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In dem ein getreues Konterfei von zwei distinguierten Personen vorkommt sowie die genaue Beschreibung eines fashionablen Frühstücks, das zur Erneuerung einer alten Bekanntschaft führt.
Mr. Pickwick hatte bereits Gewissensbisse wegen der anhaltenden Vernachlässigung seiner Freunde im Gasthaus zum »Pfauen«, und am dritten Morgen nach Beendigung der Wahl war er gerade im Begriff, sie aufzusuchen, als ihm sein getreuer Diener eine Karte überreichte, auf der zu lesen stand:
Mrs. Leo Hunter Villa Hütte bei Eatanswill |
»Es wartet jemand«, meldete Sam lakonisch.
» Mich will jemand sprechen, Sam?« fragte Mr. Pickwick.
»Er will mit aller Gewalt Ihnen sprechen und sonst gar nichts, jibt's nich billiger, wie des Deubels Privatsekretär sagte, als er den Doktor Faust holte«, antwortete Mr. Weller.
»Er? Ist's denn ein Herr?« fragte Mr. Pickwick.
»Wenigstens 'n täuschend ähnliches Konterfei von 'nem solchen«, versetzte Mr. Weller.
»Aber die Karte ist doch von einer Dame!«
»Mir aber von 'nem Herrn gegeben. Er sitzt im Besuchszimmer und sagt, er möchte lieber den ganzen Tag warten, als wie Ihnen nich sehen.«
Mr. Pickwick begab sich unverzüglich ins Empfangszimmer und fand dort einen würdevoll aussehenden Herrn sitzen, der bei seinem Eintritt sogleich aufstand und mit einer Miene höchster Ehrerbietung fragte:
»Mr. Pickwick, wenn ich nicht irre?«
»Der bin ich.«
»Gestatten Sie mir die Ehre, mein Herr, Ihnen die Hand schütteln zu dürfen«, sagte der würdevoll aussehende Gentleman.
»Oh, bitte sehr.«
Der Fremde schüttelte die dargebotene Rechte und fuhr fort:
»Ihr Ruhm ist bis zu uns gedrungen, Sir. Das Aufsehen, das Ihre archäologischen Entdeckungen machten, ist bis zu den Ohren Mrs. Leo Hunters gedrungen – nämlich meiner Frau, Sir. Mein Name ist Leo Hunter.«
Der Fremde schwieg, als erwarte er, Mr. Pickwick werde ob dieser Enthüllung außer sich geraten; als er aber sah, daß dieser vollkommen ruhig blieb, fuhr er fort:
»Meine Gattin, Sir, Mrs. Leo Hunter, setzt ihren Stolz darein, alles, was einen Namen hat, zu ihrem Bekanntenkreis zählen zu dürfen. Erlauben Sie mir, Sir, die Namen Mr. Pickwicks und der Mitglieder des nach ihm benannten Klubs an die Spitze der Liste zu setzen.«
»Ich werde mich außerordentlich glücklich schätzen, die Bekanntschaft einer solchen Dame zu machen, Sir«, versetzte Mr. Pickwick.
»Zuviel der Ehre, Sir«, sagte der würdevoll aussehende Gentleman. »Wir geben morgen früh einer großen Anzahl von Zeitgenossen, die sich durch Geist und Genie ausgezeichnet haben, eine fête champêtre. Darf Mrs. Leo Hunter also auf den Besuch der Herren in Villa Hütte rechnen?«
»Mit dem größten Vergnügen.«
»Mrs. Leo Hunter gibt von Zeit zu Zeit solche Feste, mein Herr. Geistesorgien und Seelenschmäuse, wie sich jemand kürzlich in einem Sonett auf Mrs. Leo Hunters Frühstücke mit ebensoviel Feingefühl wie Originalität ausdrückte.«
»Vermutlich auch ein Herr, der sich öffentlich auszeichnete?«
»So ist es, Sir«, versetzte der würdevoll aussehende Gentleman. »Das gilt von sämtlichen Bekannten Mrs. Leo Hunters. Es ist ihr höchster Ehrgeiz, nur mit solchen Leuten zu verkehren.«
»Eine edle Sinnesart, in der Tat«, bemerkte Mr. Pickwick.
»Mrs. Leo Hunter wird stolz und entzückt sein, wenn ich ihr das ausrichte. Wenn ich nicht irre, hat doch einer der Herren in Ihrem Gefolge einige sehr hübsche Gedichte verfaßt. Nicht wahr?«
»Mein Freund Snodgraß hat viel Sinn für Poesie«, bestätigte Mr. Pickwick.
»Mrs. Leo Hunter ebenfalls, Sir. Dichtkunst geht ihr über alles. Sie hat ihr einen Altar errichtet; ihre ganze Seele ist ihr, sozusagen, vermählt. Sie hat selbst einige herrliche Strophen gedichtet, Sir. Vielleicht haben Sie schon von ihrer Ode an einen sterbenden Frosch gehört?«
»Ich wüßte nicht«, erwiderte Mr. Pickwick.
»Das setzt, mich wahrhaft in Erstaunen, Sir«, sagte Mr. Leo Hunter. »Sie hat ungeheures Aufsehen gemacht. Sie war mit einem L und acht Sternchen unterzeichnet und erschien ursprünglich in einer Frauenzeitung. Sie beginnt:
Seh ich keuchend dich vor Schrecken
Alle viere von dir strecken,
Um hier elend zu verrecken,
Dann packt für dich Armen
Mich tiefes Erbarmen,
O Frosch, o Frosch.«
»Wunderhübsch«, bemerkte Mr. Pickwick.
»Schön«, sagte Mr. Leo Hunter. »Und so einfach.«
»Außerordentlich«, bekräftigte Mr. Pickwick.
»Die nächste Strophe ist noch ergreifender; wollen Sie sie hören?«
»Ich bitte darum«, versetzte Mr. Pickwick.
»Sie lautet:
Sprich, ob nicht zu schlimmer Stunde
Rohe Buben mit dem Hunde
Aus des Sumpfes kühlem Grunde
Dich jagten zum Lichte,
Dich plagten zunichte,
O Frosch, o Frosch.«
»Schön gesagt«, lobte Mr. Pickwick.
»Jede Zeile reimt sich, Sir, jede Zeile. Aber Sie sollten die Verse erst aus dem Munde Mrs. Leo Hunters selbst hören! Sie kann ihnen erst die richtige Weihe geben, mein Herr. Sie wird sie morgen früh im Kostüm deklamieren.«
»Im Kostüm?«
»Als Minerva. Ja, richtig, ich vergaß. Man erscheint in Kostüm und Maske.«
»Gott«, rief Mr. Pickwick mit einem Blick auf sein Embonpoint, »ich kann unmöglich.«
»Unmöglich? Nicht doch, mein Herr!« sagte Mr. Leo Hunter. »Der Jude Salomon Lucas in Highstreet hat Tausende von Kostümen auf Lager. Bedenken Sie, wie viele geeignete Masken Ihnen zur Verfügung stehen! Plato, Zeno, Epikur, Pythagoras – lauter Gründer von Klubs!«
»Allerdings«, gab Mr. Pickwick zu, »aber da ich mich mit diesen großen Männern nicht vergleichen kann, darf ich mir auch nicht herausnehmen, in ihrer Tracht zu erscheinen.«
Der würdevolle Gentleman versank in tiefes Nachdenken und sagte dann:
»Wenn ich es mir recht überlege, mein Herr, glaube ich, es würde Mrs. Leo Hunter vielleicht eine noch größere Freude machen, ihren Gästen einen Mann von Ihrer Berühmtheit lieber in seinem eigenen Kostüm als in Ausstaffierung vorstellen zu dürfen. Ich erlaube mir, in Ihrem Falle eine Ausnahme vorzuschlagen, Sir. Und was Mrs. Leo Hunter betrifft, bin ich meiner Sache so gut wie gewiß.«
»Ja, dann«, erwiderte Mr. Pickwick, »werde ich mit größtem Vergnügen erscheinen können.«
»Aber ich beraube Sie Ihrer kostbaren Zeit, mein Herr«, sagte der feierliche Gentleman und stand plötzlich auf. »Ich will Sie nicht länger aufhalten. Ich werde also Mrs. Leo Hunter ausrichten, daß sie Sie und Ihre wertgeschätzten Freunde zuversichtlich erwarten darf. Guten Morgen, Sir; ich rechne es mir zur besonderen Ehre an, einen so hervorragenden Mann kennengelernt zu haben; bitte, sich nicht zu inkommodieren, mein Herr; nein, nein, unter keinen Umständen!« Und ohne Mr. Pickwick Zeit zu Einwendungen zu lassen, schritt Mr. Leo Hunter würdevoll hinaus.
Mr. Pickwick setzte seinen Hut auf und begab sich unverzüglich in den »Pfau«; aber Mr. Winkle hatte bereits die Kunde von dem bevorstehenden Kostümfest dorthin gebracht.
»Mrs. Pott kommt auch«, waren die ersten Worte, mit denen er seinen Lehrer begrüßte.
»So?«
»Ja. Als Apoll. Pott hat nur noch etwas gegen die Tunika einzuwenden.«
»Mit Recht. Ganz mit Recht«, sagte Mr. Pickwick mit Nachdruck.
»Ja. Sie wird deshalb in einem weißen Atlaskleid mit Goldflitter erscheinen.«
»Wird man aber dann auch wissen, was sie vorstellt?« fragte Mr. Snodgraß.
»Selbstverständlich«, entgegnete Mr. Winkle unwillig. »Wozu hat sie denn die Leier!?«
»Richtig, das habe ich nicht bedacht«, gab Mr. Snodgraß zu.
»Und ich gehe als Bandit«, erklärte Mr. Tupman.
»Als was?« rief Mr. Pickwick und fuhr empört zurück.
»Als Bandit«, wiederholte Mr. Tupman schüchtern.
»Sie wollen damit doch nicht sagen«, versetzte Mr. Pickwick mit einem strengen Blick, »Sie wollen damit doch nicht sagen, Mr. Tupman, daß Sie im Sinn haben, in einer grünen Samtjacke mit kurzen Schößen zu erscheinen?«
»Allerdings, Sir«, erwiderte Mr. Tupman empfindlich. »Warum denn nicht, Sir?«
»Aus dem einfachen Grunde, Sir«, antwortete Mr. Pickwick gereizt, »weil Sie zu alt dazu sind, Sir.«
»Zu alt!?« rief Mr. Tupman.
»Und außerdem«, fuhr Mr. Pickwick fort, »sind Sie zu fett, Sir.«
»Sir!« rief Mr. Tupman mit glühendrotem Gesicht. »Das ist eine Beleidigung.«
»Sir!« versetzte Mr. Pickwick in demselben Ton. »Ich beleidige Sie dadurch nicht halb sosehr, wie Sie mich beleidigen würden, wenn Sie in meiner Gegenwart in einer grünen Jacke mit kurzen Schößen erschienen.«
»Sir, Sie sind ein – Subjekt!« sagte Mr. Tupman.
»Sir, das sind Sie!« entgegnete Mr. Pickwick.
Mr. Tupman trat einen Schritt vor und fixierte Mr. Pickwick. Mr. Pickwick erwiderte den Blick zornbebend durch seine Brillengläser. Sein ganzes Wesen atmete Kühnheit und Trotz. Mr. Snodgraß und Mr. Winkle waren förmlich versteinert bei einem Auftritt wie diesem, zwischen zwei solchen Männern.
»Sir«, begann Mr. Tupman nach einer kurzen Pause mit dumpfer Stimme. »Sie haben mich alt genannt.«
»Jawohl«, erwiderte Mr. Pickwick.
»Und fett.«
»Ich wiederhole es.«
»Und ein – Subjekt.«
»Das sind Sie auch!«
Es trat eine beängstigende Pause ein.
»Meine Anhänglichkeit an Ihre Person, Sir«, sagte Mr. Tupman mit einer Stimme, die von innerer Bewegung zitterte, und krempelte sich die Ärmel auf, »ist groß, sehr groß, aber ich muß augenblicklich Genugtuung haben.«
»Nur heran, Sir, nur heran!« rief Mr. Pickwick.
Und im höchsten Grade durch den Wortwechsel gereizt, warf sich der heroische Gelehrte in eine paralytisch aussehende Positur, in der seine beiden Gefährten ohne Mühe eine Defensivstellung erkannten.
»Wie?« rief Mr. Snodgraß aus, plötzlich die Sprache wiederfindend, deren er bis dahin vor grenzenlosem Erstaunen beraubt gewesen war, und trat, auf die Gefahr hin, von beiden Parteien eins an die Schläfen zu bekommen, zwischen die Streitenden. »Wie? Mr. Pickwick, auf den die Augen der ganzen Welt gerichtet sind?! Und Sie, Mr. Tupman, auf den, wie auf uns alle, der Widerschein eines unsterblichen Namens fällt!? Schämen Sie sich, meine Herren. Schämen Sie sich!«
Die ungewohnten Furchen augenblicklicher, leidenschaftlicher Erregung auf Mr. Pickwicks klarer und offener Stirn verschwanden allmählich während dieser Anrede seines jungen Freundes wie Bleistiftlinien unter dem tilgenden Einflusse eines Radiergummis. Noch ehe Mr. Snodgraß geendet, hatte das Gesicht des Trefflichen wieder den gewohnten wohlwollenden Ausdruck angenommen.
»Ich bin zu hitzig gewesen«, sagte er. »Allzu hitzig. Mr. Tupman, Ihre Hand!«
Die finstere Wolke wich auch aus Mr. Tupmans Antlitz, und mit Wärme ergriff er die Hand seines Freundes.
»Auch ich habe mich hinreißen lassen.«
»Nein, nein«, unterbrach ihn Mr. Pickwick, »die Schuld lag an mir. Sie wollen also die grüne Jacke tragen?«
»O nein, nein«, beteuerte Mr. Tupman.
»Wenn Sie mir einen Gefallen erweisen wollen, so tun Sie es.«
»Also gut, dann natürlich«, antwortete Mr. Tupman.
Und so wurde denn beschlossen, daß Mr. Tupman, Mr. Winkle und Mr. Snodgraß sämtlich im Kostüm erscheinen sollten.
Der Festmorgen kam. Es war ein überwältigender Anblick, Mr. Tupman im Banditenkostüm prangen zu sehen, mit eng anschließender Jacke, wie ein Nadelkissen, die Schenkel in kurze Samthosen gepfropft und die Waden mit Bändern umwickelt, worauf alle Banditen bekanntlich großen Wert legen. Kühn blickte sein offenes, geistreiches Gesicht mit stattlichem Schnurrbart und Backenbart, einem Kunsterzeugnis der Korkmalerei, aus dem offenen Hemdkragen hervor. Seine zuckerhutförmige, mit vielfarbigen Bändern gezierte Kopfbedeckung mußte er auf den Knien halten, weil der Wagen nicht hoch genug war. Nicht minder prächtig nahm sich Mr. Snodgraß in blauem Atlaswams und spanischem Mantel, weißen seidenen Strümpfen, roten Schuhen und griechischem Helm aus, einem Kostüm, das erwiesenermaßen von alters her die Tracht der Troubadoure bildet. Alles das, an und für sich schon entzückend, war aber noch nichts gegen das Jubelgeschrei der Menge, als der Wagen vorfuhr und eine Halbkutsche den großen Pott als russischen Justizbeamten mit einer schrecklichen Knute in der Hand aufnahm, ein fein gewähltes Sinnbild der gewaltigen Macht der »Eatanswill-Gazette« und der furchtbaren Art und Weise, mit der der Publizist öffentliche Beleidigungen geißelte.
»Bravo!« riefen die Herren Tupman und Snodgraß aus dem Wagen, als sie diese wandelnde Allegorie erblickten.
»Bravo!« hörte man Mr. Pickwick rufen.
»Hurra, hoch, Pott!« schrie die Menge.
Umtost von solchen Begrüßungen, bestieg Mr. Pott mit einem sanften, würdevollen Lächeln die Halbkutsche, was zur Genüge bewies, wie sehr er sich seiner Macht bewußt war.
Sodann trat Mrs. Pott aus dem Hause. Sie hätte dem Gotte Apoll zum Verwechseln ähnlich gesehen, wenn nur der Damenrock nicht gewesen wäre.
Mr. Winkle, in seiner hellroten Jacke ein Mittelding zwischen Fuchsjäger und königlichem Briefträger, bot ihr den Arm. Als letzter erschien Mr. Pickwick, umjubelt von der Straßenjugend, die in seinen Strümpfen und Gamaschen offenbar Hinweise auf die alten, ehrwürdigen Zeiten sah. Mr. Weller, zur Mithilfe beim Servieren auserkoren, stieg auf den Bock des Wagens, der seinen Gebieter barg, und beide Vehikel bewegten sich Mrs. Leo Hunters Park zu.
Männer, Frauen, Knaben und Mädchen, die sich versammelt hatten, die Gäste in ihren Maskenkostümen zu bewundern, jauchzten vor Freude und Entzücken, als Mr. Pickwick, in den Banditen und den Troubadour eingehängt, feierlich dem Eingange zuschritt, und der Jubel erreichte seinen Höhepunkt, als Mr. Tupman unter mannigfachen Anstrengungen sich in der Nähe des Parktores bemühte, den Zuckerhut auf seinem Kopf zu befestigen.
Alle Festanordnungen waren aufs glänzendste gelöst, und die prophetischen Worte Potts über die Pracht des Feenreiches gingen buchstäblich in Erfüllung. Der Park, über fünf viertel Morgen groß, wimmelte von Gästen! Noch nie strahlten wohl Schönheit, Eleganz und Literatur in solchem Glanze. Die junge Dame, die die Poesie in der »Eatanswill-Gazette« vertrat, lustwandelte, als Sultanin auf den Arm des jungen Herrn gestützt, der dem Departement der Kritik vorstand und – von den Stiefeln vielleicht abgesehen – sehr passend in die Uniform eines Feldmarschalls gekleidet war. Eine zahllose Menge Genies hatte sich eingefunden, mit denen zusammenzutreffen sich jeder vernünftige Mensch zur Ehre anrechnen mußte. Und noch nicht genug daran, waren ein halbes Dutzend »Löwen« aus London zugegen, Autoren, wirkliche Autoren, die komplette Bücher geschrieben und sie nachher dem Druck überliefert hatten. Sie gingen herum wie gewöhnliche Menschen, lächelnd und unaufhörlich plaudernd, noch dazu eine ziemliche Portion Unsinn, vermutlich in der wohlwollenden Absicht, sich dem Publikum verständlicher zu machen. Selbstverständlich war auch eine Musikbande mit Papiermützen da und ein Quartett von Sängern aus irgendeinem Lande Dingsbums, in der Tracht ihres Landes, und ein Dutzend gemietete Aufwärter, gleichfalls in dem Kostüm ihrer Gegend, das freilich etwas schmutzig war – Mrs. Leo Hunter als Minerva, die die Gäste empfing und vor Stolz, so hervorragende Leute um sich versammelt zu sehen, überfloß, nicht zu vergessen …
»Mr. Pickwick, Ma'am«, meldete ein Diener, als sich der Meister, mit dem Hute in der Hand und in den Banditen und den Troubadour eingehängt, der Göttin des Tages näherte.
»Wie, wo?« rief Mrs. Leo Hunter in theatralischer Verzückung.
»Hier«, sagte Mr. Pickwick.
»Ist's möglich, daß ich wirklich das Glück habe, Mr. Pickwick in eigner Person vor mir zu sehen?«
»Keinen andern, Ma'am«, erwiderte Mr. Pickwick mit einer sehr tiefen Verbeugung. »Erlauben Sie, daß ich meine Freunde – Mr. Tupman – Mr. Winkle – und Mr. Snodgraß – der Verfasserin des ›Sterbenden Frosches‹ vorstelle.«
Wohl nur Leute, die den Versuch selbst gemacht haben, wissen, wie schwer es ist, in enganliegenden grünen Samtbeinkleidern, einer zu knappen Jacke mit einem Zuckerhut auf dem Kopfe, oder in blauen Atlaseskarpins, weißen Seidenstrümpfen oder Kniehosen und Stulpenstiefeln, die ohne die entfernteste Rücksicht auf die Dimensionen der Körper angefertigt wurden, Verbeugungen zu machen. Noch nie sah man wohl solche Verdrehungen, wie sie Mr. Tupman machte, um Gelenkigkeit und Grazie an den Tag zu legen, und noch nie so sinnreiche Stellungen, wie sie seine Freunde in ihren Maskenkostümen annahmen.
»Mr. Pickwick«, flötete Mrs. Leo Hunter, »ich nehme Ihnen das Versprechen ab, daß Sie den ganzen Tag nicht von meiner Seite weichen. Es sind Hunderte von Gästen hier, denen ich Sie unbedingt vorstellen muß.«
»Sie sind sehr gütig, Ma'am«, erwiderte Mr. Pickwick.
»Zuvörderst sehen Sie hier meine kleinen Töchterchen; ich hätte sie beinahe vergessen«, sagte die Minerva, nachlässig auf ein Paar erwachsene Damen von zwanzig oder zweiundzwanzig Jahren deutend, die beide als Babys gekleidet waren.
»Wunderschöne junge Damen«, bemerkte Mr. Pickwick, als sich die Mädchen nach der Zeremonie wieder entfernten.
»Ganz wie ihre Mama, Sir«, warf Mr. Pott in majestätischem Tone hin.
»Oh, Sie Schlimmer!« rief Mrs. Leo Hunter und schlug dem Herausgeber scherzhaft mit ihrem Fächer auf die Schulter.
»Aber ich bitte sehr, meine teuerste Mrs. Hunter«, verteidigte sich Mr. Pott, der in der Villa den Herold zu spielen pflegte, »hat denn nicht vergangnes Jahr, als Ihr Porträt in der königlichen Akademie ausgestellt war, alle Welt gefragt, ob es Sie oder Ihre jüngste Tochter vorstelle?«
»Nun gut, und wenn es auch der Fall war, brauchen Sie es denn hier vor Fremden zu verraten?« flötete Mrs. Leo Hunter und bedachte den schlummernden Löwen der »Eatanswill-Gazette« mit einem zweiten Fächerschlag.
»Graf, Graf«, rief sie im selben Atem einem stark bebarteten Individuum in fremdländischer Uniform zu, das eben vorüberging.
»Ah! Sie wünschen mirr zu sprech?« sagte der Graf und trat näher.
»Ich möchte zwei sehr geistvolle Herren miteinander bekannt machen«, erwiderte Mrs. Leo Hunter. »Mr. Pickwick, ich mache mir ein großes Vergnügen daraus, Sie dem Grafen Smorltork vorzustellen.« – Schnell flüsterte sie Mr. Pickwick die Worte zu: »Berühmter Fremder, sammelt Material für sein großes Werk über England. Hem! Graf Smorltork – Mr. Pickwick.«
Mr. Pickwick verneigte sich mit der gebührenden Hochachtung. Der Graf zog sein Notizbuch heraus.
»Wie sagen Sie, Mrs. Hunt?« fragte er mit graziösem Lächeln. »Pig wig oder Big wig? Ah, versteh. Wig ist Perücke in englisch. Große Perücke! Richter. Ah! Ich seh, das ist's, Big wig.«
Der Graf wollte eben Mr. Pickwick als Rechtsgelehrten in sein Notizbuch eintragen, als ihn Mrs. Leo Hunter mit der Erklärung unterbrach:
»Ah, ah, ich versteh. Pieg Taufname, Wix Familienname. Schön, serr schön. Pieg Wix. Wie befind Sie sich, Mr. Wix?«
»Sehr gut, ich danke Ihnen«, antwortete Mr. Pickwick mit seiner ganzen Leutseligkeit. »Sind Sie schon lange in England?«
»Lange – serr lange Zeit – vierzehn Tage – merr noch.«
»Werden Sie lange bleiben?«
»Ein Woch.«
»Da werden Sie genug zu tun haben«, meinte Mr. Pickwick lächelnd, »in dieser Zeit alles nötige Material zu sammeln.«
»Ist schon gesammelt«, erwiderte der Graf.
»Wirklich?«
»Hier ist«, erläuterte der Graf und deutete sich mit der Hand auf die Stirn. »Großer Buch su Hause – voll Notiz – Musik, Malerei, Wissenschaft, Politik. Alles.«
»Das Wörtchen Politik, Sir«, bemerkte Mr. Pickwick, »bedeutet allein schon ein schwieriges Studium von unberechenbarem Umfang.«
»Ah«, sagte der Graf und zog sein Notizbuch wieder hervor, »serr gut; schöne Wort, ein Kapitel damit zu beginn. Siebenundvierzigstes Kapitel. Poltjik. Das Wort Poltjik bedeutet allein – – –« und Mr. Pickwicks Bemerkung wanderte in Graf Smorltorks Notizbuch, mit allen Variationen und Zusätzen, wie sie dem Herrn seine üppige Phantasie oder seine unvollkommene Kenntnis der Sprache eingaben.
»Graf!« rief Mrs. Leo Hunter.
»Mrs. Hunt?«
»Hier Mr. Snodgraß, Mr. Pickwicks Freund, ein großer Dichter.«
»Halt«, rief der Graf und holte sein Notizbuch abermals hervor. »Gegenstand: Djichtkunst – Kapjitel, literarische Freunde – Name: Snowgraß; serr schön. Snowgraß vorgestellt – großer Djichter, Freund Pieg Wixis – von Mrs. Hunt, Verfasserjin eines schönen Gedjichtes – wie heißt doch? – Floß? Sterbende Floß – serr schön – wirklich serr schön.«
Befriedigt steckte der Graf sein Notizbuch ein und entfernte sich unter endlosen Bücklingen, höchlichst vergnügt, seine Sammlung mit so wichtigen Dingen bereichert zu haben.
»Ein bewunderungswürdiger Mann, der Graf Smorltork!« bemerkte Mrs. Leo Hunter.
»Ein tiefer Philosoph«, bestätigte Pott.
»Ein heller Kopf, ein bedeutender Geist«, fügte Mr. Snodgraß hinzu.
Die Umstehenden stimmten in die Lobeshymne auf den Grafen Smorltork ein, nickten weise und riefen einmütig: »In der Tat.«
Die Begeisterung ließ erst nach, als sich das Dingsbums-Sängerquartett in malerischer Pose vor einem kleinen Apfelbaum gruppierte und seine Nationallieder abzusingen begann – ein Unternehmen, das sich in Anbetracht des Umstandes, daß immer drei der Sänger grunzten, während der vierte dazwischenheulte, ohne Schwierigkeit abwickelte. Nachdem diese interessante Nummer mit dem lauten Beifall der Gästeschar beschlossen worden, produzierte sich sofort ein Junge damit, daß er durch die Beine eines Stuhls schlüpfte, über ihn weghüpfte, unter ihm durchkroch, mit ihm niederfiel und überhaupt alles anfing, nur das nicht, wozu ein Stuhl bestimmt ist, sodann eine Krawatte aus seinen Beinen machte, sie um seinen Hals herumschlang und damit den praktischen Beweis erbrachte, wie leicht es einem menschlichen Wesen ist, sich einer Riesenkröte gleichzumachen – lauter Künste, die die versammelten Zuschauer höchlichst ergötzten und befriedigten.
Hierauf ließ sich Mrs. Pott mit einem schwachen Gezirp vernehmen, das übrigens durchaus klassisch war und ihrem Kostüm vollkommen entsprach, da Apoll bekanntlich selbst Komponist war und Komponisten erfahrungsgemäß weder ihre eignen noch fremde Musikstücke singen können. Sodann deklamierte Mrs. Leo Hunter ihre weltberühmte »Ode an den sterbenden Frosch«, trug sie ein zweites Mal vor und würde sie wahrscheinlich noch zweimal wiederholt haben, wenn nicht der größte Teil der Gäste, der bereits Magenknurren verspürte, auf das entschiedenste erklärt hätte, es würde höchst schamlos sein, die Güte der Hausfrau so zu mißbrauchen. Aus demselben Grunde wollten auch die besorgten und bescheidenen Freunde Madames, trotz ihrer Bereitwilligkeit, die Ode noch einmal vorzutragen, von keinem Dakapo mehr hören, und als der Speisesaal geöffnet wurde, drängte sich alles mit größter Eilfertigkeit hinein, da bekanntermaßen bei Hunters die Gewohnheit herrschte, auf hundert Einladungskarten immer nur fünfzig Kuverts aufzulegen, oder, mit andern Worten, nur die eigentlichen Löwen zu füttern und das kleinere Geschmeiß sich selbst zu überlassen.
»Wo ist denn Mr. Pott?« fragte Mrs. Leo Hunter, die eben damit beschäftigt war, die besagten Löwen um sich am Tisch zu versammeln.
»Hier bin ich«, rief der Herausgeber, in der entferntesten Ecke des Zimmers von aller Hoffnung auf Speise und Trank abgeschnitten, sofern die Hausfrau nicht für ihn sorgte.
»Wollen Sie nicht auch zu uns kommen?«
»Ach, bitte, lassen Sie ihn nur«, wehrte Mrs. Pott mit verbindlichem Tone, »Sie geben sich wirklich zuviel Mühe, Mrs. Hunter. Du bist doch dort ganz gut aufgehoben, nicht wahr, mein Lieber?«
»O gewiß, mein Schatz«, erwiderte der unglückliche Pott mit herbem Lächeln. Der nervige Arm, der die Knute mit Riesenkraft in der Öffentlichkeit schwang, erlahmte bei Mrs. Potts gebieterischem Blick.
Triumphierend blickte Mrs. Leo Hunter umher. Graf Smorltork war eifrig damit beschäftigt, den Inhalt der Schüsseln zu notieren, Mr. Tupman präsentierte einigen Löwinnen den Hummersalat mit einer Grazie, wie sie nie zuvor ein Bandit an den Tag gelegt, Mr. Snodgraß hatte den jungen Herrn ausgestochen, der die Abschlachtung der Autoren für die »Eatanswill-Gazette« besorgte, und war in einem feurigen Gespräch mit der jungen Dame begriffen, die die Poesie vertrat, und Mr. Pickwick machte sich überall angenehm.
Nichts schien zu mangeln, um den auserlesnen Zirkel vollständig zu machen, als Mr. Leo Hunter, dem es bei solchen Gelegenheiten oblag, an den Eingangstüren zu stehen und minder wichtige Personen in Gespräche zu verwickeln, plötzlich ausrief:
»Meine Liebe, soeben kommt Mr. Charles Fitz-Marshall.«
»Oh, wie sehnsüchtig habe ich ihn erwartet«, entgegnete Mrs. Leo Hunter. »Darf ich bitten, Platz zu machen und Mr. Fitz-Marshall durchzulassen? Sag doch Mr. Fitz-Marshall, mein Lieber, er möge sogleich zu mir kommen, um sich wegen seines späten Erscheinens ausschelten zu lassen.«
»Komme schon, teuerste Madame«, rief eine Stimme, »so schnell ich kann – schreckliche Menge Leute – Saal ganz voll – schwieriges Stück Arbeit – sehr schwierig.«
Mr. Pickwick fiel Messer und Gabel aus der Hand, und er starrte über die Tafel Mr. Tupman an, dem es ebenso ging und der aussah, als wolle er ohne weiteres in den Boden sinken.
»Ah!« rief Mr. Fitz-Marshall und brach sich Bahn durch die letzten fünfundzwanzig Türken, Offiziere, Ritter und die verschiedenen Exemplare Karls des Zweiten, die ihn noch von der Tafel trennten. »Die reinste Plättmangel – nicht eine Falte mehr an meinem Rock nach so einer Drückerei – hätte meine Wäsche ungebügelt anziehen können. – Haha! Kein übler Gedanke, sie auf dem Körper mangeln zu lassen. – Anstrengende Sache das – sehr anstrengend.«
Und gleich darauf präsentierte sich ein junger Mann in der Uniform eines Marineoffiziers und mit der Gestalt und den Gesichtszügen Mr. Alfred Jingles den Blicken der erstaunten Pickwickier; aber kaum hatte er Zeit, die dargebotne Hand Mrs. Leo Hunters zu ergreifen, da begegneten seine Blicke den zornfunkelnden Augen Mr. Pickwicks.
»Hallo!« rief er sofort. »Ganz vergessen – Postillion noch keine Befehle – sogleich geben – in einer Minute wieder hier.«
»Der Bediente oder Mr. Hunter wird es im Augenblick besorgen, Mr. Fitz-Marshall«, sagte Mrs. Leo Hunter.
»Nein, nein. – Selber besorgen – dauert nicht lange – sofort wieder da«, erwiderte Jingle und verschwand in der Menge.
»Möchten Sie mir die Frage erlauben, Ma'am«, sagte Mr. Pickwick und erhob sich aufgeregt von seinem Sitze, »wer der junge Mann ist und wo er sich aufhält?«
»Es ist ein sehr vermögender Gentleman, Mr. Pickwick«, antwortete Mrs. Leo Hunter, »und ich brenne darauf, ihn Ihnen vorzustellen. Auch der Graf wird entzückt sein.«
»Ja, ja«, erwiderte Mr. Pickwick hastig. »Aber sein Aufenthalt+…«
»Er wohnt gegenwärtig im ›Engel‹ in Bury.«
»In Bury?«
»In Bury St. Edmunds, wenige Meilen von hier. Aber ich bitte Sie, Mr. Pickwick, Sie werden uns doch nicht schon verlassen wollen? Oh, Sie dürfen nicht daran denken, jetzt, so früh!«
Doch schon hatte sich Mr. Pickwick ins Gedränge gestürzt. Er erreichte den Garten und traf dort Mr. Tupman, der ihm auf den Fersen gefolgt war.
»Es ist umsonst«, sagte Mr. Tupman. »Er ist fort.«
»Ich weiß«, erwiderte Mr. Pickwick. »Aber ich werde ihm folgen.«
»Ihm folgen? Wohin?«
»Nach Bury in den ›Engel‹. Wissen wir, wen er dort wieder betrügt? Einmal hat er schon einen Gentleman beschwindelt, und wir waren die unschuldige Ursache. Er soll es nicht wieder tun, wenn ich es verhindern kann. Ich werde ihn entlarven. Sam! Wo ist mein Bedienter?«
»Hiä, Sir!« rief Mr. Weller und kam aus einem versteckten Winkel hervor, wo er eben damit beschäftigt gewesen, eine Madeiraflasche zu untersuchen, die er eine oder zwei Stunden vorher vom Frühstückstisch entlehnt hatte. »Hiä is Ihr Bedienter, Sir, stolz auf meinen Titel, wie das lebende Skelett sagte, als man ihm für Geld sehen ließ.«
»Folge mir augenblicklich«, befahl Mr. Pickwick. »Tupman, wenn ich in Bury bin, können Sie mich dort treffen, sobald ich Ihnen schreibe. Bis dahin adieu.«
Alle Vorstellungen waren nutzlos. Mr. Pickwick blieb unerschütterlich. Mr. Tupman kehrte zur Gesellschaft zurück und hatte in einer Stunde Mr. Alfred Jingle oder Charles Fitz-Marshall im Rausche der Quadrillen und des Champagners bereits vollständig vergessen.
Mr. Pickwick und Sam Weller saßen inzwischen auf dem Dach einer Postkutsche und verringerten von Minute zu Minute die Entfernung zwischen sich und der guten alten Stadt Bury Saint Edmunds.