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Fünfzehntes Kapitel

Eine kurze Beschreibung der Gesellschaft im »Pfau« und die Erzählung des Reisenden.


Wie köstlich ist es doch, von den Wirren der Politik wieder zur friedlichen Ruhe des Privatlebens zurückzukehren. Wenn auch nicht erklärter Anhänger der einen oder andern Partei, war Mr. Pickwick doch von der Begeisterung Mr. Potts so weit angesteckt, daß er seine ganze Zeit und Aufmerksamkeit den Wahlvorgängen widmete. Auch Mr. Winkle ging inzwischen nicht müßig und verwandte seine ganze Zeit auf angenehme Spaziergänge und Ausflüge in die Umgegend mit Mrs. Pott, die sich solche Gelegenheiten, sich von der langweiligen Eintönigkeit zu erholen, nie entgehen ließ. Während so die beiden Herren im Hause Mr. Potts sich vollkommen eingewöhnt hatten, waren die Herren Tupman und Snodgraß fast ganz hinsichtlich der Unterhaltung auf ihre eignen Hilfsquellen angewiesen. Ohne besonderes Interesse für öffentliche Angelegenheiten vertrieben sie sich ihre Zeit mit Ergötzlichkeiten, wie sie der »Pfau« darbot und die auf eine Art italienisches Billard im ersten Stockwerk und eine Kegelbahn im Hinterhause beschränkt waren.

Abends hingegen war das Gastzimmer der Versammlungsort eines geselligen Kreises, dessen Leben und Treiben die beiden Freunde ungemein anzog.

Wohl jedermann weiß, was man sich gewöhnlich unter einem Gastzimmer vorzustellen hat. Das im »Pfauen« zeichnete sich nicht wesentlich vor andern aus; es war nämlich ein großes, nackt aussehendes Zimmer, dessen Ameublement ohne Zweifel besser gewesen, als es noch neu war, mit einem großen Tisch in der Mitte und einer Menge Taburetts in den Ecken, einer bedeutenden Menge verschieden geformter Stühle und einem alten türkischen Teppich, dessen Dimensionen zu der Größe des Zimmers ungefähr im selben Verhältnis standen wie etwa ein Damentaschentuch zum Fußboden eines Schilderhäuschens. Die Wände waren mit ein paar großen Landkarten verziert, und in einer Ecke hingen an einer langen Reihe großer hölzerner Nägel verschiedne regengewohnte grobe Überröcke mit doppelten Kragen. Auf dem Kamingesimse stand ein hölzernes Tintenzeug mit einem Federstümpfchen und einer halben Oblate, ein Reisehandbuch und ein Wegweiser, eine Geschichte der Grafschaft ohne Einband und eine präparierte Forelle in einem gläsernen Sarge. Die Atmosphäre war mit Tabakrauch geschwängert, der dem ganzen Zimmer und besonders den staubigen roten Fenstervorhängen seine bräunliche Färbung mitgeteilt hatte. Auf dem Schenktische lagen in malerischer Unordnung eine Menge verschiedenartiger Gerätschaften, von denen einige sehr schmutzige Fischsaucefläschchen, ein paar Reitgerten, zwei bis drei Fuhrmannspeitschen und ebenso viele Reisemäntel, ein Besteckbehälter und ein Senftopf am meisten in die Augen fielen.

Hier saßen am Abend nach Schluß der Wahl Mr. Tupman und Mr. Snodgraß, rauchend und trinkend, nebst einigen andern Gästen.

»Prosit, Gentlemen«, sagte ein stattlicher, gesund aussehender Mann in den Vierzigern mit nur einem, aber sehr glänzenden schwarzen Auge, das nur so von Schelmerei und guter Laune blitzte. »Auf unser eignes Wohl, Gentlemen. Dies ist immer mein Toast, den ich der Gesellschaft vorschlage; auf Marys Wohl trinke ich für mich allein. He, Mary!«

»Aber lassen Sie mich, Sie Schlimmer«, sagte das Schenkmädchen, offenbar durch das Kompliment nicht besonders aufgebracht.

»Lauf nur nicht gleich davon, Mary«, sagte der Schwarzäugige.

»Lassen Sie mich in Frieden, Sie impertinenter Mensch, Sie«, entgegnete die junge Dame.

»Denke nicht daran«, rief der Einäugige dem Mädchen nach, das eben das Zimmer verließ. »Gleich bin ich bei dir, Mary, nur nicht grämen, Kind!« Er zwinkerte dabei mit seinem einen Auge, was einen ältlichen Mann mit einem schmutzigen Gesicht und einer Tonpfeife ungemein ergötzte.

»Kuriose Geschöpfe die Weibsen«, sagte der Mensch mit dem Schmutzgesicht nach einer Pause.

»Oh! Ohne Zweifel«, bestätigte ein Mann mit einer kupferroten Nase hinter seiner Zigarre hervor.

Eine zweite Pause entstand nach diesem philosophischen Aphorismus.

»'s gibt noch Seltsameres in der Welt als die Weiber, hm«, bemerkte der Mann mit dem schwarzen Auge und stopfte sich langsam seine lange holländische Pfeife.

»Sind wohl nicht verheiratet?« fragte das Schmutzgesicht.

»Kann ich nicht behaupten.«

»Hab mir's gleich gedacht.« Das Schmutzgesicht lachte laut vor Freude über seinen Scharfsinn, und ein Mann mit einer sanften Stimme und einem friedlichen Gesicht, der offenbar gern jedermanns Ansicht beipflichtete, stimmte in das Lachen ein.

»Die Frauen, meine Herren«, mischte sich enthusiastisch Mr. Snodgraß ins Gespräch, »sind eben doch die Stütze und die Zierde unsres Lebens.«

»Ja, das sind sie«, sagte der friedliche Gentleman.

»Wenn sie gut aufgelegt sind«, bemerkte das Schmutzgesicht.

»Auch wahr«, gab der Friedliche zu.

»Ich muß diese Einschränkung zurückweisen«, sagte Mr. Snodgraß, dessen Gedanken ohne Zweifel bei Emilie Wardle weilten. »Ich weise sie mit Unwillen, mit Entrüstung zurück. Zeigen Sie mir den Mann, der etwas gegen die Frauen als solche hat, und ich behaupte kühn, er ist kein Mann.« Mr. Snodgraß nahm seine Zigarre aus dem Mund und schlug mit geballter Faust auf den Tisch.

»Ein sehr begründetes Argument«, sagte der Friedliche.

»Leugne ich entschieden«, unterbrach ihn das Schmutzgesicht.

»Auch darin liegt sehr viel Wahres«, pflichtete ihm der Friedliche bei.

»Prosit, Sir«, sagte der Reisende mit dem einen Auge und nickte Mr. Snodgraß beifällig zu.

Mr. Snodgraß erhob sein Glas.

»Ich höre immer gern ein gutes Argument«, fuhr der Reisende fort. »Besonders ein so scharfsinniges wie dieses. Übrigens, Weiber! Das bringt mich auf eine Geschichte, die ich meinen alten Onkel immer erzählen hörte, und deswegen sagte ich auch, es gäbe bisweilen noch Seltsameres auf der Welt als die Weiber.«

»Na, die Geschichte würde ich aber gerne hören«, sagte der mit der Kupfernase und der Zigarre.

»Möchten Sie sie hören? So?« sagte der Reisende und rauchte mit großer Vehemenz.

»Ich auch«, meldete sich Mr. Tupman, der jetzt zum ersten Male den Mund öffnete, immer darauf bedacht, den Schatz seines Wissens zu erweitern.

»Möchten Sie? Gut, dann will ich sie erzählen. Aber nein, besser nicht. Sie würden sie ja doch nicht glauben«, erwiderte der Reisende und blinzelte wieder schelmisch.

»Wenn Sie sagen, sie ist wahr, werde ich sie natürlich glauben«, versicherte Mr. Tupman.

»Also gut, wenn Sie mir das versprechen«, erwiderte der Reisende. »Haben Sie schon mal von dem großen Handelshause Bilson und Slum gehört? Wenn nicht, tut's nichts zur Sache, die Firma existiert heute nicht mehr. Es ist jetzt achtzig Jahre her, daß die Geschichte einem Reisenden dieses Hauses begegnet ist; er war ein spezieller Freund meines Onkels, und von dem weiß ich sie. Er nannte sie immer nur die Geschichte des Tom Smart und pflegte sie folgendermaßen zu erzählen:

 

An einem Winterabend, so um fünf Uhr, als es eben anfing dunkel zu werden, hätte man einen Mann in einem Gig sehen können, der sein müdes Pferd die Straße entlangtrieb, die über die Marlborough-Hügel nach Bristol führt. Ich sage: man hätte ihn sehen können, und ich zweifle auch nicht daran, daß man ihn gesehen hätte, wenn irgend jemand, der nicht blind war, zufällig dieses Wegs dahergekommen wäre; aber das Wetter war so schlecht und die Nacht so kalt und naß, daß niemand draußen war als das Wasser. So holperte denn der Reisende in seinem Wagen einsam und traurig mitten auf der Straße dahin. Wenn ein Handlungsreisender jener Tage auch nur einen Blick auf das kleine halsbrecherische Gig mit dem tonfarbenen Kasten und den roten Rädern geworfen hätte und auf die bösartige, launische, aber schnellfüßige braune Mähre davor, die wie eine Kreuzung zwischen Fleischergaul und Zweipennypost-Klepper aussah, so hätte er gleich gewußt, daß dieser Reisende niemand anders sein konnte als Tom Smart von Bilson und Slum, Cateaton Street, City. Nun war aber so und so kein Handlungsreisender zum Blickwerfen da, und deshalb wußte niemand etwas von der Sache, sondern Tom Smart und sein tonfarbenes Gig mit den roten Rädern sowie die flinke, launische Mähre zogen vereint dahin und behielten das Geheimnis für sich – niemand war auch nur einen Happen schlauer geworden.

Sogar in dieser traurigen Welt gibt es angenehmere Stellen als die Marlborough-Hügel bei scharfem Wind. Wenn man dazu noch an die schmutzige grundlose Straße nebst prasselndem Dauerregen denkt und die Wirkung mal versuchsweise an seiner eigenen werten Person ausprobiert, dann lernt man das volle Gewicht dieser Bemerkung kennen.

Der Wind blies, nicht etwa straßauf oder straßab, obgleich das auch schon schlimm genug gewesen wäre, sondern quer darüber weg; dabei fegte er den Regen ganz schräg herunter, etwa so wie die Zeilen im Heft eines kleinen Schuljungen. Einen Augenblick schien er nachlassen zu wollen, und der Reisende fing schon an, sich in Hoffnungen zu wiegen, der Wind wäre von seiner eigenen Wut so erschöpft, daß er ganz zur Ruhe kommen würde, da hörte er ihn, hui, in der Ferne rauschen und pfeifen, und schon kam er wieder, raste über die Hügel, fegte die Ebene entlang, steigerte sich, während er näher kam, an Kraft und Lautstärke, bis er sich mit einem wuchtigen Stoß auf Roß und Mann warf, ihnen den scharfen Regen in die Ohren und seinen kalten, feuchten Atem durch Mark und Bein trieb. Dann sauste er an ihnen vorbei, weit, weit weg, mit ohrenbetäubendem Gebrüll, als ob er über ihre Ohnmacht spottete und in dem Bewußtsein seiner eigenen Macht und Gewalt triumphierte.

Die Mähre trabte durch dick und dünn mit herabhängenden Ohren, nur dann und wann den Kopf schüttelnd, als wolle sie ihr Mißfallen über dieses höchst ungebührliche Benehmen der Elemente zu erkennen geben; dabei hielt sie sich jedoch immer in flottem Trab, bis sie ein Windstoß, der alle früheren an Wucht übertraf, plötzlich veranlaßte, haltzumachen und sich mit ihren vier Beinen fest gegen den Boden zu stemmen, um nicht über den Haufen geweht zu werden. Es war ein besondres Glück, daß sie das tat, denn wäre sie umgeworfen worden – sie war leicht, das Gig nicht schwer und Tom Smarts Gewicht nur so eine Art Zugabe –, so wären sie unfehlbar alle drei fortgekollert, bis sie das Ende der Erde erreicht oder die Windstöße nachgelassen hätten, und wahrscheinlich wären weder die launische Mähre noch das tonfarbene Gig mit den roten Rädern, noch Tom Smart jemals wieder diensttauglich geworden.

›Himmelherrgottsakrament‹, sagte Tom Smart, denn er hatte bisweilen die üble Gewohnheit zu fluchen. ›Hol der Teufel das Fuhrwerk samt Geschirr‹, sagte Tom. ›Und noch einmal. Und noch einmal!‹

Sie werden mich wahrscheinlich fragen, warum Tom Smart den Wunsch ausdrückte, diesem Prozeß zweimal hintereinander unterworfen zu werden. Ich kann es nicht sagen und weiß nur, daß Tom Smart es wünschte oder daß mein Onkel es immer behauptete, was schließlich auf eins herauskommt.

›Und noch einmal! Und noch einmal!‹ sagte Tom Smart, und die Mähre wieherte, als ob sie ganz seiner Ansicht war.

›Munter, altes Mädchen‹, sagte er dann und klopfte dem Gaul mit dem Peitschenstiel auf den Hals, ›im ersten Haus, an das wir kommen, kehren wir ein, und je schneller du läufst, desto schneller geht es vorüber. Brrr, Alte, öh, öh.‹

Ob die launische Mähre Tom verstand oder ob sie fand, daß ihr beim Stehenbleiben noch kälter würde, kann ich natürlich nicht wissen. Aber das eine ist sicher, kaum hatte Tom den Mund geschlossen, da spitzte sie die Ohren und galoppierte fort, daß ihrem Herrn Hören und Sehen verging. Erst vor einem Gasthause auf der rechten Seite der Straße, ungefähr eine halbe Viertelmeile vor dem Ende der Ebene, machte sie aus freiem Antriebe halt.

Tom warf einen schnellen Blick, während er die Zügel dem Hausknecht zuwarf und die Peitsche neben den Bock steckte, auf das Haus. Es war ein sonderbares altmodisches Gebäude, mit Schindeln gedeckt und von Querbalken durchzogen, mit Giebelfenstern, die die ganze Breite des Fußweges neben der Straße überragten, und einem niederen Tor mit dunklem Eingang. Ein paar steile Stufen führten in das Haus hinab, anstatt, wie bei modernen Gebäuden, hinauf. Und doch hatte das Ganze ein einladendes Aussehen, denn im Gastzimmer brannte ein helles, freundliches Licht, das einen hellen Schein über die Straße warf und sogar die gegenüberstehende Hecke beleuchtete. All das mit dem Blick des erfahrenen Reisenden erfassend, stieg Tom so behend ab, als es seine halberfrornen Glieder gestatteten, und trat in das Haus.

In weniger als fünf Minuten saß er in dem Zimmer gegenüber dem Schenkstübchen an einem tüchtigen Feuer, dessen Knistern und Prasseln allein schon das Herz eines Mannes von Gemüt hätte erwärmen können. Aber das war noch nicht alles, denn ein schmuckgekleidetes Mädchen mit blitzenden Augen und zierlichen Fesseln breitete ein sauberes weißes Tischtuch vor ihm aus, und als Tom so dasaß, mit seinen Füßen, die bereits in Pantoffeln staken, auf dem Kamingitter und den Rücken der offenen Tür zugekehrt, sah er im Schenkverschlag durch den Spiegel, der vor ihm hing, köstliche Reihen grüner Flaschen mit goldenen Etiketten neben Krügen mit eingemachten Früchten, Käse, abgesottne Schinken und Ochsenfleisch in der schönsten Ordnung und in der appetitlichsten Weise auf Brettern aufgestellt. Das war auch recht behaglich, aber immer noch nicht alles, denn im Schenkverschlag saß am niedlichsten aller Teetischchen vor einem Nebenkamin eine stattliche Witwe von ungefähr achtundvierzig Jahren mit einem Gesicht so freundlich wie das Zimmer selbst. Offenbar die Frau des Hauses und Gebieterin über alle diese herrlichen Besitztümer. Nur eine störende Linie war in dem ganzen schönen Gemälde, und das war ein großer Mann, ein sehr großer Mann, der neben der Witwe beim Tee saß. Er hatte einen braunen Rock mit glänzenden Knöpfen, einen schwarzen Backenbart und buschiges dunkles Haar, und es gehörte gerade kein großer Scharfblick dazu, um zu erkennen, daß er auf dem besten Wege war, seine Nachbarin zu überreden, nicht länger Witfrau zu bleiben, sondern auf ihn das Vorrecht zu übertragen, den ganzen Rest seines Lebens hindurch im Schenkstübchen sitzen zu dürfen.

Tom Smart war keineswegs reizbar oder mißgünstig veranlagt; aber immerhin, der große Mann in dem braunen Rock mit den glänzenden Knöpfen regte das Tröpfchen Galle auf, das in seiner Konstitution lag, und machte ihn um so unwilliger, als er dann und wann von seinem Sitze vor dem Spiegel aus gewisse kleine Vertraulichkeiten zärtlicher Natur bemerkte, die sich zwischen dem großen Mann und der Witwe abspielten und hinlänglich beurkundeten, daß der große Mann sich einer Gunst erfreute, die im richtigen Verhältnis zu seiner Größe stand.

Tom trank gern heißen Punsch – ich kann es wagen zu behaupten, daß er sehr gern heißen Punsch trank –, und nachdem er sich darum gekümmert hatte, daß seine launische Mähre gut untergebracht und versorgt war und er selbst das köstliche, kleine heiße Abendessen, das die Witwe ihm eigenhändig anrichtete, bis auf den letzten Bissen verzehrt hatte, bestellte er versuchsweise ein Glas Punsch. Nun gab es im ganzen Kapitel der Haushaltungskunst nicht einen Artikel, auf den sich die Wirtin besser verstand als eben die Punschbereitung, und das erste Glas sagte Tom Smarts Gaumen so sehr zu, daß er möglichst schnell ein zweites bestellte.

Warmer Punsch ist eine gute Sache, Gentlemen, eine ausgezeichnete Sache unter allen Verhältnissen, aber in der behaglichen alten Stube, vor dem knisternden Feuer, während der Wind draußen tobte, daß alle Balken im ganzen Hause ächzten, fand ihn Tom Smart über alle Maßen köstlich. Er ließ sich noch ein Glas geben, und dann noch eins – ich weiß nicht genau, ob er nach diesem nicht noch eins trank –, aber je mehr heißen Punsch er trank, desto weniger ging ihm der große Mann aus dem Kopf.

›Verdammte Unverschämtheit‹, brummte er. ›Was hat er in dem behaglichen Stübchen zu tun? So ein widerwärtiger Kerl! Wenn die Witwe nur ein bißchen Geschmack hätte, würde sie sich einen Besseren aussuchen.‹ Toms Auge wendete sich von dem Spiegel nach dem Trinkglas, und da er merkte, daß er allmählich gefühlvoll wurde, leerte er das vierte Glas Punsch und bestellte ein fünftes.

Tom Smart, Gentlemen, hatte von jeher eine große Neigung zu einer öffentlichen Stellung. Sein Sinn stand schon lange darnach, ein Schenkstübchen sein eigen nennen zu können und darin zu herrschen, angetan mit einem grauen Rock, kurzen Hosen und Stulpenstiefeln. Er legte großen Wert darauf, bei geselligen Mahlzeiten den Vorsitz zu führen, und oft dachte er daran, wie gut es ihm anstehen würde, an seinem eignen Tisch die Unterhaltung zu leiten und seinen Kunden in der Trinkstube mit trefflichem Beispiel voranzugehen. Lauter solche Gedanken schossen Tom durch den Kopf, als er vor dem knisternden Feuer beim warmen Punsch saß, und er war ganz erbost darüber, daß der Lange sichtlich auf so gutem Wege war, ein solch treffliches Haus zu erobern, während er, Tom Smart, so weit davon entfernt war wie je. Nachdem er bei seinen letzten zwei Gläsern noch gründlich mit sich zu Rate gegangen, ob er ein begründetes Recht hätte, deswegen einen Streit mit dem Langen anzufangen, kam er schließlich zu der Überzeugung, er sei eben ein geschlagener und vom Schicksal verfolgter Mann und tue wohl am besten, zu Bett zu gehen.

Das schmucke Dienstmädchen leuchtete ihm über eine breite alte Treppe voran und hielt die Hand vor das Nachtlicht, um es vor dem Wind zu schützen, der in einem solchen alten, unregelmäßig angelegten Gebäude reichlich Gelegenheit hatte, sich zu belustigen, auch ohne die Kerze auszublasen; aber diese Vorsichtsmaßregel verfehlte ihren Zweck. Er blies sie doch aus und gab dadurch Toms Feinden Gelegenheit zu der Behauptung, er und nicht der Wind habe das Licht ausgelöscht, bloß, um unter dem Vorwande, es wieder anzünden zu wollen, das Mädchen zu küssen. So oder so, es wurde ein andres Licht gebracht und Tom durch eine Menge Gemächer und ein Labyrinth von Gängen in sein Zimmer geführt. Das Mädchen wünschte ihm gute Nacht und ließ ihn allein.

Es war ein großes geräumiges Zimmer mit hohen Schränken und einem Bett, das für ein ganzes Internat Raum genug gehabt hätte – ein paar Eichentruhen nicht zu erwähnen, die das Gepäck einer kleinen Armee hätten in sich aufnehmen können –; doch was Tom am meisten auffiel, war ein sonderbarer, unheimlich aussehender Lehnstuhl mit hohem Rücken und höchst phantastischem Schnitzwerk. Er hatte einen Überzug von geblümtem Damast, und die runden Knäufe seiner Beine waren sorgfältig mit rotem Tuch umwickelt, als hätte er die Gicht in den Zehen. Von jedem andern sonderbaren Sessel würde Tom nichts andres gedacht haben als, er sei nun einmal ein sonderbarer Stuhl, und damit wäre die Sache abgemacht gewesen; aber dieses eigentümliche Möbel hatte etwas Besonderes an sich, und doch konnte Tom nicht sagen, was; so seltsam und verschieden von jedem andern hatte er noch keinen Sessel gesehen. Er schien ihn förmlich zu bezaubern. Tom setzte sich vor das Feuer und starrte ihn wohl eine halbe Stunde lang an. Hol's der Teufel, was war das für ein seltsames altes Stück, daß man die Augen nicht davon abwenden konnte!

Nein, sagte sich Tom, kleidete sich langsam aus und starrte dabei, unentwegt, die ganze Zeit den alten Stuhl an, wie er so geheimnisvoll vor dem Bett stand. Mein Lebtag habe ich noch nie ein so seltsames Ding gesehen wie dieses. Sehr seltsam, sagte sich Tom, den der warme Punsch etwas nachdenklich gestimmt hatte. Sehr seltsam. Er schüttelte den Kopf mit einer Miene hoher Weisheit, und wieder mußte er den Stuhl ansehen. Er wußte nicht, was er daraus machen sollte, ging jedoch zu Bett, deckte sich warm zu und schlief ein.

Nach einer halben Stunde fuhr er aus dem Schlafe auf. Er hatte einen wirren Traum von großen Männern und Punschgläsern gehabt, und das erste, was sich ihm im Halbwachen darbot, war der seltsame Stuhl.

Ich will ihn nicht mehr ansehen, nahm sich Tom vor, schloß die Augen und versuchte sich einzureden, er schlafe schon wieder. Umsonst. Lauter seltsame Stühle tanzten vor seinen Augen, grätschten die Beine und schwangen sich im Bocksprung einander über den Rücken und machten allerlei tolle Kapriolen.

Lieber einen wirklichen Stuhl sehen als ein paar Dutzend eingebildete, sagte sich Tom und steckte den Kopf unter der Bettdecke hervor. Aber immer noch sah der Stuhl so herausfordernd drein wie vordem.

Starr betrachtete ihn Tom, da ging plötzlich eine außerordentliche Veränderung vor sich. Das Schnitzwerk auf der Lehne nahm allmählich die Züge und den Ausdruck eines alten gefurchten Menschengesichts an, das damastene Polster wurde eine altmodische Weste mit Schößen, die runden Knäufe verwandelten sich in ein Paar Füße, die in roten Tuchpantoffeln staken, und der ganze Stuhl glich einem häßlichen alten Mann aus dem vorigen Jahrhundert mit in die Hüften gestemmten Armen. Tom richtete sich im Bett auf und rieb sich die Augen. Vergebens. Der Stuhl war und blieb ein häßlicher alter Herr, und was noch mehr war, er zwinkerte ihm zu.

Tom war von Natur ein herzhafter, mutiger Bursche und hatte zudem fünf Gläser warmen Punsch getrunken. Sein Unwille gewann daher bald die Oberhand über seine anfängliche Bestürzung, als er sah, daß der alte Herr nicht aufhörte, ihn mit unverschämter Miene anzustarren und ihm zuzuzwinkern, und endlich entschloß er sich, das nicht länger so geduldig hinzunehmen. Und als daher das alte Gesicht wieder einmal stärker grinste, fragte Tom in höchst ärgerlichem Tone:

›Warum, zum Teufel, zwinkerst du denn fortwährend?‹

›Weil es mir so paßt, Tom Smart‹, sagte der Stuhl oder der alte Herr, wie Sie ihn nennen mögen. Er hörte zwar auf zu zwinkern, als Tom sprach, grinste ihn aber an, wie ein altersschwacher Affe.

›Woher weißt du meinen Namen, altes Nußknackergesicht?‹ fragte Tom Smart etwas betreten, obwohl er sich unbefangen stellte.

›Laß das, Tom‹, sagte der alte Herr, ›das ist nicht die Art, einen soliden spanischen Mahagoni anzureden. Gott straf mich, du benimmst dich ja rein, als ob ich nur furniert wäre.‹ Der alte Herr sah bei diesen Worten so zornig drein, daß Tom sich zu fürchten anfing.

›Ich wollte es Ihnen gegenüber durchaus nicht an Respekt fehlen lassen, Sir‹, entschuldigte sich Tom, viel höflicher als vorher.

›Schon gut, schon gut‹, erwiderte der Alte, ›kann ja sein, Tom.‹

›Sir+…‹

›Ich kenne deine Verhältnisse, Tom! Genau. Du bist sehr arm, Tom.‹

›Leider nur zu wahr‹, versetzte Tom, ›aber woher wissen Sie das?‹

›Frag jetzt nicht. Übrigens bist du auch viel zu sehr dem Punsch zugetan, Tom!‹

Tom Smart wollte beteuern, er habe seit seinem letzten Geburtstag keinen Tropfen mehr getrunken, aber als sein Blick dem Auge des alten Herrn begegnete, sah dieser so eingeweiht drein, daß er errötete und schwieg.

›Tom‹, fuhr der alte Herr fort, ›die Witwe unten ist eine hübsche Frau, eine außerordentlich hübsche Frau, was, Tom?‹ Er riß dabei die Augen weit auf, zog eines seiner dürren kleinen Beine in die Höhe und machte ein so widerlich-verliebtes Gesicht, daß Tom förmlich ein Ekel ob dieses frivolen Benehmens überkam. – Ich bitte Sie, bei dem Alter des Herrn!

›Ich bin ihr Vormund, Tom.‹

›Was Sie nicht sagen!‹ staunte Tom Smart.

›Ich habe ihre Mutter gekannt, Tom‹, fuhr der Alte fort, ›und ihre Großmutter. Sie war sehr verliebt in mich, machte mir diese Weste, Tom.‹

›Wahrhaftig?‹ fragte Tom Smart.

›Und diese Schuhe‹, erzählte der Alte weiter, einen seiner roten Pantoffelfüße emporhebend. ›Aber sprich nicht darüber, Tom. Ich möchte nicht, daß es bekannt würde, wie sehr sie an mir hing. Es könnte störend auf den Familienfrieden wirken.‹

Der alte Geck sah bei diesen Worten so außerordentlich unverschämt drein, daß sich Tom Smart, wie er nachher erklärte, gar kein Gewissen daraus gemacht hätte, sich auf ihn zu setzen.

›Ich war zu meiner Zeit ein großer Liebling der Damen, Tom‹, fuhr der schamlose alte Sünder fort. ›Hunderte schöner Weiber haben stundenlang auf meinem Schoße gesessen. Was sagst du dazu, Bursche, was?‹ Der alte Herr wollte noch einige galante Abenteuer aus seiner Jugendzeit zum besten geben, bekam aber einen solchen Anfall von Knarren, daß er außerstande war, fortzufahren.

Geschieht dir ganz recht, alter Schuft, dachte Tom Smart, sagte aber kein Wörtchen.

›Ach!‹ fing der Alte wieder an, ›jetzt habe ich meine liebe Not dafür. Ich werde alt, Tom, und gehe allmählich aus dem Leim. Auch habe ich eine Operation ausgestanden, man hat mir ein kleines Stück in den Rücken eingesetzt, und das war eine schwere Heimsuchung, Tom.‹

›Das glaube ich gern, Sir‹, sagte Tom Smart.

›Aber genug davon‹, fuhr der alte Herr fort. ›Kurz und gut, Tom, du mußt die Witwe heiraten.‹

›Ich, Sir?‹

›Du, jawohl‹, antwortete der alte Herr.

›Gottes Segen auf Ihr ehrwürdiges Haupt‹, sagte Tom, denn der alte Herr hatte noch ein paar Pferdehaare. ›Gottes Segen; aber sie will mich doch nicht.‹ Und Tom seufzte unwillkürlich, als er an das Schenkstübchen dachte.

›Sie will nicht?‹ fragte der alte Herr in strengem Ton.

›Nein, bestimmt nicht‹, antwortete Tom, ›sie hat ein Auge auf einen andern geworfen. Ein langer Bursche – ein verdammt langer Bursche – mit einem schwarzen Backenbart.‹

›Tom‹, tröstete der alte Herr, ›sie wird ihn nicht nehmen.‹

›Nicht nehmen?‹ wiederholte Tom. ›Wären Sie im Schenkstübchen gewesen, alter Herr, würden Sie anders reden.‹

›Pah! Pah!‹ sagte der alte Herr, ›weiß doch alles.‹

›Was wissen Sie?‹

›Daß sie sich hinter der Tür küssen, und so weiter, Tom‹, antwortete der alte Herr und sah dabei wieder so frivol drein, daß Tom außerordentlich zornig wurde, denn einen Greis, der schon gescheiter sein sollte, von solchen Dingen sprechen zu hören, ist höchst widerlich, widerlicher als irgend etwas; das werden Sie zugeben, Gentlemen.

›Ich kenne mich aus‹, sagte der alte Herr. ›Zu meiner Zeit habe ich so was sehr oft gesehen, Tom, bei mehr Leuten, als ich für gut finde, dir zu nennen; aber schließlich führte es doch zu nichts.‹

›Sie müssen merkwürdige Dinge gesehen haben‹, bemerkte Tom mit einem forschenden Blick.

›Da magst du recht haben, Tom‹, erwiderte der Alte mit einem sehr bedeutungsvollen Zwinkern. ›Ich bin der Letzte meines Stammes, Tom‹, fügte er mit einem schwermütigen Seufzer hinzu.

›War sie zahlreich, Ihre Familie?‹ fragte Tom Smart.

›Wir waren unser zwölf, Tom, hübsche, schmucke steifrückige Gesellen, wie du nur welche sehen kannst. Keine von euren neumodischen Mißgeburten, alle mit Armen, und poliert, daß einem das Herz im Leibe lachte, wenn man sie nur sah.‹

›Und was wurde aus den andern, Sir?‹ fragte Tom Smart.

Der alte Herr wischte sich mit den Ellenbogen das Auge: ›Dahin, Tom, dahin. Wir hatten schweren Dienst, Tom, und sie waren nicht alle so fest wie ich. Bekamen die Gicht in den Beinen und Armen und wanderten in Küchen und andre Hospitäler; einer verlor durch den schweren Dienst und die übermäßige Anstrengung alle seine Sinne; er wurde so elend, daß man ihn verbrennen mußte. Schauerlich, was, Tom?‹

›Furchtbar!‹ bestätigte Tom Smart.

Der alte Knabe schwieg wieder einige Minuten lang, augenscheinlich tief ergriffen, und fuhr dann fort:

›Aber ich schweife von meinem Thema ab, Tom. Der lange Bursche, Tom, ist ein spitzbübischer Glücksritter. In demselben Augenblick, wo er die Witwe heiratete, würde er das ganze Mobiliar verkaufen und sich davonmachen. Was wäre die Folge davon? Sie wäre eine verlassene, zugrunde gerichtete Frau, und ich würde in irgendeiner Trödlerbude an Erkältung sterben.‹

›Gut, aber+…‹

›Unterbrich mich nicht‹, sagte der alte Herr. ›Von dir, Tom, habe ich eine ganz andre Meinung; ich weiß, wenn du dich nur einmal in einem Wirtshause festgesetzt hättest, so würdest du es nie mehr verlassen, solange es noch innerhalb seiner Wände etwas zu trinken gäbe.‹

›Ich bin Ihnen für Ihre gute Meinung sehr verbunden‹, sagte Tom Smart.

›Eben deshalb‹, erklärte der alte Herr in diktatorischem Ton, ›sollst du und nicht er die Witwe haben.‹

›Wie soll ich das aber anstellen?‹ fragte Tom Smart hastig.

›Durch die Enthüllung, daß er schon verheiratet ist.‹

›Wie kann ich das beweisen?‹ fragte Tom und sprang halb aus dem Bett.

Der alte Herr hob seinen Arm in die Höhe und deutete nach einem der beiden Schränke. ›Er denkt nicht daran‹, sagte er, ›daß er in der rechten Tasche seiner Hosen, die in diesem Kasten hängen, einen Brief vergessen hat, worin er angefleht wird, zu seinem trostlosen Weibe mit ihren sechs – höre, Tom –, sechs Kindern, und alle noch unmündig, zurückzukehren.‹

Noch während der alte Herr in feierlichem Ton das verkündete, wurden seine Züge immer unbestimmter und die Umrisse seiner Gestalt schwankender. Ein Schleier fiel über Tom Smarts Augen. Der alte Mann ging nach und nach in den Stuhl über, die Damastweste verwandelte sich in eine gepolsterte Lehne, die roten Pantoffeln wurden zu kleinen roten Tuchläppchen, die die Knäufe umhüllten. Das milde Licht erlosch allmählich, und Tom Smart fiel auf sein Kissen zurück in die Arme des Schlafes.

Am andern Morgen erwachte er aus dem bleiernen Schlaf, in den er nach dem Verschwinden des alten Herrn gesunken war, setzte sich in seinem Bett auf und mühte sich einige Minuten lang vergebens ab, sich der Vorgänge der entwichenen Nacht zu entsinnen. Plötzlich tauchten sie wieder in seinem Gedächtnisse auf. Er sah auf den Stuhl. Es war ein phantastisches, grämlich aussehendes Stück Möbel, das ließ sich nicht bezweifeln; aber um zwischen ihm und einem alten Manne eine Ähnlichkeit zu entdecken, dazu gehörte denn doch eine ziemlich lebhafte und erfinderische Phantasie.

›Wie steht's, alter Knabe?‹ fragte Tom. Er war bei Tag kühner. Wie die meisten Leute.

Der Stuhl blieb regungslos und sprach kein Wort.

›Ein heilloser Morgen‹, begann Tom eine Unterhaltung. Umsonst. Der Stuhl war gänzlich abgeneigt.

›Auf welchen Schrank hast du gedeutet? – Das kannst du mir doch wenigstens sagen‹, meinte Tom. Aber es war zum Teufelholen. Kein Wort war aus dem Stuhl herauszubringen, meine Herren.

›Nun, es wird nicht schwer sein, ihn irgendwie zu öffnen‹, sagte Tom, entschlossen aus seinem Bett springend.

Er trat an einen der Schränke. Der Schlüssel steckte; er drehte ihn um und öffnete. Wirklich hing ein Paar Hosen darin. Er fuhr mit der Hand in die rechte Tasche und zog richtig den Brief hervor, von dem der alte Herr gesprochen hatte.

›Ist doch seltsam‹, brummte Tom Smart, sah zuerst den Stuhl, dann den Schrank, dann den Brief und dann wieder den Stuhl an. ›Sehr seltsam‹, sagte Tom. Aber da sich das Geheimnis nicht erklären ließ, hielt er es für das zweckmäßigste, sich anzukleiden, die Sache mit dem Langen ein für allemal ins reine zu bringen und seinem Elend dadurch ein Ende zu machen.

Auf seinem Wege betrachtete Tom die Zimmer und Gänge mit dem prüfenden Blicke eines zukünftigen Gastwirts und dachte dabei an die Möglichkeit, daß sie samt ihrem Inhalt binnen kurzem sein Eigentum werden könnten. Der lange Bursche stand in dem hübschen Schenkstübchen, die Hände auf dem Rücken, ganz, als ob er zu Hause wäre. Er gaffte Tom mit einem nichtssagenden Blick an. Ein unbefangener Beobachter würde vermutet haben, er habe es bloß getan, um seine weißen Zähne zu zeigen, aber Tom Smart sah darin Triumphgefühl, und zwar an einer Stelle, wo das Herz des großen Mannes gewesen wäre, wenn er eins gehabt hätte. Er lachte ihm daher höhnisch ins Gesicht und verlangte die Wirtin zu sprechen.

›Guten Morgen, Ma'am‹, sagte er, die Tür des Schenkstübchens schließend, als die Wirtin eintrat.

›Guten Morgen, Sir‹, antwortete die Witwe. ›Was befehlen Sie zum Frühstück?‹

Tom dachte darüber nach, wie er die Sache einfädeln sollte, und gab keine Antwort.

›Es gibt vortrefflichen Schinken‹, fuhr die Witwe fort, ›und ein schönes gespicktes Hühnchen kalt. Soll ich Ihnen eins hereinschicken, Sir?‹

Tom erwachte aus seinem Grübeln. Seine Bewunderung vor der Witwe wuchs, als er sie so sprechen hörte. ›Die gute Seele! Wie man da versorgt wäre!‹

›Wer ist der Herr im Nebenzimmer, Ma'am?‹ fragte er.

›Er nennt sich Jinkins, Sir‹, antwortete die Witwe, leicht errötend.

›Ein großgewachsener Mann‹, sagte Tom.

›Ein sehr stattlicher Mann‹, erwiderte die Witwe, ›und ein sehr gebildeter Herr.‹

›So. Hm‹, sagte Tom.

›Wünschen Sie sonst noch etwas, Sir?‹ fragte die Witwe, etwas verblüfft über Toms Benehmen.

›Nun ja‹, antwortete Tom. ›Liebe Frau, wollen Sie die Güte haben, einen Augenblick Platz zu nehmen.‹

Die Witwe sah ganz verdutzt aus, setzte sich aber doch, und Tom setzte sich auch, und zwar hart an ihre Seite.

Ich weiß nicht, wie es kam, meine Herren, wirklich, mein Oheim pflegte zu erzählen, daß Tom gesagt habe, er wisse es nicht, wie es gekommen sei, daß …Doch so oder so, Toms Hand senkte sich auf die Rückseite der Hand der Witwe und blieb dort liegen, während er mit ihr sprach.

›Liebe Frau‹, sagte er – er hielt immer viel darauf, den Liebenswürdigen zu spielen –, ›liebe Frau, Sie verdienen es, einen vortrefflichen Mann zu bekommen, ja, das verdienen Sie.‹

›Oh, mein Herr‹, sagte die Witwe, so unbefangen sie konnte, denn Toms Art und Weise, die Unterhaltung zu beginnen, war etwas ungewöhnlich, um nicht zu sagen, befremdend, besonders wenn man den Umstand in Betracht zog, daß er sie vor dem gestrigen Abend noch mit keinem Auge gesehen hatte. ›Oh, bitte, mein Herr.‹

›Ich bin Schmeicheleien abhold, Ma'am‹, fuhr Tom Smart fort. ›Sie verdienen einen ausgezeichneten Mann, und wer immer es auch werden mag, er wird ein sehr glücklicher Mann sein.‹

Als Tom dies sagte, wanderten seine Augen unwillkürlich von dem Gesicht der Witwe auf die behagliche Umgebung.

Die Witwe sah noch verblüffter drein und versuchte aufzustehen. Tom drückte ihr sanft die Hand, wie, um sie zurückzuhalten, und sie blieb sitzen. – Witwen, meine Herren, sind gewöhnlich nicht allzu scheu, wie mein Onkel zu sagen pflegte.

›Ich bin Ihnen wirklich sehr verbunden für Ihre gute Meinung‹, sagte die dralle Wirtin, halb lachend, ›und wenn ich je wieder heirate+…‹

›Wenn‹, wiederholte Tom Smart mit einem schelmischen Blick aus dem rechten Winkel seines linken Auges. ›Wenn+…‹

›Nun‹, sagte die Wirtin und lachte, diesmal laut. › Wenn ich es tue, so hoffe ich, einen so guten Mann zu bekommen, wie Sie ihn schildern.‹

›Jinkins zum Beispiel?‹ meinte Tom.

›Oh, was glauben Sie, Sir!‹ rief die Witwe aus.

›Reden Sie nicht‹, versetzte Tom, ›ich kenne ihn.‹

›Ich bin überzeugt, niemand, der ihn kennt, kann ihm etwas Schlechtes nachsagen‹, versetzte die Witwe, aufgebracht durch die geheimnisvolle Miene Toms.

›Ehüm‹, hüstelte Tom Smart.

Die Witwe hielt den Augenblick für gekommen, in Tränen auszubrechen. Sie zog ihr Taschentuch heraus und fragte, ob Tom sie kränken wolle; ob er es für ehrenhaft halte, einem Gentleman hinter dem Rücken die Ehre abzuschneiden; warum er, wenn er etwas zu sagen hätte, es ihm nicht als Mann ins Gesicht sage, anstatt ein armes, schwaches Weib so zu ängstigen, und so weiter.

›Ich werde es ihm schon derb genug sagen‹, erwiderte Tom, ›nur will ich, daß Sie es vorher hören.‹

›Was ist es denn‹, fragte die Witwe, Tom aufmerksam ins Gesicht sehend.

›Sie werden staunen‹, flüsterte Tom und steckte seine Hand in die Tasche.

›Wenn Sie vielleicht sagen wollen, daß er Geld braucht‹, wehrte die Witwe ab, ›so weiß ich das bereits, und es geht Sie nichts an.‹

›Pah, Unsinn; daran läge nichts‹, versetzte Tom Smart. ›Ich brauche auch Geld. Das ist es nicht.‹

›Ach Gott, was kann es denn sein?‹ rief die arme Witwe.

›Erschrecken Sie nicht!‹ Tom Smart zog langsam den Brief aus der Tasche und entfaltete ihn. ›Werden Sie auch nicht schreien?‹ fragte er besorgt.

›Nein, nein‹, beteuerte die Witwe, ›geben Sie her.‹

›Werden Sie nicht in Ohnmacht fallen oder ähnliche Dummheiten machen?‹

›Nein, nein‹, erwiderte die Witwe hastig.

›Oder hinauslaufen, um es ihm vorzuhalten? Ihre Einmischung ist dabei ganz unnötig, da ich die Sache auf mich zu nehmen gedenke; es wäre schon besser, wenn Sie sich gar nicht aufregen würden.‹

›Schon recht, geben Sie nur her!‹ bat die Witwe.

›Hier‹, sagte Tom Smart und reichte ihr den Brief.

 

Meine Herren, ich habe meinen Onkel sagen hören, daß Tom Smart behauptete, die Wehklagen der Witwe, in die sie bei der Enthüllung des Geheimnisses ausgebrochen, hätten ein Herz von Stein erweichen können. Tom hatte ohnehin ein weiches Herz, und sie drangen bis in sein Innerstes. Die Witwe wiegte sich gramzerrissen hin und her und rang die Hände.

›Oh, über die Arglist und Schlechtigkeit eines Mannes!‹ rief sie aus.

›Schrecklich, Ma'am; aber beruhigen Sie sich‹, tröstete sie Tom Smart.

›Ach, ich kann mich nicht beruhigen‹, jammerte die Witwe. ›Nie mehr werde ich einen Menschen finden, den ich so lieben kann.‹

›O doch, Sie werden es, Geliebte meines Herzens‹, versicherte Tom Smart, aus Mitleid mit dem kläglichen Geschick der Witwe einen Strom dicker Tränen vergießend.

Von Mitgefühl mit fortgerissen, hatte Tom Smart seinen Arm um die Taille der Witwe geschlungen und sie im Übermaße ihres Schmerzes seine Hand ergriffen. Dann sah sie zu Toms Gesicht auf und lächelte unter Tränen, und er blickte in ihr Gesicht hinunter und lächelte auch unter Tränen.

Ich konnte nie in Erfahrung bringen, meine Herren, ob Tom in diesem entscheidenden Augenblick die Witwe küßte oder nicht. Meinem Onkel pflegte er zu versichern, er habe es nicht getan, aber ich bezweifle es fast. Unter uns gesagt, meine Herren, ich glaube, er tat es.

Jedenfalls ist das eine gewiß, daß eine halbe Stunde darauf Tom den Langen aus dem Hause warf und einen Monat später die Witwe heiratete. Oft fuhr er noch mit seinem tonfarbenen Gig mit den roten Rädern und der launenhaften Mähre mit dem stetigen Trab im Lande herum, bis er endlich nach vielen Jahren sein Geschäft aufgab und mit seinem Weib nach Frankreich ging, worauf das alte Haus niedergerissen wurde.«

 

»Wollen Sie mir eine Frage erlauben«, wandte sich der wißbegierige Mr. Snodgraß an den Erzähler. »Was wurde denn aus dem Stuhl?«

»Nun«, versetzte der einäugige Reisende, »man hörte ihn am Tage der Hochzeit sehr stark krachen, aber Tom Smart konnte nicht herausbekommen, ob aus Vergnügen oder aus Gebrechlichkeit. Er neigte jedoch mehr zur letzteren Ansicht, denn der Stuhl sprach nachher nie wieder.«

»Und alle haben die Geschichte geglaubt, was?« fragte das Schmutzgesicht und stopfte sich eine Pfeife.

»Alle, mit Ausnahme der Feinde Toms. Einige von ihnen sagten, Tom habe sie nur erdacht, und andre sind der Ansicht, er sei betrunken gewesen, habe sie geträumt und den Brief infolge Verwechslung der Hosen gefunden. Aber niemand gab etwas darauf, was diese neidischen Seelen behaupteten.«

»Und Tom Smart hat gesagt, es sei alles wahr?«

»Wort für Wort.«

»Und Ihr Onkel?«

»Auch der.«

»Das müssen 'n paar merkwürdige Männer gewesen sein«, brummte das Schmutzgesicht.

»Waren sie auch.«


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