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Neuntes Kapitel

Das den Satz: »Die Liebe ist keine Eisenbahn« in ein helles Licht rückt.


Die stille Abgeschiedenheit von Dingley Dell, die Anwesenheit so vieler Zierden des schönen Geschlechtes und die sorgsame Pflege und Wartung, die sie an den Tag legten, waren der Steigerung jener sanfteren Gefühle außerordentlich günstig, die die Natur tief in Mr. Tracy Tupmans Brust gesenkt hatte und die jetzt bestimmt schienen, sich auf einen liebenswürdigen Gegenstand zu konzentrieren. Die jungen Damen waren hübsch, ihr Äußeres einnehmend, ihr Betragen tadellos, aber in den Augen der jungfräulichen Tante lag ein Seelenleben, in ihrer Miene eine Würde, in ihrem Gang ein gewisses Noli me tangere, worauf jene bei ihrer Jugend keinen Anspruch erheben konnten und worin sie es jedem Weibe zuvortat, das Mr. Tupman je gesehen hatte. Daß in ihrer beiden Wesen etwas Verwandtes, in ihrem Empfinden etwas Übereinstimmendes, in ihrer Brust eine gewisse geheimnisvolle Sympathie lag, war augenscheinlich; ihr Name war der erste Laut, der über Mr. Tupmans Lippen kam, als er blutend im Grase lag, und ihr hysterischer Lachkrampf der erste Ton, der zu seinen Ohren drang, als er nach Hause gebracht wurde. Aber: hatte nun ihre Aufregung ihren Grund lediglich in einer liebenswürdigen weiblichen Empfindsamkeit gehabt, die bei jeder ähnlichen Gelegenheit zum Vorschein gekommen wäre, oder war sie durch ein tieferes, zärtlicheres Gefühl hervorgerufen worden, das nur er allein unter allen Männern erwecken konnte? Das waren Zweifel, die sein Gehirn marterten, als er hilflos auf dem Sofa lag, Zweifel, die er nun ein für allemal zu lösen beschloß.

Es war Abend. Isabella und Emilie hatten mit Mr. Trundle einen Spaziergang gemacht; die taube alte Frau war in ihrem Lehnstuhl eingeschlafen; das Schnarchen des fetten Jungen drang dumpf und eintönig aus der entfernten Küche herüber; die strammen Mägde lehnten am Hoftor und genossen die Süßigkeit des Feierabends; von niemand beachtet und blind für die Umgebung vor sich hin träumend, saß das verliebte Pärchen da, ineinandergeschlungen wie ein Paar sorgfältig zusammengelegte Handschuhe.

»Ich habe meine Blumen vergessen«, sagte die Jungfrau.

»Begießen wir sie«, säuselte Mr. Tupman.

»Sie würden sich in der Abendluft erkälten«, wendete die Jungfrau zärtlich ein.

»Nein, nein«, erwiderte Mr. Tupman und stand auf. »Es wird mir guttun. Ich will Sie begleiten.«

Schweigend legte das Mädchen die Schlinge zurecht, in der der linke Arm des Jünglings lag, hängte sich in ihn ein und geleitete ihn in den Garten.

Am oberen Ende desselben lag eine Laube von Geißblatt, Jasmin und Schlingpflanzen, eines jener Ruheplätzchen, die empfindsame Seelen als Zufluchtsort für Spinnen zu errichten lieben.

Die Jungfrau ergriff eine große Gießkanne, die in einem Winkel stand, und wollte eben die Laube verlassen, da hielt sie Mr. Tupman zurück und zog sie auf einen Sitz neben sich nieder.

»Miß Wardle!« begann er.

Die Jungfrau zitterte, bis einige Steinchen, die zufälligerweise den Weg in die Gießkanne gefunden hatten, klirrten wie eine Kinderklapper.

»Miß Wardle«, sagte Mr. Tupman, »Sie sind ein Engel.«

»Mr. Tupman!« rief Rachel aus und wurde so rot wie ihre Gießkanne.

»Nein, nein«, sagte der beredte Pickwickier, »ich weiß es nur zu gut.«

»Alle Frauen sind Engel, wenn man den Männern glauben soll«, flötete die Dame in scherzhaftem Ton.

»Was wären Sie sonst, oder womit könnte ich Sie ohne Vermessenheit vergleichen?« versetzte Mr. Tupman. »Wo ist das Weib, das Ihnen gliche? Wo sonst könnte ich eine so seltene Vereinigung von geistigen Vorzügen und körperlicher Schönheit zu finden hoffen? Wo sonst könnte ich …Oh!« Mr. Tupman schwieg und drückte die Hand, die auf dem Henkel der beneidenswerten Gießkanne ruhte.

Das Mädchen blickte errötend zu Boden und flüsterte sanft:

»Die Männer sind voll Lug und Trug.«

»Ja, sie sind es, sie sind es«, versicherte Mr. Tupman. »Aber nicht alle. Hier wenigstens lebt einer, dessen Herz keinen Wankelmut kennt, einer, der sein ganzes Dasein Ihrem Glück opfern könnte, der nur von Ihren Blicken lebt, der nur in Ihrem Lächeln atmet, der die schwere Bürde des Lebens einzig und allein um Ihretwillen trägt.«

»Ja, wer einen solchen Mann finden könnte!« seufzte das Mädchen.

»Sie könnten ihn finden?« rief inbrünstig Mr. Tupman. »Er ist gefunden. Er liegt vor Ihnen, Miß Wardle.«

– Und ehe die Jungfrau seine Absicht ahnen konnte, lag er schon zu ihren Füßen auf den Knien.

»Stehen Sie auf, Mr. Tupman«, flehte Rachel.

»Nimmermehr«, war die entschlossene Antwort. »Oh, Rachel, sagen Sie, daß Sie mich lieben.« Er ergriff so stürmisch ihre Hand, daß die Gießkanne zu Boden fiel.

»Mr. Tupman«, seufzte die Jungfrau mit abgewandtem Gesicht, »ich kann kaum Worte finden; doch – doch – Sie sind mir nicht ganz gleichgültig.«

Mr. Tupman hörte kaum dieses Geständnis, als er sich ganz seiner Begeisterung hingab und tat, was angeblich unter solchen Umständen die meisten Menschen tun. Er sprang auf, schlang seinen Arm um den Nacken der Jungfrau und drückte eine Anzahl Küsse auf ihre Lippen. Sie nahm sie nach pflichtschuldigem Zieren und Sträuben so geduldig hin, daß ihr Mr. Tupman vielleicht noch viel mehr aufgedrückt haben würde, wäre sie nicht plötzlich, heftig erschrocken und angsterfüllt, in die Worte ausgebrochen:

»Mr. Tupman, wir werden beobachtet! Wir sind entdeckt!«

Mr. Tupman sah sich um und erblickte die großen kreisrunden Augen des fetten Jungen, der ohne den mindesten Ausdruck auf seinem Gesichte, den der erfahrenste Physiognomiker als Erstaunen, Neugierde oder irgendeine bekannte Leidenschaft, die sonst noch die Brust der Menschen bewegt, hätte auslegen können, völlig regungslos in die Laube glotzte. Mr. Tupman starrte den fetten Jungen an, und der fette Junge ihn, und je länger Mr. Tupman das völlig nichtssagende Gesicht seines Gegenübers ansah, desto mehr kam er zur Überzeugung, daß dieses entweder nicht wußte oder nicht verstand, was vorgegangen war. In dieser Voraussetzung fragte er mit festem Ton:

»Was suchst du hier?«

»'s Essen is aufgetragen, Sir«, war die prompte Antwort.

»Bist du eben erst gekommen?« fragte Mr. Tupman mit durchbohrendem Blick.

»Grad jetzt«, erwiderte der fette Junge.

Mr. Tupman sah ihn wieder scharf an, aber der Junge verzog keine Miene. Dann nahm er den Arm der Jungfrau und ging dem Hause zu; der fette Junge folgte.

»Er weiß nicht, was vorgefallen ist«, flüsterte Mr. Tupman.

»Nichts?« fragte die Jungfrau.

Sie hörten einen Ton hinter sich, wie von einem halbunterdrückten Lachen. Mr. Tupman drehte sich blitzschnell um. Aber nein, der fette Junge konnte es nicht gewesen sein; in seinem ganzen Gesicht war keine Spur von Heiterkeit und überhaupt kein andrer Ausdruck als Eßlust zu erkennen.

»Er muß geschlafen haben«, flüsterte Mr. Tupman.

»Ich zweifle nicht im geringsten daran«, versetzte die Jungfrau, und beide lachten herzlich.

Aber Mr. Tupman irrte sich. Der fette Junge hatte zufällig nicht geschlafen. Er hatte gewacht, sogar völlig gewacht und alles mit angesehen.

Das Abendessen ging vorüber, ohne daß jemand eine allgemeine Unterhaltung anzuknüpfen gesucht hätte. Die alte Frau ging zu Bett; Isabella Wardle widmete sich ausschließlich Mr. Trundle, die Tante hatte für niemand Augen als für Mr. Tupman, und Emiliens Gedanken schienen in der Ferne zu verweilen, vielleicht bei dem abwesenden Snodgraß.

Elf Uhr, zwölf Uhr, ein Uhr hatte es geschlagen, und die Herren waren noch immer nicht zurück. Bestürzung und Unruhe lagen auf jedem Gesicht. Könnten sie vielleicht überfallen und beraubt worden sein? Sollte man Leute mit Laternen aussenden und sie suchen lassen? Oder sollte man …Horch! Sie sind's. Was konnte sie so lange aufhalten? Und eine fremde Stimme? Wem konnte sie gehören? Man eilte in die Küche, um nach den Ankömmlingen zu sehen, und überzeugte sich alsbald von dem wahren Stand der Dinge.

Mr. Pickwick lehnte, die Hände in den Taschen und den Hut über das linke Auge gedrückt, am Anrichttisch, wackelte mit dem Kopf und lächelte unaufhörlich, ohne daß man irgendeinen Grund dafür entdecken konnte; der alte Mr. Wardle hielt einen fremden Herrn an der Hand, dem er mit flammendem Gesicht etwas von ewiger Freundschaft vorlallte; Mr. Winkle klammerte sich an die Wanduhr und rief mit matter Stimme auf jedes Mitglied der Familie, das heute nacht von Zubettgehen sprechen würde, Feuer und Schwefel vom Himmel herab, und Mr. Snodgraß war auf einen Stuhl gesunken, den Ausdruck des fürchterlichsten und hoffnungslosesten Elends, das sich die Phantasie eines Menschen nur ausmalen kann, in jeder Linie seines verstörten Gesichts.

»Ist etwas vorgefallen?« fragten die drei Damen.

»Ni–nichts ist los«, antwortete Mr. Pickwick. »Wir – wir sind –. Alles in schönster Ordnung. – Wa–was Wardle, alles in sch–schönster Ordnung?«

»Das will ich meinen«, sagte der alte Herr lustig. »Meine Lieben, hier ist mein Freund, Mr. Jingle, Mr. Pickwicks Freund, Mr. Jingle. Er macht uns einen kleinen Besuch.«

»Ist Mr. Snodgraß etwas zugestoßen?« fragte Emilie ängstlich.

»Nicht das mindeste, Ma'am«, mischte sich der Fremde ein. »Kricketschmaus – großartige Gesellschaft – Kapitalsänger – alter Portwein – Claret – gut – sehr gut – Wein. Ma'am, Wein.«

»Es lag nicht am Wein«, lallte Mr. Snodgraß mit gebrochner Stimme. »Der Lachs war schuld.«

»Wäre es nicht besser, Sie gingen zu Bett?« fragte Emilie. »Zwei von den Knechten können die Herren hinaufführen.«

»Ich gehe nicht zu Bett«, lehnte Mr. Winkle bestimmt ab.

»Kein Mensch auf der Welt soll sich erdreisten, mich zu führen«, erwiderte Mr. Pickwick kühn, lächelte aber gleich darauf wieder so gutmütig wie zuvor.

»Hurra!« rief Mr. Winkle.

»Hurra!« wiederholte Mr. Pickwick, nahm seinen Hut ab, schleuderte ihn auf den Boden und warf dann seine Brille in einem Anfall von Tollheit mitten in die Küche, Dann lachte er über diesen Hauptspaß laut auf.

»Trinken – wir – noch – eine – Flasche«, rief Mr. Winkle mit lauter, aber bei jedem Wort immer schwächer werdender Stimme. Der Kopf sank ihm auf die Brust nieder, und nachdem er noch etwas von seinem unabänderlichen Entschluß, nicht zu Bett gehen zu wollen, und von einer blutdürstigen Reue, »den ollen Tupman diesen Morgen nicht vollends zur Strecke gebracht zu haben«, gelallt hatte, verfiel er plötzlich in einen tiefen Schlaf. Zwei junge Burschen, unter Oberaufsicht des fetten Jungen, brachten ihn zu Bett, und gleich darauf vertraute Mr. Snodgraß seinen Leichnam der Sorge derselben Personen an. Mr. Pickwick nahm den dargebotenen Arm Mr. Tupmans und verschwand ganz in der Stille, ein stereotypes Lächeln auf den Lippen, und Mr. Wardle erwies Mr. Trundle die Ehre, ihn die Treppe hinaufzugeleiten, und entfernte sich mit dem völlig vergeblichen Versuch, eine feierliche und würdevolle Miene anzunehmen, nachdem er zuvor von der ganzen Familie einen so zärtlichen Abschied genommen hatte, als ginge er unmittelbar dem Schafott entgegen.

»Was für ein abscheulicher Auftritt!« rief die Jungfrau.

»Ab–scheulich!« stimmten die beiden jungen Damen bei.

»Furchtbar – furchtbar!« sagte Jingle mit ernster Miene. Er hatte aber auch anderthalb Flaschen mehr zu sich genommen als irgendein anderes Mitglied der Gesellschaft. »Ein schrecklicher Anblick. Gewiß.«

»Ein reizender Mensch!« flüsterte die Tante Mr. Tupman zu.

»Und ein hübscher Mensch!« flüsterte Emilie Wardle.

»Wahrhaftig, ja«, bemerkte die Tante.

Mr. Tupman dachte an die Witwe in Rochester, und seine Stirn umwölkte sich.

Die halbstündige Unterhaltung, die jetzt folgte, war nicht geeignet, seine Besorgnis zu beschwichtigen. Der neue Ankömmling war sehr gesprächig, und die Menge seiner Anekdoten wurde nur durch seine Höflichkeiten übertroffen. Mr. Tupman fühlte, daß er in dem gleichen Maße, in dem Mr. Jingles Beliebtheit stieg, immer mehr in den Schatten trat. Sein Lachen war gezwungen, seine Lustigkeit erheuchelt, und als er endlich seine schmerzenden Schläfen zwischen die Bettkissen steckte, wünschte er sich mit grausamer Lust Jingles Kopf in diesem Augenblicke zwischen Federbett und Matratze.

 

Der unverwüstliche Fremde stand am andern Tag zeitig auf und gab sich alle Mühe, während seine Gefährten die Folgen ihrer Schlemmerei noch im Bette verdämmerten, die Heiterkeit des Frühstücks durch seine Unterhaltung zu erhöhen. Dies gelang ihm auch so vollkommen, daß sogar die taube alte Dame sich einige seiner besten Scherze durch ihr Hörrohr wiederholen ließ und herablassend zu der Tante bemerkte, Mr. Jingle sei ein ausgelassener junger Mensch – eine Ansicht, der ihre Tochter und ihre Enkelinnen rückhaltlos beistimmten.

Es war eine Gewohnheit der alten Dame, sich an jedem schönen Sommermorgen nach der Laube zu begeben, in der sich Mr. Tupman am Tag vorher so ausgezeichnet hatte. Zu diesem Zweck mußte der fette Junge von einem Kleiderrechen hinter der Schlafzimmertür der alten Dame einen schwarzen Atlaskapotthut, einen warmen baumwollenen Schal und einen dicken Stock mit einer großen Krücke holen. Hatte sie sich dann behaglich eingehüllt, mußte sie der fette Junge für eine halbe Stunde den Annehmlichkeiten, die mit dem Genuß frischer Luft verbunden sind, überlassen und nach Ablauf dieser Frist wieder ins Haus zurückführen.

Die alte Dame ging in solchen Fällen nie von ihrer gewohnten Weise ab, und da diese Zeremonie schon drei Sommer hintereinander, ohne das geringste Abweichen von der Regel, ausgeübt worden, so war sie ein wenig überrascht, als jetzt der fette Junge, statt wieder fortzugehen, nur einige Schritte von der Laube wegtrat, sich behutsam nach allen Richtungen umsah und dann ganz verstohlen und mit ungemein geheimnisvoller Miene wieder umkehrte.

Die alte Dame war furchtsam, wie es die meisten alten Damen sind, und so kam sie sogleich auf den Gedanken, der gedunsene Junge führe einen Mordanschlag gegen sie im Schilde, um sich in den Besitz des Kleingeldes, das sie bei sich trug, zu setzen. Sie würde daher um Hilfe gerufen haben, wenn ihre körperliche Gebrechlichkeit ihr nicht schon längst die Kraft zum Schreien benommen hätte, und mußte sich damit begnügen, Joes Bewegungen mit den Gefühlen unaussprechlicher Todesangst zu beobachten, die sich keineswegs milderte, als der Junge ganz dicht an sie herantrat und ihr mit einem – wie es schien – drohenden Ton ins Ohr schrie:

»Missus!«

Das Schicksal wollte es, daß sich in demselben Augenblick Mr. Jingle im Garten erging und sich gerade in unmittelbarer Nähe der Laube befand. Er hörte den lauten Ruf und blieb stehen, wozu er durch dreierlei Gründe veranlaßt wurde – erstens, weil er nichts andres zu tun hatte, zweitens, weil seine Neugierde kein Bedenken kannte, und endlich, weil seine Person durch Gestrüpp verborgen war. Wie gesagt, er machte halt und horchte.

»Missus!« schrie der fette Junge.

»Ach, Joe«, sagte die alte Dame zitternd, »ich bin dir gewiß stets eine gütige Gebieterin gewesen und habe dich immer aufs freundlichste behandelt. Du hast nie viel arbeiten brauchen und doch jeden Tag genug zu essen gehabt.«

Letzteres war ein Appell an Joes Gefühlsleben. Er schien auch wirklich gerührt und entgegnete mit Nachdruck:

»Ich weiß.«

»Was kannst du denn noch von mir wollen?« fragte die alte Dame, etwas ermutigt.

»Es wird Sie kalt überlaufen, wenn ich's Ihnen sag«, erwiderte Joe.

Das klang wie ein ziemlich blutdürstiger Dankesgruß, und da sich die alte Dame über die Art, wie sich die Sache weiter abwickeln könne, nicht klarwerden konnte, kehrten alle ihre Schrecken wieder.

»Was meinen Sie wohl, hab ich gestern hier in dieser Laube gesehen?« fragte der Junge.

»Barmherziger Himmel! Was?« rief die alte Dame, beunruhigt durch die Feierlichkeit des korpulenten Jünglings.

»Der fremde Herr – der mit dem zerschoßnen Arm – hat sie geküßt und umarmt.«

»Wen, Joe, wen? Ich hoffe doch nicht eine der Mägde?«

»Schlimmer als das!« brüllte der Junge in das Ohr der alten Dame.

»Wie, gar eine meiner Enkelinnen?«

»Noch schlimmer!«

»Noch schlimmer, Joe?« versetzte die alte Dame, die schon ein solches Unterfangen für das Nonplusultra männlicher Verwegenheit betrachtete. »Wer ist's gewesen, Joe? Ich muß es unbedingt wissen.«

»Miß Rachel.«

»Was?« rief die Dame in schrillem Tone. »Sprich lauter.«

»Miß Rachel«, brüllte der fette Junge.

»Meine Tochter?«

Der fette Junge bejahte die Frage mit öfters wiederholtem Kopfnicken, wobei seine aufgedunsnen Backen wie Sülze erzitterten.

»Und sie ließ sich's gefallen?« rief die alte Dame.

Ein Grinsen stahl sich über die Züge des dicken Burschen.

»Sie küßte ihn wieder.«

Hätte Mr. Jingle den Ausdruck, den das Gesicht der alten Dame bei dieser Mitteilung annahm, sehen können, so wäre er höchstwahrscheinlich in ein Gelächter ausgebrochen, das seine Anwesenheit notwendigerweise hätte verraten müssen. So aber lauschte er aufmerksam weiter und vernahm nur einige abgebrochene Sätze wie: »Ohne meine Zustimmung!« – »In ihren Jahren!« – »Ich arme, unglückliche Frau!« – »Hätte sie nicht warten können, bis ich tot bin.« Dann hörte er die Stiefelsohlen des fetten Jungen im Sande knirschen und sich entfernen.

Es war ein merkwürdiger Zufall, aber dessenungeachtet eine Tatsache, daß Mr. Jingle schon in den ersten fünf Minuten nach seiner Ankunft in Manor Farm den Entschluß gefaßt hatte, unverzüglich Beschlag auf das Herz der jungfräulichen Tante zu legen. Er besaß hinreichend Scharfblick, um zu bemerken, daß sein keckes Benehmen dem schönen Gegenstande seiner Wünsche keineswegs mißfiel, und glaubte annehmen zu dürfen, daß sie auch im Besitz des wünschenswertesten aller Erfordernisse, nämlich eines unabhängigen Vermögens, sei. Die gebieterische Notwendigkeit, seinen Nebenbuhler auf eine oder die andre Weise auszustechen, tauchte rasch in seiner Seele auf, und so entschloß er sich, ohne Verzug die zweckdienlichen Hebel in Bewegung zu setzen. Fielding sagt, der Mann sei Feuer und das Weib Stroh, und der Fürst der Finsternis bringe sie miteinander in Berührung, um sofort eine helle Flamme auflodern zu lassen. Mr. Jingle wußte, daß junge Männer bei alten Jungfern dasselbe sind, was die Lunte für das Schießpulver ist, und so nahm er sich vor, ohne Zeitverlust auf eine Explosion hinzuwirken.

Über diesen wichtigen Entwurf brütend, schlich er sich aus seinem Schlupfwinkel und näherte sich unter dem Schutze des vorerwähnten Gesträuches dem Hause. Das Glück schien seine Absicht zu begünstigen, denn eben verließ Mr. Tupman mit den übrigen Herren den Garten durch eine Seitentür, und die jüngeren Damen hatten, wie er wohl wußte, gleich nach dem Frühstück einen Spaziergang angetreten. Die Luft war also rein.

Die Tür des Speisezimmers stand halb offen. Er blickte hinein. Die jungfräuliche Tante saß mit ihrem Strickstrumpf drinnen. Er hustete; sie sah auf und lächelte. Unschlüssigkeit gehörte nicht zu Mr. Jingles Charaktereigenschaften. Er legte die Finger geheimnisvoll an die Lippen, trat ein und machte die Tür hinter sich zu.

»Miß Wardle«, begann er mit erkünsteltem Ernst, »entschuldigen meine Zudringlichkeit – kurze Bekanntschaft – keine Zeit zu Zeremonien. – Alles entdeckt!«

»Sir!« entgegnete die Jungfrau, ein wenig überrascht über diese unerwartete Annäherung und voll Zweifel, ob der Mann nicht am Ende verrückt sei.

»Pst!« warnte Mr. Jingle mit einem theatralischen Flüstern. »Dicker Junge – Knödelgesicht – runde Augen – Spitzbube!« Nachdrücklich schüttelte er den Kopf, und die Jungfrau zitterte vor Aufregung.

»Ich vermute, Sie spielen auf Joe an, Sir?« sagte sie und nahm sich zusammen, um gefaßt zu erscheinen.

»Jawohl, Ma'am, verdammter Junge! – Falscher Hund – verriet alles der alten Dame – alte Dame wütend – rast – tobt – Laube – Tupman – Küssen und Umarmen – und dergleichen. – Ma'am, wie?«

»Mr. Jingle«, sagte die alte Jungfer, »wenn Sie mich beleidigen wollen –«

»Aber nein – nicht im geringsten – hörte die Geschichte – kam her, Sie vor der Gefahr zu warnen – Dienste anzubieten – Skandal zu vermeiden. Nicht zu denken an Beleidigung. – Will augenblicklich wieder gehen.« Und er wandte sich um, als wolle er seine Drohung unverzüglich ausführen.

»Aber was soll ich tun?« jammerte die arme alte Jungfer, in Tränen ausbrechend. »Mein Bruder wird rasen!«

»Läßt sich denken!« entgegnete Mr. Jingle nach einer Pause. »Wird wütend sein.«

»Ach, Mr. Jingle, was soll ich sagen?« rief die Tante verzweifelt.

»Sagen Sie, er hat geträumt«, riet Mr. Jingle kaltblütig.

Ein Hoffnungsstrahl dämmerte in der Seele Miß Wardles auf. Mr. Jingle bemerkte es und nahm seinen Vorteil wahr.

»Pah, pah! – Nichts leichter als das. – Verwünschter Heimtücker – bezaubernde Dame – fetter Junge wird mit der Hundspeitsche traktiert – Ende vom Lied – alles in Ordnung.«

Miß Wardle errötete und warf einen dankbaren Blick auf Mr. Jingle.

Tief seufzte der weltgewandte Gentleman auf, heftete ein paar Minuten seine Augen auf die Jungfrau, schauerte theatralisch zusammen und ließ seine Blicke sinken.

»Sie scheinen unglücklich zu sein, Mr. Jingle«, sagte das Mädchen voll Teilnahme. »Darf ich Ihnen meine Dankbarkeit für Ihre gütige Vermittlung dadurch bezeigen, daß ich Sie nach dem Grunde Ihres Leidens frage, um es womöglich beseitigen zu können?«

»Ach!« rief Mr. Jingle, wieder zusammenfröstelnd. »Beseitigen? – Mein Leid beseitigen, wo Ihre Liebe einem Manne gilt, der ein solches Glück gar nicht zu schätzen weiß? – Einem Manne, der sich eben jetzt mit Absichten auf die Neigung der Nichte desselben Wesens trägt, das …Doch nein, er ist mein Freund, und so will ich seine Verworfenheit nicht enthüllen. Miß Wardle, leben Sie wohl!«

Gegen Ende dieser Anrede, der zusammenhängendsten, die man je aus seinem Munde vernommen, drückte Mr. Jingle die spärlichen Reste seines Schnupftuchs vor die Augen und wandte sich zum Gehen.

»Bleiben Sie, Mr. Jingle!« rief die Jungfrau emphatisch. »Sie haben eine Anspielung auf Mr. Tupman fallenlassen. Erklären Sie sich näher.«

»Nie!« rief Mr. Jingle mit theatralischer Gebärde. »Nie!« Und zum Zeichen, daß er nicht weiter gefragt zu werden wünschte, rückte er einen Stuhl dicht an die Seite der Jungfrau und setzte sich nieder.

»Mr. Jingle«, flehte die Tante, »ich bitte, ich beschwöre Sie, wenn irgendein schreckliches Geheimnis mit Mr. Tupman im Spiele ist, so lüften Sie den Schleier.«

»Kann ich«, versetzte Mr. Jingle, vor sich hin starrend, »kann ich mit ansehen – ein so liebliches Wesen – herzloser Habsucht geopfert?« Er schien einige Sekunden mit einander widerstreitenden Gefühlen zu kämpfen und fuhr dann mit leiser, gedämpfter Stimme fort: »Tupman hat nichts als Ihr Geld im Auge.«

»Der Elende!« rief die Jungfrau voll Entrüstung.

– Mr. Jingles Zweifel waren behoben: sie hatte Geld.

»Und was noch mehr ist, er liebt eine andre.«

»Eine andre?« rief die Tante. »Und wen?«

»Kleines Mädchen – schwarze Augen – Nichte Emilie.«

Eine Pause.

Auf der ganzen Welt gab es niemand, gegen den die jungfräuliche Tante eine tödlichere und tiefer gewurzelte Eifersucht fühlte, als gerade diese Nichte. Eine dunkle Röte schoß ihr über Gesicht und Nacken. Dann wiegte sie den Kopf mit der Miene unaussprechlicher Verachtung hin und her, biß sich in die dünnen Lippen, warf sich in die Brust und ächzte:

»Es kann nicht sein. Ich glaube es nicht.«

»Sie beobachten«, riet Jingle.

»Das will ich«, versetzte die Tante.

»Auf seine Blicke achtgeben.«

»Gut.«

»Und auf sein Liebesgeflüster.«

»Ja.«

»Wird am Tisch neben ihr sitzen.«

»Soll er.«

»Ihr Artigkeiten sagen.«

»Hm.«

»Ihr alle erdenkliche Aufmerksamkeit erweisen.«

»Meinetwegen.«

»Mit Ihnen brechen.«

»Mit mir brechen?!« rief die alte Jungfer. »Er mit mir brechen!? Gut! Recht so!« Und sie zitterte vor Wut und Enttäuschung.

»Wollen Sie sich überzeugen?« fragte Jingle.

»Ich will.«

»Ihm entschlossen entgegentreten?«

»Ja.«

»Nachher nicht wieder mit ihm reden?«

»Nie. Nie.«

»Einen andern erhören?«

»Ja.«

»So tun Sie es.« Mr. Jingle fiel auf die Knie, verharrte fünf Minuten in dieser Stellung und erhob sich wieder als der erklärte Liebhaber der Jungfrau – für den Fall, daß sich Mr. Tupmans Treulosigkeit wirklich herausstellen sollte.

Den Beweis hatte Mr. Alfred Jingle zu erbringen, und er entledigte sich seiner Aufgabe noch am selben Tage bei Tisch. Miß Wardle wollte kaum ihren Augen trauen. Mr. Tracy Tupman saß an Emiliens Seite und liebäugelte, flüsterte und lächelte, Mr. Snodgraß zum Trotz. Kein Wort, nicht einen Blick hatte er für die, die tags zuvor noch der Stolz seines Herzens gewesen.

Verwünschter Joe! dachte der alte Mr. Wardle, dem seine Mutter die Erzählung des Jungen mitgeteilt hatte. Verwünschter Bube! Er muß geschlafen und geträumt haben. Nichts als Einbildung!

Treuloser Verräter! dachte die alte Jungfer ihrerseits. Der gute Mr. Jingle hat mich nicht hintergangen. Oh, wie hasse ich den Elenden!

Die folgende Schilderung mag dazu dienen, der Öffentlichkeit die scheinbar unerklärliche Veränderung in Mr. Tracy Tupmans Benehmen zu enträtseln.

Es war Abend, Schauplatz der Garten. Auf einem Nebenwege ergingen sich zwei Gestalten, die eine ziemlich klein und beleibt, die andre schlank und hager. Es waren Mr. Tupman und Mr. Jingle. Die kleinere Gestalt begann das Gespräch.

»Nun, wie habe ich meine Rolle gespielt?«

»Vortrefflich – kapital – hätt's selbst nicht besser machen können – Sie müssen in dieser Weise fortfahren. – Morgen – jeden Abend – bis auf weiteres.«

»Wünscht es Rachel noch immer?«

»Natürlich – tut's freilich nicht gern – aber muß sein – Verdacht abwenden – fürchtet ihren Bruder – sagt, es lasse sich nicht ändern – nur noch einige Tage – bis der Verdacht der alten Leute eingeschlafen ist. – Ihrem Glücke dann die Krone aufsetzen.«

»Läßt sie mir sonst nichts sagen?«

»Versichert Liebe, treue – unverbrüchliche Liebe. Soll ich ihr etwas ausrichten?«

»Mein lieber Freund«, versetzte nichtsahnend Mr. Tupman und ergriff voll Wärme die Hand des vermeintlichen Freundes, »versichern Sie Miß Rachel gleichfalls meiner heißesten Liebe, sagen Sie ihr, wie schwer mir diese Rolle wird, sagen Sie ihr alles, was sich in einem solchen Falle sagen läßt, aber fügen Sie auch hinzu, wie sehr ich die Notwendigkeit des Benehmens empfinde, das sie mir diesen Morgen durch Sie anempfehlen ließ. Sagen Sie ihr, daß ich ihre Klugheit und ihre Vorsicht bewundere.«

»Soll geschehen. Weiter nichts?«

»Nein; nur noch das, daß ich mich glühend nach dem Augenblicke sehne, wo ich sie mein nennen und die Maske abwerfen kann.«

»Wird besorgt, wird besorgt. Sonst noch etwas?«

»Ach, mein Freund«, sagte der arme Mr. Tupman und ergriff abermals die Hand seines Gefährten, »haben Sie Dank, wärmsten Dank, für Ihre uneigennützige Güte und vergeben Sie mir, wenn ich Ihnen je, auch nur mit einem Gedanken, Sie könnten mir im Wege stehen, unrecht getan habe. Mein teurer Freund, kann ich Ihnen je Ihren Liebesdienst vergelten?«

»Reden Sie nicht davon«, wehrte Mr. Jingle ab, hielt aber sogleich inne, als ob er sich plötzlich auf etwas besinne, und sagte: »Apropos, können Sie nicht zehn Pfund entbehren? – Im Augenblicke zu besondern Zwecken sehr nötig. Zahle wieder in drei Tagen.«

»Gewiß kann ich das«, rief Mr. Tupman in der Überfülle seines Herzens. »Drei Tage, sagen Sie?«

»Nur drei Tage – alles vorüber dann – keine weiteren Schwierigkeiten.«

Mr. Tupman zählte das Geld seinem Freund auf die Hand, und dieser ließ, während sie zurückgingen, Goldstück für Goldstück in seine Tasche gleiten.

»Vorsichtig«, warnte Mr. Jingle. »Ja keinen Blick.«

»Gewiß, gewiß«, beteuerte Mr. Tupman.

»Keine Silbe!«

»Nicht die leiseste.«

»Alle Ihre Aufmerksamkeit auf die Nichte – eher etwas schroff gegen die Tante – der einzige Weg, die Alten hinters Licht zu führen.«

»Ich werde es schon hinkriegen«, sagte Mr. Tupman laut.

Ganz meinerseits! dachte Mr. Jingle. Dann traten sie ins Haus.

Die Mittagsszene wiederholte sich am Abend, und desgleichen an den drei nächstfolgenden Mittagen und Abenden. Am vierten war der Wirt ungemein aufgeräumt, denn er hatte sich von der Grundlosigkeit eines Verdachtes gegen Mr. Tupman überzeugt. Bei diesem war dasselbe der Fall, da ihm Mr. Jingle mitgeteilt hatte, die Sache würde sich jetzt bald entscheiden. Mr. Pickwick war ebenfalls sehr heiter, denn das lag in seinem Naturell. Nur von Mr. Snodgraß ließ sich dies nicht sagen, denn er war eifersüchtig auf Mr. Tupman, während wiederum die alte Dame, weil sie im Whistspiel gewonnen, und Mr. Jingle nebst Fräulein Tante – aus Gründen, die in einem andern Kapitel unsrer ereignisreichen Geschichte erzählt werden sollen – sich der fröhlichen Stimmung der Mehrzahl anschlossen.


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