sie den Uferrand des Teiches.

Prüfend betrachtete Eisenlohr die Umgebung. Nichts schien sich seit ihrem letzten Hiersein verändert zu haben. Das Schilf um den Felsblock war noch etwas höher geworden; aber das konnte dem natürlichen Wachstum zuzuschreiben sein. Bruck sah sich nach dem Gebüsch um, in dem sie damals die Bohle versteckt hatten. Er wollte sie holen, um trockenen Fußes zu dem Felsblock zu gelangen, auf dem die Strahlröhre stand, aber Eisenlohr winkte ab.

»Diesmal machen wir es anders, Bruck.« Er öffnete die Reisetasche und holte zwei Paar Gummistiefel heraus, Langschäfter, die bis an die Hüften gingen, von der Art, wie Schiffer und Kanalarbeiter sie zu tragen pflegen.

»Da, nehmen Sie!« Er reichte Bruck das eine Paar und schlüpfte selber in das andere.

»Munter, lieber Freund! Keine Müdigkeit vorgeschützt!« Seine Mahnung war berechtigt; denn Bruck war mit seinen Gedanken schon wieder in Paris bei Monsieur Bigot.

»Warum wollen Sie in den alten Tümpel kriechen?« fragte er zweifelnd, während er sich langsam bequemte, Eisenlohrs Beispiel zu folgen.

Eisenlohr lachte. »Frösche fangen, Bruck. Wollen mal sehen, ob welche in dem Poggenpfuhl vorhanden sind.«

»Sicherlich sind welche drin, Herr Eisenlohr. Vor drei Tagen hatten wir eine warme Vollmondnacht. Ich wollte bei offenem Fenster schlafen. Sie wissen, mein Zimmer liegt nach dieser Seite 'raus; da hörte ich's quaken.«

Eisenlohr wurde stutzig. »Sollten Sie sich nicht geirrt haben, Kollege? Wir sind jetzt in den letzten Augusttagen.«

»Ausgeschlossen, Herr Eisenlohr. Ich mußte schließlich das Fenster zumachen, um Ruhe zu haben. Das Froschkonzert störte mich.«

»Das wäre nicht uninteressant, Bruck.« Während Eisenlohr weitersprach, trat er in das Wasser und fing an, einzelne Seerosenblätter am Schilfrand umzudrehen und zu untersuchen. »Froschkonzert ist allemal Hochzeitskonzert. Normalerweise ist es nur im April und im Mai zu hören. Ah! Kommen Sie doch mal her . . .« Nur widerstrebend entschloß sich Bruck dazu, Eisenlohr ins Nasse zu folgen. Der hielt ihm ein Blatt entgegen. »Sehen Sie, Bruck.«

Bruck blickte schärfer hin. Auf der Unterseite des Blattes klebte eine durchsichtige körnige Schleimmasse, von zahlreichen schwarzen Pünktchen durchsetzt.

»Sieht wie irgendein Laich aus«, meinte er.

»Ist es auch, Bruck. Meiner Meinung nach zweifellos Froschlaich. Was sagen Sie jetzt?«

»Keine Ahnung, Herr Eisenlohr. Ich bin Physiker, aber kein Zoologe. Mit den Lebensgewohnheiten unserer Teichfrösche weiß ich nicht Bescheid.«

»Aber ich kenne mich einigermaßen aus, Bruck. Nur im Frühjahr konzertieren und laichen sie, im Sommer sind sie stumm und futtern sich Fett für den Winter an den Leib. Jetzt dieser frische Laich hier – wissen Sie, was das zu bedeuten hat?«

»Nach dem, was Sie sagten, eine auffällige Ausnahme von einer naturwissenschaftlichen Regel.«

»Die Ursache, Bruck?! Können Sie sich keinen Grund für diese Erscheinung denken?« Dr. Bruck blickte zu dem Felsblock hinüber. Hier von der Wasserseite her schimmerte die Strahlröhre gut erkennbar durch das Schilf.

»Meinen Sie vielleicht«, begann er halb zögernd, halb fragend, »daß es mit der Strahlung zusammenhängen könnte, der wir den Teich mit allem, was drin ist . . .?«

»Ja, das meine ich, Bruck. Es ist meine feste Überzeugung. Eine Strahlung, die imstande ist, leblose Materie zu beleben, muß auch auf lebende Organismen wirken. Sie müßte, wenn die Arbeitshypothese, die ich mir zurechtgelegt habe, zutrifft, alle Lebensfunktionen stark anregen.«

Nachdenklich schwieg Bruck. Was für ein Mensch war eigentlich sein Chef? Gold, das ihm ein glücklicher Zufall bei seinen Arbeiten in die Hände spielte, warf er wie etwas Wertloses, Nebensächliches zum Fenster hinaus; und hier stand er vor einem unansehnlichen Schleimklumpen mit einer so verzückten Miene, als ob ihm eine weltbewegende Entdeckung gelungen wäre. Ein anderer mochte das begreifen, ihm war es unverständlich. Was sollte er darauf antworten?

Eisenlohr enthob ihn der Antwort. Er sprach selbst weiter: »Das ist es ja, was ich untersuchen möchte, darum lauere ich darauf, daß Braun endlich mit seinen Arbeiten fertig wird. Ich glaube, Bruck, es war ein Fehler, daß wir mit der Bestrahlung der Materie jedes Mal aufhörten, sobald das erste Leben sich zeigte. Wir wären vielleicht schon weiter, wenn wir sie fortgesetzt hätten. Professor Braun . . . gewiß, seine Unterstützung hat uns genutzt . . . aber daß er sich nun wochenlang bei uns ins Quartier legt, ist störend . . .«

Bruck fühlte sich trotz der Gummistiefel in seiner augenblicklichen Stellung nicht sehr behaglich. »Wollen wir unsere Besprechung nicht lieber auf trockenem Grund und Boden fortsetzen?« schlug er vor. »Da ist's gemütlicher als hier.«

Eisenlohr mußte lächeln. »Man merkt, daß Sie kein Zoologe sind, Kollege Bruck. Wissen Sie nicht, daß das Wasser die erste Wiege alles Lebens ist? In diesem Wasser hier können wir die Wirkung unserer Strahlung am besten verfolgen und studieren. Kommen Sie nur weiter mit. Wir wollen sehen, ob wir nicht noch mehr finden.«

Wohl oder übel mußte Bruck der Einladung des Chefs Folge leisten, obwohl er bei jedem Schritt fürchtete, das Teichwasser in die Stiefel zu bekommen. An keinem schwimmenden Blatt ging Eisenlohr vorbei, ohne es umzuwenden, und an vielen entdeckte er Laich und auch Larven von mancherlei Wassertieren, die sonst in dieser Jahreszeit nicht mehr zu finden waren.

»Es hat sich gelohnt, mein lieber Bruck«, sagte er, als er nach einer Stunde mit seinen Untersuchungen zu Ende war. »Es scheint wirklich so zu sein, wie ich es mir vorstellte. Das nächste Mal wollen wir einen Käscher und ein paar Gläser mitnehmen.«

»Und was soll aus dem Ganzen hier werden?« fragte Bruck. »Bald kommt der Herbst, in ein paar Monaten wird der Tümpel zufrieren. Was dann, Eisenlohr?«

»Wird sich später finden, Bruck. Man könnte vielleicht ein Glashaus über das Ganze bauen. Das werde ich mir noch überlegen.« –

Schweigend legten sie den Weg zur Burg zurück. Jeder war mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt. Biologische Probleme gingen Eisenlohr durch den Kopf. Eine Fülle neuer Arbeiten fühlte er aus dem, was er hier eben gesehen hatte, aufsteigen. Die Möglichkeit ganz neuer grundlegender Entdeckungen schwebte ihm vor. Vielleicht würde dieser unscheinbare Tümpel, um den sich bisher kein Mensch gekümmert hatte, für immer in die Annalen der Wissenschaft eingehen . . .

Von anderer Art waren Brucks Gedanken. Nur um das synthetische Gold kreisten sie, um unsichere Verträge, um zweifelhafte Wechsel, um Monsieur Bigot in Paris.

*

Die Unterredung zwischen den beiden Inhabern der Firma Kelly and Company stand im Begriff, in ein stürmisches Fahrwasser zu geraten. William Spranger machte seinem Partner Vorhaltungen, wie der Ältere sie von dem Jüngeren bisher noch nie zu hören bekommen hatte. Zäh verschanzte James Kelly sich hinter seine größeren Erfahrungen und seine unzweifelhaften Erfolge.

»Ich sage Ihnen, Spranger, diese Kuh ist noch nicht ausgemolken«, beharrte Kelly auf seinem Standpunkt. »Sie hat noch allerhand im Euter. In solchen Dingen kann ich mich auf meine Nase verlassen. Ich wittere noch ein großes Geschäft bei der Sache.«

»Es ist ja unsinnig!« fuhr ihm Spranger in die Parade. »Seit sechs Wochen sitzen wir jetzt in Paris. Ein übler Zufall führte uns auf der Überfahrt mit Bigot zusammen, und über die Bekanntschaft mit einem notorischen Schwindler vergessen Sie vollkommen, weshalb wir eigentlich hierher gekommen sind. Riskieren Geschäfte, wie sie unser Haus vorher nicht kannte . . .«

James Kelly rieb sich die Hände und verzog den Mund zu einem Lachen, daß seine neuen Plomben zwischen den Lippen hindurchschimmerten.

»War ein großartiges Geschäft, Spranger«, sagte er, als sein Partner eine Atempause machte. »Der Mann, der Old Kelly 'reinlegt, soll erst noch geboren werden.«

Spranger setzte von neuem an. »Lassen Sie jetzt wenigstens Ihre Hände von der Geschichte, Kelly! Sie haben es mit Schwindlern zu tun. Einmal werden Sie doch der Dumme dabei sein.«

Das Lächeln Kellys verstärkte sich. Er fuhr sich dabei mit der Hand über den Mund, als ob er etwas fortwischen wollte.

»Sehr richtig. Spranger! Natürlich haben wir es mit Schwindlern zu tun. Das weiß ich schon längst. Aber das Schöne an der Sache ist, daß die Herren Bigot und Hartford nicht wissen, daß ich es weiß. Sehen Sie, auf dieser Basis möchte ich noch einmal einen großen Schlag machen.«

»Ihre Logik ist mir zu hoch, Kelly«, sagte Spranger abweisend.

»Schade, mein Boy! Ich hätte Sie für aufnahmefähiger gehalten. Sie sollten etwas für Ihre Bildung tun. Eine gute Lektüre wäre vielleicht –«

»Die Sache ist zum Scherzen zu ernst!« fiel sein Partner ihm ins Wort. »Hier geht es um den guten Ruf und schließlich um die Existenz unserer Firma.«

»Ich spreche in vollem Ernst, Spranger. Sie kennen doch unsern berühmten Landsmann Edgar Allan Poe. Er hat einen sehr lesenswerten und höchst instruktiven Essay verfaßt mit dem Titel ›Das Schwindeln, eine exakte Wissenschaft‹. Ich empfehle Ihnen den Aufsatz zur Lektüre. Man kann wirklich etwas daraus lernen . . .«

Ehe Spranger etwas antworten konnte, läutete das Telephon. Er nahm den Hörer ab. Die Anmeldung des Hotels teilte mit, daß ein Herr Reinhard Mr. Spranger sprechen wolle.

»Wir reden später noch weiter!« rief er seinem Partner zu und ging in sein Zimmer, um den Besuch zu empfangen.

Was mochte Reinhard von ihm wollen? Weshalb kam der deutsche Offizier nach Paris? Spranger erinnerte sich an ihr früheres Zusammensein. Hatte er ihn nicht einmal im Hotel ›Zum Hohen Stein‹ mit diesem zweifelhaften Bigot zusammen gesehen? Kam der Hauptmann etwa hierher, um mit dem Geschäfte zu machen? Er verwarf den Gedanken ebenso schnell, wie er ihm kam. Nach den Mitteilungen zu schließen, die Reinhard damals am Burgweg Eisenlohr über Mr. Hartford gemacht hatte, war er wohl kaum der Mann, einem Schwindler wie Bigot ins Garn zu gehen. Spranger war gespannt, was der Deutsche, der jetzt in sein Zimmer trat, ihm zu sagen haben würde.

Einen Gruß von Eisenlohr bestellte Reinhard, um dann zu der Sache zu kommen, die ihn herführte.

»Ich erfuhr, Mister Spranger«, sagte er, »daß Ihr Partner immer noch in Verbindung mit Monsieur Bigot steht.«

»Leider, Captain. Ich habe vergeblich versucht, ihn davon abzubringen. Er will nicht einsehen, daß er es mit einem Scharlatan zu tun hat.«

»Mit noch Schlimmerem, Mister Spranger. Die Herren Bigot und Hartford bewegen sich hart auf der Grenze, die den Scharlatan vom Verbrecher trennt.«

»Ist Ihr Urteil nicht zu scharf, Herr Reinhard? Ich halte die beiden für ein paar Schwindler von der Sorte, wie sie in einer Großstadt wie Paris zu Dutzenden umherlaufen. Gewiß kein empfehlenswerter Umgang für ernsthafte Kaufleute – aber Verbrecher? So weit möchte ich nicht gehen.«

»Es sind Leute, Mister Spranger, die von Rechts wegen hinter Schloß und Riegel gehörten und in Deutschland auch schon dahinter säßen. Daß sie hier immer noch frei 'rumlaufen, haben sie nur der Weitherzigkeit der französischen Justiz zu verdanken, aber schließlich wird auch deren Geduld einmal zu Ende sein.«

Spranger wurde nachdenklich. Wenn die beiden mit den französischen Behörden in einen Konflikt gerieten und am Ende wirklich festgesetzt wurden, so konnte das für seinen Partner Kelly eine reichlich unangenehme Sache werden.

»Liegt denn tatsächlich etwas Gravierendes gegen die beiden vor?« fragte er.

»Ich denke! Für meine Ansprüche genügt es. Bigot hat sich kürzlich auf einem Wege, der noch nicht ganz offenliegt, Zeichnungen und Berechnungen Ihres Freundes Eisenlohr verschafft und versucht jetzt, danach zu arbeiten.«

»Hm, das wäre natürlich wenig korrekt, aber als ein Verbrechen möchte ich es noch nicht bezeichnen.«

»Bei uns in Deutschland würde man es jedenfalls so nennen, Mister Spranger. Noch bedenklicher ist das, was sein Helfershelfer Hartford treibt. Der bringt im Schwarzhandel das Gold unter die Leute, das sein Kumpan neuerdings herstellt.«

»Wissen Sie das bestimmt, Herr Reinhard?«

Reinhard nickte. »Meine Informationen sind zuverlässig. Durch seine Beziehungen zu Pariser Goldschiebern ist Hartford in der Lage gewesen, recht erhebliche Posten an den Mann zu bringen. Bis sie ein neues Opfer finden, finanzieren die beiden Gauner ihr Geschäft aus solchen Verkäufen.«

»Ja, aber dann müssen die beiden doch wirklich Gold machen können! Sie sprechen von Verbindungen mit Schwarzhändlern, Herr Reinhard. Derartige Leute würden sich doch bestimmt nicht 'reinlegen lassen. Jetzt möchte ich ja beinahe glauben, daß doch etwas an der Sache dran ist.«

»Glauben Sie es nicht zu früh, Mister Spranger! Ich erfülle einen Auftrag des Herrn Doktor Eisenlohr, wenn ich Ihnen noch einmal von jeder Verbindung mit diesen beiden Zeitgenossen abrate. Er bat mich direkt darum, als er hörte, daß ich nach Paris fahren müßte.«

»Ah! Sie haben mit Eisenlohr über die Sache gesprochen, Herr Reinhard?«

»Sehr eingehend, Mister Spranger.«

»Hat er Ihnen keine Gründe für seine Warnung angegeben?«

»Nur in großen Zügen. Herr Doktor Eisenlohr ist der festen Überzeugung, daß es mit Monsieur Bigot noch vor Weihnachten – wahrscheinlich bereits im November – einen Mordsskandal geben wird. Er möchte es verhindern, daß Sie oder Ihr Partner in die Affäre verwickelt werden. Deshalb bat er mich, Sie persönlich aufzusuchen und noch einmal ganz dringend zu warnen.«

Spranger sah nachdenklich vor sich hin. Eben noch war er gerade auf Grund der Mitteilungen Reinhards geneigt, den Franzosen ernst zu nehmen, und nun eine solche Warnung von seinem Freunde Eisenlohr! Er wußte nicht, was er davon halten sollte. Einer plötzlichen Eingebung folgend, zog er ein Fach seines Schreibtisches auf und nahm das Reagenzröhrchen mit dem Goldstaub heraus, das Kelly ihm kürzlich gegeben hatte.

»Was haben Sie da?« fragte Reinhard.

»Etwas Goldstaub. Letztes Fabrikat Bigots. Der Mann hat zweifellos Fortschritte gemacht.«

Reinhard griff nach dem Gläschen. »Sehr verständig, Mister Spranger, daß Sie das Zeug im Tischkasten bewahren und nicht in der Tasche mit sich 'rumtragen.«

»Warum denn das, Herr Hauptmann?« fragte der Amerikaner verwundert.

»Herr Doktor Eisenlohr sprach etwas von einer Strahlung, die von diesem synthetischen Gold beständig ausgesandt wird. Ich bin kein Physiker, Mister Spranger, und kann nur ungefähr wiederholen, was er darüber sagte; es lief darauf hinaus, daß es nicht ratsam wäre, diese Art von Gold ohne eine besondere Schutzkapsel bei sich zu tragen.«

»Ohne eine besondere Schutzkapsel? Wissen Sie, was Eisenlohr damit gemeint hat?«

»Soviel ich davon verstehe, hatte der wohl Bleiblech im Sinn. Er zeigte mir selbst eine Goldprobe, die er in einer Bleidose aufbewahrte.«

»Great Scott!« Wie von einem plötzlichen Schrecken ergriffen zuckte Spranger zusammen. »Wissen Sie, Herr Hauptmann, daß Bigot allen Ernstes daran denkt, sein Pulvergold für Zahnfüllungen zu verwenden? Nach dem, was Sie mir eben sagten, dürfte das nicht unbedenklich sein.«

Reinhard wiegte den Kopf hin und her. »Nicht unbedenklich? Wir wollen lieber sagen, sehr bedenklich, wenn für dies Gold das gleiche gilt wie für das, was Eisenlohr mir zeigte.«

Der Amerikaner sprang erregt auf. »Man müßte das feststellen, Herr Reinhard! Es liegt mir daran, daß es möglichst umgehend festgestellt wird. Bigot kommt dafür natürlich nicht in Frage! An wen könnte man sich hier in Paris wenden? – Vielleicht das Radiologische Institut?«

Reinhard griff nach dem Röhrchen. »Ich mache Ihnen einen Vorschlag, Mister Spranger: Ich bin morgen wieder bei Eisenlohr. Ich werde ihn bitten, die Probe zu untersuchen. Bis morgen abend können Sie telegraphischen Bescheid haben.«

Auch Reinhard erhob sich. Er hatte seinen Auftrag hier ausgerichtet und für den Nachmittag noch eine Besprechung an einer andern Stelle vor. Nachdenklich blieb Spranger zurück.

Nach einer gelegentlichen Mitteilung Eisenlohrs hatte er bisher angenommen, daß dieser deutsche Hauptmann a. D. an irgendeiner größeren Auskunftei oder vielleicht auch Detektei beteiligt sei. Aber was mochte das für ein Büro sein, dessen Verbindungen sich auch nach Frankreich und bis nach USA erstreckten? Schon damals hatte er sich darüber gewundert, als Reinhard ihm die Augen über Mr. Percy Hartford öffnete. Hatte es sich schließlich damit erklärt, daß die deutsche Auskunftei ihr Material mit ähnlichen ausländischen Instituten austauschte. Aber jetzt war dieser Herr Hauptmann Reinhard auch über die Verbindungen Hartfords mit Kreisen der Pariser Unterwelt informiert.

Ein solches Wissen schien ihm, Spranger, über die Aufgaben einer gewöhnlichen Auskunftei doch erheblich hinauszugehen. Irgend etwas anderes mußte noch dahinterstecken, auf das sich Spranger vergeblich einen Vers zu machen versuchte.

Immer mehr begann er sich für die etwas undurchsichtige Persönlichkeit dieses Deutschen zu interessieren.

*

Mit einem Seufzer ließ sich Dr. Holthoff im Laboratorium in einen Sessel fallen, während Professor Braun sich an der großen Strahlröhre zu schaffen machte. Nicht ohne Besorgnis blickte Eisenlohr auf die zusammengesunkene Gestalt seines Assistenten. Unverkennbar waren die Spuren, die eine rastlose aufreibende Arbeit zurückgelassen hatte.

»Fühlen Sie sich nicht wohl, Holthoff?« fragte Eisenlohr.

Noch einmal seufzte Holthoff tief auf, aber wie ein Seufzer der Erleichterung klang es diesmal.

»Gott sei Dank, Herr Eisenlohr, die Probe Nummer zweihundert liegt an der Röhre! Noch eine kleine Viertelstunde, dann haben wir die Geschichte glücklich hinter uns. Dann hat Herr Professor Braun restlos seinen Willen gehabt. Mag er glücklich mit dem werden, was er dabei gefunden hat!«

»Ich habe Sie in diesen Tagen öfter als einmal bedauert, Kollege«, versuchte Eisenlohr ihn zu trösten, »aber einer mußte sich schließlich opfern, und dafür kamen nur Sie in Frage.«

Holthoff versuchte eine Einwendung. »Ich meine, Bruck hätte sich bei der Sache auch etwas betätigen können. Es wäre doch eine wesentliche Hilfe gewesen.«

Eisenlohr schüttelte den Kopf. »Mein lieber Herr Holthoff, ich habe Bruck absichtlich nicht herangezogen. Ich hatte gewisse Gründe dafür . . .«

»Ja, aber Herr Bruck hat die ganze Zeit geruhsam in seinem Zimmer gesessen und sich, soviel ich davon sehen konnte, mit ziemlich nebensächlichen theoretischen Dingen beschäftigt, während er hier nötiger gewesen wäre.«

Eisenlohr neigte sich zu Holthoff hinab und sprach mit gedämpfter Stimme: »Ich möchte darüber vorläufig nichts sagen, Herr Holthoff. Nur vertraulich und zu Ihrer privaten Information will ich Ihnen mitteilen, daß sich Herr Doktor Bruck in dieser letzten Zeit in einer geistigen und seelischen Verfassung befand, die es mir nicht ratsam erscheinen ließ, ihn zu unseren Arbeiten heranzuziehen.«

Holthoff sah verwundert auf. Was konnte Eisenlohr mit diesen Worten meinen? Das klang ja fast, als ob er die geistige Gesundheit seines Ersten Assistenten in Zweifel zöge.

Eisenlohr bemerkte das Erstaunen Holthoffs und wußte es richtig zu deuten.

»Nein, nein, Holthoff«, fuhr er fort, »was Sie vielleicht denken, ist nicht der Fall. Ich glaube auch, daß die Sache wieder ins Lot kommen wird. Bruck muß selber sehen, wie er mit dem, was ihn aus dem Gleichgewicht brachte, fertig wird. Noch habe ich die Hoffnung, daß er bald wieder der alte sein wird. Bis dahin wollen wir ihn nach Möglichkeit sich selbst überlassen.«

Holthoff verstand nicht, was Eisenlohr eigentlich meinte, aber er merkte wohl, daß der nicht gewillt war, noch weiter über die Angelegenheit zu sprechen, und so kam er auf seine Arbeit zurück.

»Herr Professor Braun hat jetzt die letzte Probe vor. Sie wird vermutlich das gleiche ergeben wie die vorhergehenden. Danach beabsichtigt er, einen zweiten ausführlichen Bericht für die Fachpresse zu schreiben. Ich fürchte, daß er auch dabei auf meine Mitwirkung rechnet . . .«

Eisenlohr machte eine ablehnende Bewegung. »Der gute Braun soll seinen Kram selber verfassen. Sie haben mal erst eine Ausspannung nötig, Holthoff, und dann werden wir uns zusammen in unsere Arbeiten stürzen.«

Holthoff reckte die Arme aus und holte tief Luft. »Wenn ich das höre, dann fühle ich mich schon wieder gesund. Mit Ihnen zusammen weiterarbeiten: das ist die beste Erholung, die ich kenne. Aber was wird Braun dazu sagen?«

Ein Lächeln ging über Eisenlohrs Gesicht, während er antwortete. »Der gute Braun wird in den nächsten Tagen Gelegenheit haben, sich über andere Dinge zu wundern. Er bekommt einen Konkurrenten, mein lieber Holthoff. Professor James Hartford aus Schenektady ist auf dem Wege nach Deutschland. Unsere ersten Veröffentlichungen haben ihm keine Ruhe gelassen. Er will selber hier an Ort und Stelle sehen, was wir bisher gemacht haben.«

»Professor Hartford? Der Strahlungsforscher aus Schenektady? Der hier mit Braun zusammen? Zwei harte Köpfe, wenn das nur gutgeht!«

»Das soll nicht unsere Sorge sein! Mögen die beiden Herren Professoren sehen, wie sie miteinander auskommen! Den einen oder andern Krach wird's vermutlich geben. Wir können dabei in der Rolle des lachenden Dritten zuschauen!«

»Ein erfreuliche Aussicht für uns, Herr Eisenlohr! Der amerikanische Gelehrte wird bei unserm Professor keinen leichten Stand haben. Braun wird mit seinen zweihundert gelungenen Versuchen nicht schlecht auftrumpfen!«

»Davon bin ich überzeugt, Holthoff. Aber Professor Hartford ist auch nicht müßig gewesen. Bedenken Sie, daß er die unerschöpflichen Mittel eines großen amerikanischen National-Laboratoriums hinter sich hat. Er kommt nicht mit leeren Händen und wird unserm Braun manche Nuß zu knacken geben!«

Holthoff blickte nach der andern Seite des Laboratoriums hinüber, wo Professor Braun immer noch an der Strahlungsapparatur beschäftigt war. »Haben Sie ihm schon etwas von dem bevorstehenden Besuch gesagt?« fragte er Eisenlohr.

Der zögerte einen Augenblick. »Bis jetzt noch nicht. Ich wollte ihm nicht vorzeitig die Laune verderben. Er erfährt's noch früh genug, wenn der andere da ist.«

Holthoff mußte lachen. »Auf die Überraschung bin ich gespannt! In der Tat ist's auch am besten so, sonst könnte Braun vielleicht noch vorher den Rückzug antreten, und das wäre doch schade.«

»Wäre es auch, Holthoff.« Eisenlohr war wieder ernst geworden. »Die beiden sollen hier zusammenkommen und ihre Erfahrungen austauschen. Sie werden sich dabei vielleicht streiten; doch aus solchem Streit kann die Wissenschaft nur gewinnen. Also vorläufig, lieber Holthoff, kein Wort darüber zu Braun! Er scheint mit dem letzten Versuch zu Ende zu sein. Wir wollen mal sehen, was dabei herausgekommen ist.«

Als sie hinkamen, schaltete Braun eben den Strom ab.

»Ich gratuliere, Herr Professor!« sagte Eisenlohr und schüttelte ihm die Hand. »An Ihrer Miene sehe ich, daß der Versuch mit der letzten Probe auch geglückt ist. Hat es wieder Zellengruppen gegeben?«

Braun reichte ihm eine Lupe. »Ich will nicht vorgreifen, Herr Eisenlohr. Überzeugen Sie sich bitte selbst!«

Geraume Zeit betrachtete Eisenlohr die von der Strahlung belebte Materie durch das starke Vergrößerungsglas. Endlich ließ er es sinken und sah Braun fragend an.

»Nun, Herr Eisenlohr, was halten Sie davon?«

»Ein kugliger Zellenhaufen, Herr Professor. Die Zellen sehen grünlich aus. Woher kommt die Farbe?«

»Chlorophyll, Herr Doktor. Diese Gelatine enthält bestimmte Eisenverbindungen. Ich wollte feststellen, ob die Materie unter dem Einfluß der Strahlung auch Blattgrün bildet. Der Versuch scheint gelungen zu sein. Wenn die chemische Analyse es bestätigt, hätten wir den Beweis dafür, daß –«

»– die Strahlung lebendige Gebilde erzeugt hat, die anorganische Stoffe assimilieren können.«

»Jawohl, Herr Eisenlohr, Gebilde, die nun auch ohne die Strahlung selbständig weiterleben und wachsen können. Das wollte ich durch meine Versuche beweisen.«

»Interessant!« murmelte Eisenlohr vor sich hin. »Sie haben der Gelatine Eisensalze zugesetzt, um eine Chlorophyllbildung zu ermöglichen?«

Braun nickte. Ein Lächeln glitt über seine faltigen Züge, während er weitersprach. »Sie haben den alten Braun gewiß für einen rechten Dickschädel gehalten, Herr Eisenlohr?«

Eisenlohr wehrte ab. Der Professor sprach weiter: »Oder vielleicht sogar für einen alten Trottel, der sich hier auf überflüssige Versuche versteift. Glauben Sie mir, es war nicht so! Nach einem bestimmten Plan hatte ich allen diesen Gelatineproben bestimmte Mineralsalze zugefügt. Von Versuch zu Versuch hoffte ich, daß ihre Wirkung sich äußern würde, hoffte immer wieder vergeblich, wurde immer mutloser. Fast wollte ich Ihnen, Herr Holthoff, recht geben, der Sie Ihre Meinung über die Zwecklosigkeit dieser Arbeiten ziemlich deutlich merken ließen.« Verlegen wandte Holthoff sich zur Seite.

»Bis dann endlich im allerletzten Augenblick bei der zweihundertsten Probe der Erfolg kam. Wenn Sie wüßten, meine Herren, wie glücklich ich darüber bin! Das hier« – er deutete auf das Röhrchen mit dem grünen Fleck darin – »das soll nicht in den Brutschrank kommen, das werde ich mit zu mir nehmen. Da soll es in Wasser und Sonnenschein nach eigenem Trieb weiterwachsen.«

Zum zweitenmal reichte ihm Eisenlohr die Hand. »Unsern Glückwunsch zu Ihrem Erfolg! Ich glaube, Herr Professor, wir haben Ihnen etwas abzubitten!«

*

Die Vorhaltungen William Sprangers waren nicht wirkungslos geblieben. James Kelly begann sich wieder mit den Geschäften zu befassen, um derentwegen er ursprünglich nach Europa gekommen war.

Um eine große Transaktion in französischen Industriepapieren handelte es sich dabei, die, wenn sie schnell und geschickt durchgeführt wurde, der Firma Kelly & Company einen namhaften Gewinn abwerfen mußte. Noch einmal sprach Kelly mit seinem Partner alle Einzelheiten der Unternehmung durch. Zum dritten Male griff er während der Besprechung nach den Zündhölzern, um seine Pfeife wieder in Brand zu setzen; aber schon nach wenigen Zügen legte er sie wieder beiseite.

Spranger fiel das auf. Eine Besprechung, bei der sein Partner nicht ununterbrochen qualmte, war ihm eine ungewohnte Sache.

»Was haben Sie, Kelly?« fragte er. »Schmeckt Ihnen der Tabak nicht?«

Kelly verzog den Mund und fuhr sich mit der Hand über die Lippen. »Ich weiß nicht, Spranger, Doktor Harper hat diesmal nicht so gut wie sonst gearbeitet. Ich werde ein dumpfes Gefühl in den neuen Plomben nicht los. Habe zuerst gehofft, daß es vorübergehen würde, aber es ist eher schlechter als besser geworden. Es stört mich nachgerade beim Rauchen.«

Während Kelly es sagte, kam Spranger seine letzte Unterredung mit Reinhard wieder in die Erinnerung. Vergeblich hatte er nach dessen Abreise auf ein Telegramm Eisenlohrs gewartet, hatte dann im Drang der Besprechungen und Geschäfte die Angelegenheit aber aus dem Gedächtnis verloren. Jetzt fiel sie ihm wieder ein und beunruhigte ihn. Er stand auf und trat zu Kelly heran.

»Doktor Harper arbeitet doch sonst tadellos. Zeigen Sie mal – ist irgend etwas zu sehen?«

Kelly bewegte seine Lippen. »Ich glaube nicht. Nur so einen unangenehmen spannenden Druck verspüre ich.«

Spranger beugte sich tiefer zu ihm hinab. »Ich möchte fast behaupten«, sagte er nach einer eingehenden Musterung, »daß Ihre Oberlippe etwas geschwollen ist.«

»Kommt mir auch so vor«, knurrte Kelly verdrießlich. »Weiß der Teufel, was Doktor Harper gemacht hat! Er gab mir vor der Operation ein paar Spritzen ins Zahnfleisch und sprach dabei von einem neuen Betäubungsmittel. Wenn es bis morgen nicht besser ist, werde ich zu ihm fahren und ihm meine Meinung darüber sagen.«

»Sie sollten ihn lieber sofort aufsuchen. Die Sache will mir nicht gefallen.«

Kelly sah auf die Uhr und auf seinen Terminkalender. »Heute geht's nicht. Jede Stunde ist besetzt.« Er las ein halbes Dutzend Namen von Börsenmaklern von dem Kalender ab. »Ich habe sie mir alle der Reihe nach hierherbestellt. Es hängt viel davon ab, daß wir unsere Ordres richtig placieren. In zehn Minuten erwarte ich Lorrain . . .« Er faßte sich wieder an den Mund. »Aber morgen früh werde ich Doktor Harper den Standpunkt klarmachen. Der Mann schreibt Rechnungen, daß einem die Augen übergehen, und will dann seine Patienten auch noch als Versuchskaninchen benutzen! Das werde ich ihm abgewöhnen.« –

Durch das Haustelephon wurde Kelly Monsieur Lorrain gemeldet.

Spranger stand auf und ging in sein eigenes Zimmer. Dort griff er nach Bleistift und Papier, um ein dringendes Telegramm an Eisenlohr aufzusetzen, denn dies Zahnweh, das sein Partner leichthin auf ein Versehen seines Dentisten schob, begann ihm Sorge zu machen.

Beim Aufsetzen der Depesche merkte er bald, daß die Sache nicht so einfach war. Ihr Inhalt mußte für Eisenlohr vollkommen klar sein, durfte aber allen den anderen, die ihn im Postbetrieb auch lesen würden, nichts über die Arbeiten Bigots verraten. Immer wieder strich Spranger das Geschriebene aus und formte neue Sätze, ohne damit zufrieden zu sein. Mißmutig warf er den Bleistift beiseite. Zu dumm, daß Reinhard sein Versprechen offenbar vergessen hatte! Der Mann schien auch nicht so zuverlässig zu sein, wie Eisenlohr ihn hingestellt hatte. Spranger nahm den Bleistift wieder auf, um es noch einmal zu versuchen, als das Telephon auf seinem Schreibtisch sich meldete. Zerstreut griff er nach dem Hörer und horchte auf, als er die Stimme vernahm.

»Herr Reinhard! Sie wieder in Paris? Ich habe vergeblich auf ein Telegramm von Ihnen oder von Eisenlohr gewartet. Warum haben Sie nicht gedrahtet?«

Das Gesicht Sprangers wurde ernst, während er weiter in den Apparat hörte.

»Es ist gut, Herr Reinhard. Ich komme sofort zu Ihnen. In zehn Minuten kann ich da sein.« Spranger legte den Hörer aus und machte sich zum Ausgehen fertig. –

Es war ein bescheidenes Haus in der Rue Pastourelle, in dem Reinhard logierte, nicht in einem Atem zu nennen mit dem erstklassigen Hotel, in welchem die beiden Inhaber der Firma Kelly & Company Wohnung genommen hatten.

Allzuviel scheint ihm sein Büro nicht einzubringen, dachte William Spranger, als er in Reinhards Zimmer trat.

Der Hauptmann a. D. schüttelte ihm die Hand. »Freue mich, Sie wohlauf zu sehen. Darf ich bekannt machen? Mister Spranger aus New York – Herr Professor James Hartford aus Schenektady.«

Ein Herr mittleren Alters erhob sich und hielt Spranger die Rechte hin. »Erfreut, einen Landsmann zu treffen. Herr Reinhard hat bereits mit mir gesprochen. Ich stehe Ihnen gern zur Verfügung, wenn ich Ihnen bei Ihren Angelegenheiten behilflich sein kann.«

Spranger blickte in das energische, durchgeistigte Gesicht des Professors, während seine Gedanken arbeiteten. Im stillen nahm er alles zurück, was er noch auf der Treppe über Reinhard und sein Büro gedacht hatte. Wie hatte dieser Deutsche es fertigbekommen, den richtigen James Hartford hierher nach Paris zu bringen? Wie mußte seine Agentur oder Auskunftei, oder was sonst es immer war, organisiert sein, um etwas Derartiges zu schaffen? In diesem Augenblick verstand er, daß Reinhard über diese größere Aufgabe wohl jenen anderen Auftrag an Eisenlohr vergessen konnte. Ohne recht bei der Sache zu sein, wechselte er ein paar Höflichkeitsphrasen mit Professor Hartford, während seine Gedanken weiter liefen.

Jetzt würde man jenen andern Hartford als Schwindler, ja vielleicht – wenn die frühere Mitteilung Reinhards stimmte – als Dieb entlarven können. Jetzt würde man wohl auch dem Monsieur Bigot hinter seine Schliche kommen können . . . Wieder waren seine Gedanken darüber bei dem Gold Bigots angelangt. Durfte er in Gegenwart von Professor Hartford von dem sprechen, was ihm Sorge bereitete?

Er warf Reinhard einen fragenden Blick zu. Der nickte, als ob er seine Gedanken gelesen hätte.

»Sprechen Sie unbesorgt, Mister Spranger! Herr Professor Hartford ist über die Arbeiten Bigots im Bilde.«

Wie auf ein Stichwort fiel Hartford ein: »Es handelt sich um eine instabile Isotope des Elementes Au, die stetig strahlt. Der Gedanke, diesen Stoff etwa als Schmuck zu verarbeiten und am Körper zu tragen, ist vollkommen abwegig . . .«

»Als Zahnfüllung würden Sie ihn auch nicht empfehlen, Herr Professor?« warf Reinhard dazwischen.

Professor Hartford machte eine abwehrende Bewegung. »Um's Himmels willen, nein! Das wäre noch schlimmer. Nur ein Narr könnte darauf verfallen.«

Spranger rückte unruhig auf seinem Stuhl hin und her. Er brannte vor Ungeduld, zu Kelly zu eilen, um ihn, sei es mit Überredung, sei es mit Gewalt, sofort zu Dr. Harper zu bringen. Schließlich konnte er nicht länger an sich halten; er begann davon zu sprechen.

»So, so? Mister Kelly hat sich das Zeug in die Zähne setzen lassen . . .«, meinte Reinhard trocken. »Er wird –«

»– in vierzehn Tagen einen Kopf wie ein Kürbis haben, wenn er es nicht wieder herausnehmen läßt«, vollendete Professor Hartford den Satz.

»Sofort muß das geschehen! Er will erst morgen zu seinem Zahnarzt fahren. Ich will ihn gleich hinbringen«, fuhr Spranger auf.

»Es genügt, wenn es morgen geschieht«, beruhigte ihn Professor Hartford. »Wir haben im Augenblick etwas anderes vor, Mister Spranger, bei dem Herr Reinhard Sie gern dabei hätte.«

Nur widerstrebend ließ sich Spranger von seiner Absicht abbringen, sofort zu Kelly zurückzukehren. Erst auf die wiederholte Versicherung von Professor Hartford, daß ein Aufschub von zwölf Stunden bedeutungslos sei, willigte er ein, ihn und Reinhard zu begleiten.

Sie gingen zu Fuß durch ein Gewirr von Gassen und Gäßchen in der Richtung auf die Zentralmarkthalle zu. Unterwegs erfuhr Spranger, um was es sich handelte. Für Reinhard galt es, Mister Percy Hartford, ohne selbst gesehen zu werden, bei einem seiner dunkeln Handelsgeschäfte zu beobachten. Professor Hartford wollte bei der Gelegenheit feststellen, ob dieser zweifelhafte Namensvetter tatsächlich mit seinem früheren Laboranten identisch war.

»Also sozusagen zwei Fliegen mit einer Klappe, Mister Spranger«, schloß Reinhard seine Mitteilungen.

»Großartig, Herr Reinhard, wenn uns das gelingt, sind wir ein gutes Stück weiter! Aber, aber, ich mache mir Sorgen um Kelly!«

Reinhard lachte. »Keine Ursache, Mister Spranger. Ich hoffe im Gegenteil, daß die nächsten zwölf Stunden Ihren Partner von seiner Vorliebe für Monsieur Bigot kurieren werden. Ein bißchen Zahnweh wirkt manchmal überzeugender als die besten Vernunftsgründe. Ich denke, er wird bis morgen früh alle seine Sünden bereuen und Bigot zum Teufel schicken.«

»Sicherlich!« pflichtete Professor Hartford der Ansicht Reinhards bei. –

Sie waren in eine kleine Seitengasse gelangt und machten vor einem Hause halt, an dem ein Schild ein Estaminet anzeigte, eine kleine Winkelkneipe und Garküche, die hauptsächlich von Leuten besucht wurde, die in den nahegelegenen Markthallen zu tun hatten. Reinhard übernahm die Führung.

»Hier durch den Nebeneingang, meine Herren!« Sie folgten ihm über einen mit allerlei Gerümpel verstellten Hof, kamen durch eine Tür in einen fast dunklen Gang und landeten schließlich in einem Hinterzimmer der Wirtschaft. Offensichtlich war Reinhard kein Neuling in diesem Lokal.

Er begrüßte den Wirt wie einen alten Bekannten, gab eine kurze Bestellung auf und verlangte »dasselbe Kabinett wie das letztemal«. Dienstbereit öffnete der Wirt eine Schlupftür, die, in der Farbe der übrigen Wand gehalten, von einem Unkundigen kaum zu finden war. Sie führte in einen kleinen Nebenraum, für den die Bezeichnung »Kabinett« entschieden zu hoch gegriffen war. Nur ein winziges Kämmerchen mit geweißten Wänden war es, dessen ganze Ausstattung aus einem einfachen Tisch und ein paar Stühlen bestand – dafür aber um so besser geeignet, von hier aus selbst ungesehen alle Vorgänge in dem Nebenraum zu beobachten und Gespräche, die dort geführt wurden, mit anzuhören. Das Mittel dazu bot ein Ausschnitt in der Wand, der ganz unauffällig hinter dem im Gastzimmer befindlichen Ofen angebracht war. Mit einer Handbewegung lud Reinhard den Professor und Spranger ein, auf den ein wenig wackligen Stühlen Platz zu nehmen. Wenige Minuten später brachte der Wirt einen Liter Wein und stellte drei Gläser auf den Tisch. Kaum hatte er den Raum verlassen, als Reinhard wieder aufstand und zu dem Ausschnitt in der Wand ging.

»Was sollen wir hier?« fragte Spranger, der nicht recht einsah, worauf das Ganze hinaus sollte.

Reinhard sah auf seine Uhr. »Ruhig bleiben und sich die Zeit nicht lang werden lassen, Mister Spranger! Ich habe sichere Nachricht, daß Ihr sogenannter Experte sich hier mit einem seiner Abnehmer treffen will. Vielleicht kommt er in wenigen Minuten, vielleicht müssen wir ein paar Stunden warten. Ich bitte um absolute Ruhe, sowie jemand kommt. Ich hoffe, unsere Geduld wird belohnt werden.«

Vorläufig wurde ihre Ausdauer auf eine harte Probe gestellt. Schleichend verstrich eine Viertelstunde noch der anderen, bis endlich eine Tür klappte. Ein Mann kam in den Nebenraum, sah sich einen Augenblick kurz um und nahm dann an einem Tisch Platz. William Spranger, der neben Reinhard stand, hatte Gelegenheit, ihn beim Vorübergehen genauer zu betrachten. Seiner Kleidung nach konnte es etwa ein Helfer aus den Markthallen sein, einer von den vielen, die dort beim Auf- und Abladen der Waren ein paar Francs verdienen, aber wie jemand, der Gold im Werte von vielen tausend Francs kaufen konnte, sah er keineswegs aus. Spranger kam zu der Ansicht, daß der Mensch hier wohl nur versehentlich hineingeraten wäre. Er begann bereits an dem Erfolg ihres Unternehmens zu zweifeln, als die Tür zum andernmal klappte, und diesmal – unwillkürlich hielt er den Atem an – kam der ihm wohlbekannte Percy Hartford herein und ging sofort auf den Tisch zu, an welchem der andere saß.

»By Jove, er ist's!« flüsterte Professor Hartford Reinhard zu. Der legte den Finger auf den Mund und verwies ihn durch energische Gesten zur Ruhe. Angespannt horchten die drei auf das, was sich weiter im Nebenraum abspielte.

»Ich bringe Ihnen wieder fünf Kilogramm«, sagte Hartford, holte ein in graues Papier eingeschlagenes Päckchen aus seiner Tasche und stellte es vor sich auf den Tisch. Er knotete den Bindfaden auf und wickelte das Papier ab. Ein kleiner, gelblich schimmernder Block kam zum Vorschein. Zehn Zentimeter mochte er lang sein, fünf Zentimeter breit und ebenso hoch.

»Haben Sie eine Waage mitgebracht, Monsieur Dubois?« fragte Hartford.

Der andere griff in die Tasche und legte eine Federwaage auf den Tisch; aber er benutzte sie noch nicht, sondern starrte mißtrauisch auf den Block.

»Wollen Sie sich bitte überzeugen, daß das Gewicht stimmt«, drängte ihn Hartford. Monsieur Dubois zog eine mürrische Miene.

»Das Gewicht ist immer in Ordnung gewesen, aber Ihre Legierung stimmt nicht, Mister Hartford.«

»Wieso?! Was wollen Sie damit sagen?« fuhr Hartford auf.

»Sie haben mir Ihre Barren als chemisch reines Gold angeboten. Als reines Gold habe ich sie auch gekauft und bezahlt. Aber meine Kunden haben sich bei mir beschwert. Es ist Blei in den Barren gewesen.«

»Blei!? Das ist ausgeschlossen. Sie wissen, Monsieur Dubois, daß ich dieses Gold . . . Bruchgold, alten Familienschmuck, Goldmünzen und dergleichen mehr . . . von den verschiedensten Stellen und oft nur grammweise zusammenkaufe. Man steckt natürlich in den einzelnen Stücken nicht drin, aber gerade deshalb raffiniere ich das zusammengeschmolzene Metall in meinem Laboratorium jedesmal elektrolytisch, bevor ich es in Barren gieße. Ein Zehntel Promille wäre der Höchstsatz an fremden Beimischungen, der nach einer solchen Behandlung noch vorhanden sein könnte.«

Dubois unterbrach ihn mit einer energischen Bewegung.

»Das stimmt nicht, Mister Hartford. Es handelt sich um mehrere Prozente. Jedenfalls ist es reichlich genug, um die Unzufriedenheit meiner Kunden zu erregen. Auffallenderweise haben Sie übrigens bei den ersten Barren viel mehr Blei zugegeben als bei den späteren.«

Mit einem Wortschwall wies Hartford den Vorwurf des Betruges zurück und beteuerte seine unbedingte Ehrlichkeit. Kopfschüttelnd hörte der andere ihn an.

»Dann gäbe es nur noch eine Möglichkeit«, meinte er nach längerem Überlegen. »Ihre elektrolytische Raffination hat vielleicht im Anfang noch nicht einwandfrei gearbeitet. Es kommt da viel auf die Stromstärken und Spannungen an.«

Die drei stillen Zuhörer im Nebenraum wunderten sich beträchtlich über die technischen Kenntnisse, die dieser wie ein gewöhnlicher Markthelfer aussehende Mann hier vorbrachte. Offenbar war alles Maske an ihm, und in dieser gewollt ärmlichen Kleidung steckte ein ganz anderer Mensch. Ihre Vermutung verstärkte sich beim weiteren Verlauf der Dinge.

Wieder griff dieser Monsieur Dubois in seine Taschen, zog einen schwärzlichen Stein und verschiedene Nadeln heraus, brachte danach noch ein Fläschchen mit einer wasserklaren Flüssigkeit zum Vorschein. Er rieb den Stein an dem Barren, den Hartford mitgebracht hatte, daß es einen gelben Strich gab, zog mit seinen eigenen Probiernadeln andere Striche daneben und träufelte schließlich etwas von jener Flüssigkeit darauf die bei der Berührung mit dem Stein leicht aufzischte.

Lange betrachtete er das Ganze. Kopfschüttelnd legte er den Stein dann vor sich hin.

»Nun, was haben Sie gefunden, Monsieur Dubois?« fragte Hartford.

»Diesmal ist es wirklich hundertprozentiges, chemisch reines Gold, Mister Hartford. Es muß die früheren Male doch an Ihrer Raffination gelegen haben.«

»Also wollen Sie den Barren nehmen?«

Dubois nickte und legte den Goldbarren in die Haken der Federwaage. Er las das Gewicht ab, schrieb es nieder, machte dann eine kurze Rechnung auf und nannte einen Preis.

»Einverstanden, Monsieur Dubois. Haben Sie Kasse bei sich?«

Wieder ein Nicken des anderen, aber vergeblich wartete Hartford darauf, daß der wie bei früheren Geschäften sofort die Brieftasche ziehen und ihm die so sehnlich erwarteten Banknoten in die Hand drücken würde. Zwar griff Dubois in die Tasche, aber was er herauszog und Hartford hinschob, war ein mit vielen Zahlen und einer langen Rechnung bedecktes Blatt. Hartford überlas es und wurde blaß dabei. Entrüstet stieß er es zurück.

»Ausgeschlossen, Dubois! Was soll das heißen? Fast drei Kilo Blei sollen in den früheren Barren stecken? Einfach unmöglich!«

Dubois zuckte die Achseln. »Die Analysen stammen von zuverlässigen Fachleuten, Mister Hartford. Meine Kunden haben keinen Grund, sich falsche Analysen machen zu lassen. Sie sind froh, wenn sie reines Gold für ihre Zwecke bekommen können.«

Hartford schlug wütend mit der Faust auf den Tisch. »Wenn wirklich Blei drin ist, hat's ein anderer dazwischengemischt! Von mir haben Sie reines Gold bekommen.«

»Schreien Sie nicht so, Hartford!« mahnte ihn Dubois. »Es ist nicht nötig, daß unser Handel laut wird.«

»Aber es ist nicht wahr!« ereiferte sich Hartford von neuem.

»Es ist Tatsache, Mister Hartford – und ich muß meinen Kunden für die Differenz geradestehen.«

»Machen Sie mit Ihren Kunden, was Sie wollen! Das geht mich nichts an.«

»Doch, Mister Hartford, es geht Sie sehr viel an. Wenn ich meine Kundschaft nicht zufriedenstelle, springt sie ab. Dann kann ich Ihnen auch keine Barren mehr abkaufen.«

Hartford versuchte seinen Schreck zu verbergen. Keine Barren mehr abkaufen? . . . Mehr denn je waren Bigot und er gerade jetzt auf den Absatz ihrer Erzeugnisse angewiesen. Die einzige Möglichkeit war es für sie, sich noch so lange über Wasser zu halten, bis ihnen ein neuer, großer Fischzug bei irgendwelchen Großkapitalisten glückte.

»Was haben Sie nun eigentlich vor, Dubois?« fragte er unsicher.

»Ich muß von dem Preis für den Barren hier den Bleigehalt Ihrer früheren Lieferungen abziehen . . .«

»Wie, was?! Sie wollen . . .?«

»Ich werde Ihnen diesmal den Preis für zwei Kilogramm und zweihundert Gramm zahlen. Dann sind wir wieder quitt, Mister Hartford.«

»Unmöglich, Dubois! Das ist kein reelles Geschäft!«

»Genau so reell wie Ihres, Hartford.« Dubois zog seine Brieftasche und fing an, Banknoten daraus zu entnehmen. Eine schöne Summe, eine sehr stattliche Summe, aber doch nur die knappe Hälfte von dem, was der Komplice Bigots erwartet hatte. Mit einem Ruck zog er den Goldbarren zu sich heran.

»Nein, Monsieur Dubois! Entweder den vollen Preis oder –«

»Oder . . .?«

»Es gibt noch andere Abnehmer für gutes Gold, Monsieur Dubois.« Hartford schickte sich an, den Barren wieder einzuwickeln.

Dubois bedeckte die vor ihm liegenden Banknoten mit seiner Brieftasche. »Wie Sie wollen, Mister Hartford. Aber . . .«

»Was für ein ›Aber‹, Monsieur Dubois?«

». . . hoffentlich kommen Sie mit dem da« – Dubois deutete auf den Barren – »gesund nach Hause!«

Hartford sah ihn fragend an.

»Ich meine nur so, Mister Hartford. Die Gegend ist nicht unbedingt sicher . . . fünf Kilo Gold . . . Ich würde es bedauern, wenn Ihnen unterwegs etwas zustieße.«

Dubois sagte es in lässigem Ton, aber sein Blick wollte Hartford nicht gefallen. Etwas Verhaltenes, Drohendes lag in dessen Augen, das ihm Furcht einjagte. Daß Dubois zu einer weitverzweigten Bande gehörte, die kaum vor etwas zurückschreckte, wußte er, doch leider waren seine eigenen Geschäfte von solcher Art, daß er sich seine Kunden nicht in ehrbaren Handelskreisen suchen konnte. Sollte er die kaum verhohlene Drohung überhören . . . es riskieren, daß man ihn morgen oder übermorgen irgendwo aus der Seine fischte? . . . Lieber nicht. Das war die Sache am Ende nicht wert.

Langsam begann er den Barren wieder auszuwickeln. Ebenso gemächlich nahm Dubois seine Brieftasche wieder von den Banknoten.

»Nun, haben Sie sich besonnen, Mister Hartford?«

»Sie sind ein Gauner, Dubois!«

Monsieur Dubois machte eine leichte Verneigung. »Das ist weder neu noch originell, Mister Hartford. Das haben mir schon bessere Leute als Sie gesagt.«

»Ein Betrüger sind Sie!« begehrte Hartford von neuem auf.

»Keine unnötige Aufregung bei Geschäften, mein Lieber! Immer ehrlich, Zug um Zug und gegen bar.« Er schob Hartford die Banknoten hin und griff nach dem Barren. Wie Taschenspielerei sah es aus, so schnell und spurlos war der plötzlich zwischen seinen Fingern und in seiner Kleidung verschwunden. Dubois stand auf.

»Wenn Sie wieder etwas haben, Mister Hartford – stets zu Ihren Diensten. Sie wissen, wie Sie mich erreichen können.«

Hartford war noch beschäftigt, die Banknoten in seine Brusttasche zu stecken. Der Ärger über die plötzliche Überrumpelung verschlug ihm die Sprache. Er nickte nur kurz, während der andere bereits den Raum verließ.

Nichts anderes als ein nichtsnutziger Betrug war es, was der eben an ihm verübt hatte. Jetzt nach Tagen erst und Wochen trat er plötzlich mit der durch nichts zu beweisenden Behauptung auf, daß kilogrammweise Blei in dem von ihm, Hartford, gelieferten Gold vorhanden gewesen sei. Einfach undenkbar erschien es ihm. Wäre es wirklich der Fall gewesen, so hätte es Dubois doch sofort merken müssen. Ein schmutziger Versuch dieses Gangsters, ihn zu drücken, war's, das wurde ihm von Minute zu Minute klarer, aber er fand keine Antwort auf die Frage, wie er sich gegen Wiederholungen derartiger Manöver schützen könnte. Dubois war sein bester Abnehmer. Zwar hatte er noch ein paar andere, geringere Kunden, aber gerade diesen Großabnehmer würde er nur ungern missen. Nachdenklich erhob er sich und schickte sich ebenfalls an, das Zimmer zu verlassen. –

Im Nebenraum machte Professor Hartford eine Bewegung zur Tür hin.

Reinhard hielt ihn fest, raunte ihm zu: »Was wollen Sie?«

»Mir den Burschen langen, ihn zur Rede stellen.«

Reinhard vertrat ihm den Weg, bis Mr. Percy Hartford nebenan die Tür hinter sich geschlossen hatte.

»Sie lassen den Schwindler entwischen!« schrie der Professor aufgebracht.

»Wir können ihn nicht festhalten, Herr Professor Hartford. Das muß alles seinen vorschriftsmäßigen Weg gehen. Sie haben wegen der bewußten Sache mit den Platingefäßen hoffentlich in Schenektady Strafantrag gestellt?«

Hartford dachte einen Moment nach. »Ich habe den Diebstahl damals natürlich bei unserer Polizei gemeldet und . . . ja, dann mußte ich auch etwas unterschreiben. Jetzt entsinne ich mich wieder. Es war ein Strafantrag gegen Percy Hartford. Es war natürlich zwecklos. Der Mensch hatte die Staaten längst verlassen, und unsere Gefäße waren verloren.«

»Immerhin, Herr Professor, den Strafantrag haben Sie gestellt; das ist schon viel wert. Ihre Polizei muß sich jetzt über das amerikanische Auswärtige Amt an die französische Justiz wenden und um Rechtshilfe ersuchen. Es wird Zeit kosten, aber es ist unvermeidlich.«

»Unmöglich, Herr Hauptmann Reinhard! Ich habe in Deutschland eine Verabredung mit einem Berufsgenossen, die mir äußerst wichtig ist.«

»Nicht so wichtig wie die Angelegenheit hier, Herr Professor. Ihr Kollege in Deutschland läuft Ihnen nicht fort, wenn Sie hier noch eine Woche daranwenden.«

Professor Hartford zauderte. »Es paßt mir außerordentlich schlecht in meine Dispositionen –«

»Ja, dann –«, Reinhard zuckte die Achseln – »dann müssen wir den Gauner eben laufen lassen, wenn Sie das wollen!«

»Nein! Das will ich nicht, Herr Reinhard. Da will ich schon lieber in Gottes Namen eine Woche hier in Paris zugeben, obwohl ich mir keinen großen Erfolg davon verspreche.«

»Aber ich, mein verehrter Herr Professor! Wichtiger ist es mir, daß Sie den Mann als Ihren früheren Laboranten wiedererkannt haben! Ich denke, jetzt werden auch Sie, Mister Spranger, überzeugt sein, daß Sie es mit Schwindlern zu tun haben!«

William Spranger nickte. »Durchaus, Captain. Ich werde auch meinem Partner meine Meinung darüber sehr deutlich sagen.«

Reinhard stand auf. »Dann, meine Herren, habe ich hier alles erreicht, was ich beabsichtigte. Lassen Sie uns aufbrechen. Wenn es Ihnen recht ist, Herr Professor, wollen wir beide zu Ihnen fahren und die Sache in die Wege leiten.«

Längst hatten die Uhren auf der Eulenburg die elfte Nachtstunde geschlagen. Nur mit Mühe unterdrückte Holthoff ein Gähnen.

»Genug für heute, Kollege! Gehen Sie zur Ruhe!« sagte Eisenlohr.

Holthoff stand auf und reckte sich. »Ich gedenke einen langen Schlaf zu tun, denn dieser letzten Tage Arbeit war recht reichlich«, zitierte er frei nach Schiller und verließ Eisenlohrs Arbeitszimmer. Professor Braun und Eisenlohr blieben allein zurück. Sie sahen ebenfalls abgespannt aus. Unverkennbare Spuren hatte die rastlose Arbeit der letzten Tage auch in ihre Gesichter gezeichnet, aber trotzdem schienen sie noch nicht an Ruhe zu denken. Immer wieder gingen ihre Blicke zu dem großen Mitteltisch, auf dem es in hundert Reagenzgläsern in allen Farben des Regenbogens schimmerte. Vom glänzenden Blutrot über ein helles Orange hin zu einem grellen Gelb und weiter über Gelbgrün, Grün und Blaugrün bis zum tiefsten Azur waren alle erdenklichen Farbtönungen hier vertreten. Eine Farbenpracht, wie sie in der Natur in ähnlicher Fülle nur die Meeresfauna in den phantastischen Gebilden der Seenelken, -anemonen und Quallen hervorbringt, glühte auch in diesen im Reagenzglas durch eine künstliche Strahlung erzeugten Lebewesen. Ein wundervoller Erfolg war es in der Tat, der die beiden Forscher wohl für alle Mühe und Arbeit entschädigen konnte.

Professor Braun griff nach einem Kästchen und wählte sich sorgsam eine Zigarre von besonderer Schwärze und Schwere aus.

»Ich denke an eine neue Veröffentlichung, Herr Eisenlohr«, begann er zwischen den ersten Rauchwolken. »Es müßte etwa eine Farbenchemie der belebten Organismen werden. Ein Seitenstück, wissen Sie, Kollege, zu jenen Theorien, nach denen unsere chemische Industrie arbeitet.«

»Ich fürchte, Herr Professor, dazu ist es noch etwas zu früh«, warf Eisenlohr ein. »Man müßte nicht hundert, sondern tausend erfolgreiche Versuche hinter sich haben, um eine solche Theorie aufbauen zu können.«

Braun widersprach lebhaft. »Sagen Sie das nicht, Kollege! Ich habe mir bereits eine bestimmte Vorstellung über die färbende Kraft gewisser Molekülgruppen gebildet. Über die Rolle, welche die Verbindungen des Eisens, des Kupfers und des Mangans dabei spielen, glaube ich mir ziemlich klar zu sein.«

Eisenlohr stützte den Kopf in die Hand.

»Das Neuland, auf das wir uns mit unseren Versuchen gewagt haben, ist ungeheuer groß«, begann er nachdenklich. »Ich glaube, es wird noch eine Riesenarbeit notwendig sein, bevor man daran denken kann, wenigstens einige große Richtlinien aufzustellen und Arbeitshypothesen zu formulieren.«

»Darin haben Sie zweifellos recht. Aber gerade bei der unerhörten Fülle der Möglichkeiten und Erscheinungen muß man bald wenigstens ein paar Punkte festlegen«, nahm Braun seinen Gedankengang wieder auf. »Ich will es jedenfalls versuchen. Wie denken Sie über den Titel ›Chromophore im belebten Organismus‹? Er würde immerhin einen neuen Begriff aufstellen. Aber selbstverständlich, Herr Eisenlohr, würde ich diese Arbeit nur in Angriff nehmen, wenn Sie sie nicht sich selbst vorbehalten wollen.«

Eisenlohr schüttelte den Kopf. »Ich habe nicht die Absicht, Herr Professor; dies Thema bleibt Ihnen uneingeschränkt überlassen. Ich denke daran, die Arbeiten auf einer ganz neuen Basis noch einmal gewissermaßen von vorn anzufangen.«

Erstaunt blickte Braun ihn an. »Auf einer neuen Basis? . . . Noch einmal von vorn? . . . Ich begreife nicht, Herr Kollege, was Sie darunter verstehen. Sie haben doch bei Ihren ersten bahnbrechenden Versuchen weiß Gott von vorn begonnen.«

»Ich habe mit einer Gelatine angefangen, Herr Professor.«

»Gewiß, Herr Eisenlohr. Das weiß ich.«

»Aber wir haben beide nicht genügend berücksichtigt, mein verehrter Herr Professor, daß die Gelatine selbst bereits ein Erzeugnis organischen Lebens ist, ein Konglomerat der verschiedensten Eiweiße. Wenn Sie mich heute fragen, was wir bisher geschafft haben, so muß ich Ihnen antworten: Wir haben tote organische Substanz durch unsere Strahlung wieder zum Leben erweckt. Was aber die Natur geleistet hat . . . geleistet haben muß, Herr Professor, das Leben aus unorganischen Stoffen entstehen zu lassen, das haben wir bisher noch nicht erreicht.«

Professor Braun saß da wie vor den Kopf geschlagen. Erst nach einer langen Pause fand er Worte. »Du lieber Himmel, was sind das für Ideen? Sie haben einen Erfolg, um den jeder Wissenschaftler der Erde Sie beneidet. Und nun diese Zweifel an Ihrer Arbeit? An allem, was Sie erreicht haben? Wie ist das geschehen?«

Eisenlohr stand auf, ging zum Schreibtisch und kam mit einem Brief zurück. »Lesen Sie selbst, Herr Professor«, sagte er und ließ sich wieder in seinen Sessel fallen.

Braun griff nach dem Schriftstück. Seine Stirn runzelte sich, als er den Briefkopf las: Professor James Hartford, Schenektady.

»Der Mann hat es nötig, uns in Unruhe zu stürzen!« sagte er wegwerfend. »Er sitzt im Nationallaboratorium, hat alle erdenklichen Mittel zur Verfügung! . . . Was hat er bis jetzt vor sich gebracht? Nichts, was sich Ihren Leistungen auch nur annähernd an die Seite stellen ließe.« Braun redete weiter und sagte noch einiges nicht Mißzuverstehendes über Mißgunst und Neid zwischen Wissenschaftlern, bis Eisenlohr ihn unterbrach:

»Lesen Sie den Brief, Herr Professor, dann werden Sie anders über die Sache denken.«

Braun machte sich über das Schreiben her. Schon während des Lesens begannen seine eigenen Gedanken zu arbeiten. Bald waren seine Mienen während der Lektüre zustimmend, bald wieder abweisend.

»Nicht übel!« begann er, als er mit dem Schriftstück fertig war. »Herr Hartford beabsichtigt, im Laboratorium die gleichen Vorgänge wiederherzustellen, die sich vor Millionen oder Milliarden von Jahren einmal auf unserer Erde abgespielt haben sollen. Hell glühende Metallkarbide der verschiedensten Art in einer Stickstoffatmosphäre . . . man merkt, daß er über alle Mittel des amerikanischen Staatslaboratoriums disponieren kann . . . dann allmähliche Abkühlung . . . dann Wasserdampf und flüssiges Wasser darauf . . . so soll nach seiner Ansicht der geeignete Stoff entstehen, den er mit der Strahlung . . . mit Ihrer Strahlung, Herr Eisenlohr . . . beleben will . . . Was sagen Sie dazu?«

»Ich halte die Idee für durchaus vernünftig, Herr Braun. In den nächsten Tagen will ich selber ähnliche Versuche machen.«

Professor Braun warf noch einmal einen Blick auf den Brief aus Schenektady.

»Hell glühende Karbide verschiedener Art . . . Stickstoffatmosphäre . . . Das erfordert bedeutende chemische und technische Hilfsmittel, Herr Eisenlohr. Daß Hartford sie hat, ist klar. Aber Sie? . . .«

»Ich habe sie auch, Herr Professor. Meine Karbidöfen haben die letzten drei Tage fast ununterbrochen gearbeitet. Während Sie mit Holthoff zusammen noch Färbungsstudien machten, konnte ich schon manches für die neuen Versuche vorbereiten. Wenn das Glück uns günstig ist, werden wir vielleicht noch früher als Mister Hartford Erfolg haben.«

»Das wäre zu wünschen, Herr Eisenlohr!« Braun wurde wieder lebhaft, während er weitersprach: »Es wäre höchst bedauerlich, wenn ein anderer . . . ein wissenschaftlicher Snob, sich auf Ihre Schultern stellte, das von Ihnen Begonnene ein Stückchen weiter förderte und unverdienten Ruhm einstriche.«

Geduldig hörte Eisenlohr die Auslassungen Brauns mit an. Immer klarer wurde es ihm dabei, daß es viel Diplomatie und Taktik kosten würde, die beiden Professoren nicht nur zusammenzubringen, sondern in gemeinsamer Arbeit auch zusammenzuhalten. Noch überlegte er, ob er Braun schon jetzt vorsichtig auf den bevorstehenden Besuch Hartfords vorbereiten solle, als eine elektrische Glocke an der Wand langsam zu klingen begann.

»Schlägt es schon Mitternacht?« unterbrach Braun seinen Redefluß. Eisenlohr stand auf und ging zu einem Meßinstrument, dessen Zeiger wild über der Skala hin und her pendelte. Auch der Professor wurde aufmerksam, denn die Glockenschläge nahmen kein Ende. Er fragte:

»Was ist das, Herr Eisenlohr?«

»Eine Störung in einer Außenleitung, Herr Professor. Ich muß hingehen und die Sache untersuchen. Wollen Sie mich begleiten?«

Braun warf einen Blick durch das Fenster. Am wolkenlosen Himmel stand der volle Mond, es war eine milde Nacht, kein Grund, einen kleinen Spaziergang zu scheuen.

»Wenn ich Ihnen dienlich sein kann, gern, Herr Eisenlohr.« –

Fünf Minuten später waren sie auf dem Burgweg. Eisenlohr hatte sich eine starkkerzige Handlampe eingesteckt, die jedoch einstweilen nicht benötigt wurde. In der Linken trug er eine Handtasche, die allerlei Geräte enthielt, in der anderen einen kräftigen Knotenstock. Ein zweites, ebenso knorriges Exemplar hatte er Braun vor dem Aufbruch in die Rechte gedrückt und auf dessen verwunderte Frage scherzend geantwortet:

»Es ist nur für den Fall, Herr Professor, daß uns jemand im Mondschein begegnen sollte.«

Aber innerlich war ihm dabei nicht sonderlich scherzhaft zumute, denn das Meßinstrument in seinem Zimmer hatte einen starken Kurzschluß in der Hochspannungsleitung zu dem Waldteich hin angezeigt.

Schon nach wenigen Schritten bog er von dem breiten Burgweg auf einen Fußpfad ab, der so schmal war, daß Braun hinter ihm gehen mußte. Der Pfad führte um die halbe Burg herum und dann auf der anderen Burgseite zu Tal. Trotz der hellen Nacht war schon dieser Weg nicht ganz einfach, und der Marsch wurde noch schwieriger, als Eisenlohr ihn nun verließ und sich querfeldein in die Büsche schlug. Hier war die Lampe nicht länger zu entbehren, und öfter als einmal mußte Professor Braun Gebüsch beiseitedrücken, um seine Brille vor einer Katastrophe zu bewahren.

Endlich machte Eisenlohr an einer starken Buche halt. Braun sah weiße, in den Stamm geschraubte Isolatoren und blanke Kupferdrähte, die bergauf zu anderen Isolatoren an der Burgmauer verliefen und talwärts im Walde verschwanden. Er wollte etwas über die Bestimmung dieser Anlage erfahren, aber Eisenlohr hatte keine Zeit, ihm Rede zu stehen. Schritt für Schritt stapfte er weiter talwärts, dabei den Lauf der beiden Drähte unaufhörlich mit dem Lichtkegel der Lampe anstrahlend. So ging es weiter über Moos, Stock und Stein immer der Leitung nach, von Stützbaum zu Stützbaum, und der Professor hatte dabei so sehr auf den Weg zu achten, daß ihm alles Fragen verging. Er hatte sich den Spaziergang etwas anders vorgestellt. Schon schimmerte kaum noch fünfzig Meter entfernt ein Wasserspiegel durch das Gebüsch, als Eisenlohr haltmachte. Er hatte die Ursache des Kurzschlusses entdeckt. Etwas Dunkles, Massiges klebte zwischen den beiden Drähten. In dem hellen Lichtkegel der Lampe sah es wie ein großer Vogel aus, soweit es noch erkennbar war, denn der hochgespannte Starkstrom hatte es zum Teil verbrannt und zerstört.

Eisenlohr setzte seine Tasche auf den Boden und holte stabartige Stücke eines Isolierstoffes heraus, die er zu einer langen Stange zusammenschob. Danach ein Schlag damit gegen das Dunkle zwischen den Drähten, und es fiel im Sturz schon zum Teil zerbröckelnd zu Boden.

»Was ist es?« fragte der Professor.

»Eine große Waldeule, Herr Braun. Wir haben mehrere Horste in unserem Wald. Schade um das arme Tier! Gegen dreitausend Volt ist kein Kraut gewachsen.« Er packte seine Geräte wieder in die Tasche und schickte sich an, der Leitung bergab zu folgen.

»Können wir jetzt nicht umkehren?« fragte Braun, der von dem Marsch durch die Wildnis reichlich genug hatte.

»Noch die paar Schritte bis zum Teich, Herr Professor«, vertröstete ihn Eisenlohr. »Von dort haben wir dann einen glatten Weg zur Burg zurück.« –

Und dann standen sie am Teichrand.

»Ein üppiges Schilf haben Sie hier«, sagte Braun. »Sehen Sie dort an der anderen Seite: Das sieht ja schon fast wie ein kleiner Bambushain aus. Alle Wetter, Herr Eisenlohr! So etwas habe ich hier in unserer Gegend noch nie gesehen.«

Eisenlohrs Antwort klang zerstreut. »Sehr fruchtbarer Boden hier, Herr Professor . . . günstige Südlage . . . windgeschützt.«

Während er die Worte zusammensuchte, schaute er selbst wie fasziniert nach jener Stelle hin, von der Braun gesprochen hatte. Bedeutend höher gewachsen und viel stärker in seinen Schäften entwickelt war das Schilf dort, als am übrigen Ufer.

Fieberhaft suchte er nach einer Erklärung dafür. Die Strahlung? . . . Der Gedanke lag nahe. Wenn die ultrafrequente Schwingung die Tierwelt des Teiches zu erhöhter Lebenstätigkeit anreizte, war es auch gut denkbar, daß sie ähnlich auf die Pflanzen wirkte. Aber dies wunderliche Schilf war ja der Strahlung nicht ausgesetzt. Mit gutem Vorbedacht hatte er die Röhre seinerzeit so aufgestellt und abgedeckt, daß sie nur die Wasserfläche anstrahlte. Kam die Wirkung von unten her? Hatte die im Wasser verstreute Strahlung die Wurzeln gerade dieser Schilfgruppe beeinflußt und zu solchem tropischen Wachstum angeregt? Möglich, aber nicht sehr wahrscheinlich.

Neue Fragen Brauns, denen schwer auszuweichen war, störten ihn in seiner Überlegung. Der Professor wollte wissen, zu welchem Zweck die Leitung hierher gezogen war und was von hier aus gespeist wurde. Wohl oder übel mußte Eisenlohr sich zu einer Erklärung aufraffen, obwohl er sich unschlüssig war, was und wieviel er ihm von dem wirklichen Tatbestand verraten sollte. Um Zeit zu gewinnen, holte er weit aus und begann von jenen neuen biologischen Theorien zu sprechen, die der aus dem Weltraum kommenden ultraharten kosmischen Strahlung einen weitgehenden Einfluß auf die Formung alles Lebens unserer Erde zuschrieben.

Er erzählte Braun damit nichts Neues. Schon nach wenigen Worten hatte der Professor den Kernpunkt der Sache erfaßt. Lächelnd unterbrach er:

»Aha! Ich begreife, Herr Eisenlohr: Sie wollten Ihre Theorien experimentell nachprüfen und haben sich den Teich hier als Versuchsfeld ausgewählt. Keine üble Idee! An dankbaren Objekten fehlt es hier nicht. Eine Wasserflora von größter Mannigfaltigkeit, von der einfachen Alge und der Entengrütze bis zum Schilf. Nicht minder reichhaltig die Fauna . . .«

Quak! Quak! Quak! klang es vom Teich laut und nachhallend in die wohlgesetzten Worte Brauns. Der Professor stutzte, schwieg einen Moment, horchte auf das Froschkonzert, das jetzt an mehreren Stellen anhob, sah Eisenlohr fragend an. Der war schon wieder ins Grübeln gekommen. War sich kaum bewußt, ob Worte Brauns oder Froschquaken an sein Ohr drangen. Die eine Frage: Warum gerade an dieser Stelle das üppige Wachstum? brannte in seinem Hirn. Laut und wiederholt mußte Braun ihn anrufen, bis er wie aus einem Traum erwachte.

»Der volle Mond scheint Ihnen nicht gut zu tun, Herr Eisenlohr«, sagte Braun besorgt.

»Nein, das ist es nicht.« Immer noch halb abwesend stieß Eisenlohr die Worte hervor. Er verwarf damit eine Möglichkeit, an die er eben gedacht hatte; Braun bezog es auf seine eigene Bemerkung über den Einfluß des Vollmondes. Er schlug Eisenlohr kräftig auf die Schulter, um ihn wieder ganz zu sich zu bringen, und fragte zum fünften Male:

»Froschquaken zu Anfang September, Herr Kollege? Das habe ich auch noch nicht gehört.«

»Strahlwirkung, Herr Braun«, antwortete Eisenlohr lakonisch.

»Ah so, Sie haben hier eine Strahlröhre in Betrieb? Das ist interessant! Das möchte ich auch sehen. Wo haben Sie den Apparat aufgestellt?« Während er es sagte, folgten seine Blicke der Leitung, die in das Schilf hineinführte. »Aha, dort!« Er ging in der Richtung der Leitung weiter, steckte bei den nächsten Schritten bis über die Knöchel im Morast und sprang mit einem Fluch zurück.

»Verdammt, Kollege! Hier gerät man in den Modder!« Ärgerlich schlenkerte er den Schlamm von seinen Stiefeln. Eisenlohr konnte ein Lachen nicht verhalten, als er den sonst immer so gesetzten und würdigen Professor auf dem Rasen umherhüpfen sah.

»So geht das nicht, Herr Braun«, meinte er, ging zu dem benachbarten Gebüsch und schleppte eine Bohle heran. »Wir müssen eine Brücke schlagen.« Vorsichtig streckte er das schwere Brett durch das Schilf vor, bis es mit dem anderen Ende einen Halt fand. Ging dann hinüber, von Braun gefolgt, der beim Anblick der hier auf einem Felsblock aufgebauten Anlage schnell seine nassen Füße vergaß.

»Ah! Ganz vorzüglich, Herr Eisenlohr! Sehr geschickt gemacht! Kein Mensch könnte Ihre Apparatur hier entdecken.« Der Professor erging sich noch weiter in Lobesworten über die Anlage. Eisenlohr blieb stumm. Unverwandt hing sein Blick an der Röhre. Sie stand anders, als er sie hingestellt hatte. Ein beträchtlicher Teil ihrer Strahlung konnte jetzt nicht mehr auf den Wasserspiegel fallen, sondern mußte das gegenüberliegende Schilf treffen, dessen tropisches Wachstum Braun vorhin aufgefallen war.

Die Frage, über die sich Eisenlohr vergeblich den Kopf zerbrochen hatte, fand damit eine überraschende Antwort. Die direkte Strahlung hatte dieses Wachstum verursacht. Doch eine zweite Frage tauchte gleichzeitig auf: Wer hatte sich hier unbefugt zu schaffen gemacht? Ein Fremder? . . . Irgendein Wanderer, der die Leitung zufällig entdeckte und ihr aus Neugier bis zum Ende nachgegangen war?

Ebenso schnell, wie ihm der Gedanke kam, verwarf ihn Eisenlohr wieder. Es wäre niemandem zu raten gewesen, den Felsblock zu betreten, solange die Röhre unter Höchstspannung stand. Er selbst, Eisenlohr, hatte ja wohlweislich den Strom von seinem Arbeitszimmer her ausgeschaltet, bevor er sich mit Braun auf den Weg machte. Stromlos mußte die Leitung auch gewesen sein, als diese Veränderung hier vorgenommen wurde. Nur in der Burg konnte man sie ausschalten . . . ein Verdacht stieg in Eisenlohr auf. Außer ihm wußte nur Bruck genau um die Anlage Bescheid. Sollte der . . .?

Braun packte ihn mit festem Griff am Arm und rief ihn laut an: »Herr Eisenlohr, was ist Ihnen? Kommen Sie zu sich!« Der Professor glaubte jetzt ernstlich, daß Eisenlohr unter dem Einfluß des Vollmondes zum Schlafwandeln neigte, und suchte ihn mit der Vorsicht, die auf dem engen Raum hier geboten war, aus seinem somnambulen Zustand zu reißen; in der Tat sah es fast so aus, als ob Eisenlohr aus einem Traum erwache.

»Wie meinten Sie, Herr Professor?« fragte er, immer noch mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt, raffte sich dann zusammen und brachte die Strahlröhre wieder in die alte Lage zurück, die sie ursprünglich gehabt hatte, wandte sich danach an Braun.

»Kommen Sie, Herr Professor, hier ist nichts mehr zu tun.« Über die Planke ging der Weg zurück auf festes Land. Eisenlohr trug das Brett wieder zu dem Gebüsch. Ungeduldig harrte Braun, daß er zurückkehren möchte. Doch er mußte geraume Zeit warten, denn Eisenlohr ließ die Lampe wieder aufflammen und begann, das Gebüsch abzuleuchten und zu untersuchen. An einer Stelle schien ihm das dichte Waldmoos verdächtig. Er griff zu, fand es gelockert, schob es beiseite und stutzte beim Anblick dessen, was er darunter fand: Eine kleine Apparatur von Spulen und Blenden, geschickt aus Reservebeständen des Laboratoriums zusammengestellt, zweifellos – er erkannte es auf den ersten Blick – dazu bestimmt, die Strahlung der Röhre so zu beeinflussen, daß sie für eine Metallumwandlung nutzbar gemacht werden konnte.

»Wo bleiben Sie, Kollege?« rief Braun ungeduldig vom Teich her. Er spürte jetzt wieder die Nässe an seinen Füßen und hatte Eile, zur Burg zurückzukommen.

»Einen Augenblick, Herr Professor.« Eisenlohr öffnete seine Handtasche, packte den Fund hinein und füllte die Stelle, wo er gelegen hatte, mit Erde aus. Sorgfältig breitete er das Moos wieder darüber. Noch einmal leuchtete er die Stelle ab. Keine Spur verriet von außen, daß das Nest hier ausgenommen war. Wer auch immer unbefugt experimentiert haben mochte, würde eine unangenehme Überraschung erleben, wenn er an den Ort zurückkam.

»Wo stecken Sie, Kollege?« rief Braun zum zweitenmal.

»Ich komme schon, Herr Professor.« Eisenlohr schaltete die Lampe aus und trat aus dem Gebüsch heraus. Braun sah ihn forschend von der Seite an. Immer noch kam ihm Eisenlohr verändert vor, ungewöhnlich nachdenklich und in sich gekehrt. Vergeblich mühte der Professor sich, eine Erklärung dafür zu finden; er wußte ja nichts von den Fragen und Sorgen, die seinen Begleiter in diesem Augenblick bewegten. –

Der Pfad, auf dem sie zurückkehrten, war wesentlich besser als der Hinweg längs der Leitung. Schnell kamen sie trotz der Steigung voran und standen bereits wieder unter der Burgmauer, als Braun den Schritt verhielt. Eine Stelle, auf der helles Mondlicht lag, fiel ihm auf. Mit einer ungewöhnlichen Üppigkeit wucherte hier allerlei Kraut und Unkraut. Blätter des gemeinen Wegerichs, sonst nur handtellergroß, waren hier zu doppeltem und dreifachem Umfang gediehen. Auch das Waldmoos zeigte ein überraschendes Wachstum.

»Haben Sie hier auch mit einer Strahlröhre gearbeitet?« fragte Braun, und wieder mußte er auf Antwort warten. Abwechselnd ging der Blick Eisenlohrs zwischen diesem Fleck und einem Fenster hin und her, das sich etwa fünf Meter höher in der Burgmauer befand. Ein Vorfall, an den er längst nicht mehr gedacht hatte, kam ihm wieder in die Erinnerung. Ein halbes Jahr mochte das jetzt etwa her sein. Bei den ersten Arbeiten mit einer neuen, stärkeren Röhre bildete sich damals auf den Bleiblenden immer wieder ein Belag von gelblichem Metallstaub, bis es ihm schließlich durch kräftigere Spulen gelang, die Strahlung schärfer zu konzentrieren. Eisenlohr hatte den Staub analysiert und als eine ziemlich stark strahlende instabile Goldisotope festgestellt. Kurzerhand hatte er ihn danach als einen unnützen Abfallstoff zu dem Fenster dort oben hinausgeschüttet, obwohl Bruck heftig dagegen protestierte. Deutlich erinnerte er sich jetzt wieder der Szene. Damals lag tiefer Schnee, und im Sonnenschein schimmerte es goldig auf der weißen Fläche. Fast genau die gleiche Stelle war es, an der sie jetzt standen. Mit dem schmelzenden Schnee mußte jener Metallstaub in den Boden versickert sein und dort noch geraume Zeit weiter gestrahlt haben . . . nur diese Strahlung konnte aber die Veränderung des Pflanzenwachstums hier verursacht haben. Je mehr er's überlegte, um so sicherer wurde er seiner Sache.

Die erneute Frage Brauns nötigte ihn, eine passende Antwort zu ersinnen. Er hielt es nicht für zweckmäßig, dem Professor den wirklichen Sachverhalt mitzuteilen.

»Ihre Vermutung ist zutreffend«, erwiderte er. »Bevor ich mit der Röhre an den Teich ging, hat sie kurze Zeit hier gearbeitet.«

»Sehr interessant, Herr Kollege«, murmelte Braun vor sich hin und bückte sich, um einige Blätter und Fruchtkolben des Wegerichs zu pflücken.

»Seit wann sind Sie unter die Botaniker gegangen?« fragte Eisenlohr.

»Seit heute, Kollege. Das hier kommt mir ins Herbarium, und von Ihrem Teich da unten werde ich mir auch noch einiges holen. Das sind denn doch so überzeugende Beweisstücke, daß ich sie mir nicht entgehen lassen möchte.« –

Mitternacht war vorüber, als sie den Burghof wieder betraten. Professor Braun beeilte sich, in sein Bett zu kommen, Eisenlohr fand noch keine Ruhe. Allzusehr beschäftigten ihn die Dinge, die er bei diesem Nachtspaziergang entdeckt hatte. Irgendein Bewohner der Burg – er hatte in erster Linie dafür Dr. Bruck in Verdacht – jagte dem Truggold weiter nach und störte dabei seine, Eisenlohrs, Arbeiten auf unangenehme Art. Aber war es denn wirklich nur Truggold . . . jener goldig schimmernde Staub, den er bisher achtlos beiseite geworfen hatte? Noch vor einer Stunde hätte er diese Frage unbedingt bejaht. Jetzt aber, nach der letzten Entdeckung unter dem Burgfenster, mußte er sein Urteil ändern. Der Staub strahlte . . . das war ihm seit geraumer Zeit bekannt. Aber er hatte sich bisher nicht die Mühe genommen, die Art und Frequenz der Strahlung näher zu untersuchen. Strahlende, das heißt instabile Elemente lagen nicht in der Richtung seiner Forschungen. Nur die Wirkung der Strahlung auf belebte und unbelebte Materie fesselte sein Interesse.

Aber jetzt sah das Problem ganz anders aus, und gewaltige Zukunftsmöglichkeiten eröffneten sich seinem Geiste, während er es noch einmal durchdachte. Mit einfachen Mitteln und geringen Kosten ließ sich dieser strahlende Staub in großen Mengen herstellen. Wie mußte er wirken, wenn man ihn etwa wie einen Kunstdünger über die Ackerfelder streute? Über den Schnee vielleicht, wie es hier einmal zufällig geschehen war? Wie konnte sich das vielleicht auf den Ertrag der Saaten auswirken? Die Ernte vervielfältigen . . .

Flüchtig hatte er früher wohl die Möglichkeit erwogen, ein Versuchsfeld anzulegen und es der Bestrahlung durch Röhren auszusetzen. Immer wieder war er zu dem Schluß gekommen, daß der zu erwartende Erfolg die aufgewandten Mittel kaum lohnen würde. Hier wies ihm eine zufällige Entdeckung einen anderen, vielleicht aussichtsvolleren Weg. Mit heißem Kopf griff er nach Bleistift und Papier und begann Rentabilitätsberechnungen aufzustellen. Seite um Seite bedeckten sich unter seiner Hand mit Zahlen. Immer klarer wurde es ihm dabei, daß dieser neue Weg auch wirtschaftlich gangbar sein müßte.

Am Osthorizont leuchtete bereits ein heller Streif, als auch er endlich zur Ruhe kam.

*


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