Hans Dominik
Klaus im Glück
Hans Dominik

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Die Schule des Lokomotivführers

Wieder war man im Juli. Drei Jahre waren vergangen, seitdem Klaus Kröning auf die Empfehlung des Baumeisters Jensen vom Feldmesser Wendt als Gehilfe angenommen wurde. Jetzt ging er ins achtzehnte Jahr, hatte inzwischen viel gesehen und viel gelernt. Wendt mochte seinen jungen Gehilfen nicht mehr missen. Der war ihm eine wirkliche Stütze geworden, und nahm ihm nicht nur im freien Felde, sondern auch im Büro einen merklichen Teil der Arbeit ab. Alle jene Nivellementsberechnungen, die er einst bei Wendt bewundert hatte, beherrschte er jetzt selber.

Klaus mußte dabeisein, wo immer Wendt zu trassieren und zu bauen hatte. Und das war bei Gott nicht wenig. In allen Teilen Deutschlands baute die Firma Voßberg & Co. in dieser Zeit Kleinbahnen. Von Thüringen aus war Klaus mit Wendt bis in die nordöstliche Ecke Deutschlands, an das Kurische Haff gekommen. Jetzt waren sie oben in Schleswig und bauten da eine Bahn durch das Geestland.

Für den heutigen Tag war die Arbeit vollendet. Feldmesser Wendt und Klaus saßen im schattigen Garten eines Dorfwirtshauses und warteten auf ihr Abendessen. Der alte Feldmesser holte eine Zigarre hervor und setzte sie mit behaglicher Behutsamkeit in Brand. Während sich die blauen Rauchwölkchen in der stillen, heißen Sommerluft kräuselten, blickte er auf Klaus.

»In einem Jahr ist deine Lehrzeit vorüber. Ich bin stolz auf dich, mein Junge. Auf dich, und fast möchte ich sagen, auch auf mich. Du hast allerhand bei mir gelernt. Kannst es ruhig riskieren, dich auch zur Feldmesserprüfung zu melden, wenn deine Lehrzeit um ist. Aber sage mal, hättest du nicht Lust, einmal auf der Lokomotive zu fahren?«

Die Augen Klaus Krönings glänzten.

»Wie gern möchte ich das, Herr Wendt. Aber wird es möglich sein?«

Der Feldmesser streifte die Asche von seiner Zigarre.

»Bis jetzt war die Möglichkeit kaum vorhanden. Aber hier könnte sie sich doch wohl bieten. Auf dem westlichen Teil unserer Strecke haben wir große Dammschüttungen, zu denen die Erdmassen mit Arbeitszügen herangeschafft werden. Da ließe sich's am Ende wohl machen.«

»Aber wie, Herr Wendt?«

»Sehr einfach, Klaus. Einer von den Lokomotivführern ist ein alter Freund von mir. Mit dem werden wir morgen einen Ton reden. Eventuell müssen wir uns Baumeister Jensen zu Hilfe holen. Dann geht's unter allen Umständen.«

»Wie gern möchte ich, Herr Wendt. Aber meine Arbeit bei Ihnen, wer soll die machen?«

Der Feldmesser lachte.

»Du natürlich! Überstunden, mein Junge, Überstunden! Wer lieben will, muß leiden, oder wenn du's klassisch haben willst: Vor den Kampfpreis haben die Götter den Schweiß gesetzt. Deine Arbeit bei mir darf darunter nicht leiden. Doch ich denke, es wird dir selber Freude machen, wenn du so in vier bis sechs Wochen imstande bist, eine Lokomotive mit einem langen Arbeitszug dahinter zu führen.« – – –

Als sie an diesem Abend auf ihre Zimmer gingen, rief Wendt seinen Gehilfen zu sich herein.

»Sieh mal hier, Klaus.« Er reichte ihm drei ziemlich starke Oktavbände. »Da mußt du jetzt deine Nase auch etwas reinstecken.«

Klaus schlug den ersten Band auf und las: Die Schule des Lokomotivführers. Er blätterte weiter und fand eine klare und übersichtliche Darstellung des ganzen rollenden Eisenbahnmaterials und der Lokomotive im besonderen.

»So, mein Junge, damit mußt du dich anfreunden.«

Wendt lag schon lange im festen Schlaf, als Klaus immer noch aufsaß und die »Schule des Lokomotivführers« studierte. Erst als es grau durch das Fenster zu schimmern begann, kroch er noch schnell auf ein paar Stunden ins Bett. – – –

Und dann kam Klaus zu Albert Müller auf die Lokomotive. Müller stammte aus Berlin und war ein Original im besten Sinne des Wortes. Ursprünglich Lokomotivführer bei der Staatsbahn, hatte er sich mit seinem Vorgesetzten überworfen und war dann zu Voßberg & Co. gegangen. Eine lächerliche Kleinigkeit gab den Grund zu diesem Entschluß. Eines Tages war ein als besonders scharf bekannter Betriebsinspektor in den Schuppen gekommen. So etwas kam öfter vor und wurde im allgemeinen mit einigem Fluchen und Brummen von seiten der Betroffenen erledigt. Aber Albert Müller versteifte sich auf das, was er sein gutes Recht nannte. Und es gab einen langen Disput zwischen dem Betriebsinspektor und ihm.

Ob er etwa bestreiten wolle, daß seine Maschine in einer scheußlichen Weise gequalmt hätte.

Das nicht. Aber es sei nicht seine Schuld, der Rauchfang des Schuppens habe heute bei dem Wetter keinen rechten Zug.

Dann hätte er doch den Bläser anstellen können, meinte der Betriebsinspektor. Der Bläser ist eine mit dem Kessel in Verbindung stehende und im Lokomotivschornstein endende Rohrleitung, durch die man Dampf aus dem Schornstein strömen lassen und dadurch einen künstlichen Zug erzeugen kann.

Müller hatte auf das Manometer gezeigt. Noch nicht eine Viertel Atmosphäre Dampfdruck im Kessel. Wie sich der Herr Betriebsinspektor das mit dem Bläser dächte.

Der Betriebsinspektor wurde grob. Es sei nicht seine Aufgabe, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. In den Dienstvorschriften wäre es klipp und klar zu lesen, daß die Lokomotiven den Schuppen nicht verqualmen dürften, und somit wäre die Strafe von zwei Mark voll berechtigt.

Da war aber Albert Müller noch viel gröber geworden und hatte allerlei von Leuten vom Grünen Tisch gesagt, die unerfüllbare Vorschriften fabrizierten. Das Ende dieses Dialogs bestand darin, daß der Lokomotivführer Müller seine Stellung bei der Staatsbahn aufgab. Damals hatte er sich an den Feldmesser gewendet, den er von früher her kannte. Voßberg & Co. hatten ihn gern genommen, denn es kam selten vor, daß Lokomotivführer, die schon eine längere Praxis im Staatsdienste hinter sich hatten, in die Dienste der Privatindustrie traten.

Freilich, es war etwas anderes, hier die Bauzüge zu fahren als die Schnellzüge von Berlin nach Leipzig. In ruhigen Stunden hätte sich Albert Müller eigentlich sagen müssen, daß er bei seinem Tausch vom Pferde auf den Esel gekommen sei. Aber das tat er nun ganz und gar nicht. Noch jetzt, sechs Jahre nach diesem Vorfall, war er stolz darauf, daß er damals die zwei Mark nicht bezahlt und sein Recht behalten habe.

Das war der neue Lehrmeister, zu dem Klaus auf Veranlassung von Wendt kam. Äußerlich präsentierte er sich mit einem wohlgepflegten weißen Kaiser-Franz-Joseph-Bart sehr würdevoll und bemühte sich, bei seinen Unterweisungen den Berliner Dialekt nach Möglichkeit zu unterdrücken. Daß ihm aber trotz aller Würde der Schalk im Nacken saß, mußte Klaus während der folgenden Wochen öfter als einmal bemerken.

Zur Besetzung einer Lokomotive gehören zwei, der Führer und der Heizer. Der Heizer war in diesem Falle ein langer Mecklenburger namens Gustav Loewitz, von Müller dienstlich und außerdienstlich nur kurzweg »Justav« gerufen. Die letzten Jahre war Klaus ausschließlich mit dem Feldmesser zusammen gewesen, der zu den höheren Beamten von Voßberg & Co. gehörte. Hier auf der Lokomotive bekam er es wieder mit einfachen Leuten aus dem Volke zu tun. Wendt hatte ihn am Abend dem Lokomotivführer übergeben und war allein ins Gasthaus zurückgegangen. Voller Erwartungen kletterte Klaus in den Führerstand, blickte auf das Gewirr von Hebeln, Ventilen und Hähnen und versuchte im stillen, noch einmal zu wiederholen, was er die Tage vorher in der »Schule des Lokomotivführers« gelesen.

»Na, wie ist's denn mit dem Einstand, junger Mann?« riß ihn die Stimme des Heizers aus seinem Nachdenken.

Klaus war gewappnet. Wendt hatte ihm gesagt, daß er den Abend für das Maschinenpersonal ein paar Glas Bier ausgeben müsse.

»Gewiß, Herr Loewitz, wenn es Ihnen recht ist, gehen wir nachher ins Gasthaus.«

»Nee, nee, junger Mann!« Der Heizer schüttelte energisch den Kopf, »da haben wir keine Zeit zu. Ich habe schon vorgesorgt, einen Kasten Bier angeschafft.«

Bei diesen Worten klappte der Heizer den Deckel einer Kiste auf, in der Klaus Werkzeug vermutete. Eine Flaschenbatterie wurde sichtbar.

»Auch gut, Herr Loewitz. Wieviel macht's?«

»Drei Mark.«

Der Heizer steckte vergnügt den Taler ein, den Klaus ihm reichte und zog drei Flaschen aus der Kiste.

Mit der Grandezza eines spanischen Hidalgo nahm Albert Müller eine davon in Empfang und öffnete den Verschluß.

»Na, denn Prost, Klaus! Ich nehme Sie als Lehrling an.

Ich habe Menschenkenntnis, Sie werden sich auf der Lokomotive bald wie zu Hause fühlen und mit ihr umzugehen wissen. Sie werden das Dampfroß schon meistern und zum Ziele bringen.«

Sie stießen mit den Flaschen zusammen, denn Gläser gab's auf der Lokomotive nicht.

»Na, nun erzählen Sie mal ein bißchen, was Sie von der Sache schon wissen. Herr Wendt sagte mir, daß er Ihnen die ›Schule des Lokomotivführers‹ gegeben hat.«

Klaus begann. Er sprach vom Lokomotivlangkessel, von der Feuerbuchse und den Rosten.

»Halt«, unterbrach ihn Müller, »darüber können Sie sich morgen früh um vier mit Loewitz unterhalten, wenn Sie Ihr erstes Feuer anzünden. Jetzt erzählen Sie mir mal, was Sie hier in dem Führerstand sehen?«

Klaus wollte anfangen, aber Müller unterbrach ihn sofort.

»Halt, mein Sohn, nicht so fix voran. Nach der Wichtigkeit sollen Sie mir die Dinge aufzählen. Wonach sieht ein Lokomotivführer zu allererst, wenn er in den Führerstand kommt?«

»Nach . . . nach . . .« Klaus stotterte.

Müller fiel ihm ins Wort.

»Mit beiden Augen zugleich nach dem Manometer und dem Wasserstandsglas.« Er deutete bei den Worten auf die beiden Instrumente. »An dem Manometer sieht er den Dampfdruck. Der Deubel soll den Heizer frikassieren, wenn der Zeiger auch nur einen Strich unter oder über zwölf Atmosphären steht. Und dann das Wasserstandsglas . . .« Er zeigte auf zwei etwa fünfzehn Zentimeter voneinander entfernte rote Striche an dem Glasrohr. »Zwischen den beiden Strichen muß der Wasserspiegel stehen. Ist er darüber, dann versäuft der Kessel, spuckt mit dem Dampf Wasser in die Zylinder, und es gibt allerhand Malheur. Steht er darunter, dann liegen feuerberührte Teile des Kessels ohne Wasserdecke, es droht die Gefahr einer Kesselexplosion.«

Klaus beugte sich näher zu dem Wasserstandsglas heran. Der Heizer zog ihn zurück. Denn in demselben Augenblick hatte Müller den oberen Wasserstandshahn gedreht und im Moment war der ganze Führerstand in dichten weißen Dampf gehüllt. Der Führer schlug den Hahn wieder zu. Der Dampf verzog sich. Doch sofort riß er den unteren Wasserstandshahn auf, ein Strahl heißen Wassers prasselte auf die eiserne Plattform. Jetzt schloß er ihn wieder.

»Das ist das zweite, Klaus, was der Führer tut, wenn er auf die Maschine kommt. Er überzeugt sich davon, daß die Zuführungshähne nicht verstopft sind, daß das Wasserstandsglas auch wirklich den richtigen Wasserstand des Kessels anzeigt.«

Klaus schaute ihn fragend an. Albert Müller zog sich eine zweite Flasche Bier zu Gemüte und fuhr in seinem Vortrag fort.

»Es sind nämlich schon manchmal Nachtwächter bei Tage gestorben, will sagen, es ist schon manchmal vorgekommen, daß die Zuführungen zum Wasserstandsglase verstopft waren. Der Führer glaubte immer noch genügend Wasser im Kessel zu haben, und als Gott den Schaden besah, war der Kessel halbleer und ausgeglüht.«

Klaus deutete auf zwei Messinghähne an der Kesselwand.

»Ich las, Herr Müller, daß man dafür die besonderen Probierhähne hat.«

Der Führer klopfte ihm auf die Schulter.

»Theorie, lieber Freund. Sie wissen doch, was Goethe sagt: Grau, lieber Freund, ist alle Theorie, und blau des Lebens roter Baum.«

Albert Müllers Zitate pflegten sich im allgemeinen mehr durch Originalität als durch Richtigkeit auszuzeichnen.

»Theorie«, fuhr er fort, »die Praxis sieht anders aus.«

Plötzlich hing eine Blechkanne unter dem einen Probierhahn, ohne daß Klaus recht wußte, wo sie hergekommen war. Seiner Handtasche entnahm der Führer ein weißes Paket und ließ ein Dutzend frischer Wiener Würstchen in die Kanne gleiten. Dann öffnete er den Hahn, das weit über den Siedepunkt erhitzte Kesselwasser ergoß sich über die Würstchen in der Kanne. Schon hatte Müller den Hahn wieder zugeschlagen und zog die Uhr aus der Westentasche.

»Und dann, Klaus, das können Sie sich bei dieser Gelegenheit auch gleich merken, ein Lokomotivführer muß immer eine unbedingt richtiggehende Uhr bei sich haben. Die kann ihm nicht mal der Gerichtsvollzieher wegnehmen, die gehört zu seiner offiziellen Dienstausrüstung. Erstens nämlich, damit er den Fahrplan genau innehalten kann, und zweitens . . . wissen Sie auch, warum zweitens?«

Klaus schüttelte den Kopf.

»Und zweitens, damit Würstchen nicht zu lange ziehen, Eier nicht zu hart werden . . . na, überhaupt alles, was so mit dem Probierhahn hier zusammenhängt.«

»Ja, der Probierhahn, der hat dat so in sich«, warf Loewitz auf mecklenburgisch dazwischen.

»Justav, sup, aber halt dat Mul!« rief ihm Müller zu. Mit einem kühnen Schwunge goß er das heiße Wasser von den Würstchen ab und dann – Klaus hatte sich früher schon öfter gewundert, warum die Lokomotivführer immer mit so großen, dicken Handtaschen zum Dienst kamen – dann entnahm er seiner Tasche eine Dose Mostrich und verschiedene Semmeln.

»So, nun wollen wir mal erst, Klaus! Irgendwo steht es geschrieben: Bayrisch Bier allein tut es nicht, es müssen auch Würstchen und Schrippen dabeisein.«

Klaus ließ sich nicht nötigen und griff herzhaft zu. Er mußte gestehen, daß diese à la Lokomotivführer zubereiteten Würstchen ganz vorzüglich waren, und fühlte sich danach aufs neue fähig, die weisen Lehren Albert Müllers in Empfang zu nehmen. Die ließen denn auch nicht lange auf sich warten. Eben wollte er das zusammengefaltete Wurstpapier zum Stand hinauswerfen, als Müller ihm in den Arm fiel.

»Halt, mein Sohn, nicht die Strecke verunreinigen. So was kommt unter den Kessel.«

Mit einem Schwung riß Loewitz die Feuertür auf, das Papier flammte im Moment auf und zerging zu Asche.

»Gustav, mach das Feuer rein!« befahl Müller.

Schon hatte der Heizer die Feuerkrücke ergriffen. Klaus sah, wie er damit das Feuer auseinanderschob und mit einer ihm unglaublich scheinenden Geschicklichkeit einen Teil der glühenden Masse herausholte und auf die eiserne Plattform vor dem Kessel fallenließ.

»Warum geschieht das?« fragte er.

»Weil's Schlacke ist, Klaus. Das werden Sie auch noch lernen, glühende Kohlen und glühende Schlacke zu unterscheiden.«

In der Tat, jetzt, als die herausgezogene Masse langsam dunkler wurde, erkannte auch Klaus, daß es keine Kohlen, sondern nur noch ausgebrannte Schlacken waren. Loewitz vertauschte die Feuerkrücke mit der Schaufel und warf die frischen Kohlen in weitem, geschicktem Schwung über die glühende Fläche hin, so daß sie gleichmäßig davon bedeckt wurde. Gleichzeitig griff Müller nach einem Hebel, Klaus hörte ein Zischen und sah weißen Dampf aus dem Lokomotivschlot herausfahren, der sich jetzt mit dem dunklen Qualm der frisch anbrennenden Kohlen zu einer grauen Masse vermengte. Müller hatte den Bläser in Tätigkeit gesetzt. Schon machte sich die Wirkung des neuen Brennstoffes bemerkbar, der Zeiger des Manometers begann zu klettern und näherte sich dem roten Strich, der bei vierzehn Atmosphären auf der Skala stand. Klaus deutete auf das Zifferblatt.

»Herr Müller, die Spannung steigt. Die Sicherheitsventile müssen gleich abblasen.«

Der Lokomotivführer Albert Müller zog ein Päckchen aus der Westentasche und biß ein Stück dicken, braunen Kautabaks ab. Dann zog er die Uhr.

»In fünf Minuten müssen wir den Bauzug holen. In fünf Minuten werden die Ventile blasen. Na, was tut man da, Klaus, um den überflüssigen Dampfdruck loszuwerden?«

Klaus dachte einen Augenblick nach.

»Man läßt die Bremspumpe gehen, Herr Müller, und pumpt Druckluft in den Bremskessel.«

Müller schüttelte den Kopf und wies auf das Druckluftmanometer der Bremseinrichtung.

»Nichts zu machen, Klaus! Da haben wir schon bis auf den roten Strich aufgepumpt. Eine andere Lösung dieses schwierigen Problems, wenn ich bitten darf.«

Klaus zögerte mit der Antwort. Müller kam ihm zuvor.

»In diesem Falle greift der Mann zur Waffe, will sagen, zum Injektorhebel.«

Auf einen Wink Müllers setzte Loewitz den Injektor in Tätigkeit, jene geistreiche Dampfstrahlpumpe, die allein mit Hilfe des hochgespannten Kesseldampfes ohne alle bewegten Maschinenteile das kalte Frischwasser aus dem Tender in den Kessel drückt. Klaus hörte das eigenartige schlürfende Pfeifen des Injektors, sah am Wasserstandsglas, wie der Wasserstand im Kessel langsam stieg und der Manometerzeiger etwas zurückging.

»Genug, Gustav!«

Loewitz stellte den Injektor ab, Müller sah wieder auf die Uhr.

»In einer Minute müssen wir losfahren, Klaus! Was tut der Führer, wenn er abfahren will?«

Klaus dachte an ein Dutzend verschiedener Antworten . . ., er betätigt die Dampfpfeife . . ., er öffnet den Dampfschieber . . ., er bewegt die Steuerungskurbel . . ., und noch mancherlei mehr wollte er sagen. Wieder kam ihm Müller zuvor.

»Er überzeugt sich, daß seine Bremse in Ordnung ist. Anfahren ist leicht, Stillhalten viel schwerer. Sie werden's noch selber merken, Klaus.«

Bei seinen Worten hatte er den Bremsgriff betätigt. Dröhnend schlugen die Bremsklötze gegen die Räder der Maschine.

»So«, fuhr er in seinen Erklärungen fort, während er den Bremshebel auf eine neue Stellung brachte, »und dann löst der Führer seine Bremse. Es sind bedauerliche Fälle aus der Geschichte des Eisenbahnwesens bekannt geworden, in denen ein Führer mit festgebremsten Rädern loszufahren versuchte, was entweder gar nicht ging oder sonstwie Malheur zur Folge hatte.«

»Ich werde mir's merken, Herr Müller. Aber jetzt können wir doch losfahren.«

Müller schob den Primtabak aus der einen in die andere Backentasche.

»Schnell fertig ist die Jugend mit dem Wort. Merken Sie sich auch das noch. Der Lokomotivführer steht immer mit dem einen Fuß im Grabe und mit dem anderen auf der Anklagebank. Wenn ich täte, was Sie, von jugendlichem Tatendrang geschwellt, von mir verlangen, würde der Herr Staatsanwalt in Flensburg den dringenden Wunsch nach einer längeren Unterredung mit mir äußern. Einladungen vom Staatsanwalt sind unangenehm. Wenn's irgend möglich ist, vermeide ich sie.«

Klaus folgte mit den Blicken dem ausgestreckten Arm des Führers und bekam einen roten Kopf. In der Tat, das Signal stand ja auf Halt. Wie hatte er das übersehen können? Müller schmunzelte vergnügt vor sich hin.

»Na, die alte Schlafmütze von einem Blockwärter werden wir schon munter kriegen. Bis ans Signal ran dürfen wir fahren. Was machen wir jetzt, Klaus?«

»Wir öffnen den Dampfschieber.«

Müller tat es.

»Und was jetzt, Klaus?«

»Jetzt stellen wir die Steuerung mit Hilfe der Steuerkurbel auf Vorwärtsgang.«

Der Führer schüttelte den Kopf.

»Falsch, mein Sohn! Wir stehen hier seit länger als einer Stunde still. Die Zylinder und Schieberkästen sind derweil kalt geworden. Lassen wir Dampf in die kalten Zylinder, dann schlägt er sich zum großen Teil in Form von Wasser nieder. Und dann . . . dann kommt der Kolben in dem Zylinder langmarschiert . . . treibt das Wasser vor sich her, und dann sagt sich der Zylinderdeckel: der Klügere gibt nach, und zerbricht mit einem mächtigen Krach in tausend Fetzen. Das wußte übrigens schon Großvater Stephenson, und er schuf deswegen die Zylinderhähne.«

Albert Müller unterbrach seinen Vortrag, um die trockene Kehle mit einer dritten Flasche Bier zu befeuchten. Dann fuhr er fort:

»Also, Klaus, wir heizen die Zylinder erst mal an.«

Bei diesen Worten bewegte er einen Hebel im Führerstand. Im gleichen Augenblick begann es vorn unten an der Maschine zu zischen, mächtige Dampfwolken stiegen auf und hüllten das ganze Vorderteil der Lokomotive in dichte Schleier.

»Hören Sie, Klaus, wie das da vorn spuckt, wie ein großer Teil des Frischdampfes als Kondenswasser aus den Zylinderhähnen wegsuppt.«

Klaus horchte und konnte die Richtigkeit dieser Bemerkung nicht bestreiten.

»So, jetzt wird's gehen.«

Müller ließ die Zylinderhähne immer noch offen und drehte die Steuerkurbel langsam auf Vorwärtsgang. Zischend trat der Kesselfrischdampf durch die Schieberkästen in die Zylinder. Langsam setzte die Maschine sich in Bewegung. Noch ein paar Sekunden, dann schloß Müller die Zylinderhähne und stellte auch den Bläser ab. Als er einen fragenden Blick von Klaus auffing, erklärte er weiter.

»Den Bläser brauchen wir beim Fahren nicht mehr. Bei jedem Kolbenspiel pufft der verbrauchte Dampf durch den Schornstein ins Freie und wirkt viel kräftiger ventilierend als der Bläser.«

Die Lokomotive hatte sich inzwischen dem immer noch geschlossenen Signal bis auf etwa hundert Meter genähert. Der Führer stellte die Steuerung wieder auf den Nullpunkt und schloß den Dampfschieber. Nur noch nach dem Gesetz der Trägheit rollte die Lokomotive weiter.

»So, Klaus, jetzt können Sie auch mal für Ihr Geld was tun. Ziehen Sie an dem Hebel da.«

Klaus tat es und fuhr im nächsten Augenblick zusammen. Kaum einen Meter von ihm entfernt brüllte die Dampfpfeife los.

»Na, bitte weiter, mein Sohn. Ordentlich! . . . Feste! Der Kerl schläft auf beiden Ohren.«

Klaus folgte der Weisung und vollführte ein gründliches Pfeifkonzert. Müller befand sich auf der rechten Seite des Führerstandes, die Hand am Bremshebel, den Blick unverwandt auf das Signal gerichtet. Nur noch wenige Meter waren sie davon ab. Schon wollte Müller den Bremshebel bewegen, als das Signal im letzten Moment hoch ging.

»O Karl, es hat gewirkt«, zitierte Müller frei nach Schiller und brachte Schieber und Steuerung wieder in die Fahrstellung. Unter der Wirkung des Dampfes begann die Lokomotive ihre Bewegung zu beschleunigen, schneller und schneller zu laufen. Schnurgerade dehnte sich die Strecke vor ihnen aus.

»Achtung! Warschau!« Während Loewitz die Feuertür aufriß und neue Kohlen gab, zog Müller Klaus zu sich heran und wies ihm den Geschwindigkeitszeiger, der allmählich über 50 und 60 bis auf 75 Kilometer Stundengeschwindigkeit kletterte. Jetzt war auch hier der rote Strich erreicht. Der Führer drehte die Steuerkurbel ein wenig zurück, verringerte dadurch das Dampfquantum, das die Zylinder bei jedem Kolbenhub aus dem Kessel bekamen.

»Schneller geht es nicht?« fragte Klaus,

Müller tauschte einen Blick mit Loewitz, sah noch einmal auf die Strecke. Das nächste Signal, noch in weiter Ferne, zeigte freie Fahrt. Er griff wieder zum Steuerhebel und gab den Zylindern stärkere Füllung. Sofort beschleunigte sich die Fahrt. Der Geschwindigkeitszeiger kletterte über die 80 und 90, kam jetzt dicht an 100.

Aber noch etwas anderes trat dabei ein. Bisher war die Maschine ruhig und stabil gelaufen. Jetzt fing sie an zu schwanken und zu stampfen, so daß sich Klaus an einer Stütze festhalten mußte. Etwa drei Minuten ließ der Führer die Maschine im 100-Kilometertempo laufen, dann schloß er die Steuerung und brachte sie wieder auf 75 Kilometer.

»So Klaus, den Gefallen habe ich Ihnen getan. Ich hoffe, daß Ihre Neugier jetzt ein für allemal befriedigt ist. Jede Maschine ist für eine Höchstgeschwindigkeit gebaut. Läßt man sie schneller laufen, dann fängt sie an zu stampfen, und schließlich springt sie aus den Schienen, was ja eigentlich nicht der Zweck der Übung ist. Also merken Sie sich noch eins der zehn Gebote des Lokomotivführers: Du sollst die roten Striche auf deinen Skalenscheiben achten, auf daß es dir wohl gehe und du lange lebest auf Erden.«

Der Heizer war inzwischen auf den Tender geklettert und begann mit einem Vorschlaghammer die groben Kohlenstücke zu zerkleinern. Jetzt kam er zurück, wollte neue Kohlen aufs Feuer werfen. Müller nickte ihm zu.

»Na, soll er mal?«

Der Heizer winkte ab.

»Nee, Albert! Wir kriegen in Flensburg einen schweren Zug. Wenn er mir das Feuer versaut . . .«

Müller reichte dem Heizer eine neue Flasche.

»Drei Schaufeln, Gustav . . . bloß drei Schaufeln.«

»Na denn meinetwegen . . .«

Klaus ergriff die schwere Kohlenschaufel. Er hatte genau beobachtet, wie Loewitz das machte. Wie der mit einem mächtigen Schwung mit der vollen Schaufel durch die enge Feuertür fuhr und dann die Kohlen durch eine kurze ruckartige Drehung des Schaufelstieles breitwürfig über die Glut verteilte. Genau so wollte er's machen und stieß mit der Schaufel vor . . .

Albert Müller brach als erster das Schweigen.

»Sehen Sie, Klaus, das ist es ja, was den Philosophen immer wieder so traurig stimmt, daß auf dieser schlechten Welt die Dicke des Daumens nur in den seltensten Fällen im richtigen Verhältnis zur lichten Weite des Nasenloches steht.«

Hier handelte es sich zwar nicht um Daumen und Nasenloch, sondern um Schaufel und Feuertür, aber sonst war die Sache die gleiche. Nur wenige Zentimeter war die Schaufel schmäler als die Feuertür. Man mußte sehr genau zielen, wenn man glatt durchkommen wollte. Mit mächtigem Schwung hatte Klaus die Schaufel vorgestoßen und den Türrahmen getroffen. Polternd ergoß sich die Kohle auf die eiserne Plattform vor dem Kessel. Loewitz warf einen wehmütigen Blick auf seine Schaufel. Albert Müller nahm einen tiefgründigen Schluck aus seiner Flasche.

»Beim ersten Streiche fällt keine Eiche. Noch mal, aber besser, Klaus.«

Klaus unternahm den Versuch zum zweiten Male. Diesmal kam er ohne Havarie durch die Feuertür, aber der Schwung war nur matt. Die meisten Kohlen fielen dicht am Anfang der Feuerung in die Glut, während sie Loewitz jedesmal zwei Meter weit in die Feuerkiste geworfen hatte.

Müller warf einen Blick auf die Strecke und überzeugte sich, daß das nächste Signa! auf freie Fahrt stand. Dann wandte er sich wieder interessiert der Feuertür zu. »Du mußt es dreimal sagen!« kam's wie ein Orakelspruch von seinen Lippen.

Klaus biß die Zähne zusammen und versuchte es zum dritten Male. Diesmal glückte es besser. In vollem Schwung fuhr die Schaufel durch die enge Tür und warf die Kohlen ziemlich weit in das Feuer. Tief aufatmend stand er da. Die körperliche Anstrengung, die strahlende Hitze aus der geöffneten Tür trieben ihm das Blut ins Gesicht. Albert Müller klopfte ihm anerkennend auf die Schulter.

»Na, Gustav, was habe ich gesagt. Was ein Häkchen werden will, wird in die Wand geschlagen.«

Der Heizer antwortete nicht. Er ergriff die Feuerkrücke, breitete die frischen Kohlen in der Glut aus und gab noch ein paar Schaufeln nach. Erst jetzt verstand Klaus die Geschicklichkeit, mit der das geschah, voll zu würdigen.

Die Lokomotive hatte derweil manchen Kilometer hinter sich gebracht, und in der Ferne tauchten die Bahnhofsanlagen von Flensburg auf. Müller mäßigte die Fahrt der Maschine bis auf 30 Kilometer, über Weichen und Herzstücke ging es in ein unübersehbares Gewirr von Geleisen und Signalen hinein. Jetzt sperrte ein Signal die Fahrt, und sie mußten eine kurze Weile halten. Dann ging es in noch langsamerer Fahrt wieder ein Stückchen weiter, und dann waren sie bei dem Arbeitszug, den sie holen sollten.

»Heiliger Maybach, steh uns bei«, stöhnte Müller, als er die Bescherung sah, »da haben die Brüder uns ja was Nettes aufgebaut. Wenigstens 180 Achsen sind das. Gustav, halt dich 'ran, daß wir ihn ohne Vorspann wegbringen. Unsere Reputation steht auf dem Spiel.«

Es war so, wie der Führer sagte. Ein unendlich langer Güterzug. Einige siebzig zwei- und dreiachsige Wagen zählte Klaus, während sie daran vorüberfuhren. Allerlei Material, Hausteine und Eisenkonstruktionen für die neue Strecke, die Voßberg & Co. in Nordschleswig bauten.

»Wohin fahren wir jetzt?« fragte Klaus.

Müller strich sich würdevoll den weißen Vollbart. »Die Welt ist rund und muß sich drehen. Auf die Drehscheibe fahren wir.«

Nach einigen Minuten hatten sie die neue große Drehscheibe vor einem der Lokomotivschuppen erreicht. Kurz davor hielt die Maschine.

»Es sind schon bessere Kerls in die Grube gefahren«, brummte Müller vor sich hin und ließ verschiedene Male die Dampfpfeife trillern. Es dauerte mehrere Minuten, bis ein paar Leute aus dem Schuppen kamen und die Drehscheibe mit Hilfe einiger Handwinden in Bewegung setzten. Der Lokomotivführer Albert Müller benutzte die Pause, um Klaus weiter gute Lehren zu geben.

»Da ist der alte Eisenbahndirektor Moser, der fragt bei der Lokomotivführerprüfung immer: Worauf hat der Führer besonders zu achten, wenn er in den Schuppen fährt? Er verlangt die Antwort: Der Führer soll sich orientieren, ob die Schuppentür auch geöffnet ist. Ich sage Ihnen, Klaus, der Mann hat vollkommen unrecht. Ich meine: Der Führer soll sich genau orientieren, ob die Drehscheibe auch richtig auf sein Geleis steht.«

»Ich denke, Herr Müller, man sollte beides tun.«

»Nein, mein Lieber. Wenn die Drehscheibe falsch steht, dann kippt der Führer mitsamt seiner Maschine in die Grube und macht außerdem noch die Drehscheibe kaputt. Wenn er gegen eine geschlossene Tür fährt, schmeißt er höchstens ein paar Türflügel entzwei. Das ist denn doch ein gewaltiger Unterschied. Eine Drehscheibe ist hundertmal teurer als eine Tür, und außerdem kostet es beträchtliche Gelder, die Maschine wieder aus der Grube herauszuholen. Und außerdem . . . na, was noch?«

Klaus wußte nicht zu antworten.

»Und außerdem? . . . Na, Menschenskind, überlegen Sie sich's mal. Sehen Sie sich doch mal den Schuppen da drüben an. Was wäre denn los, wenn wir hier mit unserer Maschine in der Scheibengrube lägen?«

»Ja, man müßte uns wieder herausheben, Herr Müller. Das würde wohl wenigstens 24 Stunden dauern.«

Der Führer unterbrach ihn. »Ja und während der 24 Stunden wären die ganzen Maschinen in dem Schuppen eingesperrt, dem Betriebe entzogen. Wenn die Drehscheibe bei dem Abenteuer beschädigt wird, kann die Geschichte sogar noch viel länger dauern. Sehen Sie mal rüber! Zählen Sie mal! 16 Maschinen stehen da in dem Schuppen. Was meinen Sie, was aus dem Flensburger Eisenbahnbetrieb wird, wenn die 16 Maschinen für mehrere Tage ausfallen. Das ist viel schlimmer als eine zerbrochene Schuppentür, und darum sage ich, der Eisenbahndirektor Moser hat unrecht.«

Klaus betrachtete die Schuppenanlage genauer und mußte zugeben, daß Müller recht hatte. Die Geleise aus dem halbkreisförmigen Schuppen liefen alle strahlenförmig auf die davor befindliche Drehscheibe zu. Nur über die Scheibe konnten die Maschinen aus dem Schuppen auf die Streckengeleise gelangen. Wurde die Scheibe lahmgelegt, war auch der ganze Schuppen blockiert.

Die Männer an den Winden hatten die Scheibe inzwischen richtig gedreht und festgestellt. Vorsichtig brachte Müller seine Maschine mit Tender auf die Scheibenplattform. Hier konnte Klaus beobachten, wie sicher der seine Lokomotive in der Hand hatte und auf den Zentimeter genau stillzusetzen verstand. Jetzt betätigte er die Bremse und ließ die Maschine mit festangezogenen Bremsklötzen stehen, während die Leute an den Winden wieder zu arbeiten begannen.

»Ich bewundere, Herr Müller, wie genau Sie Ihre Maschine stillsetzen können.«

Müller lachte.

»Das will gelernt sein. Mancher lernt's nie und selbst dann noch unvollkommen. Im Anfange, als ich noch junger Führer war, hatte ich oft einen scheußlichen Traum. Ich träumte immer, ich führe mit meiner Maschine über die Drehscheibe in den Schuppen. Auf der Scheibe passierte nie etwas. Aber im Schuppen konnte ich die Maschine partout nicht zum Stehen bringen, rannte langsam aber sicher die Schuppenwand ein. Schauderhaft war das, wenn ich an allen möglichen Hebeln herumfingerte, und die Maschine der Schuppenmauer trotz alledem Zoll um Zoll näher kam . . . Na, heute träume ich so was schon lange nicht mehr.«

Die Arbeiter hatten die Scheibe inzwischen um 180 Grad gedreht und wieder stillgesetzt. Müller löste die Bremse und fuhr langsam von der Scheibe herunter. Wieder ging's an dem langen Bauzug vorbei. Sie hielten. Eine Weiche hinter ihnen wurde umgelegt und rückwärts ging die Fahrt. Langsam . . . immer langsamer . . . jetzt ein Ruck, ein Klang. Die Puffer des Tenders berührten die vorderen Puffer des Bauzuges. Klaus hörte, wie die Kupplungen eingehakt und verspannt, die Luftdruckleitungen verbunden wurden. Der Mann, der das besorgt hatte, kletterte unter den Puffern hervor, rief: »Alles in Ordnung.«

»Das glaubt dir der Deubel!« knurrte Müller und schickte Loewitz den Zug entlang, während er ein paarmal die Bremsprobe machte.

»Warum das?« fragte Klaus.

»Darum, mein Sohn, weil es nicht das erstemal wäre, daß irgendwo mitten im Zuge ein Hahn der Bremsleitung geschlossen ist. Die Druckluftleitung jedes Wagens hat an jedem Wagenende einen Abstellhahn. Bevor man den einzelnen Wagen vom Zuge abkuppelt, muß man die Hähne schließen, sonst bremst sich der Wagen sofort automatisch fest.

Soweit ist's ganz schön, aber leider wird's manchmal vergessen, die Hähne wieder zu öffnen, nachdem die Wagen wieder angekuppelt sind.«

»Ich verstehe, Herr Müller. Dadurch sind dann die Bremsen aller Wagen hinter dem geschlossenen Hahn außer Tätigkeit.«

Müller nickte.

»Außerordentlich richtig, mein Freund. Und wenn ich dann hier in voller Fahrt bremse, schieben die ungebremsten Wagen mit roher Gewalt nach und werfen mir den ganzen Zug aus dem Geleise. Prost Mahlzeit, ich danke dafür.«

Loewitz kam zurück, meldete, daß alles in Ordnung wäre.

»Na denn, Helm ab zum Gebet!« sagte Müller, öffnete den Schieber und stellte die Steuerung langsam auf immer stärkere Füllung ein. Um eine Kleinigkeit bewegte sich die Maschine vorwärts. Dann stand sie wieder wie festgebannt. Und dann plötzlich in schnellster Folge pufften die Dampfschläge aus dem Schlot, während die Räder sich in rasendem Tempo auf der Stelle drehten. Im Augenblick hatte Müller den Dampfschieber zugerissen. Klaus sah, wie er die Steuerung jetzt auf rückwärts stellte und den Schieber wieder öffnete. Langsam ging die Maschine etwa anderthalb Meter zurück, bis Müller den Dampf absperrte und die Bremsen einschlug. Wieder legte er die Steuerung nach vorn, löste die Bremsen und gab im gleichen Moment Dampf durch die Schieber. Die Maschine setzte sich nach vorwärts in Bewegung, und jetzt begannen ihr die Wagen zu folgen. Unendlich langsam kam Klaus dies Anfahren vor. Ewigkeiten schienen ihm zwischen den einzelnen Dampfschlägen im Schlot zu liegen. Nur ganz allmählich wurde das Tempo schneller, und der lange Zug kam ins Rollen.

»Was war das vorhin?« fragte er. »Warum sind wir da erst rückwärts gefahren?«

»Weil . . . ja, da muß ich Ihnen erst wieder ein kleines Privatkolleg über die Eisenbahnkupplungen halten. Aber das Reden macht durstig . . .« Müller langte sich eine neue Flasche Bier aus dem Kasten.

»Sehen Sie mal, Klaus, Sie kennen doch die Kupplungshaken an den einzelnen Wagen. Die sind nicht starr mit dem Wagengestell verbunden, sondern durch Spiralfedern ganz ähnlich den Pufferfedern. Je nachdem, wie ein Zug gerade zum Stillstande kam, können sich diese Zughakenfedern in verschiedenem Zustande befinden. Sie können entweder zusammengedrückt oder in die Länge gezogen oder auch ohne jede Spannung sein. Das erstere ist für den Lokomotivführer das Angenehmste. Dann kann seine Maschine den ersten Wagen des Zuges etwas in Schwung bringen, während die Kuppelfedern zwischen dem ersten und zweiten Wagen sich ausdehnen und der zweite Wagen vorläufig noch stehenbleibt. So geht das dann von Wagen zu Wagen weiter, und der Zug kommt verhältnismäßig leicht ins Rollen. Auch wenn die Federn spannungslos sind, geht es noch, wenn auch schwerer. Aber wenn alle Federn in die Länge gezogen sind, dann wird's zapfenduster. Dann müßte die Lokomotive ja den ganzen Zug auf einmal in Bewegung setzen. Das kann sie aber natürlich nicht, und dann schleudern die Räder auf der Stelle, – die Lokomotive putzt sich die Schuhe ab.

Na, da bleibt denn eben nichts anderes übrig, als rückwärts zu fahren, den Zug ein Stückchen in sich zusammenzuschieben. Dabei werden alle Kuppelfedern und überdies noch die Pufferfedern zusammengedrückt, und das Anfahren geht verhältnismäßig glatt . . . Prost, Klaus! Herrgott, soviel wie heute habe ich in den letzten zehn Jahren nicht geredet . . .

Also so war's vorhin. Und jetzt wollen wir zum Himmel beten, daß wir überall offene Signale finden und nicht x-mal zu halten brauchen. Sonst können Sie das Manöver noch öfter genießen.«

Der Himmel neigte den Wünschen Müllers gnädig sein Ohr. Die Signale standen alle auf freie Fahrt, und im Dreißig-Kilometertempo brachte die Maschine keuchend und puffend den schweren Bauzug nach der bestimmten Station. Klaus bemerkte dabei, daß Müller die Steuerung jetzt nicht mehr wie bei der Hinfahrt auf ungefähr fünf Prozent Zylinderfüllung, sondern auf fast fünfzig Prozent stellte, und er sah ferner, wie Loewitz fast unaufhörlich beim Kohlenklopfen und Kohlenschaufeln blieb.

Müller reichte dem Heizer, der jetzt aus allen Poren schwitzte, zwei Flaschen Bier auf einmal aus dem bewußten Kasten.

»Ja, ja, mein liebes Kläuschen, das Leben des Lokomotivführers ist veränderlich. Mit einer leeren Maschine spazierenfahren, das kann Lehmanns Kutscher auch. Aber einen Zug mit hundertsechzig Achsen glücklich nach Hause bringen, das will gelernt sein.«

Er blickte auf das Wasserstandsglas und das Manometer.

»Dampf, Gustav! Mach ordentlich Dampf, Gustav. Wir müssen gleich wieder speisen.«

Klaus sah auf die Instrumente. Das Manometer hatte knapp elf Atmosphären, und der Wasserstand näherte sich bedenklich dem unteren Strich. Loewitz arbeitete wie ein Tiger. Er reinigte das Feuer mit der Krücke und schleuderte ganze Berge von Kohlen in die Glut. Unendlicher Qualm entstieg dem Schlot. Eine lange Rauchfahne zog der schwere Zug hinter sich her, aber das Manometer begann wieder zu steigen. Kilometer um Kilometer blieb hinter ihnen, und glücklich rollte der Bauzug um neun Uhr abends in die Zielstation ein. Hier kuppelten sie die Lokomotive ab und fuhren in den Schuppen. Klaus sprang von der Maschine.

»Es war wunderschön, Herr Müller. Darf ich morgen wiederkommen?«

»Dürfen, Klaus? . . . Im Gegenteil, sollen, müssen! Morgen früh um vier Uhr hier im Schuppen. Pünktlich, wenn ich bitten darf. Ich habe Herrn Wendt versprochen, Ihnen tüchtige Lokomotiven-Kenntnis und -Praxis beizubringen. Na, ich sehe, Sie sind ja mit Feuer und Flamme dabei. Da werden Sie wie ein Expreß vorwärtskommen. ›Rauch ist alles ird'sche Wesen‹, sagte schon der große Goethe. Glückliche Fahrt, junger Dampfentwicklungsrat!«

 


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