Charles Dickens
Martin Chuzzlewit
Charles Dickens

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

34. Kapitel

Mark und Martin begeben sich in die Heimat und begegnen unterwegs einigen hervorragenden »Köpfen des Landes«

Unter den Reisenden an Bord des Dampfschiffs zog zuvörderst ein ausgemergelter Gentleman ihre Aufmerksamkeit auf sich, der, auf einem niedrigen Feldstuhl sitzend, die Beine auf ein Mehlfaß gelegt hatte, als wolle er mit seinen Fußknöcheln die Aussicht bewundern.

Er hatte straffes schwarzes Haar, in der Mitte des Kopfes gescheitelt und zu beiden Seiten über den Rockkragen niederwallend. Eine schmale Bartfranse umsäumte sein Kinn über dem bloßen Hals. Er trug einen weißen Hut, einen schwarzen Anzug, der an den Ärmeln zu lang und an den Beinen zu kurz war, schmutzige braune Strümpfe und Schnürstiefel. Sein Teint, von Natur schon unappetitlich, erschien noch schmutziger infolge der sorgsam geübten Sparsamkeit des Mannes hinsichtlich Seife und Wasser. Dasselbe traf auch bei allen waschbaren Teilen seiner Kleidung zu, die er ganz gut einmal zu seiner eigenen Bequemlichkeit sowohl wie aus Achtung für seinen Verkehr hätte wechseln können. Der Gentleman mochte ungefähr fünfunddreißig Jahre alt sein, saß unter dem Schatten eines großen grünen Baumwollschirms zu einem Häuflein zusammengekauert und kaute an seinem Tabakröllchen wie eine Kuh am Grase.

An all dem wäre nun nichts Auffälliges gewesen, denn jeder Gentleman an Bord schien mit seiner Wäscherin auf Kriegsfuß zu stehen und von früher Jugend auf das armselige, erbärmliche Geschäft, sich selbst zu waschen, aufgegeben zu haben. Überdies war jeder Gentleman sozusagen vollgepfropft mit Kautabak und, was die Gliedmaßen beim Sitzen und Liegen anbelangte, nahezu grotesk verrenkt. Im Äußern dieses Gentlemans lag jedoch eine so eigentümliche Mischung von Schlauheit und Weisheit, daß Martin sofort erkannte, er habe es hier mit einem durchaus nicht gewöhnlichen Charakter zu tun. Und schließlich stellte es sich auch heraus, daß dies tatsächlich der Fall war. »Wie geht's, Sir?« tönte nämlich plötzlich eine Stimme in Martins Ohr.

»Wie geht's Ihnen, Sir?« lautete Martins Erwiderung.

Der erste Sprecher war ein kleiner schmächtiger Gentleman mit einer Tuchmütze auf dem Kopf und einem langen, losen Rock aus grünwollenem Stoff, der an den Taschen mit schwarzem Samt verbrämt war. »Sie sind wohl aus Europa, Sir?«

»Allerdings«, antwortete Martin.

»Da können Sie von Glück sagen, Sir.«

Martin dachte das auch, bemerkte aber rechtzeitig, daß der Gentleman seine Bemerkung in einem ganz andern Sinne meinte, als es anfänglich geschienen.

»Da können Sie von Glück sagen, daß Sie Gelegenheit haben, unsern Elijah Pogram von Angesicht zu Angesicht kennenzulernen.«

»Ihren Elijahpogram?« versetzte Martin in der Meinung, es sei ein einziges Wort und bedeute irgendein öffentliches Gebäude.

»So ist es, Sir.«

Martin versuchte eine Miene zu machen, als ob er den Yankee verstehe, konnte aber der Sache nicht auf den Grund kommen.

»So ist es, Sir«, wiederholte der Gentleman. »Unser Elijah Pogram, Sir, sitzt in diesem Augenblick, wie er leibt und lebt, dort beim Dampfkessel«

In diesem Augenblick legte der Gentleman unter dem grünen Schirm seinen rechten Zeigefinger an die Augenbraue, als ob er soeben über höchst bedeutsame Fragen nachgrüble.

»So, so. Das also ist Elijah Pogram!« rief Martin.

»So ist es«, versetzte der Amerikaner. »Das ist Elijah Pogram.«

»Oh!« rief Martin. »Da staune ich wirklich außerordentlich!« In Wirklichkeit hatte er nicht die geringste Idee, wer Mr. Elijah Pogram sein könne, da er den Namen in seinem ganzen Leben noch nie gehört hatte.

»Wenn der Schiffskessel zerspringen sollte, Sir«, fing der Fremde wieder an, »jetzt in diesem Augenblick – so wäre dies ein Festtag im Kalender des Despotismus. In seinen Folgen für die Menschheit vielleicht ebenso groß, Sir, wie unser glorreicher vierter Juli. Jawohl, Sir, das ist seine Hochwohlgeboren Mr. Elijah Pogram, Kongreßmitglied – einer der größten Geister unseres Landes. Sehen Sie sich einmal seine Stirne an.«

»Höchst bemerkenswert«, sagte Martin.

»So ist es, Sir. Als unser unsterblicher Chiggle, Sir, die berühmte Pogramstatue aus Marmor meißelte, die in ganz Europa zu soviel Streit und Geschrei Anlaß gab, soll er gesagt haben, die Stirne sei übermenschlich. Das war noch vor der allgemeinen Pogrambewegung und folglich eine verdammt gescheite Prophezeiung.«

»Was ist das: die Pogrambewegung?« fragte Martin, in der Meinung, es handle sich wahrscheinlich um eine Wirtshausreklame.

»Eigentlich Pogramtrutzbewegung, Sir«, verbesserte der Amerikaner.

»Ja, ja, natürlich«, rief Martin. »Wo hab ich denn meine Gedanken. Sie trotzte –«

»Sie trotzte der ganzen Welt, Sir«, ergänzte der Gentleman gravitätisch. »Die Bewegung forderte die Welt im allgemeinen heraus, sich mit uns zu messen, entwickelte das Programm der Erschließung unsrer innern Hilfsquellen, die uns instand setzen, das Universum zu bekriegen. Sie wünschen gewiß, Elijah Pogram kennenzulernen, Sir?«

»Wenn Sie die Güte haben wollten«, sagte Martin.

»Mr. Pogram«, rief der Fremde – Mr. Pogram hatte übrigens jedes Wort des Dialoges gehört – »hier steht ein Gentleman aus Europa, Sir; aus England, Sir; aber ich dächte, edeldenkende Feinde können ganz gut auf dem neutralen Boden des Privatlebens miteinander zusammenkommen.«

Der ausgemergelte Mr. Pogram schüttelte Martin die Hand, wie ein Uhrwerk, das soeben abläuft; aber quasi als Gegensatz dazu fing er gleich darauf wieder zu kauen an und bewegte langsam seine Kiefer wie ein Uhrwerk, das gerade aufgezogen wird.

»Mr. Pogram«, erklärte der Gentleman, »ist ein Diener der Öffentlichkeit. Wenn der Kongreß seine Ferien antritt, zeigt sich Mr. Pogram dem Volke in den einzelnen Bezirken der Vereinigten Freien Staaten, deren begabter Sohn er ist.«

Martin dachte, wenn seine Hochwohlgeboren Elijah Pogram zu Hause geblieben wäre und seine Schuhe allein auf Reisen geschickt hätte, daß damit der gleiche Zweck ebensogut erfüllt worden wäre; denn diese waren im Grunde genommen so ziemlich das Sehenswerteste an ihm.

Schließlich stand Mr. Pogram auf, und nachdem er ein paar Tabakknödel, die ihn in seiner Artikulation gehindert haben würden, ausgespuckt hatte, suchte er sich einen Platz, wo er sich bequem anlehnen konnte, und begann mit Martin zu plaudern, dabei sich stets mit seinem grünen Schirme beschattend.

Als er mit den Worten: »Wie gefällt Ihnen –« begann, fiel ihm Martin sofort in die Rede und ergänzte:

»Amerika, nicht wahr?«

»Jawohl, Sir«, versetzte Mr. Elijah Pogram. – Inzwischen hatte sich ein Häuflein Passagiere, um mit zuzuhören, was jetzt folgen werde, um sie versammelt, und Martin hörte den ersten Gentleman einem Herrn, sich die Hände reibend, zuflüstern:

»Geben Sie acht, Pogram wird ihm einheizen, daß er braun und blau anläuft. Mordsspaß, das.«

»Nun«, fuhr Martin nach einem kurzen Zögern fort, »ich weiß aus Erfahrung, daß ihr Amerikaner immer gern diese Frage stellt mit der Absicht, ein gewisses eingebildetes Übergewicht vis-à-vis einem Fremden zur Geltung zu bringen. Sie wollen eben nur eine ganz bestimmte Antwort zu hören bekommen und keine andere. Ich habe nun aber durchaus keine Lust, diese eine gewisse Antwort zu geben und kann es auch nicht mit gutem Gewissen tun. Deshalb will ich lieber schweigen.«

Mr. Pogram gedachte jedoch, in seiner nächsten Sitzung eine große Rede zu halten über die Urteile und Vorurteile des Auslandes und das Thema schriftstellerisch zu verwerten, und da er die »freie und unabhängige« Gewohnheit liebte, sich jede Art von »Auskunft« auf jede nur mögliche zudringliche Art zu verschaffen und sie dann öffentlich mit seinem Zwecke dienenden Verdrehungen zu benutzen, so ließ er sich nicht so leicht abspeisen und trachtete durch alle möglichen Mittel Martin seine Ansichten auf die eine oder die andere Weise herauszulocken; denn wäre ihm das nicht gelungen, so hätte er sich ja etwas erfinden müssen, und das wäre doch viel zu mühsam gewesen. Er notierte sich demgemäß im Geiste seine Antwort voraus und fing von neuem an:

»Sie kommen aus Eden, Sir. Wie hat Ihnen Eden gefallen?«

Martin sagte ihm seine Meinung über diesen Teil von Amerika ziemlich offen und in recht starken Ausdrücken.

»Sonderbar«, meinte Mr. Pogram und warf einen listigen Blick auf die Gruppe ringsum. »Der Haß gegen unser Vaterland und seine Institutionen und die nationale Antipathie im britischen Volksgebiet ist wahrhaftig tief eingewurzelt.«

»Gott im Himmel, Sir«, rief Martin. »Ist denn die Edener Landaktien-Gesellschaft mit Mr. Scadder an der Spitze mit all dem Jammer und Elend, das sie verschuldet, eine amerikanische Institution? Hat je ein Mensch gehört oder behauptet, daß sie einen Teil der hiesigen Regierungsform ausmache?«

»Ich bin der Ansicht«, sagte Mr. Pogram, abermals umherblickend, und nahm seine Rede wieder auf, wo ihn Martin unterbrochen, »der Grund liegt zum Teil in der Eifersucht und in den Vorurteilen, zum Teil in der angebotenen Untauglichkeit des britischen Volkes, die erhabenen Institutionen unseres Vaterlandes gebührend zu würdigen. Ich hoffe, Sir«, fuhr er zu Martin gewendet fort, »daß Sie in Eden die Bekanntschaft eines Gentlemans namens Chollop gemacht haben.«

»Allerdings«, gab Martin zu. »Übrigens, mein Freund hier kann diese Frage vielleicht besser beantworten als ich, da ich damals sehr schwer krank daniederlag. – Mark, der Gentleman spricht von Mr. Chollop.«

»Oh! Jawohl, Sir, jawohl, ich kenne ihn«, entgegnete Mark.

»Ein glänzendes Vorbild unseres vaterländischen Kernvolkes, Sir?« warf Pogram fragend hin.

»Jawohl, Sir«, rief Mark.

Seine Hochwohlgeboren Elijah Pogram sah seine Freunde an, als wolle er sagen: »Jetzt gebt mal acht! Gebt acht, was jetzt kommen wird!« – Ein allgemeines leises Gemurmel zollte dem Pogramgenie seinen Tribut.

»Unser Landsmann ist ein Musterbild des Menschen, wie er frisch und stark aus der Hand der Natur hervorgeht«, rief Pogram begeistert. »Er ist ein echtes Kind dieser freien Hemisphäre. Grünend wie die Gebirge unseres Landes, frisch und übersprudelnd wie unsere Salzquellen, unberührt von verpestenden Konvenienzen wie unsere weiten, grenzenlosen Prärien. Rauh mag er sein, aber das sind auch unsere Bären. Wild mag er sein, doch das sind auch unsere Büffel. Aber er ist ein Kind der Natur und ein Kind der Freiheit, und voller Stolz ruft er den Despoten und Tyrannen zu: ›Meine herrliche Heimat ist dort, wo die Sonne zur Ruhe geht.‹«

Dies stimmte teilweise auf Chollop, teilweise auf einen gewissen berüchtigten Postmeister im Westen, der vor nicht sehr langer Zeit wegen Unterschlagung aus seinem Amte entfernt werden mußte. Doch da der Mann für Mr. Pogram gestimmt, hatte dieser von seinem Sitz im Kongreß das Todesurteil auf das Haupt des unpopulären Präsidenten, der diese Unzukömmlichkeiten aufgedeckt, herabgedonnert.

Mr. Pograms Worte hatten eine glänzende Wirkung. Die Umstehenden waren entzückt, und einer von ihnen sagte laut, daß es Martin hören mußte: er schätze, der Fremde habe jetzt ein Pröbchen von der Beredsamkeit Amerikas zu kosten bekommen und betrachte sich wohl als gänzlich erledigt.

Mr. Pogram wartete, bis sich seine Zuhörer wieder beruhigt hatten, und fuhr dann zu Mark gewendet fort:

»Sie scheinen diese Ansicht nicht zu teilen, Sir?«

»Je nun«, meinte Mark, »gefallen hat mir Mr. Chollop nicht besonders; das könnte ich gerade nicht behaupten, Sir. Er kam mir vor wie ein Eisenfresser, und ich war auch nicht sonderlich entzückt, daß er mit seinen kleinen Mordwerkzeugen, die er bei sich zu führen liebt, immer so rasch bei der Hand war.« »Es ist doch höchst seltsam!« rief Mr. Pogram und hob seinen Schirm höher empor, um darunter hervor seine Umgebung besser mustern zu können. »Es ist doch höchst auffallend! Wiederum bemerken Sie den eingewurzelten Haß, den die Engländer gegen uns und unsere Institutionen hegen – –«

»Mein Gott, sind Sie aber ein sonderbares Volk!« unterbrach Martin. »Ist denn Mr. Chollop und die ganze Menschenklasse, die er repräsentiert, eine der Institutionen des Landes? Sind Revolver, Stockdegen, Bowie-Messer und dergleichen vielleicht Institutionen, auf die man stolz sein könnte? Sind blutige Duelle, rohe Kämpfe, wilde Überfälle, Niederknallen und Erstechen auf offener Straße Institutionen von Amerika? Vielleicht bekommt man nächstens noch zu hören, daß Ehrlosigkeit und Betrug gleichfalls zu den ›Institutionen‹ dieser großen Republik gehören.«

Kaum waren diese Worte seinen Lippen entflohen, da blickte seine Hochwohlgeboren Elijah Pogram schon wieder bedeutsam umher.

»Dieser krankhafte Haß gegen unsere Institutionen«, bemerkte er, »ist wirklich ein vortreffliches Studium für den Psychologen. – – Er spielt jetzt gar auf die ›Repudiation‹ an.«

»Ach Gott, Sie können ja alles, wenn Sie wollen, zur Institution machen«, meinte Martin lachend, »und ich gestehe, ich bin schon bald so weit, daß ich schließlich alles für möglich halte. Aber der größte Teil von alledem umfaßt bei uns eine einzige ›Institution‹, und die nennen wir Old Bailey oder Zuchthaus.«

Da in diesem Augenblick die Glocke zum Dinner rief, rannte alles nach der Kajüte, und auch Mr. Elijah Pogram wurde von solcher Eile ergriffen, daß er ganz vergaß, seinen Regenschirm zuzumachen, und sich mit ihm dermaßen in der Kajütentüre verklemmte, daß man ihn nur mit Mühe wieder befreien konnte. Ein paar Minuten lang entfesselte diese Störung fast eine Revolution unter den heißhungrigen Passagieren hinter ihm, die schon im Geiste die Teller sahen, die Messer und Gabeln arbeiten hörten und genau wußten, was geschehen würde, wenn sie versäumten, sich rechtzeitig Plätze zu erobern. Sie rasten förmlich, und mehrere ehrenwerte Bürger, die bereits an der Tafel saßen, es bemerkten und trachteten, die Situation für sich nach Kräften auszunutzen, gerieten infolge ihrer unnatürlichen Anstrengungen, alles aufgetragene Fleisch hinunterzuschlingen, bevor die andern kämen, in Todesgefahr, so daß die meisten von ihnen zu ersticken drohten. Endlich jedoch wurde die Regenschirmbarrikade mit Todesmut gestürmt und die Festung genommen. Nach hartnäckigem Kampfe befanden sich schließlich Elijah Pogram und Martin Seite an Seite, wie etwa im Parterre eines Londoner Theaters, und die nächsten vier Minuten schnappte Mr. Pogram von allem, was noch zu erwischen war, wie ein Rabe große Brocken auf. Nachdem er sein Dinner, das sich so ungewöhnlich lange verzögerte, glücklich hinter sich hatte, nahm er seine Unterhaltung mit Martin wieder auf und bat ihn, sich ihm gegenüber ohne Rückhalt auszusprechen, denn er sei ein Philosoph und erfreue sich infolgedessen einer unerschütterlichen Seelenruhe. Martin vernahm das mit Vergnügen, denn er hatte sich bereits mit der Vermutung getragen, Mr. Elijah Pogram sei ein Anhänger jener gewissen hemmungslosen republikanischen Ideen und pflege seine Gesinnungen mehr mit Messer und Revolver als mit Feder und Tinte zum Ausdruck zu bringen.

»Was halten Sie zum Beispiel von meinen anwesenden Landsleuten?« fragte Mr. Elijah Pogram.

»Ach Gott, es sind recht nette Leute«, meinte Martin.

Und das waren sie allerdings, wenigstens sprach niemand ein Wort; jeder hatte, wie in Amerika in solchen Fällen üblich, nur auf seine Privatschlingorgane Bedacht; genauer gesagt, benahm sich der größte Teil der Anwesenden bei Tisch wie das Schwein beim Trog.

Seine Hochwohlgeboren Mr. Elijah Pogram warf Martin einen Blick zu, der soviel ausdrücken sollte wie: »Ich weiß ganz gut, das ist nicht dein Ernst«, und bald erhielt er auch eine Bestätigung dieser Ansicht.

Gegenüber saß ein Gentleman, der im buchstäblichsten Sinne des Wortes mit Tabaksaft durchtränkt war. Ein kleiner Bart aus Tabakjauche, an seinen Mundwinkeln und an seinem Kinn eingetrocknet, zierte seine Lippe. Das bedeutete indes in Amerika einen so gewöhnlichen Schmuck, daß er kaum Martins Aufmerksamkeit fesselte, allein der gute Bürger, der offenbar darauf brannte, seine republikanische Gleichheit jedem Fremden zu beweisen, zog jetzt sein Messer durch den Mund und schnitt sich dann von der Butter ab, eben als Martin sich davon nehmen wollte. Die ganze Sache hatte etwas derartig »Saftiges« an sich, daß einem Gassenkehrer dabei übel geworden wäre.

Als Mr. Elijah Pogram, dem dies natürlich ein Alltagsereignis war, bemerkte, daß Martin verekelt seinen Teller zurückschob und auf die Butter verzichtete, geriet er in großes Entzücken darob und sagte:

»Wirklich, ich muß gestehen – der geradezu krankhafte Haß von euch Engländern gegen die Institutionen unseres Landes ist geradezu erstaunlich.«

»Meiner Seel!« fuhr Martin auf. »Sie bilden da Zusammenhänge, daß es wirklich unglaublich ist. Da macht einer mit Absicht ein Schwein aus sich, und das nennen Sie eine – ›Institution‹!«

»Es mangelt uns an Zeit, uns mit Formalitäten abzugeben, Sir«, erklärte Mr. Elijah Pogram.

»Abzugeben?!« rief Martin. »Ich dächte, es handelt sich hier einfach darum, daß der Herr drüben vorzieht, sich die Manieren eines Wilden anzueignen und jede gute selbstverständliche Sitte beiseite zu lassen, die doch jedem Gebildeten vorschreiben muß, nicht andern Leuten geradezu absichtlich Ekel einzuflößen. Ich bin zum Beispiel überzeugt, daß der Herr da drüben von Haus aus ganz gut weiß, was schicklich ist, und nur glaubt, seine ›Unabhängigkeit‹ dadurch zu beweisen, daß er sich wie ein Vieh aufführt.«

»Er ist aus unserm Lande gebürtig und daher von Natur aus vorurteilsfrei und unverfroren«, sagte Mr. Pogram.

»Bedenken Sie einmal, wozu dies alles noch führen soll, Mr. Pogram!« stellte Martin vor. »Die große Masse Ihrer Landsleute fängt an, hartnäckig gewisse kleine Regeln zu vernachlässigen, die mit Vornehmheit, Sitte, Regierung oder Vaterland durchaus nichts zu tun haben, sondern lediglich Dinge des Anstandes und der gewöhnlichsten Sittlichkeit sind. Sie leisten Ihnen darin Vorschub, indem Sie alle Angriffe auf derartige gesellige Verstöße mit beißenden Antworten erwidern und die größte Unflätigkeit als schönen Nationalzug erklären. Aber aus Mißachtung kleinerer Verpflichtungen entsteht allmählich auch das Bedürfnis, sich jeder Rücksicht auf die größeren zu entäußern und, sagen wir einmal, schließlich die Bezahlung jeder Schuld im allgemeinen zu verweigern. Was daraus folgen wird, weiß ich nicht, aber jeder von uns muß, wenn er nur will, einsehen, daß nur etwas Ähnliches daraus resultieren kann wie der Vorgang, der einen Baum zum Verwelken bringt, wenn seine Wurzel anfängt zu faulen.«

Mr. Pogram war zu sehr Philosoph, um dies einsehen zu können. Sie gingen also wieder auf das Verdeck, wo der Amerikaner seinen frühern Posten einnahm, weiterkaute und schließlich infolge der unvermeidlichen Tabakvergiftung in einen an Lethargie grenzenden Zustand versank.

Nach einer mehrtägigen ermüdenden Fahrt gelangten sie wieder an demselben Kai an, wo Mark am Abend ihres Aufbruchs nach Eden beinahe das Schiff versäumt hätte. Kapitän Kedgick stand gerade dort und schien sehr überrascht, als er die beiden an Land steigen sah.

»Zum Teufel nochmal«, rief der Kapitän, »na, das ist aber merkwürdig!«

»Wir können doch bei Ihnen übernachten, Kapitän?« fragte Martin. »Schätze, Sie können wohl im Hotel bleiben, wenn Sie Lust dazu haben«, entgegnete Mr. Kedgick kühl. »Aber unsern Leuten wird's nicht sonderlich gefallen, daß Sie wieder zurückkommen.«

»Wieso denn nicht, Kapitän Kedgick?« fragte Martin.

»Man hat bestimmt erwartet, Sie würden sich dort dauernd niederlassen«, entgegnete Kedgick achselzuckend. »Sie können doch nicht leugnen, daß sich die Leute in diesem Punkte enttäuscht sehen müssen?«

»Was meinen Sie damit?« fragte Martin erstaunt.

»Sie hätten sie damals nicht ›empfangen‹ sollen«, erklärte der Kapitän, »das hätten Sie bleiben lassen müssen

»Aber, lieber Freund«, entgegnete Martin, »habe ich denn darauf bestanden? Es geschah doch von meiner Seite durchaus nicht freiwillig. Sagten Sie mir denn nicht, es gäbe einen Skandal und es würde mir das Fell über die Ohren gezogen wie einer wilden Katze, wenn ich's abschlüge? Wurde mir denn nicht sogar gedroht, wenn ich die Leute nicht empfinge?«

»Davon weiß ich nichts«, versetzte der Kapitän. »Aber wenn unsern Leuten mal der Kamm schwillt, so wird er hochrot, das kann ich Ihnen versichern.«

Mit diesen Worten blieb er zurück, um sich Mark anzuschließen, während Martin mit Mr. Elijah Pogram voraus zum National-Hotel ging.

»Sie sehen, Kapitän, wir sind glücklich und lebendig wieder zurückgekommen«, fing Mark wieder an.

»Hätt es nicht gedacht«, brummte der Kapitän. »Der Mensch hat kein Recht, ein öffentlicher Charakter zu sein, wenn er sich nicht auch den öffentlichen Voraussetzungen fügt. Unsere fashionable Welt wäre nicht zu dem Lever gekommen, wenn sie das gewußt hätte.«

Kein Zureden vermochte den Kapitän umzustimmen: beharrlich bestand er darauf, es übelzunehmen, daß die beiden Engländer nicht in Eden gestorben waren. Die Gäste des National-Hotels hatten hinsichtlich dieses Punktes gleichfalls sehr ausgesprochene Ansichten, und es war ein großes Glück, daß ihnen keine Zeit blieb, über ihre Enttäuschung nachzudenken, denn die Anwesenheit seiner Hochwohlgeboren Mr. Elijah Pogram forderte unbedingt, daß man ihm sofort ein Lever gab.

Da das gemeinschaftliche Souper bei Ankunft des Dampfbootes bereits vorüber war, so nahmen Martin, Mark und Mr. Pogram den Tee, und was dazu gehörte, an der öffentlichen Tafel gesondert ein. Und gleich darauf trat die Deputation ein, die dem Kongreßmitglied die zugedachte Ehre ankündigen sollte. Sie bestand aus sechs Gentlemen und einem noch im Stimmwechsel begriffenen Jüngling.

»Sir!« begann der erste Sprecher.

»Mr. Pogram!« schrillte der Jüngling dazwischen.

Der Sprecher, dadurch an seine Anwesenheit erinnert, stellte ihn vor:

»Doktor Ginery Dunkle, Sir! Ein Herr von ganz hervorragender poetischer Begabung. Er ist erst vor kurzem hier angekommen und bedeutet für uns eine Akquisition ersten Ranges, Sir. Ich kann Ihnen das versichern. Jawohl, Sir. Hier – Mr. Jodd, Sir. Mr. Izzard, Sir. Mr. Julius Bib, Sir.«

»Julius Washington Merryweather Bib«, ergänzte Mr. Bib. »Ich bitte um Verzeihung, Sir, pardon: also Mr. Julius Merryweather Bib – aus der Holzbranche, Sir; ein sehr angesehener Gentleman. Und hier – Oberst Groper, und hier – Professor Piper. Mein Name, Sir, ist Oscar Buffum.«

Jeder der vorgestellten Herren trat bei Nennung seines Namens einen Schritt vor, nickte seiner Hochwohlgeboren Mr. Elijah Pogram zu, schüttelte ihm die Hand und glitt dann wieder in den Hintergrund. Als die Vorstellungszeremonien beendet waren, fing der erste Sprecher wieder an.

»Sir!«

»Mr. Pogram!« schrillte der Jüngling abermals dazwischen.

»Vielleicht«, wendete sich der Sprecher sofort an ihn, »sind Sie so gütig, Doktor Ginery Dunkle, unsern kleinen Antrag dem Herrn gegenüber vorzutragen.«

Dem schrillen jungen Mann konnte nichts erwünschter sein; sofort trat er vor.

»Mr. Pogram! Sir! Einige unserer Mitbürger, Sir«, begann er, »vernahmen von Ihrer Ankunft im National-Hotel und wünschten aus Anerkennung Ihrer Dienste für das Vaterland, Sir, das Vergnügen zu haben, Sie näher kennenzulernen und sich mit Ihnen auszusprechen in einem Zeitpunkt, der für unser ganzes großes freies Vaterland so bedeutsam ist.«

»Hört, hört!« rief Oberst Groper mit lauter Stimme. »Sehr gut, hört, hört! Ausgezeichnet!«

»Und deshalb, Sir«, fuhr der junge Doktor fort, »erbitten sie sich die Ehre Ihrer Gesellschaft bei einem kleinen Lever, Sir – um acht Uhr an der Damentable d'hôte.«

Mr. Pogram verbeugte sich und erwiderte:

»Mitbürger!«

»Sehr gut!« rief der Oberst. »Hört, hört! Ausgezeichnet!«

Mr. Pogram dankte dem Oberst mit einer Verbeugung und fing dann wieder an:

»Ihre Anerkennung, meine Herren, meiner Bemühungen in Sachen der gemeinsamen Wohlfahrt geht mir sehr zu Herzen. Zu allen Zeiten und an allen Orten – an dem Damentable d'hôte, meine Herrn, und auf dem Schlachtfelde – werde ich es mir zur Ehre anrechnen, mit Ihnen zusammenzutreffen. Und mögen, meine Freunde, dereinst die Worte auf meinem Grabe geschrieben stehen: ›Er war Kongreßmitglied unseres gemeinsamen Vaterlandes und unermüdlich in seinem Amte‹.«

»Das Komitee, Sir«, unterbrach ihn der schrille Jüngling, »wird Ihnen fünf Minuten vor acht Uhr seine Aufwartung machen. Gestatten Sie, daß ich mich jetzt empfehle, Sir.«

Mr. Pogram drückte ihm und allen andern Herrn noch einmal die Hand.

Als die Gentlemen sich fünf Minuten vor acht Uhr wieder einstellten, leierten sie einer nach dem andern mit melancholischer Stimme den Bewillkommnungsgruß herunter: »Wie geht es Ihnen, Sir.«

Sie wechselten dann mit Mr. Pogram abermals Händedrücke, als seien sie in der Zwischenzeit mindestens ein Jahr über Land gewesen und träfen sich jetzt bei einem Leichenbegängnis.

Mittlerweile hatte sich Mr. Pogram ein wenig restauriert und sowohl Haare wie Gesicht hergerichtet, sorgfältig bestrebt, sich seiner Statue, die im Lande allgemein bekannt war, so ähnlich wie möglich zu machen. Es glückte ihm, und jeder Mann, der nur halbwegs normalsichtig war, rief sofort, wenn er ihn erblickte, aus: »Das ist er, wie er leibt und lebt; ganz wie er damals die Trutzrede hielt!«

Auch das Komitee hatte sich verschönt, und als es in den Table-d'hôte-Saal strömte, hörte man viele Damenhände klatschen, und Ausrufe: Pogram! Pogram! Manche Herren stiegen sogar auf die Stühle, um den berühmten Mann besser sehen zu können.

Stolz, so der allgemeine Mittelpunkt zu sein, blickte Mr. Pogram wohlgefällig umher, lächelte und bemerkte gleichzeitig zu dem schrillen jungen Herrn, er wisse wahrhaftig so mancherlei Gutes über die Schönheit der Töchter ihres gemeinsamen Vaterlandes zu sagen, aber nie habe er einen solchen Blütenkranz von Damen beisammen gesehen. Später ließ dies der schrille Jüngling zu Elijah Pograms großer Überraschung in die Zeitung setzen.

»Wir möchten Sie höflichst bitten, Sir, wenn es Ihnen angenehm ist«, meldete sich Mr. Buffum und legte Hand an Mr. Pogram, gerade, als ob er ihm Maß zu einem Rock nehmen wolle, »sich gefälligst mit dem Rücken gegen die Wand rechts in der vordersten Ecke zu stellen, damit unsere Mitbürger mehr Platz haben. Wenn Sie sich mit dem Rücken gefälligst an die eine Seite des Vorhangs anlehnen und das linke Bein hinter den Ofen stecken, Sir, so wird hoffentlich genügend Raum bleiben.«

Mr. Pogram tat, wie ihm geheißen, und keilte sich in einen Winkel, worunter seine Ähnlichkeit mit der bekannten Pogramstatue allerdings beträchtlich litt.

Sodann begann die Unterhaltung des Abends. Die Herren brachten ihre Damen herbei, stellten sie zuerst vor und erwiesen sich dann gegenseitig den gleichen Dienst. Dabei fragte man ununterbrochen Mr. Pogram, was er von dieser oder jener politischen Frage halte, musterte ihn von oben bis unten, betrachtete sich gegenseitig und machte höchst unglückliche Gesichter. Die Damen auf ihren Stühlen blickten durch ihre Lorgnons auf Mr. Elijah Pogram und sagten so laut, daß man es unfehlbar hören mußte: »Wenn er nur endlich spräche! Warum spricht er denn eigentlich nicht? Man fordere ihn doch zum Reden auf!«

Von Zeit zu Zeit warf Mr. Elijah Pogram einen Blick auf die Damen, dann wieder auf die Decke und gab gelegentlich mit der Miene eines Senators kurze Gutachten ab, wenn man ihn darum anging. Das Ganze machte den Eindruck, als ob der große Zweck der Zusammenkunft lediglich darin bestünde, Seine Hochwohlgeboren um keinen Preis aus seiner Ecke herauszulassen und ihn dort fest eingekeilt zu halten.

Plötzlich verkündete ein Tumult vor der Türe die Ankunft irgendeiner Notabilität, und gleich darauf sah man einen sehr aufgeregten ältlichen Gentleman sich in die Massen stürzen, um sich einen Weg zu Seiner Hochwohlgeboren Mr. Elijah Pogram zu bahnen. Martin, der sich in einer fernen Ecke ein kleines Lauschwinkelchen gesichert hatte und Mark an seiner Seite wußte, vermeinte diesen Gentleman zu kennen, wenn er auch nicht gleich wußte, wo er ihn hintun sollte. Aber sofort wurde ihm jeder Zweifel genommen, denn der Herr rief mit Stentorstimme, wobei ihm die Augen fast aus dem Kopfe quollen: »Sir, gestarteten Sie – Mrs. Hominy!«

»Gott segne das Frauenzimmer, Mark« rief Martin. »Da ist sie schon wieder!«

»Ja, da kommt sie«, lachte Mr. Tapley. »Pogram kennt sie, wie man sieht. Sie ist doch eine öffentliche Person! – Hat stets ein wachsames Auge aufs Vaterland, Sir! Wenn der Gatte dieser Dame meinen Prinzipien huldigt, so muß er ein ungemein ›fideler‹ alter Herr sein.«

Die Menge bildete eine Gasse, und Mrs. Hominy schritt mit aristokratischem Gang, das Taschentuch in der Hand und die klassische Haube auf, langsam wie eine Prozession hindurch. Mr. Pogram sprach sein Entzücken aus, sie zu sehen, und sofort trat allgemeine Stille ein. Man begriff, wenn eine Frau wie Mrs. Hominy mit einem Manne wie Mr. Pogram zusammentraf, so mußte notwendigerweise etwas Höchstinteressantes dabei herauskommen. Die ersten Begrüßungen wurden mit leiser Stimme ausgetauscht, wurden aber bald hörbarer, denn Mrs. Hominy war sich ihrer Stellung bewußt und sich darüber klar, was man von ihr erwartete. Anfangs setzte sie dem berühmten Kongreßmitglied ziemlich scharf zu und kanzelte es wegen eines gewissen von ihm abgegebenen Votums herunter, das sie als die »Mutter der modernen Gracchen« ausdrücklich durch eine Zeile gesperrt gedruckten Textes abzulehnen für nötig gefunden hätte. Mr. Pogram wich einer Erwiderung geschickt durch zeitgemäße Anspielung auf das sternengesprenkelte Banner aus, das die merkwürdige Kraft zu haben scheine, sooft es gehißt werde, jeden ausbrechenden Sturm im Keim zu ersticken – und die Sache lief glatt ab. Es kamen sodann gewisse Fragen über Tarife, Handelsverträge, Grenzstreitigkeiten und Import und Export zur Verhandlung. Mrs. Hominy redete nicht nur, wie man sagt, wie ein Buch, sondern rezitierte geradezu fort und fort den Inhalt ihrer eigenen Werke.

»O Gott, was ist das!« rief sie plötzlich und öffnete ein kleines Billett, das ihr ein sehr erhitzt aussehender Gentleman einhändigte. »Sagen Sie! Oh, man denke!«

Und laut las sie folgendes vor:

»Zwei literarische Damen vermelden der ›Mutter der modernen Gracchen‹ ihr Kompliment und bitten ihre talentvolle Mitbürgerin, sie freundlichst Seiner Hochwohlgeboren Mr. Elijah Pogram vorzustellen, den sie beide so oft und naturgetreu als Statue von der Hand des großen Meisters, Mr. Chiggle, bewundert haben. Auf eine mündliche Andeutung von Seiten der ›Mutter der modernen Gracchen‹, daß sie dem Gesuche der beiden Damen willfahren wolle, würden sie sich sodann das Vergnügen nehmen, sich der glänzenden Versammlung, die das patriotische Vorgehen eines Pogram zu ehren gedenkt, anzuschließen. Es würde dies vielleicht dazu beitragen, ein weiteres Band der Einigkeit zwischen den beiden Damen und der ›Mutter der modernen Gracchen‹ zu knüpfen; – um so mehr, als beide Damen hinsichtlich Denkungsweise vollständig zum Transzendentalismus gravitieren.«

Sofort erhob sich Mrs. Hominy, eilte zur Tür und kam nach einer Minute mit den beiden Damen zurück, die sie mit der ganzen Würde, die ihr so eigentümlich war, durch die Gasse in dem Gedränge dem großen Mr. Elijah Pogram zuführte. Das Ganze glich, wie der schrille junge Mann verzückt ausrief, aufs Haar der letzten Szene aus dem Coriolan.

Eine der Damen trug eine braune Perücke von bemerkenswertem Umfang. An der Stirne der andern stak, durch irgendein geheimnisvolles Mittel befestigt, eine riesige Kamee in der Form und Größe einer Kirchweih-Himbeertorte, die im Zentrum das Kapitol zu Washington erblicken ließ.

»Miss Toppit und Miss Codger«, stellte Mrs. Hominy vor.

»Codger, scheint mir, ist der Name der Dame, den ich so oft in den englischen Zeitungen als den der ältesten hier lebenden Einwohnerin gelesen habe«, flüsterte Mark.

»Einem Pogram durch eine Mrs. Hominy vorgestellt zu werden«, begann Miss Codger, »bedeutet in der Tat ein außerordentliches Moment in dem Eindruckskomplex dessen, was wir gemeinhin unser Gefühl nennen. Warum wir es so nennen oder wieso es überhaupt Eindrücke aufnimmt oder ob wir überhaupt eindrucksfähig sind oder ob es wirklich, wie uns unsere Sinne vortäuschen, einen Pogram und eine Mrs. Hominy gibt – oder ob nicht vielmehr ein tätiges Prinzip obwaltet, dem wir unbewußt diesen Titel geben –, das ist ein viel zu verwickeltes philosophisches Thema, als daß es im gegenwärtigen Augenblick eine Kritik vertrüge.«

»Geist und Materie«, fügte die Dame in der Perücke hinzu, »gleiten rasch in den Strudel der Unendlichkeit hinab. Auf heult das Erhabene gen Himmel, und sanft schlummert das stille Ideal in den verschwiegenen Kammern der Phantasie. Es zu hören ist süß, aber wild auflachet der ernste Philosoph und sagt zum Grotesken: Was soll das? Haltet mir fest dieses Phantom. Gehet und bringet es her! Und so entschwindet die Vision.«

Nach diesen Worten ergriffen die beiden Damen Mr. Pograms Hände und drückten sie an ihre Lippen. Sodann rief die Mutter der modernen Gracchen nach Stühlen, damit die drei literarischen Damen allen Ernstes beginnen könnten, den armen Mr. Pogram regelrecht zu bearbeiten und in die Enge zu treiben, auf daß er sich in seinen glänzendsten Farben zeige.

Wieso Mr. Pogram sogleich aus den Tiefen seines Geistes herauftauchte und die drei literarischen Damen nie darin gewesen waren, ist nicht des Erzählens wert. Genug, alle vier warfen, um sich über Wasser zu halten, gewaltig nach allen Seiten mit großen Worten um sich und faselten das Blaue vom Himmel herunter. Natürlich war man allgemein der Ansicht, daß hier der schärfste geistige Wettkampf stattfand, den man je im National-Hotel erlebt. Dem schrillstimmigen Jüngling standen des öftern die Tränen in den Augen, und die ganze Versammlung wurde gewahr, daß ihr vor lauter Denken der Kopf brummte. Als schließlich noch das Komitee Mr. Elijah Pogram aus seiner Ecke erlösen mußte und wohlbehalten wieder in das nächste Zimmer geleitete, glühte alles förmlich vor Bewunderung.

»Eine Bewunderung, die sich Luft machen muß«, erklärte Mr. Buffum, »wenn man nicht bersten soll. Ich bin Ihnen wahrhaft dankbar, Mr. Pogram. Ich fließe über, Sir, vor stolzer Verehrung vor Ihnen und tiefer Erregung. Das Gefühl, dem Ausdruck zu geben ich vorschlagen möchte, Sir, heißt: &#8250;Mögen Sie immer so unerschütterlich bleiben, Sir, wie Ihre Marmorstatue; mögen Sie stets ein so großer Schrecken für Ihre Feinde bleiben, wie Sie es jetzt sind.&#8249;«

Mr. Pogram dankte seinem Freund und Landsmann für die liebenswürdigen Wünsche, und das Komitee begab sich nach abermaligem feierlichem Händeschütteln zu Bett. Nur der Doktor eilte noch in eine Zeitungsredaktion, um dort ein kurzes Gedicht niederzuschreiben, zu dem ihn die Ereignisse des Abends begeistert hatten. Es begann mit den »Sternen auf dem Banner der Republik« und trug den Titel: »Ein Fragment, geistig empfangen anläßlich eines Begebnisses, bei dem Seine Hochwohlgeboren Mr. Elijah Pogram sich mit drei von Columbias schönsten Töchtern in eine philosophische Dissertation einließ«, von Doktor Ginery Dunkle, Troja.

Wenn sich Mr. Pogram so sehr auf sein Bett freute wie Martin, so war er für seine Mühewaltung jedenfalls reichlich belohnt. Am nächsten Tage verkauften Martin und Mark ihre Habseligkeiten um jeden Preis an dieselben Händler zurück, von denen sie sie erworben, traten dann ihre Weiterreise an und wurden abermals Mr. Pograms Reisegefährten bis kurz vor New York. Als das berühmte Kongreßmitglied im Begriffe stand, sie zu verlassen, wurde es plötzlich höchst gedankenschwer und nahm, nachdem es eine Weile vor sich hingebrütet, Martin beiseite.

»Wir müssen uns jetzt trennen, Sir«, begann es.

»Ach, lassen Sie sich das nicht so zu Herzen gehen«, tröstete Martin, »wir müssen uns dareinschicken.«

»Darum handelt es sich nicht, Sir!« entgegnete Mr. Pogram. »Keineswegs! Aber ich sähe es gern, wenn Sie ein Exemplar von meiner Trutzrede annehmen wollten.«

»Ich danke Ihnen verbindlichst, Sir«, sagte Martin. »Sie sind sehr gütig. Es würde mich sehr freuen.«

»Auch darum handelt es sich nicht, Sir«, fing Pogram wieder an. »Hätten Sie den Mut, ein Exemplar nach England mitzunehmen?«

»Natürlich«, versicherte Martin, »warum denn nicht.«

»Die Rede ist etwas scharf, Sir«, gab Pogram zu bedenken.

»Das macht nichts«, meinte Martin. »Wenn Sie wollen, nehme ich ein ganzes Dutzend mit.«

»Nein, Sir«, wehrte Mr. Pogram ab; »ein Dutzend, das wäre mehr als zuviel. Also, wenn Sie wirklich vor der Gefahr nicht zurückschrecken, Sir, so ist hier ein Exemplar für Ihren Lordkanzler «, er zog eine Broschüre aus der Tasche, »und hier ein zweites für ihren ersten Staatssekretär. Ich wünschte, daß die Leute, Sir, es läsen und meine Gesinnungen kennenlernten, damit sie später nicht Unkenntnis vorschützen können. Aber immerhin möchte ich nicht, daß Sie sich meinetwegen in Gefahr begeben, Sir!«

»Es ist nicht die geringste Gefahr dabei, versichere ich Ihnen«, lachte Martin, dann steckte er die Pamphlete in die Tasche und verabschiedete sich von Mr. Pogram.

Mr. Bevan hatte ihm geschrieben, daß er sie zu einer bestimmten Zeit – und glücklicherweise kamen sie zurecht – in einem bestimmten Hotel in der Stadt erwarten wolle. Ohne Verzug begaben sich Mark und Martin dorthin und hatten die Freude, ihren wackern Freund bereits dort zu finden und sich herzlich und warm von ihm aufgenommen zu sehen.

»Es tut mir wirklich sehr leid und beschämt mich tief«, sagte Martin, »daß ich Ihnen so zur Last fallen muß, aber werfen Sie nur einen Blick auf unsere Kleidung, und Sie werden erkennen, wie heruntergekommen wir sind.«

»Ich bin weit davon entfernt zu glauben, daß ich Ihnen einen Dienst geleistet habe, der der Rede wert wäre«, unterbrach ihn Mr. Bevan. »Ich muß mir vielmehr Vorwürfe machen, daß ich unwissentlich die Hauptursache Ihrer Leiden geworden bin. Ich hätte mir ebensowenig träumen lassen, daß Sie nach Eden gehen oder sich hier überhaupt noch goldene Berge versprechen würden, als ich daran dachte, selber nach Eden zu gehen.«

»Die Sache ist so: Ich faßte nämlich den verrückten Entschluß, und zwar in sanguinischer Unbesonnenheit«, erklärte Martin. »Am liebsten möchte ich gar nichts mehr davon hören. Mark da wurde überhaupt nicht in der Sache gefragt.«

»Nun, er wird wohl auch in anderer Hinsicht keine Stimme gehabt haben«, meinte Mr. Bevan mit einem Lachen, das klar verriet, wie genau er Marks und Martins Charaktere durchschaute.

»Ich fürchte, allerdings keine besondere«, gab Martin errötend zu, »aber man lebt, um zu lernen, Mr. Bevan. Und wenn man dann infolge eigener Unbesonnenheit knapp vor dem Tode steht, so lernt man's nur um so schneller.« »Was haben Sie jetzt im Sinn?« fragte Mr. Bevan. »Sie gedenken wohl sofort nach England zurückzukehren?«

»Allerdings, allerdings«, versetzte Martin hastig, denn er bangte schon vor dem Gedanken an irgendeine andere Möglichkeit. »Hoffentlich ist das auch Ihr Rat?«

»Gewiß. Ich weiß überhaupt nicht, warum Sie nach Amerika kamen. Freilich kommt derartiges leider nur zu oft vor, als daß wir weiter viel Worte drüber zu verlieren brauchten. Sie wissen natürlich nicht, daß das Schiff, in dem Sie mit unserm Freund, dem General Fladdock, die Reise hierher gemacht haben, im Hafen liegt?«

»Wirklich?« rief Martin.

»Ja. Die Fahrtliste besagt, daß es morgen in See gehen wird.«

Das war eine verlockende und doch zugleich sehr peinliche Nachricht, denn Martin begriff, daß er nicht hoffen durfte, an Bord eines derartigen Schiffes irgendeine Beschäftigung zu erhalten. Das Geld, das er noch besaß, reichte nicht zu einem Viertel hin, die Summe zurückzuzahlen, die er sich bereits ausgeborgt; und wenn es selbst zur Heimreise gelangt hätte, würde er es doch kaum über sich gewonnen haben, alles dafür auszugeben. Er setzte dies Mr. Bevan in Kürze auseinander und teilte ihm seinen Plan mit.

»Das ist ein ebenso verrückter Einfall wie der, nach Eden zu gehen«, versetzte der Amerikaner. »Sie müssen einfach wegfahren, und zwar reisen wie ein Christ – wenigstens wie es ein Christ als Vorderkajütenpassagier tun kann – und mir noch einige Dollar mehr schuldig werden, als Sie beabsichtigten. Wenn Mr. Mark im Schiff drüben nachsehen will, wie viele Passagiere angemeldet sind, und findet, daß Sie an Bord gehen können, ohne im Zwischendeck direkt zu ersticken, so lautet mein Rat: Fahren Sie. Wir beide können uns inzwischen in der Stadt umsehen. Zu Norris brauchen wir ja nicht zu gehen – außer es läge Ihnen besonders viel daran! –, und am Nachmittag können wir dann alle drei gemeinschaftlich dinieren.«

Martin konnte nur seinen Dank stammeln, und damit war die Sache abgemacht.

Als Mark das Zimmer verließ, eilte ihm Martin nach und riet ihm, unter allen Umständen Plätze auf der »Schraube« zu belegen, und wenn sie selbst auf dem bloßen Deck kampieren müßten: ein Auftrag, den Mr. Tapley, der natürlich genau so dachte, bereitwilligst zu besorgen versprach.

Als er später wieder mit Martin allein zusammentraf, war er in prächtigster Laune und hatte offenbar etwas mitzuteilen, auf das er sich nicht wenig zugute tat.

»Ich habe Mr. Bevan hinters Licht geführt, Sir«, sagte er grinsend vor Vergnügen.

»Mr. Bevan hinters Licht geführt!?« wiederholte Martin.

»Der Koch der &#8250;Schraube&#8249; hat das Schiff verlassen und gestern geheiratet«, versetzte Mr. Tapley.

Martin sah ihn ratlos an.

»Als ich nun an Bord kam und man mich erkannte«, fuhr Mark fort, »kam der Maat zu mir und fragte mich, ob ich nicht auf der Heimreise die Stelle des Kochs übernehmen wolle. &#8250;Sie sind ja daran gewöhnt&#8249;, sagte er, &#8250;und haben auf der Herfahrt sowieso für jedermann gekocht.&#8249; Und so bin ich jetzt Koch«, fügte Mark hinzu, »wenn ich auch einen Eid drauf leisten kann, daß ich mich früher nie auf dergleichen verstanden habe.«

»Und was haben Sie drauf erwidert?« fragte Martin.

»Was ich erwidert habe?« rief Mark. »Nun, ich habe gesagt, daß ich alles nehmen wolle, was ich kriegen könne. &#8250;Wenn es sich so verhält&#8249;, sagte der Maat, &#8250;nun gut, dann bringen Sie mal ein Glas Rum her.&#8249; Und das geschah. Und mein Lohn, Sir«, rief Mark jubelnd, »bestreitet auch Ihre Überfahrt. Ich habe schon das Mangelholz in Ihr Kabuff gelegt, um es zu reservieren. Es ist die bequemste Koje rückwärts in der Ecke. – So weit wären wir jetzt. – Hoch England und Britannia drauf und dran!«

»Sie sind der famoseste Bursche, den es je gegeben hat«, jubelte Martin und drückte Mark warm die Hand. »Aber was meinen Sie damit, daß Sie sagten, Sie hätten Mr. Bevan angeführt?«

»Na, begreifen Sie's denn nicht?« rief Mark. »Natürlich sagen wir ihm kein Wort. Wir nehmen sein Geld an, wenn wir's auch natürlich nicht behalten wollen, schreiben ihm dann ein Briefchen, erklären ihm die ganze Sache, tun das Geld hinein und lassen 's im Gasthof mit dem Auftrag, es ihm erst zuzustellen, wenn wir fort sind. Verstehen Sie jetzt?«

Martins Entzücken über diesen Einfall kannte keine Grenzen, und der Vorschlag Mr. Tapleys wurde natürlich angenommen. Sie verbrachten zu dritt einen heitern Abend, blieben im Hotel über Nacht, besorgten den Brief und gingen am nächsten Morgen mit so leichtem Herzen an Bord, wie es einem Menschen nach soviel erlebtem Elend nur zumute sein kann.

»Leben Sie wohl – und tausendmal Dank«, sagte Martin zu Mr. Bevan. »Wie werde ich Ihnen jemals für all Ihre Güte danken können!«

»Wenn Sie je ein reicher oder einflußreicher Mann werden«, entgegnete Mr. Bevan, »so können Sie ja versuchen, Ihre Regierung zu veranlassen, daß sie sich mehr um ihre Untertanen kümmert, wenn diese im Ausland ihr Glück probieren wollen. Erzählen Sie, welche Erfahrung Sie selbst als Auswanderer gemacht haben, und legen Sie es der Regierung nahe, mit wie wenig Mühe viel Elend verhindert werden könnte.«

Hoi a ho! Die Ankerketten rasselten um das Gangspill. Mit vollen Segeln stach das Schiff in See, und sein breites Bugspriet deutete gerade nach England zu. Wie eine Wolke lag Amerika bald hinter den Reisenden.

»Na, Koch, über was brüten Sie so angelegentlich?« fragte Martin lustig.

»Ich habe mir soeben gedacht«, entgegnete Mark, »wenn ich nun ein Maler wäre und aufgefordert würde, den amerikanischen Adler zu malen, wie ich's wohl angreifen sollte.«

»Sie müßten ihn eben so adlerähnlich machen, wie Sie könnten.«

»Nö«, sagte Mark. »Das wäre nichts für mich. Ich würde ihn zeichnen wie 'ne Fledermaus, weil er kein Licht verträgt – wie den Hahn auf dem Mist, weil er sich so patzig macht – wie 'n Pfau wegen seiner Eitelkeit – und wie 'n Strauß, weil er glaubt, man sieht ihn nicht, wenn er den Kopf in den Sand steckt.«


 << zurück weiter >>