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Die Erzählung des wandernden Schauspielers.
»Es ist nichts Außerordentliches, ja, nicht einmal etwas Ungewöhnliches an dem, was ich jetzt erzählen will«, begann der Trübsinnige. »Entbehrungen und Krankheit sind in manchen Lebenslagen etwas zu Alltägliches, um mehr Aufmerksamkeit zu verdienen, als den gewöhnlichsten Wechselfällen des menschlichen Lebens zuteil wird. Ich habe die folgenden kurzen Notizen gesammelt, weil ich den Mann, von dem ich rede, vor einigen Jahren sehr gut kannte. Ich war Augenzeuge, wie er immer tiefer und tiefer sank, bis er zuletzt jenen Abgrund von Elend erreichte, aus dem er sich nicht wieder erhob.
Der Mann, von dem ich erzähle, war ein kleiner Pantomimenschauspieler und, wie so viele seines Berufes, ein Gewohnheitstrinker. In seinen besseren Tagen, als er noch nicht durch Ausschweifungen herabgekommen und durch Krankheit geschwächt war, bezog er ein gutes Einkommen, das er bei einem geordneten Lebenswandel noch mehrere Jahre lang hätte beziehen können – wenn auch nicht viele –, denn solche Leute sterben entweder frühzeitig oder verlieren durch übermäßige Anstrengung die körperlichen Fähigkeiten bald, von denen allein ihr Erwerb abhängt. Seine Leidenschaft beherrschte ihn in einem Grade, daß er in kurzer Zeit für die Rollen, in denen er etwas leisten konnte, unfähig wurde. Die Schenke übte einen Zauber auf ihn aus, dem er nicht widerstehen konnte. Vernachlässigte Krankheit und hoffnungslose Armut mußten so sicher sein Los werden wie der Tod, wenn er bei seinem Laster beharrte Dennoch ließ er nicht davon, und die Folgen sind leicht zu erraten. Er konnte kein Engagement mehr finden und wurde brotlos.
Jeder, der nur einigermaßen mit dem Theaterleben bekannt ist, weiß, welche Menge armer Schlucker sich gewöhnlich im Troß einer größeren Bühne befindet – keine ordnungsgemäß angestellten Schauspieler, sondern Ballettvolk, Statisten, Hanswürste und so weiter, die für eine bestimmte Pantomime oder Lokalposse, die gerade im Schwange ist, angenommen und dann wieder entlassen werden, bis wieder irgendein Zugstück gegeben wird, bei dem man ihrer Dienste aufs neue bedarf. Zu solchem Leben mußte der Mann seine Zuflucht nehmen. Er besorgte in kleinen Theatern das Stühlehinaustragen und erwarb sich dadurch einige Schillinge wöchentlich, die er seiner alten Leidenschaft opferte. Aber auch diese Erwerbsquelle versiegte bald. Seine Ausschweifungen verschlangen zuviel von seinen Einnahmen, um auch nur für die geringsten Bedürfnisse etwas übrigzulassen, und er war nahe daran, zu verhungern. Er borgte bisweilen einem alten Bekannten eine Kleinigkeit ab oder trat auf irgendeinem Winkeltheater letzter Sorte auf; aber was er auch verdiente, wanderte denselben Weg.
So hatte er sich länger als ein Jahr herumgetrieben und durchgeschlagen, ohne daß man wußte, wie, als ich ihn auf einem der Theater an der Surreyseite des Flusses, wo ich gerade ein kurzes Engagement hatte, plötzlich wieder zu Gesicht bekam. Ich hatte ihn für einige Zeit aus den Augen verloren, denn ich durchreiste das Land, während er sich in den Winkeln Londons herumtrieb. Er klopfte mir eines Abends auf die Schulter, als ich eben im Begriff war, das Theater zu verlassen, und über die Bühne ging. Nie werde ich den abschreckenden Anblick vergessen, der sich meinen Augen darbot, als ich mich umwandte. Er spielte eine kleine Rolle in einer Pantomime und stand in der ganzen Abgeschmacktheit eines Hanswurstanzuges vor mir. Die Gespenster im Totentanz, die grauenhaftesten Gestalten, die jemals der Pinsel des geschicktesten Malers auf die Leinwand zaubern könnte, waren nicht halb so entsetzlich anzusehen. Sein aufgedunsener Leib und seine hageren Beine, deren Mißgestalt durch die Narrenkleidung erst recht hervorgehoben wurde, die gläsernen Augen, die gegen das dick aufgetragene Weiß, womit sein Gesicht beschmiert war, fürchterlich abstachen, der grotesk aufgeputzte, paralytisch zitternde Kopf und die langen, mit Kreide bemalten, fleischlosen Hände – alles gab ihm ein gräßliches, unnatürliches Aussehen, von dem man sich keine Vorstellung machen kann und an das ich mich bis auf diesen Tag nur mit Schaudern erinnere. Seine Stimme war hohl und bebte, als er mich beiseite nahm, mir in abgerißnen Worten ein langes und breites von Krankheit und Entbehrungen vorschwatzte und dann, wie gewöhnlich, mit der flehentlichen Bitte schloß, ihm eine Kleinigkeit vorzustrecken. Ich drückte ihm ein paar Schillinge in die Hand, und als ich mich umdrehte, hörte ich das schallende Gelächter, das sein Auftreten auf den Brettern hervorrief.
Wenige Tage später drückte mir abends ein Junge einen schmutzigen Papierfetzen in die Hand; darauf waren mit Bleistift einige Worte gekritzelt, aus denen hervorging, daß der Mann schwerkrank war und mich bat, ihn nach der Vorstellung in seiner Behausung aufzusuchen, die irgendwo in der Nähe des Theaters lag; mir fällt im Augenblick nicht der Straßenname ein. Jedenfalls versprach ich, sobald wie möglich zu kommen, und sobald der Vorhang unten war, trat ich meinen traurigen Weg an.
Es war spät, denn ich hatte im letzten Akt gespielt, und da es eine Benefiz gewesen, dauerte die Vorstellung ungewöhnlich lange. Es war eine finstere, traurige Nacht; ein naßkalter Wind trieb den Regen heftig gegen Fenster und Haustüren. Das Wasser hatte sich in den schmalen, wenig besuchten Gäßchen zu Pfützen angesammelt, und da das Ungestüm des Windes die wenigen Lampen, die hin und wieder angebracht waren, ausgelöscht hatte, war der Weg nicht nur sehr mühsam, sondern auch höchst unsicher. Doch hatte ich glücklicherweise die richtige Gasse gewählt und fand endlich nicht ohne Schwierigkeit das bezeichnete Haus – ein Kohlenmagazin, mit einem Stockwerk darüber, in dessen Hinterzimmer der Mann lag, dem mein Besuch galt.
Ein abgezehrt aussehendes Weib, die Frau des Unglücklichen, empfing mich auf der Treppe, führte mich mit den Worten, ihr Mann sei eben in eine Art Schlummer gefallen, leise in die Stube und stellte mir einen Stuhl vor das Bett. Der Kranke hatte das Gesicht gegen die Wand gekehrt, und da er meinen Eintritt nicht gewahr wurde, so blieb mir Muße, das Zimmer zu betrachten, in dem ich mich befand.
Er lag in einem alten Bettgestell, das den Tag über zusammengeklappt werden konnte. Die zerlumpten Überreste eines buntscheckigen Vorhanges umschlossen den oberen Teil des Bettes, um den Wind abzuhalten, der das unbehagliche Gemach frei durchstrich, indem er durch die zahlreichen Spalten der Tür eindrang und die Lappen fortwährend hin und her bewegte. In einem rostigen, freistehenden Becken glomm ein mattes Kohlenfeuer, und davor stand ein alter, dreieckiger, schmieriger Tisch mit Arzneifläschchen, einem zerbrochenen Glas und einigen andern Gegenständen. In einem Bett auf dem Boden schlief ein kleines Kind, und neben ihm saß die Frau auf einem Stuhl. Auf zwei Simsbrettern an der Wand standen einige Schüsseln, Teller und Tassen, und darunter hingen ein Paar Bühnenschuhe und zwei Rapiere. Außer einigen Bündeln alter Lumpen, die unordentlich in den Winkeln lagen, war nichts im Zimmer zu erblicken.
Ich hatte Zeit gehabt, dies alles mit den Blicken zu überfliegen und die schweren Atemzüge und fieberischen Zuckungen des Kranken zu beobachten, ehe dieser meine Gegenwart gewahr wurde. Bei den unaufhörlichen Versuchen, seinen Kopf in eine bessere Lage zu bringen, streckte er seine Hand aus dem Bett und bekam die meinige zu fassen. Er schrak empor und starrte mir ins Gesicht.
›Mr. Hutley, John‹, sagte sein Weib, ›Mr. Hutley, nach dem du diesen Abend geschickt hast – du weißt.‹
›Ah!‹ rief der Kranke und fuhr sich mit der Hand über die Stirne. ›Hutley – Hutley – wart einmal.‹ Er schien seine Gedanken sammeln zu wollen, dann faßte er mich heftig beim Handgelenk und sagte: ›Verlaß mich nicht, verlaß mich nicht, alter Freund. Sie will mich ermorden, ich weiß, sie will mich umbringen.«
›Liegt er schon lange so da?‹, fragte ich sein weinendes Weib.
›Seit gestern abend‹, antwortete sie. ›John, John, kennst du mich denn nicht?‹
›Laß sie nicht zu mir‹, sagte der Mann mit einem Schauder, als sie sich über ihn beugte. ›Jag sie fort! Ich kann ihre Nähe nicht vertragen.‹ Er starrte sie wild und mit einem Blicke voll Todesangst an und flüsterte mir dann ins Ohr: ›Ich hab sie geschlagen, Jem, ja, ich hab sie geschlagen, gestern, und so manches Mal. Ich hab sie dem Hungertode preisgegeben, und das Kind auch, und jetzt, wo ich schwach und hilflos bin, will sie mich dafür ermorden; ich weiß es. Hättest du ihr Jammergeschrei gehört wie ich, du wüßtest es auch. Halte sie fern.‹ Er ließ meine Hand los und sank erschöpft auf das Kissen zurück.
Ich verstand nur zu gut, was das alles zu bedeuten hatte. Hätte ich einen Augenblick im Zweifel sein können, so würde mich ein Blick auf das blasse Gesicht und die abgezehrte Gestalt des Weibes hinlänglich von der Sachlage unterrichtet haben. ›Ziehen Sie sich lieber zurück‹, sagte ich zu der Ärmsten. ›Sie können doch nichts für ihn tun. Vielleicht wird er ruhiger werden, wenn er Sie nicht mehr sieht.‹ Sie ging ihrem Manne aus den Augen. Er öffnete nach wenigen Sekunden seine Lider und sah sich ängstlich um.
›Ist sie fort?‹
›Ja, ja‹, antwortete ich. ›Sie wird dir nichts zuleide tun.‹
›Ich will dir was sagen, Jem‹, flüsterte er voll Furcht, ›sie trachtet mir nach dem Leben. Etwas in ihren Augen bringt eine so fürchterliche Angst in mir hervor, daß es mich wahnsinnig macht. Die ganze Nacht über habe ich ihre großen stieren Augen und ihr bleiches Gesicht dicht über mir gesehen. Wohin ich mich wandte, da waren sie, und so oft ich aus dem Schlafe auffuhr, stand sie neben meinem Bette und starrte mich an.‹ Er zog mich näher zu sich und flüsterte aufgeregt und bebend vor Todesangst: ›Jem, sie muß ein böser Geist sein, ein Teufel! Hu! Ich weiß es, sie ist's. Wäre sie ein Weib, so müßte sie schon lange tot sein. Ein Weib kann nicht tragen, was sie getragen hat.‹
Ich schauderte bei dem Gedanken an die lange Reihe von Grausamkeiten und Mißhandlungen, die dem allem vorhergegangen sein mußten, um bei einem Menschen wie er einen solchen Eindruck zu hinterlassen. Ich wußte nichts zu erwidern, denn wer konnte dem Verworfenen, den ich vor mir hatte, Hoffnung oder Trost geben?
Ich saß über zwei Stunden bei ihm, während er, vor Schmerzen und Ungeduld ächzend, ruhelos seine Arme hin und her warf und sich immer wieder von einer Seite auf die andre wälzte. Endlich verfiel er in die Art bewußtlosen Halbschlummers, in dem der Geist unruhig von Vorstellung zu Vorstellung, von Ort zu Ort wandert, ohne die leitende Hand der Vernunft und ohne die Fähigkeit, sich von einem unbeschreiblichen Gefühle vorhandenen Leidens loszumachen. Da ich aus seinen Delirien entnahm, daß dies bei ihm der Fall und alle Wahrscheinlichkeit vorhanden war, das Fieber werde sich vorderhand nicht mehr steigern, so entfernte ich mich und versprach dem bedauernswerten Weibe, am nächsten Abend meinen Besuch zu wiederholen und nötigenfalls die Nacht über bei dem Kranken zu wachen.
Ich hielt mein Versprechen. Die letzten vierundzwanzig Stunden hatten eine furchtbare Veränderung in dem Trunkenbold hervorgebracht. Seine Augen, obgleich tief eingefallen und schwer, leuchteten in einem schrecklichen Glanze. Die Lippen waren wie Pergament und an manchen Stellen aufgesprungen; die trockne, harte Haut fühlte sich glühend heiß an, und in seinem Gesicht lag ein beinahe unirdischer Ausdruck wilder Angst, der die Verheerungen der Krankheit noch stärker hervorhob. Das Fieber hatte seinen höchsten Grad erreicht.
Ich setzte mich wie am verflossenen Abend an sein Bett, und hier vernahm ich stundenlang Töne, die das gefühlloseste Herz tief hätten ergreifen müssen – die furchtbaren Phantasien eines Sterbenden. Wie ich vom Arzte vernommen, war keine Hoffnung mehr vorhanden. Ich saß an einem Sterbebette. Ich sah die abgezehrten Glieder, die er noch kurz zuvor zur Belustigung eines rohen Haufens verdreht, sich unter den Martern der Fieberglut krümmen – ich hörte das schrille Gelächter des Harlekins, gemischt mit dem leisen Röcheln des Sterbenden.
Es ist ergreifend, den Geist zu den gewöhnlichen Beschäftigungen der Tage der Gesundheit zurückwandern zu sehen, während der Körper schwach und hilflos daliegt; aber wenn diese Beschäftigungen der Art sind, daß sie Zuständen, die eine ernste und feierliche Stimmung in uns hervorrufen, geradezu entgegenlaufen, so geht dieser Eindruck noch unendlich tiefer.
Die Bühne und die Schenke waren die Hauptschauplätze, auf denen sich die Phantasie des irren Elenden erging. Es war gegen Abend, bildete er sich ein. Er mußte auftreten. Es war spät, und er durfte keinen Augenblick mehr säumen. Warum hielten sie ihn zurück und ließen ihn nicht gehen? – Seine Einnahme stand auf dem Spiel. – Er mußte gehen. Nein! Sie wollten ihn nicht fortlassen. Er barg sein Gesicht in seine glühenden Hände und beklagte seine Schwäche und die Grausamkeit seiner Widersacher. Eine kurze Pause. Dann keuchte er einige elende Reimereien hervor, die letzten, die er auswendig gelernt hatte. Er richtete sich im Bett auf, streckte seine abgezehrten Hände in die Höhe und wand sich in seltsamen Krümmungen hin und her: er spielte. – Er war auf der Bühne. Ein minutenlanges Stillschweigen, und er murmelte den Schlußreim eines Trinkliedes. Endlich war er wieder zu Hause: wie heiß war es im Zimmer! Er war krank gewesen, sehr krank, aber jetzt fühlte er sich wieder wohl und glücklich. – Einschenken! Einschenken! Wer schlägt ihm da das Glas vom Munde weg? Derselbe Feind, der ihn vorhin verfolgte. – Er fiel auf sein Kissen zurück und jammerte laut. Eine kurze Pause der Vergessenheit, und er wanderte durch ein nimmer endendes Labyrinth niederer, gewölbter Zimmer – so nieder bisweilen, daß er auf allen vieren fortkriechen mußte; es war eng und dunkel, und mit jeder Wendung des Weges stieß ihm ein neues Hindernis auf. Er sah Insekten, häßliches Gewürm, mit Augen, die ihn anstierten und den ganzen Raum anfüllten – fürchterlich schimmernd durch die dichte Finsternis. Wände und Decke wimmelten von Ungeziefer, das Gewölbe dehnte sich ins ungeheure – fürchterliche Gestalten schwebten auf und nieder, und unter ihnen bekannte Gesichter, gräßlich verzerrt. Sie brannten ihn mit glühenden Eisen und umschnürten seinen Kopf mit Stricken, bis das Blut herausspritzte.
Nach einem solchen Anfall, währenddessen ich ihn mit großer Mühe im Bett festhielt, sank er in eine Art von Schlummer. Von langem Wachen und von der Anstrengung überwältigt, waren mir für einige Minuten die Augen zugefallen, als ich durch einen heftigen Schlag auf meine Schulter erwachte. Er hatte sich aufgerichtet und saß im Bett. – Eine fürchterliche Veränderung war auf seinem Gesicht vorgegangen, aber das Bewußtsein war zurückgekehrt, denn er kannte mich augenscheinlich. Das Kind, das durch sein Irrereden lange Zeit eingeschüchtert, gewesen, stand von seinem Bettchen auf und lief weinend zu seinem Vater. Die Mutter nahm es eilends auf den Arm, damit er ihm in der Raserei kein Leid zufüge, aber durch die Veränderung seiner Züge erschreckt, blieb sie regungslos stehen. Er krallte sich krampfhaft in meine Schulter ein und machte einen verzweifelten Versuch zu sprechen, während er sich mit der andern Hand vor die Brust schlug. Es war vergeblich. Er streckte die Hände gegen die Seinen aus und machte einen zweiten gewaltsamen Versuch zu sprechen. Noch ein Röcheln in der Kehle, ein Blitzen im Auge, ein kurzes ersticktes Stöhnen – und tot sank der Unglückliche auf das Kissen zurück. Vorbei.«
Herr Pickwick hatte sein Glas niedergesetzt, das er während des letzten Abschnittes der Erzählung in der Hand gehalten, und war eben im Begriffe, zu sprechen – hatte bereits, wie Mr. Snodgraß' Notizbuch besagt, den Mund geöffnet –, als der Kellner eintrat und »Einige Herren« anmeldete.
Vermutlich stand Mr. Pickwick gerade im Begriff, einige Bemerkungen, die, wenn auch nicht das Themsegebiet, so doch die übrige Welt erleuchtet haben würden, zum besten zu geben, als er auf diese Art unterbrochen wurde. Er starrte dem Kellner ins Gesicht und ließ dann seine Blicke fragend die Runde in der Gesellschaft machen, als wünschte er nähere Aufklärung, was das zu bedeuten habe.
»Oh!« sagte Mr. Winkle aufstehend. »Einige Freunde von mir. Führen Sie die Herren herein. Sehr angenehme Leute«, fügte er hinzu, nachdem sich der Kellner entfernt hatte. »Offiziere, vom siebenundneunzigsten Regiment, deren Bekanntschaft ich diesen Morgen auf eine etwas seltsame Weise gemacht habe. Sie werden Ihnen sehr gefallen.«
Mr. Pickwicks Gleichmut war sofort wiederhergestellt. Der Kellner kehrte zurück und führte drei Herren ins Zimmer.
»Leutnant Tappleton«, stellte Mr. Winkle vor. »Leutnant Tappleton, Mr. Pickwick – Dr. Payne, Mr. Pickwick – Mr. Snodgraß, den Sie bereits kennen, mein Freund Mr. Tupman, Dr. Payne – Dr. Slammer, Mr. Pickwick – Mr. Tupman, Dr. Slam+…«
Mr. Winkle hielt plötzlich inne, denn in den Mienen Mr. Tupmans und des Doktors malte sich eine seltsame Bewegung.
»Ich habe diesen Herrn schon einmal getroffen«, sagte der Doktor mit starker Betonung.
»Wirklich?« versetzte Mr. Winkle.
»Und – und diesen Menschen auch, wenn ich mich nicht irre«, sagte der Doktor, einen prüfenden Blick auf den grüngekleideten Fremden werfend. »Ich glaube, ich ließ an ihn gestern abend eine dringende Einladung ergehen, die er jedoch ablehnen zu müssen vermeinte.«
Bei diesen Worten warf der Doktor einen verächtlichen Blick auf den Fremden und flüsterte seinem Freund Leutnant Tappleton etwas ins Ohr.
»Wahrhaftig?« fragte dieser, nachdem er das Geflüster endlich verstanden.
»Wahrhaftig«, versicherte Dr. Slammer.
»Sie müssen ihm auf der Stelle einen Fußtritt geben«, murmelte der Eigentümer des Feldstuhles mit großer Wichtigkeit.
»Seien Sie ruhig, Payne«, vermittelte der Leutnant. »Erlauben Sie mir gütigst die Frage, mein Herr«, sagte er, sich an Mr. Pickwick wendend, der ob dieses höchst unhöflichen Zwischenspiels äußerst indigniert dreinsah, »wollen Sie mir gütigst die Frage erlauben, mein Herr, ob dieser Mensch zu Ihrer Gesellschaft gehört?«
»Nein, Sir«, erwiderte Mr. Pickwick. »Er ist unser Gast.«
»Er ist ein Mitglied Ihres Klubs, oder irre ich mich?«
»Nein, gewiß nicht«, antwortete Mr. Pickwick.
»Und trägt er nie Ihre Klubknöpfe?« fragte der Leutnant weiter.
»Nein – nie!« entgegnete erstaunt Mr. Pickwick.
Leutnant Tappleton wandte sich zu Dr. Slammer mit einem kaum merklichen Achselzucken, als käme ihm die Erinnerungsfähigkeit seines Freundes bedenklich vor. Der Doktor sah zornig, aber verwirrt aus, und Mr. Payne starrte wild in das staunende Gesicht des ahnungslosen Pickwick.
»Mein Herr«, begann der Doktor, sich plötzlich an Mr. Tupman wendend, in einem Tone, der diesen Gentleman ebensosehr erschreckte, als hätte ihn plötzlich eine Natter in die Ferse gestochen. »Sie waren gestern abend auf dem Ball?«
Mr. Tupman hauchte ein schwaches Ja, fortwährend auf Mr. Pickwick blickend.
»Dieser Mensch war Ihr Begleiter?« fragte der Doktor weiter, auf den Fremden deutend, der keine Miene verzog.
Mr. Tupman gab es zu.
»Nun, mein Herr«, sagte der Doktor zu dem Fremden, »ich frage Sie noch einmal in Gegenwart aller Anwesenden, ob Sie mir Ihre Karte geben und als Mann von Ehre behandelt sein oder mich in die Notwendigkeit versetzen wollen, Sie auf der Stelle persönlich zu züchtigen?«
»Halten Sie ein, mein Herr«, rief Mr. Pickwick. »Ich kann wirklich nicht dulden, daß die Sache weitergetrieben wird, ehe ich nicht weiß, um was es sich handelt. Tupman, erzählen Sie den Vorfall!«
So feierlich aufgefordert, berichtete Mr. Tupman die Sache mit fliegenden Worten. Das Entlehnen des Frackes berührte er nur leicht. Großen Nachdruck legte er darauf, daß es »nach dem Diner« stattgefunden hätte, ließ flüchtig ein gelindes Reuegefühl über sein eigenes Betragen durchblicken und überließ es dem Fremden, sich zu rechtfertigen, so gut er könne.
Dieser war eben im Begriff, es zu tun, als ihn Leutnant Tappleton, der ihn bis dahin mit Aufmerksamkeit betrachtet hatte, mit großer Geringschätzung fragte:
»Habe ich Sie nicht schon auf dem Theater gesehen, Sir?«
»Vermutlich«, erwiderte der Fremde unbefangen.
»Er ist ein wandernder Schauspieler«, sagte der Leutnant verächtlich und wandte sich an Dr. Slammer. »Er tritt in dem Stück auf, das morgen das Offizierskasino des zweiundfünfzigsten Regiments in Rochester aufführen läßt. Sie können in der Sache nicht weitergehen, Slammer, unmöglich!«
»Nein, unmöglich!« bestätigte Payne pathetisch.
»Bedaure, Sie in diese unangenehme Lage versetzt zu haben«, fuhr Leutnant Tappleton fort, sich an Mr. Pickwick wendend. »Erlauben Sie mir übrigens, Ihnen zu bemerken, daß der sicherste Weg, in Zukunft dergleichen Auftritte zu vermeiden, größere Vorsicht in der Wahl Ihrer Gesellschaft sein wird. Guten Abend, mein Herr!« – Und rasch verließ er das Zimmer.
»Und mir erlauben Sie, Ihnen zu bemerken, mein Herr«, fügte der rauflustige Dr. Payne hinzu, »daß ich, wenn ich Tappleton oder Slammer gewesen wäre, Ihnen und den sämtlichen Mitgliedern dieser Gesellschaft die Nase eingedroschen hätte. Ja, das hätte ich. Allen miteinander. Mein Name ist Payne, mein Herr, Dr. Payne vom Dreiundvierzigsten. Guten Abend, mein Herr.«
Die vier letzten Worte sprach er laut und mit großem Nachdruck und schritt sodann majestätisch aus dem Zimmer. Ihm folgte Dr. Slammer, schweigend und mit einem Blick voll Verachtung auf die ganze Gesellschaft.
Zorn und höchste Entrüstung über die Brüskierung hatten Mr. Pickwicks edle Brust beinahe bis zum Zerspringen seiner Weste geschwellt. Wie angewurzelt, ins Leere starrend, stand er da, und erst das Knarren der Türe brachte ihn wieder zu sich selbst. Mit wutentbrannten Blicken und funkelnden Augen wollte er dem Beleidiger nachstürzen. Seine Hand hatte die Türklinke gefaßt, und im nächsten Augenblick würde sie den Dr. Payne, von Dreiundvierzig, an der Kehle gepackt haben, hätte ihn nicht. Mr. Snodgraß am Rockschoße ergriffen und zurückgezogen.
»Haltet ihn«, rief Mr. Snodgraß. »Winkle, Tupman! – Er darf sein kostbares Leben nicht in einer solchen Angelegenheit aufs Spiel setzen.«
»Lassen Sie mich«, rief Mr. Pickwick.
»Haltet ihn fest«, schrie Mr. Snodgraß wieder. Und den vereinten Kräften der sämtlichen Anwesenden gelang es schließlich, Mr. Pickwick in einen Lehnstuhl zu drängen.
»Allein lassen«, riet der grüngekleidete Fremde. »Brandy und Wasser – feuriger alter Herr – einen Schluck – einmal kosten – ah! – Kapitalstoff!«
Nachdem der Fremde den Inhalt eines vollen, von dem Trübsinnigen gemischten Glases gekostet, führte er es an Mr. Pickwicks Lippen, der es im nächsten Augenblick bis auf die Neige leerte.
Es trat eine kurze Pause ein. Das Getränk hatte indessen seine Wirkung getan, und das freundliche Gesicht Mr. Pickwicks nahm schnell den gewohnten Ausdruck wieder an.
»Diese Menschen verdienen nicht, daß Sie Notiz von ihnen nehmen, Sir«, sagte der Trübsinn-Jemmy.
»Sie haben recht, Sir«, versetzte Mr. Pickwick. »Sie verdienen es nicht. Ich schäme mich, daß ich mich so habe hinreißen lassen. Ziehen Sie Ihren Stuhl näher heran, Sir.«
Der Trübsinnige tat es; der Kreis versammelte sich um den Tisch, und die frühere Eintracht war wiederhergestellt. In Mr. Winkles Brust schien noch eine Spur heimlichen Unmutes zurückgeblieben zu sein – in bezug auf die temporäre Entwendung seines Frackes –, aber es ist kaum denkbar, daß ein so geringfügiger Umstand auch nur ein vorübergehendes Gefühl des Mißbehagens in der Seele eines Pickwickiers sollte hervorgerufen haben. Abgesehen davon war übrigens die Heiterkeit wieder völlig hergestellt, und der Abend endete auf dieselbe trauliche Weise, wie er begonnen hatte.