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Siebentes Kapitel

Eine altmodische Spielpartie. – Die Erzählung von der Rückkehr des Sträflings.


Die in dem alten Wohnzimmer versammelten Gäste standen auf, um Mr. Pickwick und seine Freunde bei ihrem Eintreten zu begrüßen, und während der Zeremonie des Vorstellens, die ungemein formell vonstatten ging, hatte Mr. Pickwick Muße, aus der äußeren Erscheinung der Anwesenden Schlüsse auf ihren Stand und Charakter zu ziehen – eine Gewohnheit, der er, gleich vielen anderen großen Männern, gern zu huldigen pflegte.

Eine uralte Dame in einer hohen Haube und einem verblichenen Seidenkleid – niemand Geringeres als Mr. Wardles Mutter – hatte den Ehrenplatz im rechten Kaminwinkel inne, wo verschiedene Hinweise, daß sie ihrem Jugendgeschmack auch im Alter treu geblieben, in Gestalt alter Stickmuster, gewirkter Landschaften von gleichem Alter und rotseidener Teekesselwärmer einer späteren Epoche, die Wände zierten.

Die Tante, die zwei jungen Damen und Mr. Wardle umdrängten den Lehnstuhl der alten Frau und wetteiferten miteinander, ihr unablässig ihre Aufmerksamkeit zu bezeigen. Die eine hielt ihr das Hörrohr, die andere eine Pomeranze, die dritte ein Riechfläschchen, während Mr. Wardle selbst sich emsig abmühte, ihr die Kopfkissen zu ordnen. Gegenüber saß ein kahlköpfiger alter Herr mit einem Gesicht voll Wohlwollen und fröhlicher Laune – der Geistliche von Dingley Dell – und neben ihm seine Ehehälfte, eine blühende, stattliche alte Dame, die ganz so aussah, als ob sie nicht allein die Kunst, Herzstärkungen zu andrer Leute Zufriedenheit zu bereiten, von Grund aus verstünde, sondern selbst auch gern gelegentlich einen Schluck nähme. In einem Winkel des Zimmers sprachen ein kleiner Mann mit einem Gesicht wie ein Borsdorfer Apfel und ein dicker alter Herr miteinander, und noch zwei oder drei alte Herren und noch zwei oder drei alte Damen saßen kerzengerade und regungslos auf ihren Stühlen und blickten mit strenger Miene Mr. Pickwick und seine Reisegefährten an.

»Mr. Pickwick, Mutter!« schrie Mr. Wardle der alten Dame ins Ohr.

»Ah«, sagte sie, den Kopf schüttelnd, »ich verstehe kein Wort.«

»Mr. Pickwick, Großmama!« schrien die beiden jungen Damen zugleich.

»Ah«, rief die alte Dame. »Schadet nichts. Er wird sich wohl um eine alte Frau, wie ich bin, wenig kümmern.«

»Ich versichere Ihnen, Ma'am«, entgegnete Mr. Pickwick, erfaßte die Hand der alten Dame und sprach so laut, daß sein menschenfreundliches Antlitz von der Anstrengung blaurot wurde, »ich versichere Ihnen, Ma'am, daß mich nichts so sehr erfreut wie der Anblick einer Dame in Ihren Jahren mitten im Kreise ihrer Familie, zumal wenn sie dabei noch so jugendlich und wohl aussieht.«

»Ah«, erwiderte die alte Dame nach einer kleinen Pause, »das ist gewiß alles sehr schön, aber ich verstehe kein Wort.«

»Großmama ist augenblicklich nicht in guter Laune«, erklärte Miß Isabella Wardle mit leiser Stimme, »aber sie wird gleich mit Ihnen sprechen.«

Mr. Pickwick gab durch Nicken seine Bereitwilligkeit zu erkennen, den Schwächen des Alters gegenüber ein, Auge zuzudrücken, und knüpfte mit der übrigen Gesellschaft ein allgemeines Gespräch an.

»Eine entzückende Lage hat dieser Landsitz, Mr. Wardle.«

»Entzückende Lage!« wiederholten die Herren Snodgraß, Winkle und Tupman.

»O ja. Allerdings«, sagte Mr. Wardle.

»Es gibt keinen hübscheren Punkt in ganz Kent, Sir«, bemerkte der kleine Mann mit dem Borsdorfer Gesicht. »Nein, Sir, Sie können sich drauf verlassen, Sir.«

Und triumphierend blickte er umher, als ob ihm jemand hartnäckig widersprochen, jedoch den kürzeren gezogen hätte.

»Keinen hübscheren Punkt in ganz Kent«, wiederholte er nach einer Pause.

»Ausgenommen Mullins Meadows«, bemerkte der dicke Mann in feierlichem Ton.

»Mullins Meadows?« rief der Borsdorfer mit tiefer Verachtung.

»Allerdings, Mullins Meadows!« wiederholte der dicke Mann.

»Sehr schöner Ort das«, fiel ein zweiter dicker Mann ein.

»Ja, in der Tat«, fügte ein dritter dicker Mann hinzu.

»Wie jedermann weiß«, bestätigte der korpulente Herr des Hauses.

Der kleine Mann mit dem Borsdorfer Gesicht blickte zweifelnd umher; doch als er sah, daß er die Minorität bildete, nahm er eine mitleidige Miene an und sagte nichts weiter.

»Wovon spricht man?« fragte die alte Dame eine ihrer Enkelinnen mit sehr lauter Stimme – denn, wie die meisten schwerhörigen Leute, war sie der Meinung, sich nur so verständlich machen zu können.

»Vom Lande, Großmama.«

»Vom Lande? Was denn? – Ist etwas los?«

»Nein, nein; Mr. Miller sagte nur, unser Landsitz sei schöner als Mullins Meadows.«

»Was versteht er denn davon«, erwiderte die alte Dame ärgerlich. »Mr. Miller weiß überhaupt immer alles besser. Sag ihm das.«

Ohne zu ahnen, daß sie ganz laut gesprochen hatte, richtete sie sich in ihrem Lehnstuhl auf und warf dem Delinquenten mit dem Borsdorfer Gesicht giftige Blicke zu.

»Kommen Sie, meine Herren, kommen Sie«, sagte verlegen der Herr des Hauses, um der Unterhaltung eine andere Wendung zu geben. »Wie wäre es mit einer Partie Whist? Was meinen Sie dazu, Mr. Pickwick?«

»Oh, mit Freuden«, erwiderte Mr. Pickwick, »aber, bitte, nicht etwa meinetwegen.«

»Oh, ich versichere Ihnen, meine Mutter spielt es gleichfalls sehr gern«, sagte Mr. Wardle. »Nicht wahr, Mutter?«

Die alte Dame hörte plötzlich viel besser und bejahte.

»Joe, Joe! – Verdammter Junge! Ah, da ist er ja! – Joe, die Spieltische!«

Der lethargische Jüngling stellte wortlos zwei Spieltische auf, den einen für »Pope Joan«, den andern für Whist. Die Whistspieler waren Mr. Pickwick, die alte Dame, Mr. Miller und der dicke Gentleman, die übrigen setzten sich zum Gesellschaftsspiel nieder.

Am Whisttische herrschte der Ernst und die Stille, die der edlen Beschäftigung, der von Rechts wegen die Bezeichnung »Spiel« gar nicht beigelegt werden sollte, zukommt. Bei dem Gesellschaftsspiel am andern Tische dagegen ging es so laut und lustig zu, daß Mr. Miller in seinen Kombinationen abgelenkt wurde und mehrere Fehler machte, die in hohem Grade den Zorn des dicken Herrn erregten und die gute Laune der alten Dame entsprechend hoben.

»Da!« sagte Mr. Miller mit triumphierendem Blick, als er eben einen Stich machte. »Das hätte überhaupt nicht besser gespielt werden können – es war unmöglich, noch einen Stich mehr zu machen.«

»Miller hätte den Buben stechen sollen, nicht wahr, Sir?« sagte die alte Dame.

Mr. Pickwick nickte bejahend.

»Hätte ich sollen?« fragte der Unglückliche mit einem triumphierenden Blick auf seinen Mitspieler.

»Allerdings hätten Sie sollen, Sir!« sagte der dicke Gentleman in zurechtweisendem Tone.

»Schade«, erwiderte gedemütigt Mr. Miller.

»Bin es bei Ihnen schon gewohnt«, brummte der dicke Gentleman.

»Zwei Honneurs – macht acht für uns –«, sagte Mr. Pickwick.

»Können Sie?« fragte die alte Dame.

»Jawohl«, versetzte Mr. Pickwick. »Double, simple – und den Rubber!«

»So ein Glück ist mir noch nicht vorgekommen!« rief Mr. Miller.

»Bei den Karten!« meinte der dicke Gentleman.

Es folgte ein feierliches Schweigen; Mr. Pickwick war fröhlich aufgelegt, die alte Dame ernst, der dicke Gentleman verdrießlich und Mr. Miller verlegen.

»Ein zweiter Double«, rief die alte Dame aus und markierte diesen Umstand dadurch, daß sie einen Sixpence und einen abgenutzten halben Penny unter den Leuchter schob.

»Ein Double, Sir«, meldete Mr. Pickwick.

»Hab es schon gesehen, Sir«, erwiderte der dicke Gentleman in scharfem Ton.

Ein zweites Spiel nahm denselben ungünstigen Verlauf durch ein Versehen Mr. Millers, über das der dicke Gentleman ganz außer sich geriet, so daß er seine Wut über das ganze Spiel kaum mehr zu unterdrücken vermochte. Nach Schluß der Partie zog er sich für genau eine Stunde und siebenundzwanzig Minuten in einen Winkel zurück, wo er seinen Ärger sich stumm austoben ließ. Endlich kam er wieder hervor und bot Mr. Pickwick eine Prise an, mit der Miene eines Mannes, der sich bezwungen hat und erlittenes Unrecht mit dem Mantel der christlichen Liebe bedeckt. Das Gehör der alten Dame hatte sich in der Zwischenzeit auch erheblich gebessert, und der unglückliche Mr. Miller fühlte sich so unbehaglich wie ein Delphin in einem Schilderhaus.

Mittlerweile nahm das Gesellschaftsspiel am andern Tische desto munterer seinen Fortgang. Miß Isabella Wardle und Mr. Trundle bekamen »Ehestand«, desgleichen Emilie und Mr. Snodgraß, und selbst Mr. Tupman und die alte Tante fanden sich zusammen. Mr. Wardle war die gute Laune selbst und handhabte »die Tafel« so spaßhaft, und die Damen strichen ihren Gewinn so eilig ein, daß an dem Tische fortwährend schallendes Gelächter herrschte. Eine alte Dame hatte stets ein halbes Dutzend Karten zu bezahlen, worüber jedesmal alles lachte, und sah sie dabei verdrießlich aus, so wurde nur noch lauter gewiehert. Als sie es schließlich bemerkte, heiterte sich ihre Miene allmählich auf, und sie lachte noch lauter als alle übrigen. Bekam die Tante »Ehestand«, so kicherten die jungen Damen von neuem, und sie schien dann empfindlich werden zu wollen, bis sie Mr. Tupmans Händedruck unter dem Tische fühlte und ein heiteres Gesicht machte, als ob sie sagen wollte, daß sie wohl nicht gar so ferne vom Ehestand war, wie vielleicht gewisse Leute glauben mochten, worüber alle, und besonders Mr. Wardle, der immer dabei war, wenn es einen Spaß gab, abermals lachten. Mr. Snodgraß flüsterte Emilie unentwegt poetische Ergüsse ins Ohr, was einen alten Herrn zu vielen Anzüglichkeiten und Anspielungen auf Partnerschaft im Spiel und im Leben veranlaßte, worüber die Gesellschaft aufs neue in ein herzliches Gelächter ausbrach, namentlich die Ehehälfte des alten Herrn. Mr. Winkle paradierte mit. Witzen, die in der Stadt uralt, aber auf dem Lande noch unbekannt waren, und da alle darüber lachten und sie köstlich fanden, tat er sich viel darauf zugute. Der wohlwollende Geistliche sah heiter zu, denn die vielen glücklichen Gesichter stimmten ihn fröhlich; wenn auch die Stimmung etwas lärmend war, so kam sie doch aus dem Herzen und nicht bloß von den Lippen, worin doch eigentlich die wahre Heiterkeit besteht.

Bei dieser fröhlichen Unterhaltung verstrich der Abend sehr schnell, und als die Gesellschaft nach dem zwar ländlichen, aber schmackhaften Abendessen einen Halbkreis am Kamin bildete, glaubte Mr. Pickwick sich in seinem ganzen Leben noch nie so glücklich und so befähigt gefühlt zu haben, den Zauber der Gegenwart in vollen Zügen zu genießen.

»Sie entschuldigen, Sir, daß ich mir nach einer so kurzen Bekanntschaft eine Bemerkung erlaube«, wandte er sich nach einer längeren Pause an den Geistlichen. »Ich sollte meinen, ein Mann wie Sie müßte in seiner Stellung als Diener des Evangeliums im Lauf der Jahre so manche der Aufzeichnung werte Szenen und Vorfälle erlebt haben.«

»Allerdings ist mir schon vieles vorgekommen«, erwiderte der Geistliche, »doch waren die meisten Ereignisse und Charaktere bei meinem beschränkten Wirkungskreise nicht außergewöhnlicher Art.«

»Aber soviel ich weiß, haben Sie es doch der Mühe wert gefunden, sich einiges über John Edmunds zu notieren, oder?« fragte Mr. Wardle, der im Interesse seiner neuen Gäste eine Erzählung anzuregen suchte.

Der Geistliche nickte bejahend, wollte aber dem Gespräch eine andre Wendung geben, doch Mr. Pickwick ließ sich die Gelegenheit nicht entgehen, und nach einigen Zureden Mr. Wardles und der übrigen Herren und Damen begann der Geistliche ohne weitere Vorrede folgende Erzählung, die wir uns erlauben zu betiteln:

 

Die Rückkehr des Sträflings

»Als ich mich – es sind jetzt bereits fünfundzwanzig Jahre – hier in diesem Dorfe niederließ, war ein Pächter, namens Edmunds, das verrufenste Subjekt in meinem Kirchenspiel. Er war ein mürrischer, bösartiger Mensch, arbeitsscheu und Ausschweifungen ergeben und dabei wild und grausam. Mit Ausnahme einiger weniger liederlicher Vagabunden, mit denen er herumstreichen und sich in den Bier- und Branntweinschenken zu betrinken pflegte, hatte er keinen einzigen Freund oder Bekannten. Niemand mochte gern mit ihm verkehren; viele fürchteten ihn, aber alle verabscheuten ihn, und so wurde er denn von jedermann gemieden.

Dieser Mann nun hatte ein Weib und einen Sohn, der zu der Zeit, als ich hierherkam, etwa zwölf Jahre alt sein mochte. Von den Leiden jener Frau, von der Sanftmut und Geduld, mit der sie sie ertrug, von den Kämpfen und Sorgen, unter denen sie den Knaben erzog, kann man sich schwer einen Begriff machen. Der Himmel möge mir verzeihen, wenn ich dem Manne Unrecht tue, aber ich bin fest davon überzeugt, daß er es viele Jahre hindurch geflissentlich darauf anlegte, sein Weib durch Kummer unter die Erde zu bringen. Sie ertrug jedoch alles geduldig um ihres Kindes und, wie unglaublich es auch klingen mag, um seines Vaters willen; denn so roh er auch war und so grausam er sie behandelte, so hatte sie ihn doch einst geliebt, und die Erinnerung an das, was er ihr gewesen, erweckte Gefühle der Nachsicht und Sanftmut in ihrer Brust, wie man sie unter allen Geschöpfen Gottes bloß bei dem Weibe findet.

Sie waren arm – wie hätte es auch anders sein können, wo der Mann auf solchen Pfaden wandelte –, doch rastlose Arbeit und angestrengter Fleiß der Frau wendeten gänzlichen Mangel ab. Leider wurden ihr ihre Bemühungen übel vergolten. Leute, die noch spät in der Nacht an ihrer Wohnung vorbeizugehen pflegten, erzählten, sie hätten das Wehklagen und Jammern der Frau und das Geräusch von Schlägen gehört, und mehr als einmal hatte der Knabe, lange nach Mitternacht noch, an einem Nachbarhause geklopft, um vor der Wut seines betrunkenen, unnatürlichen Vaters Schutz zu suchen.

Während dieser ganzen Zeit besuchte die arme Frau, die häufig die Spuren der Mißhandlungen nicht ganz verbergen konnte, regelmäßig unsre kleine Kirche. Jeden Sonntag, beim Früh- und Nachmittagsgottesdienst, saß sie mit ihrem Knaben an derselben Stelle, und obgleich beide nur ärmlich – und zwar noch ärmlicher als viele ihrer noch bedürftigeren Nachbarn – gekleidet waren, so war ihr Anzug doch immer sauber und reinlich. Jedermann hatte einen freundlichen Gruß und ein tröstliches Wort für die arme Frau, und wenn sie bisweilen nach dem Gottesdienst unter den Ulmenbäumen vor der Kirche stehenblieb, um ein paar Worte mit einer Nachbarin zu wechseln oder mit all dem Stolze und all der Liebe einer Mutter ihrem blühenden Knaben zuzuschauen, wie er sich mit seinen kleinen Gespielen herumtummelte, dann röteten freudige Empfindungen ihr von Sorgen verzehrtes Gesicht, und sie sah, wenn auch nicht froh und glücklich, doch ruhig und zufrieden aus.

So verstrichen fünf bis sechs Jahre, und der Knabe war zu einem starken, wohlgebauten Jüngling herangewachsen. Die Zeit, die den zarten Gliederbau des Kindes zu männlicher Kraft reifte, hatte die Gestalt der Mutter gebeugt und ihre Schritte wanken gemacht; aber der, der sie hätte stützen sollen, ging nicht mehr an ihrer Seite; der ihr hätte ein Trost sein sollen, kümmerte sich nicht um sie. Immer noch hatte sie ihren alten Platz in der Kirche, aber die Stelle neben ihr war leer. Sie hielt die Bibel so andächtig wie früher in der Hand, aber es war niemand da, sie mit ihr zu lesen. Die Nachbarn waren gegen sie noch ebenso freundlich wie vorher, aber sie wich ihren Grüßen aus mit abgewendetem Gesicht. Nie mehr blieb sie unter den Ulmenbäumen stehen, um von künftigem Glück zu träumen.

Das Maß des Elends der unglücklichen Frau sollte bald voll sein. Zahlreiche Untaten waren in der Umgegend begangen worden; da jedoch die Verbrecher unentdeckt blieben, so trieben sie ihr Unwesen nur um so dreister. Endlich veranlaßte ein mit beispielloser Frechheit verübter Raubüberfall eine ungewöhnlich strenge Nachforschung, die man nicht vermutet hatte. Der Verdacht fiel auf den jungen Edmunds und seine drei Spießgesellen. Er wurde verhaftet, vor Gericht gestellt, für schuldig erkannt – und zum Tode verurteilt.

Der wilde, durchdringende Schrei der Mutter, der durch den Gerichtssaal tönte, als der Richterspruch gefällt wurde, klingt noch heute in meinen Ohren. Er erfüllte das Herz des Verbrechers, auf den das Verhör, die Verhandlung und sogar das Todesurteil keinen Eindruck gemacht hatten, mit Schrecken und Entsetzen. Die Lippen, die bisher starrköpfiger Trotz verschlossen hatte, bebten und öffneten sich unwillkürlich, das Gesicht nahm eine erdfahle Farbe an, und der kalte Schweiß stand ihm auf der Stirn. An allen Gliedern zitternd, wankte er in den Kerker zurück.

In den ersten Ausbrüchen ihrer Seelenangst warf sich die leidende Mutter zu meinen Füßen auf die Knie und flehte inbrünstig zum Allmächtigen, der ihr bisher in all ihren Trübsalen beigestanden, sie von einer Welt voll Elend und Jammer zu erlösen und das Leben ihres einzigen Kindes zu retten. Ein Ausbruch von Schmerz und ein Seelenkampf folgten, wie ich ihn in meinem Leben nicht mehr zu hören hoffe. Ich sah, daß ihr das Herz in dieser Stunde für immer brach, aber niemals kam eine Klage oder ein Murren über ihre Lippen.

Es war ein trauriger Anblick, das arme Weib Tag für Tag in den Gefängnishof gehen zu sehen, um das harte Herz ihres verstockten Sohnes mit heißen Bitten zu erweichen. Sie mühte sich umsonst. Er blieb verschlossen, starrköpfig und ungerührt. Nicht einmal die unvorhergesehene Verwandlung seiner Todesstrafe in vierzehn jährige Deportation vermochte seine Verstocktheit auch nur einen Augenblick zu beugen.

Aber der Geist der Ergebung und Standhaftigkeit, der sie so lange aufrechterhalten hatte, vermochte den Verfall ihres Körpers nicht aufzuhalten. Sie wurde krank. Noch einmal wollte sie ihren Sohn besuchen und wankte mit zitternden Gliedern aus dem Zimmer, aber die Kräfte verließen sie, und sie sank ohnmächtig zu Boden.

Jetzt wurde die Gleichgültigkeit des jungen Mannes, mit der er geprahlt hatte, wirklich auf die Probe gestellt, und die Vergeltung, die über ihn kam, war derart, daß es ihn beinahe wahnsinnig machte. Ein Tag verfloß, und seine Mutter war nicht dagewesen, der nächste ging vorüber, und wieder kam sie nicht; der dritte Abend erschien, und noch immer hatte er sie nicht gesehen, und in vierundzwanzig Stunden sollte er von ihr getrennt werden – vielleicht auf immer. Welch lang vergessene Erinnerungen an die Tage seiner Kindheit mußten in seinem Geiste aufgetaucht sein, als er in seiner schmalen Zelle auf und ab raste, als könnte seine fiebernde Ungeduld die ersehnte Nachricht um so schneller herbeiführen, und wie bitter mußte das Gefühl seiner hilflosen Lage und Verlassenheit sein, das in ihm aufstieg, als er die Wahrheit vernahm! Seine Mutter, die einzige Verwandte, die ihn je geliebt, lag krank danieder – vielleicht in den letzten Zügen. –, kaum eine Viertelstunde von ihm entfernt; wäre er frei und fessellos, in wenigen Minuten stünde er an ihrer Seite. Er rüttelte an den Eisenstäben mit der Kraft der Verzweiflung und stemmte sich gegen die dicke Mauer wie ein wildes Tier, aber das Gebäude spottete seiner schwachen Anstrengungen. Und dann rang er die Hände und weinte wie ein Kind.

Ich brachte ihm den Segen seiner Mutter ins Gefängnis, und ihr, der Kranken, seine feierliche Versicherung der Reue und seine flehentliche Bitte um Vergebung an das Sterbebett. Ich hörte mit innigem Mitleiden den Reuigen tausend Pläne entwerfen, wie er seine Mutter unterstützen wolle, wenn er nur erst zurückgekehrt wäre, aber ich wußte, daß sie schon lange aus der Welt geschieden sein würde, wenn er den Ort seiner Bestimmung erreicht, hätte.

Er wurde bei Nacht weggebracht. Wenige Wochen nachher schwang sich die Seele der Armen, wie ich zuversichtlich hoffe und glaube, zu den Gefilden der ewigen Seligkeit und Ruhe empor. Ich hielt den Leichengottesdienst. Sie liegt auf unserm kleinen Kirchhofe. Kein Stein erhebt sich über ihrem Grabe. Was sie gelitten hat, das wissen die Menschen, ihre Seelenstärke kennt Gott allein.

Es war vor der Deportation des Gefangenen ausgemacht worden, daß er unter meiner Adresse an seine Mutter schreiben sollte, sobald er die Erlaubnis dazu erhalten würde. Der Vater hatte sich von dem Augenblicke der Verhaftung an aufs entschiedenste geweigert, seinen Sohn zu sehen, und es war ihm gänzlich gleichgültig, ob er hingerichtet oder begnadigt werden würde. Eine Reihe von Jahren ging vorüber, ohne daß ich Nachricht von dem Sträfling erhielt, und als mehr als die Hälfte seiner Strafzeit verflossen war und ich noch immer keinen Brief bekommen hatte, vermutete ich, er wäre gestorben, was ich beinah auch hoffte.

Edmunds war bei seiner Ankunft in der Strafkolonie weit in das Innere des Landes verschickt worden, und diesem Umstande war es wohl zuzuschreiben, daß, obgleich er viele Briefe an mich abgeschickt hatte, doch keiner in meine Hände kam. Die ganze Zeit seiner Verbannung blieb er an demselben Orte. Nach Ablauf derselben kehrte er, seinem Entschlusse und dem Versprechen, daß er seiner Mutter gegeben hatte, getreu, unter den größten Entbehrungen nach England zurück und gelangte zu Fuß in seinem Geburtsorte an.

An einem schönen Sonntagabend, im Monat August, setzte John Edmunds seinen Fuß in das Dorf, das er vor siebzehn Jahren in Schmach und Schande verlassen hatte. Sein Weg führte ihn über den Kirchhof. Vielleicht stellte er sich vor, wie er als Kind an seiner Mutter Hand friedlich zur Kirche ging und erinnerte sich an ihr bleiches Gesicht und wie ihre Augen sich bisweilen mit Tränen füllten, wenn sie in seine Züge blickte – Tränen, deren Ursache er damals nicht, gekannt hatte. Dachte vielleicht daran, wie oft er mit seinen Spielkameraden lustig auf diesen Wiesen gespielt und seine Mutter darüber lächeln gesehen und den Ton ihrer milden Stimme gehört hatte.

Er trat in die Kirche, erfuhr ich später. Der Nachmittagsgottesdienst war vorüber, und die Gemeinde hatte sich verlaufen, aber die Tür war noch nicht geschlossen. Seine Tritte widerhallten in der niederen Wölbung, und ein Schauer überfiel ihn, wenn er daran dachte, daß er allein sei; so still und ruhig war es. Er sah sich rings um. Nichts war verändert. Der Raum kam ihm kleiner vor als früher, aber es waren noch die alten Grabmäler, auf denen sein Auge tausendmal mit kindlicher Scheu verweilt hatte; die kleine Kanzel mit ihren verblichenen Kissen; der Altar, vor dem er sooft die Gebete hergesagt, die er ab Knabe verehrt und als Mann vergessen hatte. Er trat an den alten Betstuhl. Etwas Kaltes und Düsteres ging von ihm aus. Das Kissen war fort, und die Bibel lag nicht mehr da. Vielleicht nahm seine Mutter jetzt einen geringeren Stuhl ein, oder war sie zu schwach geworden, um die Kirche allein besuchen zu können? Er wagte es nicht, an das zu denken, was er fürchtete. Ein kalter Schauer überlief ihn, und er zitterte heftig, als er sich wegwandte.

Ein alter Mann trat eben zur Kirchtür herein, als er hinauswollte. Edmunds bebte zurück, denn er kannte ihn wohl; manchmal hatte er ihm zugesehen, wie er ein Grab im Kirchhofe grub. Was mag wohl der Greis zu dem Unglücklichen gesagt haben? Er starrte dem Fremden ins Gesicht, bot ihm einen guten Abend und ging langsam an ihm vorüber, ahnungslos, wer vor ihm stand.

Der Sträfling ging die Anhöhe hinab durch das Dorf. Das Wetter war warm, und die Einwohner saßen vor ihren Haustüren und ergingen sich in ihren Gärten, um sich von der Arbeit zu erholen und den heiteren Abend zu genießen. Manche Blicke richteten sich nach ihm, und oft schielte er verstohlen auf die Seite, um zu sehen, ob ihn jemand erkenne und ihm absichtlich aus dem Wege gehe. Es waren beinahe lauter fremde Gesichter; bisweilen erkannte er die stattliche Gestalt eines alten Schulkameraden, der noch ein Knabe gewesen war, als er ihn zum letzten Male gesehen hatte, von einer Schar lustiger Kinder umgeben; dann sah er einen schwachen, entkräfteten Greis, dessen er sich noch als eines gesunden, rüstigen Arbeiters erinnerte, in einem behaglichen Lehnstuhl vor seiner Haustür sitzen; aber sie hatten ihn alle vergessen, und er ging unerkannt vorüber.

Die letzten milden Strahlen der untergehenden Sonne fielen auf die Erde und warfen ihren feurigen Glanz auf das wogende Kornfeld und verlängerten die Schatten der Fruchtbäume des Gartens, als er vor dem alten Hause stand, der Heimat seiner Kindheit, nach der er sich während der ganzen langen Reihe der Jahre seiner Gefangenschaft und seines Elends so unbeschreiblich gesehnt hatte. Die Umzäunung war niedrig, wiewohl er sich der Zeit noch erinnerte, wo sie ihm wie eine hohe Wand vorgekommen war, und er sah über sie hinweg in den alten Garten. Er erblickte mehr Pflanzen und schönere Blumen, als sonst hier zu finden gewesen, aber die Bäume waren noch die alten, der Baum derselbe, unter dem er tausendmal im Schatten gelegen, wenn er des Spielens in der Sonne überdrüssig war, unter dem ihn sooft der sanfte Schlaf der glücklichen Kindheit umfangen. Er hörte Stimmen im Hause. Er lauschte, aber sie schlugen fremdartig an sein Ohr; er kannte sie nicht. Sie waren zu fröhlich, und er wußte wohl, daß seine arme Mutter nicht heiter sein konnte, solange sie ihn ferne wußte. Die Tür öffnete sich, und eine Schar Kinder hüpfte jubelnd und jauchzend heraus. Der Vater erschien auf der Schwelle mit einem kleinen Jungen auf dem Arm. – – – Der Sträfling dachte daran, wie oft er an dieser Stelle vor dem finsteren Gesicht seines Vaters geflohen war. Er erinnerte sich, wie oft er seinen Kopf zitternd unter der Bettdecke versteckt und die rauhen Worte, die harten schweren Schläge und das Jammern seiner Mutter gehört hatte, und ob er gleich in tiefem Seelenschmerz laut aufschluchzte, als er den Ort verließ, so ließ ihn doch ein grimmer Haß die Fäuste ballen und die Zähne zusammenbeißen.

Das war also die Rückkehr, nach der er so viele Jahre lang geschmachtet und für die er so manche Mühseligkeiten erduldet hatte? Keine Miene des Willkomms, kein Blick der Verzeihung, kein gastfreundliches Haus, keine hilfreiche Hand – und alles das in seinem väterlichen Dorfe! Was war die Einsamkeit in den dichten Wäldern, in die noch keines Menschen Fuß gedrungen, gegen diese Gefühle!

Er sah, daß er sich seinen Geburtsort im fernen Lande seiner Verbannung und Schmach gedacht hatte, wie er ihn verlassen, nicht, wie er ihn bei seiner Rückkehr finden würde. Die traurige Wirklichkeit verwundete sein Herz tief und brach seinen Mut völlig. Er getraute sich nicht, die einzige Person, von der er eine mitleidige und liebevolle Aufnahme erwarten konnte, zu erfragen und aufzusuchen. Langsam ging er weiter und vermied den gewöhnlichen Pfad, gleich einem schuldbewußten Verbrecher. Er schlug den Weg zu einer wohlbekannten Wiese ein und warf sich ins Gras, das Gesicht in den Händen verbergend.

Er hatte nicht bemerkt, daß ein Mann neben ihm auf dem Boden lag. Erst als dieser sich umdrehte, um verstohlen zu sehen, wer denn gekommen, bemerkte ihn Edmunds und hob den Kopf in die Höhe.

Der Mann hatte sich zu einer sitzenden Stellung aufgerichtet. Sein Rücken war gekrümmt und sein Gesicht durchfurcht, und gelb. Sein Anzug kennzeichnete ihn als einen Bewohner des Armenhauses. Er sah sehr alt aus, aber das schien mehr die Folge früherer Ausschweifung und Krankheit als des hohen Alters zu sein. Lange starrte er den Fremden an, und so matt und glanzlos anfangs seine Augen gewesen waren, sosehr nahmen sie jetzt den Ausdruck einer außerordentlichen Unruhe an und erglühten immer unheimlicher und unheimlicher. Edmunds richtete sich langsam auf seine Knie auf und sah dem alten Manne aufmerksamer ins Gesicht. So starrten sie einander schweigend an.

Der Greis erbleichte. Er schauderte und stellte sich zitternd auf seine wankenden Füße. Als Edmunds sich ihm näherte, bebte er zurück. Edmunds trat auf ihn zu.

›Ich will deine Stimme hören‹, sagte er, und es schnürte ihm fast die Kehle zu.

›Weg von mir!‹ rief der Alte mit einem schrecklichen Fluch. Der Sträfling trat näher.

›Weg von mir!‹ schrie der Greis wieder. Wütend erhob er seinen Stock und versetzte ihm einen Hieb über das Gesicht.

›Vater! – Teufel!‹ murmelte Edmunds zwischen den Zähnen, sprang wild auf und packte den Alten bei der Kehle. – Aber es war doch sein Vater! – Kraftlos fiel sein Arm nieder.

Der Greis stieß einen gellenden Schrei aus, der über die einsamen Felder hintönte wie das Geheul eines bösen Geistes. Sein Gesicht wurde schwarzblau. Das Blut strömte ihm aus Mund und Nase und färbte das Gras dunkelrot. Er wankte und fiel zu Boden. Ein Blutgefäß war ihm gesprungen, und er lag da, eine Leiche, ehe noch sein Sohn ihn aus der Blutlache aufrichten konnte.

In einem Winkel des Kirchhofs«, fuhr der alte Herr nach einem minutenlangen Stillschweigen fort, »ruht ein Mann, der nach diesem Ereignis drei Jahre lang mein Arbeiter gewesen und die demütigste Reue und Zerknirschung zeigte, wie nur jemals ein Sterblicher. Niemand, außer mir, wußte zu seinen Lebzeiten, wer er war oder woher er kam. Es war John Edmunds, der zurückgekehrte Sträfling.«


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