Charles Dickens
Martin Chuzzlewit
Charles Dickens

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10. Kapitel

Seltsame Dinge, von deren gutem oder schlimmem Einfluß viele Ereignisse dieser Geschichte abhängen

Aber Mr. Pecksniff kam ja geschäftehalber nach London! Hatte er denn das ganz vergessen? Konnte er auf die Dauer an Todgers' frischfröhlicher Gesellschaft Vergnügen finden, ohne der ernsten Obliegenheiten zu gedenken, die seine ruhige Überlegung in Anspruch nahmen? Keineswegs.

Zeit und Flut warten auf niemanden, sagt das Sprichwort. Der Mensch hat auf Zeit und Flut zu warten. Die Flut, die Mr. Pecksniff zum Glück führen sollte, stand in den Sternen geschrieben und hatte bereits eingesetzt. Pecksniff war kein Müßiggänger, der untätig auf trockenem Lande dem Wechsel der Strömung zusah; – nein, er stand bis über die Schuhe im Wasser, bereit, im tiefsten Schlamme fortzuwaten, wenn dieser Weg ihn seinem erhofften Ziele zuzuführen versprechen sollte. Das Vertrauen, das ihm seine beiden Töchter in jeder Hinsicht entgegenbrachten, hatte etwas Erhebendes. Sie hegten jene feste Zuversicht auf den Charakter ihres Erzeugers, die ihnen die Überzeugung verlieh, daß er in allem, was er tue, sein Ziel voll und unverrückbar im Auge behalten werde und daß das edle Ziel seines Strebens nichts anderes sein könne als seine eigene Wohlfahrt und demnach auch – die ihrige.

Ihr kindliches Vertrauen mußte um so rührender erscheinen, als sie im gegenwärtigen Falle durchaus keine Kenntnis von den wirklichen Absichten ihres Vaters hatten. Sie wußten von seinem Tun nicht mehr, als daß er jeden Morgen nach dem zeitig eingenommenen Frühstück auf das Postbureau eilte und nach eingelaufenen Briefen fragte. Nach Beendigung dieses Geschäftes war sein Tagewerk vorüber, und er konnte sich der Ruhe hingeben, bis die aufgehende Sonne des nächsten Morgens abermals die Ankunft einer neuen Post verkündete.

So entschwanden vier oder fünf Tage. Endlich kehrte eines Morgens Mr. Pecksniff atemlos und in einer Hast zurück, die von seiner gewohnten Ruhe seltsam genug abstach, und schloß sich unverzüglich auf ein paar Stunden mit seinen Töchtern zu geheimer Beratung ein. Von allem, was dabei vorging, sind uns nur folgende Äußerungen Mr. Pecksniffs zu Ohren gekommen:

»Wir brauchen uns nicht mit Grübeleien darüber aufzuhalten, wieso es kam, daß eine so gewaltige Wandlung mit ihm vorging, vorausgesetzt, daß eine solche, wie ich hoffe, wirklich stattgefunden hat, meine Lieben. Ich habe zwar so meine besondern Gedanken darüber, meine Kinder, will sie aber vorderhand noch für mich behalten. Uns genügt das Bewußtsein, daß wir weder stolz noch nachtragend oder unversöhnlich sind. Bedarf er unserer Freundschaft, so sei sie ihm gewährt. Wir kennen unsere Pflicht.«

Noch am selben Nachmittag stieg ein alter Herr aus einer Droschke vor der Post ab und fragte, nachdem er seinen Namen genannt, nach für ihn etwa eingelaufenen »Restante«-Briefen. Tatsächlich fand sich auch ein solcher, das Kuvert von Mr. Pecksniffs Hand geschrieben und mit seinem Petschaft gesiegelt.

Der Inhalt war sehr kurz und enthielt nichts weiter als eine Adresse »mit Mr. Pecksniffs respektvoller und – trotz allem Vorgefallenen – aufrichtiger Hochachtungsbezeugung.« Der alte Herr riß die Angabe von Stadtteil und Hausnummer ab und händigte sie, nachdem er das übrige in Fetzen dem Winde preisgegeben, dem Kutscher mit der Weisung ein, auf dem kürzesten Wege nach dem auf dem Streifen verzeichneten Orte zu fahren. Diesem Auftrag gemäß machte der Wagen bald darauf bei dem Monumente halt, der alte Herr stieg aus, entließ die Droschke und ging auf Todgers' Etablissement zu.

Obgleich dem Gesicht, der Gestalt und dem Gang nach ein Greis, verriet doch die Art, wie er den starken Stock, auf den er sich stützte, umfaßte, eine nicht leicht zu erschütternde Entschlossenheit und Festigkeit. Trotzdem schien der alte Herr noch zu zaudern; – wenigstens vermied er das Haus, das er suchte, noch eine Weile und benutzte einen kurzen Sonnenblick, der auf den kleinen Kirchhof in der Nähe herniederglänzte, um ein wenig auf und ab zu schlendern. In dem Anblick der alten Gräber mitten im geschäftigsten Gewühle des Lebens mochte für ihn etwas liegen, das seine Unschlüssigkeit eher steigerte, denn er wandelte, mit jedem Schritt das Echo weckend, auf und nieder, bis der Glockenton der Kirchturmuhr, die seit seiner Anwesenheit bereits zweimal je eine Viertelstunde geschlagen, ihn aus seinen Grübeleien aufrüttelte. – Da wich mit einem Male seine Unentschlossenheit, und hastig ging er auf das Haus zu und klopfte an die Türe.

Mr. Pecksniff saß in dem kleinen Stübchen der Mrs. Todgers und wurde von dem Besuche – rein zufällig natürlich – in der Lektüre eines vortrefflichen theologischen Werkes überrascht. Auf einem kleinen Tischchen neben ihm stand Kuchen und Wein – gleichfalls nur ganz zufällig, wie er ausdrücklich zu bemerken für nötig erachtete –, da er die Hoffnung, seinen erwarteten Gast bei sich zu sehen, bereits gänzlich aufgegeben und deshalb diese einfache Erfrischung für sich und seine Kinder bestellt hätte.

»Sind Ihre Töchter wohl?« fragte der alte Martin und legte Hut und Stock ab.

Mr. Pecksniff bejahte schlicht und bemühte sich nach Kräften, die Innigkeit seiner väterlichen Gefühle zu verbergen. Sie seien gute Mädchen, sagte er – sehr, sehr gute Mädchen. Er wage nicht, Mr. Chuzzlewit zu bitten, sich im Lehnstuhl niederzulassen, um der Zugluft der Türe auszuweichen, aus Furcht, seine Bitte als berechnende Höflichkeit mißdeutet zu sehen; – er wolle sich daher nur mit dem Hinweis begnügen, daß ein bequemer Stuhl im Zimmer stehe und die Türe nichts weniger als luftdicht sei – letzteres eine Unvollkommenheit, die, wie er vielleicht beizufügen so frei sein dürfe, in alten Häusern keineswegs selten vorkomme.

Der alte Mann setzte sich in den Lehnstuhl und begann nach einer kurzen Pause:

»Zuvörderst muß ich Ihnen danken, daß Sie auf meine fast gar nicht motivierte Bitte so bereitwillig nach London kamen – ich brauche wohl kaum zu bemerken: natürlich auf meine Kosten.«

»Auf Ihre Kosten, mein werter Herr?!« rief Mr. Pecksniff im Tone größter Überraschung.

»Ich bin nicht gewohnt,« versetzte Martin, ungeduldig mit der Hand abwinkend, »meine – nun ja, meine Verwandten – in Unkosten zu stürzen, wenn es sich um Befriedigung meiner Grillen handelt.«

»Grillen, mein werter Herr?!« rief Mr. Pecksniff.

»Im gegenwärtigen Falle habe ich allerdings kaum das passende Wort gewählt«, gab der alte Herr zu. »Nein, Sie haben recht.«

Mr. Pecksniff fühlte sich durch diese Worte, ohne eigentlich zu wissen, warum, innerlich sehr beruhigt.

»Sie haben recht«, wiederholte Martin. »Es ist keine Grille. Ich habe mir vorher alles reichlich und kaltblütig überlegt, und daher kann man es nicht ›Grille‹ nennen. Und außerdem neige ich überhaupt ganz und gar nicht zu Grillen.«

»Gewiß nicht«, versicherte Mr. Pecksniff.

»Wie können Sie das wissen?!« fuhr der alte Herr auf. »Sie werden es erst in Zukunft erfahren und mir künftighin bezeugen können. Sie und die Ihrigen sollen erst sehen, daß ich beharrlich sein kann und mir mein Ziel nicht verrücken lasse. – Verstehen Sie?«

»Vollkommen«, antwortete Mr. Pecksniff.

»Ich bedaure lebhaft«, nahm Martin in langsamem und gemessenem Tone seine Rede wieder auf und faßte dabei Mr. Pecksniff fest ins Auge, »ich bedaure lebhaft, daß bei unserm letzten Beisammensein eine so wenig erfreuliche Besprechung zwischen uns stattfand, das heißt, daß ich Ihnen so unverhohlen enthüllte, was ich damals von Ihnen dachte. Meine jetzige Gesinnung ist wesentlich anders, und ich nehme zu Ihnen meine Zuflucht, nachdem ich von allen, denen ich jemals über den Weg getraut, verlassen, und von denen, die mir Hilfe und Beistand leisten sollten, getäuscht und ausgebeutet wurde. Ich zähle auf Sie als auf einen Verbündeten, den ich durch die Bande seines eigenen Vorteils an mich zu knüpfen wünsche.« – Er legte einen großen Nachdruck auf diese Worte, obgleich ihn Mr. Pecksniff aufs angelegentlichste bat, dessen doch ja nicht zu erwähnen. – »Sie sollen mir helfen, die verdienten Strafen für Gemeinheit, Verstellung und Spitzbüberei, die man in schlimmster Weise an mir übte, über die Schuldigen zu verhängen.«

»Sie edler, hochherziger Mensch!« rief Mr. Pecksniff und ergriff voll Wärme die dargebotene Hand Mr. Chuzzlewits. »Und Sie bedauern, ungerechte Gedanken gegen mich gehegt zu haben – Sie mit Ihren grauen Haaren!?«

»Reue ist das natürliche Los grauer Haare«, entgegnete Martin, »und, wie wohl allen Menschen, ist der gebührende Anteil an dieser Erbschaft auch mir beschieden. – Doch genug davon. Es tut mir leid, so lange von Ihnen getrennt gewesen zu sein. Hätte ich Sie früher gekannt und so behandelt, wie Sie es verdienen, so wäre ich vielleicht ein glücklicher Mensch.«

Mr. Pecksniff sah zur Decke empor und faltete in stummer Begeisterung die Hände.

»Ich kenne Ihre Töchter noch nicht«, fing Martin nach einem kurzen Schweigen wieder an. »Gleichen sie Ihnen?«

»Die älteste hinsichtlich der Nase und die jüngere, was das Kinn betrifft, Mr. Chuzzlewit«, entgegnete der Witwer. »Ihre selige Mutter lebt in ihnen wieder auf.«

»Ich meine nicht äußerlich«, sagte der alte Mann, »moralisch – moralisch!«

»Darüber darf ich mir wohl kein Urteil anmaßen«, säuselte Mr. Pecksniff mit bescheidenem Lächeln, »ich kann nur sagen, ich habe mein Bestes getan, Sir.« »Ich möchte sie gerne sehen«, sagte Martin. »Sind sie in der Nähe?«

Allerdings waren sie in der Nähe, und zwar sehr in der Nähe; nämlich hinter dem Schlüsselloch! Nachdem Mr. Pecksniff sich die Zeichen seiner Ergriffenheit aus den Wimpern gewischt und den jungen Damen soviel Zeit gelassen hatte, um die Treppe hinauf zu huschen, öffnete er die Türe und rief mit sanfter Stimme in den Flur hinaus:

»Meine Herzblättchen, wo steckt ihr?«

»Hier, lieber Papa!« ließ sich aus der Ferne die Stimme von Miss Charitas vernehmen. »Komm doch mal ins Hinterzimmer herunter, meine Liebe«, flötete Mr. Pecksniff, »und bring auch deine Schwester mit!«

»Ja, lieber Papa«, antwortete Gratia und kam gleich darauf gehorsam und trällernd mit Charitas heruntergehüpft.

War das eine Bestürzung, als sie bei ihrem teuern Papa einen Fremden sitzen fanden! Und erst die stumme Überraschung, als er ihnen Mr. Chuzzlewit vorstellte und erklärte, er und Mr. Chuzzlewit seien jetzt Freunde und Mr. Chuzzlewit habe ihm soviel Liebes und Freundliches gesagt, daß es ihn im innersten Herzen ergriffen hätte. »Dem Himmel sei Dank dafür!« riefen sie wie aus einem Munde und fielen dem alten Herrn um den Hals. Mit unbeschreiblicher Glut und Zärtlichkeit hingen sie an seinem Nacken, gruppierten sich dann um seinen Stuhl und beugten sich über ihn, als gebe es fürderhin keine größere Erdenfreude mehr für sie, als ihm alle seine Wünsche an den Augen abzulesen und für den Rest seines Daseins alle die Liebe auf sein Haupt zu häufen, die er so lange – der liebe Trotzkopf! – von sich gewiesen.

Der alte Mann sah einigemal von der einen zur andern.

»Wie heißen sie?« fragte er, als Mr. Pecksniffs Auge – der bisher fromm zum Himmel aufgesehen wie ein verendender Schwan – dem seinen begegnete, »wie heißen sie?«

Mr. Pecksniff vertraute es ihm an und setzte – seine Verleumder würden natürlich wieder behauptet haben: mit Rücksicht auf testamentarische Gedanken, die dem alten Martin durch den Kopf gehen mochten – etwas hastig hinzu:

»Vielleicht, meine Kinder, würdet ihr gut tun, eure Namen auf ein Blatt Papier aufzuschreiben. Eure bescheidenen Autogramme sind zwar an sich bedeutungslos, aber die Liebe sieht nicht auf äußern Wert.«

»Die Liebe«, fiel der alte Mann ein, »wird sich an die lebenden Originale halten. Bemüht euch nicht, meine Kinder. Ich werde euch nicht so leicht vergessen, Charitas und Gratia, als daß es solcher Erinnerungszeichen bei mir bedürfte, Vetter!«

»Sir?« rief Mr. Pecksniff dienstfertig.

»Setzen Sie sich denn nie?«

»O ja – hin und wieder wohl, Sir«, antwortete Mr. Pecksniff, der die ganze Zeit über gestanden hatte.

»Haben Sie jetzt keine Lust dazu?«

»Wie mögen Sie nur fragen?« antwortete Mr. Pecksniff und ließ sich rasch auf einen Stuhl nieder. »Wo ich doch sehe, daß Sie es wünschen.«

»So sprechen Sie jetzt und meinen es auch gut«, sagte Martin; »aber ich fürchte, Sie wissen nicht, was es bedeutet, den Launen eines alten Mannes Rechnung zu tragen, seinen Liebhabereien oder Abneigungen Verständnis entgegenzubringen, sich seinen Vorurteilen zu fügen, allen seinen Wünschen zu willfahren, an seinem Argwohn und seiner Eifersucht Nachsicht zu üben und doch in seinem Dienste nicht zu erlahmen! Wenn ich bedenke, welche zahllosen Fehler ich besitze und wie hart ich noch vor kurzem über Sie geurteilt habe, so wage ich es kaum, auf Ihre Freundschaft Anspruch zu machen.«

»Mein lieber, wertgeschätzter Herr«, rief Mr. Pecksniff, »wie können Sie sich nur in einer für uns so schmerzlichen Weise äußern? – Was ist natürlicher, als daß Sie einen so verzeihlichen kleinen Mißgriff begehen mußten, wo Sie in jeder Hinsicht leider so triftigen Grund hatten, von Ihrer ganzen Umgebung stets das Schlechteste zu denken!?«

»Wahr«, seufzte Martin. »Sie verfahren sehr gelinde mit mir.«

»Wir haben immer gesagt – nämlich meine Mädchen und ich«, beteuerte Mr. Pecksniff mit steigender Zutraulichkeit, »daß wir uns nicht wundern dürften, mit feilen Seelen in einen Topf geworfen zu werden, wie beklagenswert es auch sei. Ihr erinnert euch doch, meine Lieben?« Oh, versteht sich, und wie genau! Wohl tausendmal war davon die Rede gewesen.

»Jedoch kein Wort der Klage kam über unsere Lippen. Nur hin und wieder sagten wir uns, daß am Ende doch die Wahrheit ans Licht kommt und die Tugend den Sieg davonträgt – wenn auch nicht immer. Ihr entsinnt euch doch noch, meine Kinder?«

Entsinnen? Wie konnte er nur zweifeln? »Liebster Papa, welch seltsame, unnötige Frage!«

»Und als ich«, hob Mr. Pecksniff mit noch größerer Anschmiegsamkeit wieder an, »als ich Sie in dem kleinen, anspruchslosen Dörfchen sah, wo wir so frei sind zu wohnen, sagte ich Ihnen bloß, mein teurer Herr, Sie seien hinsichtlich meiner Person im Irrtum; das war, glaube ich, alles.«

»Nein – nicht alles«, versetzte Martin, der eine lange Zeit dagesessen, die Stirn auf die Hand gestützt, und erst jetzt wieder aufsah. »Sie sagten noch viel mehr. Und das hat mir nebst andern Umständen, die mir zu Ohren kamen, die Augen geöffnet. Sie sprachen in sehr uneigennütziger Weise über – doch wozu seinen Namen nennen; Sie wissen schon, wen ich meine.«

Unruhe malte sich in Mr. Pecksniffs Zügen, während er seine fiebernden Hände zusammenpreßte und voll Unterwürfigkeit beteuerte:

»Ganz ohne selbstsüchtiges Motiv, Sir, ich kann Ihnen versichern.«

»Ich weiß es«, fiel ihm der alte Martin in seiner ruhigen Weise ins Wort, »ich bin überzeugt davon. Und ebenso uneigennützig war es von Ihnen, jene Schar von Harpyien von mir abzulenken und sich ihnen selbst zum Opfer hinzuwerfen. Die meisten anderen Menschen hätten ihnen sogar Vorschub geleistet, um sie sich in ihrer ganzen Raubgier entfalten zu lassen und mir den Kontrast mit dem eigenen Benehmen so recht vor Augen zu führen. Aber Sie fühlten für mich und zogen die Rotte von mir ab. Ich danke Ihnen dafür. Sie sehen, obgleich ich den Ort verlassen habe, so weiß ich doch, was hinter meinem Rücken vorging.«

»Sie setzen mich in Erstaunen, Sir!« rief Mr. Pecksniff – diesmal echt verblüfft. »Das, was mir von Ihrem Tun und Lassen zu Ohren kam, beschränkt sich jedoch nicht auf diese Punkte allein. Sie haben einen neuen Gast in Ihrem Hause –«

»Allerdings, Sir«, gab der Architekt zu; »es ist so.«

»Er muß es verlassen.«

»Um – um wieder zu Ihnen zu ziehen?« fragte Mr. Pecksniff mild mit tremolierendem Ton.

»Er soll sich ein Obdach suchen, wo er mag«, entgegnete der alte Mann. »Er hat Sie hintergangen.«

»Ich will nicht hoffen«, sagte Mr. Pecksniff hastig. »Nein, nein, ich kann das nicht glauben. Ich bin dem jungen Manne außerordentlich zugetan gewesen, und unmöglich kann sich's jetzt herausstellen, daß er allen Anspruch auf meinen Schutz verwirkt hat. Hintergangen?! – Freilich, wenn er mich hintergangen hätte, mein teurer Mr. Chuzzlewit, so – so würde das allerdings entscheidend sein. Ich müßte es dann für meine Pflicht halten, mich auf der Stelle von ihm loszusagen.«

Der alte Mann blickte auf seine beiden schönen Karyatiden, namentlich aber auf Miss Gratia, der er sogar voll ins Gesicht sah, und mit weit größerem Interesse, als sich bisher in seinen Zügen ausgedrückt hatte. Dann begegnete er wieder Mr. Pecksniffs Auge und bemerkte ruhig:

»Sie wissen natürlich, daß er sich bereits seine künftige Gattin gewählt hat?«

»Gott im Himmel!« rief Mr. Pecksniff und strich sich mit einem entsetzten Blick auf seine Töchter das Haar möglichst steif in die Höhe.

»Das fängt ja furchtbar an!«

»Sie wissen also gar nichts davon?« forschte Martin.

»Aber er tat es doch hoffentlich nicht ohne Zustimmung seines Großvaters, mein teurer Herr? Ich beschwöre Sie bei der Ehre der menschlichen Natur, sagen Sie nein!«

»Dachte ich's doch, daß er's verschwiegen hat!« murmelte der alte Mann.

Der edle Unwille, der Mr. Pecksniff bei dieser schrecklichen Enthüllung ergriff, war nur mit dem auflodernden Zorne seiner Töchter zu vergleichen. Wie! So hatten sie also eine verkappte Schlange am heimischen Herde geborgen – ein Krokodil, das hinterlistigerweise bereits über seine Hand verfügt – einen Betrüger der menschlichen Gesellschaft – einen bankerotten Junggesellen, der unter falschen Vorspiegelungen mit der jungfräulichen Welt sein Spiel trieb? Und ach! Denken zu müssen, daß er in störrischem Ungehorsam den lieben, den ehrwürdigen alten Herrn gekränkt hatte, dessen Namen er trug – diesen freundlichen und zärtlichen Vormund, der ihm – von Mutter gar nicht zu sprechen – mehr als ein Vater gewesen war! Schrecklich, schrecklich! – Ihn mit Schmach und Schande aus dem Hause zu jagen, wäre noch eine viel zu sanfte Behandlung für ihn! Ließ sich ihm denn nicht noch etwas anderes antun? Hatte er nicht noch etwas verbrochen, das irgend Anlaß geben könnte, ihn den Gerichten zu überliefern? Wär' es denn möglich, daß die Gesetze des Landes an so wesentlichen Mängeln litten, um nicht einmal für solche Vergehungen eine Strafe bereit zu haben? Das Ungeheuer! Wie schändlich hatte es sie getäuscht!

»Es freut mich zu sehen, daß Sie so warm mit mir fühlen«, sagte der alte Mann und hob die Hand empor, um dem Strom ihres Grimmes Einhalt zu gebieten. »Ich will zwar nicht in Abrede stellen, daß mir Ihr Eifer Freude macht, aber betrachten wir die Sache jetzt für abgetan.«

»Nein, mein teurer Herr«, rief Mr. Pecksniff, »nicht für abgetan, bis ich nicht mein Haus von diesem Schandfleck gesäubert habe.«

»Das wird schon von selbst kommen«, beruhigte ihn der alte Mann. »Ich nehme an, es sei bereits geschehen.«

»Sie sind sehr gütig, Sir«, bedankte sich Mr. Pecksniff und schüttelte seinem Vetter die Hand. »Ihr Vertrauen ehrt mich. Wirklich, ich versichere Ihnen, Sie können die Sache als erledigt ansehen.«

»Ich muß jetzt noch einen anderen Punkt zur Sprache bringen«, nahm Martin seinen Faden wieder auf, »in dem Sie mir hoffentlich auch Ihre Unterstützung nicht versagen werden. Erinnern Sie sich an Mary, Vetter?«

»Die junge Dame, meine Kinder, von der ich euch sagte, sie interessiere mich so außerordentlich«, erklärte Mr. Pecksniff. »Entschuldigen Sie, daß ich unterbrochen habe, Sir.« »Ich habe Ihnen, wie Sie sich erinnern werden, ihre Geschichte erzählt.«

»Ihr entsinnt euch, meine Lieben, daß ich zu euch gleichfalls davon gesprochen habe«, rief Mr. Pecksniff. »Törichte Mädchen, Mr. Chuzzlewit, ganz gerührt waren sie davon.«

»Ei, da sehe einer«, sagte Martin, augenscheinlich sehr vergnügt. »Und ich fürchtete schon, mit ihr lästig zu fallen und Sie bitten zu müssen, ihr um meinetwillen gewogen zu sein. Nun finde ich, daß Sie durchaus nichts gegen sie haben! Gut! Ihr braucht auch nicht eifersüchtig auf sie zu sein. Sie weiß, meine Lieben, daß sie von mir nichts zu erwarten hat.«

Die beiden Misses Pecksniff bezeugten murmelnd ihren Beifall über diese weise Maßregel und gaben ihrer herzlichen Teilnahme für den interessanten Gegenstand derselben Ausdruck.

»Wenn ich hätte voraussehen können, wie wir vier noch einmal miteinander stehen würden –« klagte der alte Mann gedankenvoll. »Doch das ist zu spät jetzt. Ihr würdet sie also liebreich aufnehmen und freundlich behandeln, ihr lieben Mädchen?«

Wo war die Waise, die die beiden Misses Pecksniff nicht zärtlich an ihren schwesterlichen Busen gedrückt hätten? Wenn aber nun gar diese Waise von einem Manne ihrer Obhut empfohlen wurde, über den sich jetzt ihre seit vielen Jahren aufgespeicherte Zärtlichkeit in Strömen ergoß, welch unerschöpflichen Vorrat reiner Zuneigung hatte sie da nicht von solchen freundschaftschmachtenden Herzen zu erwarten.

Es folgte eine längere Pause, während der Mr. Chuzzlewit stumm und in seltsamer Geistesabwesenheit den Boden anstarrte. Da er augenscheinlich in seinen Betrachtungen nicht unterbrochen zu werden wünschte, so verhielten sich Mr. Pecksniff und seine Töchter gleichfalls mäuschenstill. Im Laufe des ganzen vorhergegangenen Dialogs hatte er mit kalter, leidenschaftsloser Geläufigkeit gesprochen, als sage er eine schon hundertmal und sorgfältig einstudierte Rolle herunter; selbst wenn er die wärmsten Worte gebraucht hatte. Jetzt aber leuchtete sein Auge heller auf, und seine Stimme wurde ausdrucksvoller, als er, aus seinem gedankenvollen Brüten erwachend, fortfuhr: »Sie wissen aber doch, was man davon halten wird? Haben Sie sich das auch überlegt?«

»Von was halten wird, mein teurer Herr?« fragte Mr. Pecksniff.

»Von diesem plötzlichen Einvernehmen zwischen uns.«

Mr. Pecksniff nahm eine wohlwollend scharfsinnige Miene an, in der sich zu gleicher Zeit die Erhabenheit über alle irdische Mißdeutung aussprach, und gab nickend zu, daß ohne Zweifel unsäglich viel darüber gesprochen werden würde.

»Allerdings unsäglich viel«, wiederholte der alte Mann. »Man wird sagen, daß ich in meinem hohen Alter zu faseln anfange, daß mich meine Krankheit mürbe gemacht habe, daß alle Kraft des Geistes von mir gewichen und ich kindisch geworden sei. Werden Sie das ertragen können?«

Mr. Pecksniff gestand, es sei freilich eine schrecklich schwere Aufgabe, aber doch glaube er dazu fähig zu sein, wenn er seine ganze Kraft zusammennähme.

»Wieder andere werden sagen – ich spreche natürlich nur von dem Heer der Enttäuschten –, Sie hätten durch Lügen, Schmeicheleien und sonstige nichtswürdige Mittel sich meine Gunst erschlichen, hätten die heillosesten Zugeständnisse gemacht und ließen sich eine so herabwürdigende und entehrende Behandlung gefallen, daß nicht einmal die Schätze unseres halben Erdballes eine genügende Entschädigung dafür bieten könnten. Fällt Ihnen auch das nicht zu schwer?«

Mr. Pecksniff erwiderte, daß solche Nachreden freilich gleichfalls sehr hart zu ertragen wären, da sie gewissermaßen Mr. Chuzzlewits gesundes Urteil in Abrede stellten; er habe jedoch die bescheidene Selbstzuversicht, sich angesichts seines guten Gewissens und der Freundschaft des alten Herrn sogar über derartige Schmähungen hinwegsetzen zu können.

»Der große Haufe der Lästerzungen und Verleumder«, fuhr der alte Martin fort und lehnte sich in seinem Stuhl zurück, »wird, wie ich klar voraussehe, die Sache so auffassen: ich hätte, um dem erbärmlichen Gesindel meine Verachtung recht augenfällig kund zu tun, aus seiner Mitte den Allerelendesten ausersehen, ihn zu meinem willfährigen Sklaven gemacht und ihn auf Kosten aller übrigen Verwandten bereichert. Nachdem ich mich lange nach Züchtigungsmitteln umgesehen, die die Herzen dieser Aasgeier am tiefsten verwundeten, hätte ich diesen Plan in einem Zeitpunkt entworfen, als das letzte Kettenglied, das mich noch an mein Geschlecht gefesselt, mit roher Hand zerrissen wurde, mit roher Hand, sage ich – denn ich hing an Martin –, mit roher Hand, denn ich hatte immer auf seine Anhänglichkeit gebaut, mit roher Hand, da er das Band zerriß, als ich – so wahr mir Gott helfe – am zärtlichsten für ihn sorgen wollte, und mich gefühllos von sich stieß, während ich noch mit ganzer Seele an ihm hing! Nun«, setzte der alte Mann hinzu, den leidenschaftlichen Ausbruch seiner Gefühle ebenso schnell unterdrückend, als er sich ihm hingegeben, »sind Sie entschlossen, auch dies über sich ergehen zu lassen? Machen Sie sich darauf gefaßt, daß Sie es zu ertragen haben werden, und bauen Sie nicht darauf, daß ich mich Ihrer annehme.«

»Mein lieber Mr. Chuzzlewit«, rief Mr. Pecksniff, von Begeisterung überwältigt, »für einen Mann, wie Sie sich heute gezeigt haben – für einen Mann, der so tief gekränkt und doch so voll Menschenliebe ist – für einen, ich weiß nicht recht, wie ich mich ausdrücken soll – für einen zu gleicher Zeit so außerordentlichen Mann – ja, ich hoffe, es ist keine Anmaßung, wenn ich sage – und ich bin überzeugt, meine Kinder sind ganz meiner Ansicht (nicht wahr, meine Lieben, wir stimmen hierin vollkommen überein?) – für – für einen Mann, wie er mir immer als Ideal vorgeschwebt, könnte ich alles ertragen!«

»Gut«, sagte Martin. »Mir dürfen Sie also wegen der Folgen keine Vorwürfe machen! – – Wann kehren Sie nach Hause zurück?«

»Sobald es Ihnen beliebt, mein wertgeschätzter Herr. Heute abend noch, wenn Sie es verlangen.«

»Ich verlange nichts«, erwiderte der Alte. »Eine solche Forderung wäre unbillig. Paßt es Ihnen Ende dieser Woche?«

– Zu dieser Zeit gerade am allerbesten, würde Mr. Pecksniff versichert haben, wenn ihm nicht seine Töchter mit dem Ausruf zuvorgekommen wären: »Wir wollen also Samstag aufbrechen, liebster Papa.« – »Und Ihre Auslagen, Vetter«, sagte Martin und zog einen zusammengelegten Papierstreifen aus seiner Brieftasche, »übersteigen vielleicht diese Summe. Wenn dem so ist, so lassen Sie mich, was ich Ihnen noch schulde, bei unserer nächsten Zusammenkunft wissen. Es wäre zwecklos, wenn ich Ihnen meinen gegenwärtigen Aufenthalt angeben wollte, da ich mich nirgends lange aufhalte. Sollte es doch nächstens einmal der Fall sein, so werde ich es Sie wissen lassen. Sie und Ihre Töchter werden mich in Bälde zu sehen bekommen; auch brauche ich Ihnen wohl kaum zu sagen, daß hinsichtlich des Vorgefallenen strengste Verschwiegenheit herrschen muß. Was Sie zu tun haben, wenn Sie nach Hause kommen, ist bereits zwischen uns abgemacht. Sie brauchen mir darüber nicht zu berichten, auch später die Sache unter keinen Umständen weiter zu erwähnen. Ich muß mir diese Gunst von Ihnen erbitten. Ich bin kein Freund von vielen Worten, Vetter, und alles Nötige ist, glaube ich, bereits besprochen.«

»Nehmen Sie doch ein Glas Wein – einen Bissen von diesem hausgebackenen Kuchen!« rief Mr. Pecksniff, bemüht, den alten Herrn nach Kräften zurückzuhalten. »Meine Lieben – –«

– Die Schwestern flogen nur so, um ihn zu bedienen. –

»Die armen Mädchen!« klagte Mr. Pecksniff. »Sie müssen ihre Aufregung entschuldigen, mein werter Herr, denn sie sind durch und durch Empfindung. Eine schlimme Mitgift, um damit durch die Welt zu kommen, Mr. Chuzzlewit! Meine jüngste Tochter ist fast schon so sehr Weib wie die ältere – finden Sie nicht auch, Sir?«

»Welche ist die jüngere?« fragte der alte Mann.

»Gratia – um fünf Jahre. Wir wagen bisweilen, sie ziemlich hübsch gewachsen zu finden, Sir. Als Künstler zu sprechen, ist mir vielleicht zu bemerken erlaubt, daß ihre Umrisse anmutig und korrekt sind. Natürlich«, setzte Mr. Pecksniff hinzu, trocknete sich den Angstschweiß mit seinem Taschentuch von den Händen und sah fast bei jedem Worte seinem Vetter aufmerksam besorgt ins Gesicht – »natürlich bin ich stolz darauf – wenn ich mich dieses Ausdruckes bedienen darf –, eine Tochter zu besitzen, die nach den besten Modellen konstruiert ist.«

»Sie scheint ein lebhaftes Temperament zu haben«, warf Martin hin. »Bei Gott!« rief Mr. Pecksniff, »Wie außerordentlich merkwürdig! Sie haben ihren Charakter getroffen, mein werter Herr, als ob Sie sie von ihrer Geburt an gekannt hätten. – Freilich hat sie ein lebhaftes Temperament. Ich versichere Ihnen, mein werter Herr, in unserer anspruchslosen Heimat ist ihr Frohsinn fast sprichwörtlich.«

»Ich zweifle nicht im mindesten daran«, entgegnete der alte Mann.

»Andererseits zeichnet sich Charitas durch hellen Verstand und Gemütstiefe aus, wenn eine solche Beurteilung aus dem Munde eines Vaters nicht parteiisch klingt. Es herrscht eine wunderbare Harmonie unter ihnen, mein teurer Herr! Erlauben Sie mir, auf Ihre Gesundheit zu trinken. Gottes Segen über Sie!«

»Ich hätte mir's vor einem Monat nicht träumen lassen«, murmelte Martin, »daß ich noch einmal mit Ihnen Brot und Wein genießen würde. – Auf Ihr Wohl!«

Nicht weiter durch die ungewöhnliche Schroffheit, mit der die letzten Worte gesprochen wurden, betroffen, drückte Mr. Pecksniff Martin seinen tiefstgefühlten Dank aus.

»Jetzt lassen Sie mich aber gehen«, sagte der Alte und stellte das Weinglas wieder nieder, das er kaum mit den Lippen berührt hatte. »Meine Lieben, guten Morgen!«

Dieses kühle Lebewohl war nicht zärtlich genug für die sehnsuchtsvollen Herzen der jungen Damen, und immer wieder und wieder umarmten sie den alten Herrn mit großer Innigkeit. Weit gutmütiger, als man von ihm hätte erwarten können, fügte dieser sich in ihre Liebkosungen, trotzdem er kaum einen Augenblick früher ihren Vater so wenig gefühlvoll abgefertigt hatte.

Nach glücklicher Beendigung der Zeremonie nahm Mr. Chuzzlewit hastig Abschied und entfernte sich, während ihn Vater und Töchter zur Haustüre begleiteten, dort stehen blieben und ihm, von Liebe überströmend, Kußhändchen nachwarfen, bis er außer Sicht war, trotzdem er sich befremdlicherweise kein einziges Mal umdrehte.

Als sie alle wieder in Mrs. Todgers' Zimmer versammelt waren, entwickelten die beiden jungen Damen eine ungewöhnliche Heiterkeit, klatschten in die Hände und lachten mit schelmischen Mienen und neckischen Gebärden ihren teuern Papa an. Dieses Benehmen war so unerklärlich, daß Mr. Pecksniff, der stets sehr ernster Natur war, nicht umhin konnte, ihnen wegen ihres leichtfertigen Sichgehenlassens in seiner milden Weise die entsprechenden Vorwürfe zu machen.

»Wenn ich mir nur den entferntesten Grund für solche Lustigkeit denken könnte«, sagte er, »so würde ich euch nicht tadeln. So aber, wo nicht der geringste Anlaß dazu ist – – nein, wahrhaftig – wahrhaftig – –!«

Diese Ermahnung machte leider so wenig Eindruck auf Gratia, daß sie sich in ihrem Sessel zurückwerfen und das Taschentuch vor ihre rosigen Lippen halten mußte, um nicht vor Lachen loszubrechen. Ein solcher Mangel an kindlicher Achtung mußte Mr. Pecksniff naturgemäß kränken, und eben wollte er eine angemessene Standrede halten und den väterlichen Rat hinzufügen, sie möge sich durch Selbstbetrachtung in der Einsamkeit zu bessern suchen, als ihn der Lärm streitender Stimmen aus dem Nebenzimmer unterbrach.

»Mir ganz wurst, Mrs. Todgers«, hörte man den jungen Herrn sagen, der am Tage des Banketts der jüngste unter den Gentlemen gewesen war. »Kümmert mich auch nicht so viel« – er schnappte dabei mit den Fingern – »der – der Jinkins, Madam! Glauben Sie mir das!«

»Ich bin vollkommen davon überzeugt, Sir«, versetzte Mrs. Todgers. »Ich weiß, Sie haben einen zu unabhängigen Charakter, um irgend jemandem nachzugeben. Und zwar mit Recht. Es ist kein Grund vorhanden, warum Sie irgendeinem Gentleman nachstehen sollten – das muß jedermann einsehen.«

»Ich würde mir so wenig daraus machen, das Tageslicht dem Kerl durch den Leib scheinen zu lassen«, rief der »jüngste Gentleman« außer sich vor Empörung, »wie einem Bullenbeißer.«

Mrs. Todgers hielt sich nicht lange mit der Erörterung der Frage auf, warum gerade ein Bullenbeißer den Gipfel der Wurstigkeit bei einem solchen Prozeß darstelle, sondern rang nur stöhnend die Hände.

»Er soll sich in acht nehmen«, zischte der jüngste Gentleman. »Ich warne ihn. Niemand soll es wagen, sich zwischen mich und den Strom meiner Rache zu werfen! Ich kenne einen – ›Kerl‹ –« versprach er sich in seiner Aufregung, verbesserte sich aber rasch, »einen vermögenden Gentleman, will ich sagen, der ein paar Pistolen besitzt. Wenn man mich so weit treibt, mir sie von ihm auszuborgen und Jinkins einen ›unangenehmen Herrn‹ zu schicken, so kriegen die Zeitungen ein Trauerspiel zu berichten. Weiter sage ich nichts.«

Mrs. Todgers stöhnte abermals.

»Ich hab' lange genug zugesehen«, fuhr der jüngste Gentleman fort, »aber jetzt empört sich alles in mir dagegen, und ich halte es nicht länger aus. Ich habe meinem Vaterhaus den Rücken gekehrt, weil sich etwas in mir dagegen auflehnte, mich von meiner Schwester herumkommandieren zu lassen, und glauben Sie vielleicht, ich werde mir hier von diesem Kerl auf den Kopf spucken lassen? O nein.«

»Es ist sehr unrecht von Mr. Jinkins – ich gebe zu, es ist geradezu unentschuldbar von Mr. Jinkins, wenn er wirklich so etwas beabsichtigt – –« wollte Mrs. Todgers zu besänftigen anfangen.

»Wenn er so etwas beabsichtigt?« rief der jüngste Gentleman. »Unterbricht er mich und widerspricht er mir vielleicht nicht bei jeder Gelegenheit? Versäumt er je, zwischen mich und die Gegenstände oder Personen zu treten, von denen er sieht, daß ich mein Auge auf sie geworfen habe? Tut er nicht immer, als habe er mich nur vergessen, wenn er das Bier verteilt? Renommiert er vielleicht nicht immer mit seinem Rasiermesser und läßt er nicht kränkende Bemerkungen über Leute fallen, bei denen es angeblich ein Radiergummi täte? Er soll nur zusehen, daß er sich nicht eines schönen Tages glatter rasiert findet, als ihm lieb ist. Das sage ich ihm ins Gesicht!«

Hinsichtlich des Schlußsatzes war nun allerdings der junge Gentleman ein wenig im Irrtum, sintemalen er nie etwas zu Mr. Jinkins persönlich sagte, sondern es immer nur hintenherum durch Mrs. Todgers sagen ließ.

»Indes«, fuhr er fort, »sind das keine geeigneten Themen für Frauenohren. Ich habe Ihnen jetzt weiter nichts mehr zu sagen, Mrs. Todgers, als daß ich für Samstag über acht Tage Kost und Quartier gekündigt sehen will. Ich kann nicht länger dieselbe Luft mit diesem Elenden atmen. Wenn's in der Zwischenzeit ohne Blutvergießen abläuft, so können Sie sich glücklich schätzen; ich glaube es aber kaum.«

»Ach Gott, ach Gott«, jammerte Mrs. Todgers, »was gäb ich drum, wenn ich's hätte verhindern können! In Ihnen verliert das Haus seine rechte Hand. Sie sind so beliebt bei den Herren! Alles hat Sie gern und richtet sich nach Ihnen! Ich hoffe, Sie besinnen sich noch eines Besseren, und wenn's schon nicht der andern wegen ist, so tun Sie's doch um meinetwillen!«

»Sie haben ja den Jinkins«, schmollte der jüngste Gentleman. »Ihren Liebling. Er wird Sie und die Herren für den Verlust von zwanzig solchen Kostgängern, wie ich bin, zu trösten wissen. – Man versteht mich in diesem Hause nicht – hat mich nie verstanden.«

»Scheiden Sie nicht in dieser Meinung von mir, Sir«, rief Mrs. Todgers mit edlem Unwillen. »Sie dürfen meiner Anstalt so etwas nicht nachsagen! So schlimm ist's noch nicht, Sir. Gegen die Herren oder mich können Sie äußern, was Sie wollen, nur sagen Sie nicht, daß man Sie in diesem Hause nicht verstanden hat!«

»Wenigstens hat man mich nicht danach behandelt«, lenkte der jüngste Gentleman ein.

»Da sind Sie gewaltig im Irrtum«, protestierte Mrs. Todgers eifrig. »Ich und viele von den Herren haben oft gesagt, Sie sind zu sensüdiv; da sitzt der Haken. Sie haben eine zu empfindsame Natur, sind zu seelenvoll.«

Der »jüngste Gentleman« hustete.

»Und was – was Mr. Jinkins betrifft, wenn es denn wirklich bei der Aufkündigung bleiben soll, so mögen Sie wissen, daß ich ihm durchaus keine Brücke nicht trete. Keine Spur von einer Idee! Es wär mir sogar recht lieb, wenn Mr. Jinkins in diesem Edablissemang einen weniger hohen Ton annehmen möchte und nicht immer Anlaß zu Mißhelligkeiten zwischen mir und den Herren geben, die ich weit lieber an meinem Tisch hab als ihn. – Mr. Jinkins ist kein Kostgänger nicht danach, Sir«, fügte sie hinzu, »daß man alle Rücksichten des Gefühls und der Achtung seinetwegen beiseite lassen könnt – ganz im Gegenteil, das sag ich Ihnen.«

Der junge Gentleman wurde durch diese und ähnliche Vorstellungen schließlich so butterweich, daß am Ende Mrs. Todgers die Gekränkte war und er der Schuldige; – letzteres allerdings nicht im bösen Sinne, denn die wackere Frau hielt seine Grausamkeit seinem exaltierten Naturell zugute. Er nahm daher zuletzt seine Aufkündigung wieder zurück, versicherte Mrs. Todgers seiner unwandelbaren Hochachtung und ging wieder an seine Geschäfte.

»Ach, du mein Gott, Misses Pecksniff!« sagte Mrs. Todgers, als sie in das Hinterstübchen trat, sich erschöpft niedersetzte und dabei ihren Korb auf die Knie stellte und die Hände darüber faltete, »was für eine Geduld dazu gehört, solch ein Haus zu halten! Sie müssen doch gehört haben, was sich da wieder getan hat. – Ist so was schon dagewesen?!«

»Nie!« versicherten die beiden Misses Pecksniff.

»Von all den lächerlichen jungen Leuten, mit denen ich schon zu tun gehabt hab, ist das der allerlächerlichste und unvernünftigste. Mr. Jinkins ist manchmal ein bißchen von oben herunter mit ihm, aber noch lang nicht so von oben herunter, wie er es verdient. Einen Gentleman wie Mr. Jinkins nur in einem Atem mit ihm zu nennen – wissen Sie, das ist zuviel! Und doch ist er immer so eifersüchtig auf ihn, als ob er seinesgleichen wär – Gott im Himmel!«

Die jungen Damen waren von Mrs. Todgers' Bericht höchlichst ergötzt und nicht minder von gewissen Anekdoten, mit denen sie den Charakter des »jüngsten Gentlemans« näher zu beleuchten fortfuhr. Nur Mr. Pecksniff machte eine sehr ernste und indignierte Miene, und als sie fertig war, sagte er mit feierlicher Stimme:

»Bitte, Mrs. Todgers, wenn ich fragen darf – wieviel steuert dieser junge Gentleman zur Unterhaltung der Anstalt bei?«

»Je nun, Sir, für das, was er braucht, zahlt er ungefähr achtzehn Schilling wöchentlich.«

»Achtzehn Schillinge wöchentlich?« wiederholte Mr. Pecksniff. – »Eins zum andern gerechnet, wird's so ziemlich auf das hinauslaufen«, meinte Mrs. Todgers.

Mr. Pecksniff stand von seinem Stuhle auf, verschränkte die Arme, sah die Pensionsinhaberin vorwurfsvoll an und schüttelte das Haupt.

»Und ist das wirklich Ihr Ernst, Madam – ist's möglich, Mrs. Todgers, daß eine Frau von ihrem Verstand sich wegen der erbärmlichen Rücksicht auf wöchentlich achtzehn Schillinge auch nur einen Augenblick so weit erniedrigen kann, sich der Achselträgerei hinzugeben?«

»Ich muß halt mein Zeug nach Kräften in Ordnung halten, Sir«, stotterte Mrs. Todgers. »Ich muß für den Frieden Sorge tragen und es mir womöglich mit meinen Konnexionen nicht verschütten, Mr. Pecksniff. Der Profit ist sehr gering.«

»Der Profit?« rief der Treffliche, einen großen Nachdruck auf dieses Wort legend. »Der Profit, Mrs. Todgers? Sie setzen mich in Erstaunen!« Er machte dabei ein so strenges Gesicht, daß Mrs. Todgers die Tränen in die Augen traten.

»Der Profit!« wiederholte Mr. Pecksniff. »Ein Profit durch Heuchelei erkauft! Das goldene Kalb des Baal anzubeten um achtzehn Schillinge wöchentlich!«

»Beurteilen Sie mich im Bewußtsein Ihrer eignen Tugendhaftigkeit nicht zu hart, Mr. Pecksniff«, rief Mrs. Todgers und zog ihr Taschentuch heraus.

»O Kalb, Kalb!« seufzte Mr. Pecksniff wehmütig. »O Baal, Baal! O meine Freundin Todgers! Die Selbstachtung, dieses köstliche Juwel, wegzuwerfen und vor einem sterblichen Wesen im Staube zu kriechen für achtzehn Schillinge wöchentlich!«

Diese Reflexion wirkte so niederschmetternd auf ihn, daß er unverzüglich im Flur draußen seinen Hut vom Haken herunternahm und einen Spaziergang machte, um sein Gemüt zu beruhigen. Und wer ihm auf der Straße begegnete, mußte auf den ersten Blick den Gerechten in ihm erkennen, so sehr hob sich seine Brust im Bewußtsein der Sittenpredigt, die er soeben Mrs. Todgers gehalten.

Achtzehn Schillinge wöchentlich! Gerecht, höchst gerecht, edler Pecksniff, war dein Tadel! Hätte es sich allenfalls um einen Orden gehandelt, um das anerkennende Lächeln eines großen Mannes, um einen Sitz im Parlament, um den Schlag eines adelnden Schwertes auf die Schulter, um eine hohe Stelle, eine gute Partie, allenfalls um achtzehntausend oder auch nur um achtzehnhundert Pfund; – ja dann! – Aber das goldene Kalb für achtzehn Schillinge wöchentlich anzubeten! O Jammer, Jammer!


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