Charles Dickens
Martin Chuzzlewit
Charles Dickens

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4. Kapitel

Woraus erhellen wird, daß, wenn Einigkeit stark macht, die Chuzzlewits die mächtigste Familie auf Erden sein müßten

Nachdem der würdige Mr. Pecksniff mit den erwähnten feierlichen Worten von seinem Vetter Abschied genommen hatte, kehrte er in seine Wohnung zurück und blieb dort drei volle Tage, ohne auch nur den Fuß zu einem Spaziergang über die Grenzen seines Gartens hinauszusetzen. Erwartete er doch, jeden Augenblick an das Krankenlager seines, wie er insgeheim hoffte, reuigen und von Gewissensbissen zerfleischten Verwandten, dem er in seinem alles umfassenden Wohlwollen in heißester Nächstenliebe zu vergeben sich fest vorgenommen hatte, gerufen zu werden. Der finstere alte Mann war jedoch so verstockt und so erbost, daß keine reuige Einladung kam und Mr. Pecksniff sich am vierten Tage augenscheinlich viel weiter von seinem christlichen Ziele entfernt sah als am ersten.

Während dieser ganzen Zwischenzeit umspukte er den »Drachen« zu allen Stunden des Tages und der Nacht und legte, Böses mit Gutem vergeltend, für den Zustand des hartnäckigen Kranken die angelegentlichste Teilnahme an den Tag, so daß Mrs. Lupin ob seiner uneigennützigen Besorgnis (denn er unterließ es nicht, ihr des öftern zu erklären, daß er ein Gleiches für jeden Fremden oder Armen in einer ähnlichen Lage tun würde) vor Ergriffenheit fast zerschmolz und Tränenströme der Bewunderung und Freude vergoß.

Indessen hatte sich der alte Mr. Martin Chuzzlewit in seinem Zimmer eingeschlossen und ließ niemanden mehr vor als seine junge Begleiterin – nur die Wirtin zum »Blauen Drachen« ausgenommen, die zu gewissen Zeiten ebenfalls Zutritt erhielt. Sooft sie jedoch in das Zimmer kam, stellte sich der alte Herr schlafend. Nur wenn er mit der jungen Dame allein war, gab er zuweilen auf gestellte Fragen einsilbige Antworten.

Am vierten Abend nun begab es sich, daß Mr. Pecksniff wie gewöhnlich in die Bar des »Blauen Drachen« kam und, als er Mrs. Lupin dort nicht fand, geradenwegs die Treppe hinaufging, entschlossen, in der Überfülle seines liebevollen Eifers das Ohr wieder einmal an das Schlüsselloch zu legen und zur Beruhigung seines gequälten Herzens sich zu überzeugen, daß mit dem versteckten Patienten alles gut stehe. Dabei traf sich's, daß Mr. Pecksniff, als er leise in dem dunkeln Gang dahinschlich, durch den gewöhnlich ein dünner heller Strahl aus demselbigen Schlüsselloch fiel, zu seinem Erstaunen diese Lichtquelle vermißte und sich daher, kaum daß er seinen Weg bis zur Türe getastet, sich hastig niederbeugte, um sich durch persönlichen Augenschein Gewißheit zu verschaffen, ob nicht am Ende der alte Mann aus Mißtrauen das Schlüsselloch von innen verstopft habe. Dabei brachte er seinen Kopf in eine so heftige Berührung mit einem andern, daß er sich nicht enthalten konnte, in seinem Schrecken mit hörbarer Stimme ein kurzes scharf markiertes »Oh!« auszustoßen.

Gleich darauf fühlte sich Mr. Pecksniff von einem Gespenst am Kragen gepackt, das einen intensiven Geruch von feuchten Schirmen, Bier, kaltem Grog und einer kleinen Wirtsstube voll alten Tabakrauchs ausströmte. Dann wurde er unverzüglich in das Schenkzimmer, das er soeben verlassen, hinabgeschleppt, wo er die Bemerkung machte, daß er sich unter der Faust eines wildfremden Gentleman von seltsamem Aussehen befand, der sich mit seiner freien Hand emsig den Kopf rieb und ein sehr böses Gesicht machte.

Die »Fassade« dieses Gentlemans hatte etwas an sich, das man gewöhnlich mit dem Titel »schäbigelegant« bezeichnet, obschon sich dieser Charakterzug bei seiner Toilette kaum bis »in die Fingerspitzen« verfolgen ließ, da seine Nägel weit aus den Handschuhen hervorschauten und die Schuhsohlen in ungebührlicher Entfernung vom Oberleder seiner Stiefel abstanden. Seine Beinkleider waren bläulichgrau und früher offenbar von sehr schreiender Farbe gewesen, aber jetzt durch Alter und Schmutz hinlänglich abgetönt und auch infolge übermäßiger Anspannung der Hosenträger und Stegriemen so gedehnt, daß sie jeden Augenblick an den Knien auseinanderzuplatzen drohten. Sein blauer Rock von militärischem Schnitt war mit Schnüren benäht und bis ans Kinn zugeknöpft. Seine Halsbinde glich an Farbe und Fasson dem Oberteile der gewissen Mäntel, in die die Haarkräusler ihre Klienten während der Mysterien des Frisierens einzuhüllen pflegen. Mit seinem Hute war es so weit bergab gegangen, daß man nur schwer zu sagen vermochte, ob er ursprünglich weiß oder schwarz gewesen. Auch trug der Gentleman einen Schnurrbart – und noch dazu einen zottigen – keinen von den bescheidenen und gezähmten, sondern einen ganz wilden, bösartigen: ein echt satanisches Bartexemplar – und überdies eine wüste Masse ungebürsteten Haupthaares. Sehr schmutzig und doch sehr fexig, sehr prahlerisch und doch sehr mitgenommen, glich der Gentleman einem Menschen, der wohl etwas Besseres hätte sein können, aber ohne Frage noch etwas Schlechteres zu sein verdiente.

»Du hast an der Türe gehorcht, du Vagabund!« rief dieser Herr.

Mr. Pecksniff schüttelte ihn ab, wie etwa Sankt Georg den Drachen, als dieser in den letzten Zügen lag, abgeschüttelt haben mochte, und entgegnete:

»Wo nur Mrs. Lupin stecken mag? Ob wohl die gute Frau weiß, daß jemand hier ist, der – –«

»Halt!« rief der Gentleman. »Ein bißchen Geduld. Sie weiß es. Was weiter?«

»Was weiter, Sir?« rief Mr. Pecksniff. »Was weiter? Wissen Sie, Sir, daß ich ein Freund und Verwandter jenes kranken Herrn bin? Daß ich sein Beschützer, sein Behüter, sein –«

»Der Gatte seiner Nichte sind Sie nicht, darauf kann ich einen Eid ablegen«, fiel der Fremde ihm ins Wort; »der war vor Ihnen da.«

»Was wollen Sie damit sagen?« fragte Mr. Pecksniff mit unwilligem Erstaunen. »Was meinen Sie damit, Sir?«

»Ein bißchen Geduld!« entgegnete der Gentleman. »Vielleicht sind Sie ein Vetter? – Der Vetter, der hier im Orte wohnt?«

»Ja, ich bin der Vetter, der hier im Orte wohnt.« »Sie heißen Pecksniff?«

»Ja.«

»Freut mich, Sie kennenzulernen, und zugleich bitte ich um Verzeihung«, rief der wilde Gentleman, griff an seinen Hut und dann hinter die Krawatte, um seinen Hemdkragen hervorzuziehen, was ihm jedoch gänzlich mißlang. »Sie sehen in mir jemanden, Sir, der gleichfalls an dem Gentleman oben lebhaftes Interesse nimmt. Ein bißchen Geduld.«

Dabei tupfte der Herr auf seine rote Nasenspitze, um damit anzudeuten, er gedenke Mr. Pecksniff in ein tiefes Geheimnis einzuweihen. Dann zog er seinen Hut ab und begann in der Höhlung desselben unter einer Masse von zerknüllten Dokumenten und zerblätterten Zigarrenresten herumzuwühlen, bis er endlich das Kuvert eines alten Briefes fand, das sehr stark beschmutzt war und lebhaft nach Tabak duftete.

»Lesen Sie dies«, rief er und reichte das Dokument Mr. Pecksniff hin.

»Der Adresse nach an Hochwohlgeboren Mr. Chevy Slyme gerichtet«, konstatierte Mr. Pecksniff.

»Sie kennen vermutlich Hochwohlgeboren Mr. Chevy Slyme?« fragte der Fremde.

Mr. Pecksniff zuckte die Achseln, als wollte er sagen: »Ich weiß leider, daß es einen solchen Kerl gibt.«

»Sehr gut«, bemerkte der Gentleman. »Das ist der springende Punkt, und deswegen bin ich hier.«

Abermals fischte er nach seinem Hemdkragen, und diesmal gelang es ihm, wenigstens ein Band zu erwischen.

»Ich bedaure unendlich, mein Freund«, sagte Mr. Pecksniff und schüttelte ruhevoll lächelnd den Kopf, »ich bedaure recht sehr – aber Sie sind nicht die Person, für die Sie sich ausgeben. Ich kenne Mr. Slyme, mein Freund. Sie haben sich daneben gesetzt. – Ehrlichkeit ist die beste Politik. – Sie täten in Hinkunft gut, derlei Behauptungen zu unterlassen.«

»Halt!« rief der Gentleman und streckte beschwörend seinen rechten Arm aus, der so eng in den fadenscheinigen Ärmel hineingezwängt war, daß er wie eine Tuchwurst aussah. »Ein bißchen Geduld!« Dann hielt er inne, um sich mit dem Rücken gegen den Kamin zu lehnen, nahm die Schöße seines Rockes unter den linken Arm, strich sich mit Daumen und Zeigefinger seinen Schnurrbart und hob an:

»Ich sehe, daß Sie mich mißverstehen, aber ich bin nicht verletzt deshalb. Weil es ein Kompliment für mich ist. Sie glauben, ich wolle mich für Chevy Slyme ausgeben? Sir, wenn es einen Mann auf Erden gibt, mit dem verwechselt zu werden ein Gentleman sich zum Stolz und zur Ehre anrechnen darf, so ist es Mr. Slyme. Er ist, ohne Einschränkung, der hochherzigste und freisinnigste, der originellste und geistreichste, klassischste und talentvollste Mann – durchaus shakespearisch, wo nicht miltonisch. Trotzdem er aufs jämmerlichste verkannt wird. Jedem andren in der ganzen weiten Welt schätze ich mich ebenbürtig, aber Slyme steht, wie ich offen bekenne, weit über mir. Sie haben daher unrecht.«

»Ich schloß aus dieser Adresse – – –« stotterte Mr. Pecksniff und hielt das Kuvert hin.

»Ohne Zweifel«, entgegnete der Gentleman. »Aber, Mr. Pecksniff, auch das beweist wieder nur einen genialen Zug Mr. Slymes. Jeder Mensch von wahrem Genie hat seine Eigentümlichkeiten, Sir. Und die Eigentümlichkeit meines Freundes Slyme ist, daß er immer hinter dem Berge hält. Er hält stets hinter dem Berge, Sir. Er ist sogar in diesem Augenblick hinter dem ›Berge‹. Ja,« fuhr der Gentleman fort, schlug sich mit dem Zeigefinger auf die Nase, spreizte weit die Beine und blickte Mr. Pecksniff aufmerksam ins Gesicht, »das ist ein äußerst merkwürdiger und interessanter Zug in Slymes Charakter. Und wenn einmal Slymes Lebensgeschichte veröffentlicht wird, so muß dieser Zug unbedingt von seinem Biographen hervorgehoben werden, da die menschliche Gesellschaft sonst zu kurz käme. Wohlgemerkt, die Gesellschaft käme zu kurz.«

Mr. Pecksniff hustete.

»Slymes Biograph, Sir, wer er auch sein mag«, nahm der Gentleman seine Rede wieder auf, »wird sich an mich wenden müssen; oder wenn ich bereits zu dem gewissen ›Dingsda‹ gegangen sein sollte, aus dessen Reich noch keiner, wie er auch heißen mag, wiedergekehrt ist, so muß er sich an meine Testamentsvollstrecker um die Erlaubnis wenden, unter meinen Papieren nachsuchen zu dürfen. Ich habe mir in meiner anspruchslosen Weise von dem Leben dieses Mannes – meines Adoptivbruders, Sir – einige Notizen gesammelt, die Sie in Erstaunen versetzen würden. Erst am fünfzehnten vergangenen Monats, Sir, als er einen kleinen Wechsel nicht einlösen konnte, den der Gläubiger nicht prolongieren wollte, bediente er sich eines Ausdruckes, der sogar Napoleon Bonaparte in einer Anrede an die französische Armee Ehre gemacht haben würde.«

»Und bitte«, fragte Mr. Pecksniff, der sich augenscheinlich nicht besonders behaglich fühlte, »was mag Mr. Slyme hierhergeführt haben, wenn mir die Frage gestattet ist, trotzdem ich von vornherein aus Rücksicht für meine Stellung jedes Interesse an allen seinen Schritten negieren muß?«

»Zuvörderst«, erklärte der Gentleman, »werden Sie mir die Äußerung erlauben, daß ich gegen diese Bemerkung Einwendung erhebe und lebhaft und mit Unwillen im Namen meines Freundes Slyme dagegen protestiere. Dann muß ich bitten, mir zu gestatten, daß ich mich Ihnen vorstelle. Mein Name ist Tigg, Sir. Der Name Montague Tigg wird Ihnen wohl von den denkwürdigen Ereignissen des Krieges auf der spanischen Halbinsel her geläufig sein?«

Mr. Pecksniff verneinte mit einem leichten Kopfschütteln.

»Gleichviel. – Montague Tigg war mein Vater, und ich trage seinen Namen. Ich habe daher alle Ursache, stolz zu sein – stolz wie Luzifer. Entschuldigen Sie einen Augenblick – ich möchte, daß mein Freund Slyme von jetzt an unserer Unterhaltung beiwohnt.«

Ohne eine Genehmigung abzuwarten, eilte Mr. Tigg zum Haustor des Blauen Drachen und kehrte fast unmittelbar darauf mit seinem Gefährten zurück, der, etwas kleiner als er selbst, in einen alten blauen Kamelottmantel mit verschossenem Scharlachfutter gehüllt war. Sein scharf geschnittenes Gesicht sah von dem langen Warten in Wind und Kälte ganz erstarrt und verkniffen aus, und da sein breiter, roter Ohrenbart und sein verfilztes Haar aus derselben Ursache ungemein zerzaust waren, machte er viel eher einen jämmerlichen und herabgekommenen als einen shakespearschen und miltonischen Eindruck.

»Nun«, sagte Mr. Tigg, klopfte mit der einen Hand seinem liebenswürdigen Freund auf die Schulter und lenkte mit der andren Mr. Pecksniffs Aufmerksamkeit auf ihn, »die Herren sind miteinander verwandt, und Verwandte haben nie miteinander harmoniert, noch werden sie je miteinander harmonieren, was eine sehr weise Einrichtung und eine unvermeidliche Notwendigkeit ist, da es sonst nichts als Familienfreundschaft auf der Welt gäbe und jedermann seinen Nebenmenschen zu Tode langweilen würde. Stünden Sie auf gutem Fuße miteinander, so würde ich Sie als ein ganz verteufelt ungleiches Gespann betrachten; so aber erscheinen Sie mir als ein paar diabolisch schlaue Kerle, mit denen man ein vernünftiges Wort reden kann –«

Hier stieß Mr. Chevy Slyme, dessen geistige Fähigkeiten hauptsächlich duckmäuserischer und schmeichlerischer Tendenz zu sein schienen, seinen Freund verstohlen mit dem Ellbogen an und flüsterte ihm etwas ins Ohr.

»Chiv«, erklärte Mr. Tigg laut in dem hohen Tone eines Mannes, der Heimlichkeiten abhold ist, »ich werde sogleich darauf zu sprechen kommen. Ich handle auf eigne Verantwortung oder gar nicht. Ein so unbedeutendes Anlehen wie eine Krone ziemt sich nicht für einen Mann von deinen Talenten. Einer solchen Summe kannst du von vornherein bei Mr. Pecksniff sicher sein.«

Da jedoch Mr. Pecksniff, seinen Mienen nach zu schließen, diese Gewißheit keineswegs als so unumstößlich bekundete, so legte er wieder den Finger an die Nase, um dadurch anzudeuten, daß das Kontrahieren kleiner Anlehen lediglich eine weitere geniale Eigentümlichkeit seines Freundes Slyme sei und daß er nur des großen metaphysischen Interesses wegen die Sache zur Sprache gebracht habe.

»O Chiv! Chiv!« seufzte er und sah seinen Adoptivbruder mit tief kontemplativer Miene an. »Bei meiner Seele, du bist ein seltsamer Beleg von den kleinen Schwächen, die großen Geistern anhaften. Selbst wenn es nie ein Teleskop auf der Welt gegeben hätte, so müßte ich zuverlässig aus meinen Beobachtungen an dir folgern, daß auch die Sonne Flecken habe! Ich will des Todes sein, wenn wir Menschen nicht allesamt in einer wunderlichen Haut stecken, ohne zu wissen, warum oder weswegen, Mr. Pecksniff! Aber gleichviel! Mögen wir moralisieren, soviel wir wollen, die Welt geht ihren gewöhnlichen Gang fort. Herkules kann zwar, wie Hamlet sagt, mit seiner Keule um sich schlagen, wie er will, er kann doch nicht hindern, daß die Katzen ihr Gejaule auf den Dächern vollführen oder die Hunde erschossen werden, wenn sie ohne Maulkörbe durch die Straßen laufen. Das Leben ist ein Rätsel, das sich höllisch schwer lösen läßt, Mr. Pecksniff! Auf Ehre und Seligkeit, es ist jedenfalls eine sonderbare Sache – aber es nützt nichts, darüber zu philosophieren. Ha, ha! – – – Aber jetzt zu dem, was ich sagen wollte, Mr. Pecksniff:

Ich bin von Natur ein ganz unsinnig weichherziger Bursche und kann nicht mit ansehen, wie ihr beiden aufeinander losschlagt, ohne daß dabei etwas herausschaut. Mr. Pecksniff, Sie sind der Vetter des Testators da oben, und wir sind der Neffe. – Wenn ich sage ›wir‹, so verstehe ich darunter Chiv. Sie sind vielleicht näher mit ihm verwandt als wir. Gut, sei es drum. Aber Sie können ebensowenig an ihn herankommen wie wir. Ich gebe Ihnen mein großes Ehrenwort, Sir, daß ich nur mit kurzen Zwischenpausen, um ein wenig auszuruhen, seit heute morgen neun Uhr durch das Schlüsselloch gesehen und auf Antwort auf das billigste und ehrenhafteste Verlangen, das der menschliche Geist nur zu erdenken imstande ist, gewartet habe – auf ein Gesuch um eine kleine jeweilige Unterstützung von nur fünfzehn Pfund, für die ich mich überdies verbürgen wollte. Es war vergebens. Mr. Chuzzlewit hielt sich beständig mit der fremden Person eingeschlossen, deren Herz er sein ganzes Vertrauen ausschüttet. Wie die Dinge stehen, erkläre ich daher aufs entschiedenste, daß es so nicht geht, nichts taugt, nicht sein kann und unmöglich so fortgehen darf.«

»Jedermann«, versetzte Mr. Pecksniff abweisend, »hat ein unbestreitbares Recht – wenigstens ich möchte es um alle Güter der Erde niemandem absprechen –, seine Handlungen nach seinem eignen Gutdünken einzurichten. Vorausgesetzt, daß er nicht unmoralisch oder irreligiös ist. Ich fühle tief innerlich, daß Mr. Chuzzlewit zum Beispiel mich nicht gerade mit jener christlichen Liebe behandelt, die zwischen uns bestehen sollte. Ich kann mich dadurch verletzt und gekränkt fühlen, möchte aber doch deshalb nicht gleich den übereilten Schluß ziehen, daß seine Kälte in keiner Weise zu rechtfertigen wäre. – Da sei Gott vor! – Überdies, Mr. Tigg«, fuhr Mr. Pecksniff eindringlich fort, »wie könnte man Mr. Chuzzlewit bewegen, von jenen eigentümlichen und ganz unerhörten Vertraulichkeiten, von denen Sie sprachen und die ich leider zugeben muß und um seinetwillen nur tief beklagen kann, abzulassen? Bedenken Sie, mein werter Herr, wie unüberlegt und in den Tag hinein Sie reden.«

»Hm«, meinte Mr. Tigg, »das ist freilich eine schwer zu lösende Frage.«

»Allerdings eine schwer zu lösende Frage«, wiederholte Mr. Pecksniff und trat, sich mit einem Male der weiten moralischen Kluft, die ihn von seinem Gegenüber trennte, bewußt werdend, einen Schritt zurück. »Ohne Zweifel eine sehr schwierige Frage das. Wenn es überhaupt eine Frage ist, die jemand zu erörtern das Recht hat. – Guten Abend.«

»Sie wissen vermutlich noch gar nicht, daß die Spottletoes hier sind?« warf Mr. Tigg noch schnell hin.

»Was sagen Sie da, Sir? Was für Spottletoes?« fuhr Mr. Pecksniff auf und hielt plötzlich auf seinem Weg zur Tür inne.

»Mr. und Mrs. Spottletoe«, erklärte Chevy Slyme, der bisher kein Wort gesprochen und nur mit den Füßen gescharrt hatte, in sehr verdrießlichem Tone, »Spottletoe hat doch meines Onkels Tochter geheiratet, und Mrs. Spottletoe ist Chuzzlewits Nichte. Sie war einmal sein Liebling. Wie mögen Sie da noch fragen: was für Spottletoes?«

»Mein heiliges Ehrenwort!« rief Mr. Pecksniff mit einem verzweifelten Blick gen Himmel. »Das ist ja schrecklich. Die Habgier dieser Leute ist wahrhaft fürchterlich.«

»Das ist übrigens noch nicht alles, Tigg«, wendete sich Slyme an seinen Freund, münzte aber dabei seine Worte auf Mr. Pecksniff. »Anthony Chuzzlewit und sein Sohn haben ebenfalls Wind gekriegt und sind diesen Nachmittag hergefahren. Ich habe sie vor kaum fünf Minuten vorbeikommen sehen, als ich an der Ecke wartete.« »Oh, Mammon, Mammon!« rief Mr. Pecksniff und schlug sich an die Stirn.

»Und ein Bruder und ein Neffe von ihm sind auch schon da«, sagte Slyme, ohne auf die Unterbrechung zu achten.

»Da haben Sie die Geschichte, Sir«, brummte Mr. Tigg; »das ist der springende Punkt, auf den ich hinauswollte und den mein Freund Slyme hier mit wenigen Worten aussprach. Mr. Pecksniff! Jetzt, wo Ihr Vetter – Chivs Onkel – wieder aufgetaucht ist, müssen Schritte getan werden, um sein Wiederverschwinden zu verhindern und womöglich dem Einfluß entgegenzuarbeiten, der von dieser hinterlistigen Favoritin auf ihn geübt wird. Jeder, der Anteil an der Sache nimmt, muß das fühlen. Die ganze Familie hat sich vollzählig hier versammelt. Die Zeit ist da, wo persönliche Eifersucht und egoistische Interessen für eine Weile in den Hintergrund treten müssen, um ein gemeinsames Vorgehen gegen diese Erbschleicherin zu ermöglichen, Sir! Ist der Feind einmal beseitigt, so können Sie wieder ganz für sich selbst handeln. Das bleibt dann jedem Beteiligten unbenommen, und niemand wird schlimmer daran sein als vorher. Bedenken Sie das! Nützen Sie jetzt Ihre Chance. Sie werden uns jederzeit in dem Wirtshaus »Zum Halbmond und den sieben Sternen« antreffen und zu einem vernünftigen Vorschlag bereit finden. Hm! Chiv, lieber Freund, was meinst du, wenn du jetzt hinausgingst und sähest, was für Wetter ist?«

Mr. Slyme zögerte nicht, zu verduften, und ging aller Wahrscheinlichkeit nach wieder an seine Straßenecke.

Mr. Tigg spreizte seine Beine so weit, daß man hätte glauben sollen, sie müßten aus den Scharnieren gehen, versank eine Weile in tiefes Nachdenken und nickte dann lächelnd Mr. Pecksniff zu.

»Wir dürfen die kleinen Exzentritäten unsres Freundes Slyme nicht zu hart beurteilen. Sie bemerkten wohl, daß er mir etwas zuflüsterte?«

Mr. Pecksniff hatte es bemerkt.

»Vermutlich haben Sie auch meine Antwort gehört?«

Mr. Pecksniff hatte sie gehört.

»Fünf Schilling, wie?« fuhr Mr. Tigg gedankenvoll fort. »Hm! Wirklich, ein höchst origineller Mensch! – Und dabei so anspruchslos!« Mr. Pecksniff gab keine Antwort.

»Fünf Schilling!« sprach Mr. Tigg sinnend. »Und nächste Woche pünktlich wieder zurückzahlbar; das ist das beste daran. Sie haben es doch gehört?«

Mr. Pecksniff hatte es nicht gehört.

»Nicht? Ah, da staun ich!« rief Mr. Tigg. »Das ist doch der springende Punkt, Sir. Ich habe noch nicht ein einziges Mal erlebt, daß Chevy Slyme verabsäumt hätte, ein Versprechen einzuhalten. Brauchen Sie vielleicht Kleingeld?«

»Nein«, versetzte Mr. Pecksniff, »danke Ihnen, danke Ihnen. Durchaus nicht.«

»Sonst«, meinte Mr. Tigg, »sonst hätte ich für Sie wechseln lassen.« Nach einer kleinen Pause, die er mit Pfeifen ausfüllte, fragte er plötzlich direkt heraus:

»Wollen Sie Slyme die fünf Schillinge leihen?«

»Nein, keineswegs«, erwiderte Mr. Pecksniff.

»Bei Licht betrachtet«, rief Mr. Tigg und nickte bedächtig, als sei ihm plötzlich ein triftiger Grund eingefallen, den man als Einwurf geltend machen könnte, »haben Sie vielleicht recht. Würden Sie aber dasselbe Bedenken tragen, mir fünf Schillinge zu borgen?«

»Freilich, freilich«, meinte Mr. Pecksniff.

»Aber doch vielleicht eine halbe Krone?«

»Auch keine halbe Krone.«

»Also dann kämen wir ja«, sagte Mr. Tigg lächelnd, »dann kämen wir ja auf die lächerliche kleine Summe von achtzehn Pence herunter: Ha, ha!«

»Muß in gleicher Weise verworfen werden.«

Sofort drückte Mr. Tigg daraufhin Mr. Pecksniff beide Hände und beteuerte voller Feuer, noch nie im Leben einen so charakterfesten und originellen Menschen wie ihn kennengelernt zu haben, und er wünsche nichts sehnlicher als die Ehre seiner näheren Bekanntschaft. Sein Freund Chevy Slyme habe manche kleine Eigenheit an sich, die er als Mann von ausgeprägtem Ehrgefühl keineswegs billigen könne, allein er sähe darüber um so lieber hinweg, als Slyme es doch gewesen, dem er heute das große Vergnügen einer freundschaftlichen Unterhaltung mit Mr. Pecksniff verdanke. Sodann bat Mr. Tigg um die Erlaubnis, Mr. Pecksniff einen recht guten Abend wünschen zu dürfen, und entfernte sich, nicht im geringsten beschämt, sich einen Refus geholt zu haben.

Die Betrachtungen, die Mr. Pecksniff an diesem Abend im Schenkzimmer des ›Drachen‹ und die Nacht über zu Hause anstellte, waren sehr ernster Natur – um so mehr, als sich die Nachrichten, die er hinsichtlich der Ankunft andrer Familienglieder von den Herren Tigg und Slyme erhalten hatte, bei näherer Nachforschung bewahrheiteten. Die Spottletoes hatten sich geradenwegs in den ›Drachen‹ begeben, dort einquartiert und lagen auf Wache. Außerdem hatten sich Anthony Chuzzlewit und sein Sohn Jonas aus Sparsamkeitsrücksichten in einem obskuren Bierhaus – dem ›Halbmond und den sieben Sternen‹ – eingemietet, und schon die nächste Postkutsche brachte noch weitere liebevoll besorgte Verwandte.

Kurz, es kam so weit, daß fast die ganze Familie sich im ›Blauen Drachen‹ niederließ und Martin Chuzzlewit in einen wahren Belagerungszustand versetzte. Der alte Herr jedoch leistete mannhaften Widerstand, wies alle Briefe, Botschaften und Pakete zurück, lehnte es hartnäckig ab, mit jemandem zu unterhandeln, und stellte auch nicht die mindeste Hoffnung auf Kapitulation in Aussicht. Inzwischen begegneten einander die verschiedenen Familienstreitkräfte unablässig in den Straßen, und da sich seit Menschengedenken kein Zweig des Baumes Chuzzlewit mit dem andern vertragen hatte, so setzte es manches Scharmützel, manche Wortgefechte und angedrohte Totschläge. Ein solches Keifen, Schelten, Nasenrümpfen und Stirnrunzeln, eine so förmliche Beerdigung jeder friedlichen Gesinnung und eine so gewaltsame Auferstehung alter Leidenschaften war an der Tagesordnung, daß seit dem Entstehen des Dorfes noch nie etwas Ähnliches in dieser Gegend von sterblichen Ohren vernommen worden war.

Endlich, als die Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit den Höhepunkt erreicht hatte, begannen die gegenseitigen Beschimpfungen in mildern Ausdrücken zu erfolgen, man wandte sich mit ziemlichem Anstande an Mr. Pecksniff, dessen ehrenwerter Charakter und einflußreiche Stellung unwillkürlich Achtung geboten, und kam schließlich überein, eines Nachmittags bei ihm eine allgemeine Versammlung und Beratung abzuhalten, wie Martin Chuzzlewits Hartnäckigkeit zu brechen sei, wozu sich sämtliche anwesende Familienmitglieder einfinden sollten.

Wenn je Mr. Pecksniff einen apostolischen Ausdruck zur Schau trug, so war es an jenem denkwürdigen Tage der Fall. Wenn je ein Mann mit ruhevollem Lächeln die Worte verkündete: »Ich bin ein Bote des Friedens!«, so war es bei dieser Versammlung. Wenn je ein Mensch alle die milden Eigenschaften des Lammes mit einem beträchtlichen Anflug von Friedenstaube und ohne Spur von einem Krokodil oder auch nur die leiseste Andeutung etwa gar eines Schlangencharakters in sich vereinigte, so war es Mr. Pecksniff. Und dann die beiden Misses Pecksniff! Der stillergebene Ausdruck auf dem Antlitze der holden Charitas, der zu sagen schien: ich weiß, daß meine ganze Sippe mich aufs unheilbarste gekränkt hat, aber ich vergebe ihnen samt und sonders, denn es ist meine Pflicht, es zu tun – und dann Gratias frohsinnige Einfalt, so bezaubernd, so unschuldig, so kindlich, daß, wenn es etwas früher in der Jahreszeit gewesen und sie allein ausgegangen wäre, die Rotkehlchen sie mit Laub bedeckt und für eines der süßen Feenkinder des Waldes gehalten haben würden, das wieder einmal herausgekommen wäre, um Brombeeren zu suchen! Welche Worte könnten imstande sein, die Pecksniffs in jener hehren Stunde zu schildern!

Und als dann die Gesellschaft anlangte! Wie Pecksniff, links und rechts eine Tochter, von seinem Patriarchensitz oben am Tische aufstand, in seinem besten Zimmer die Gäste empfing und ihnen mit überströmenden Augen und einem von huldreichem Schweiße feuchten Antlitz Plätze anbot! Und dann die Gesellschaft! Der Kontrast! Die eifersüchtigen, steinherzigen, argwöhnischen Familienmitglieder, die niemandem und nichts glaubten, nicht einmal sich selbst – geschweige denn den Pecksniffs. Borstig und widerhaarig wie Igel oder Stachelschweine.

Da waren vor allem Mr. Spottletoe, der so kahl war und einen so dichten Backenbart hatte, daß es schien, als sei sein Haupthaar ihm plötzlich durch ein Zaubermittel ins Gesicht gerutscht – dann Mrs. Spottletoe, eine Dame von poetischer Konstitution und viel zu schmächtig für ihr Alter, die ihren Busenfreundinnen bei jeder Gelegenheit mitzuteilen pflegte, genannter Herr im Backenbart sei »der Leitstern« ihres Lebens, und jetzt infolge ihrer heißen Liebe zu ihrem Onkel Chuzzlewit und des Herzeleides, man könne sie möglicherweise wegen Erbschleicherei im Verdacht haben, leise stöhnte. Ferner Mr. Anthony Chuzzlewit, das Gesicht durch die Schlauheit und Behutsamkeit, die er sein ganzes Leben lang geübt, so messerscharf, daß es förmlich die Luft zu schneiden schien, wie er sich hinter den Stühlen die Wand entlang schlich. Sein Sohn Jonas, an Wesen und Art sein getreues Ebenbild, flüsterte auf ihn ein, und dann blieben beide mit ihren entzündeten Augen blinzelnd Seite an Seite in der Ecke stehen. Außerdem war noch die Witwe eines verstorbenen Bruders von Mr. Martin Chuzzlewit zugegen, die wegen ihres fast übernatürlich zuwidern Wesens, ihrer knöchernen Gestalt und männlichen Stimme als sogenannte »entschlossene« Frau galt und, wenn es auf sie angekommen wäre, am liebsten ihren Schwager in ein Tollhaus gesteckt und darin gehalten hätte, bis er seine völlige Geistesgesundheit durch ein Testament zu ihren Gunsten erwiesen haben würde. Neben ihr saßen ihre jungfräulichen Töchter, drei an der Zahl und von so edler Haltung, daß man wohl mit Recht annehmen konnte, ihre engen Schnürleiber trügen das meiste dazu bei. Auch ein junger Gentleman, ein sehr schwarzer und behaarter Großneffe Mr. Martin Chuzzlewits, und ein unverheiratetes Bäschen, das nur wegen ihrer großen Taubheit und ihrer Alt-Jüngferlichkeit auffiel und beständig an Zahnweh litt, hatten sich eingefunden. – Mr. George Chuzzlewit, ein lebensfroher, unverheirateter Vetter, der noch immer jung erscheinen wollte, sehr zu Korpulenz neigte und sich derart vollzufressen pflegte, daß seine Augen mit der Zeit aus ihren Höhlen gequollen waren und sich hervordrängten, wie in unablässigem Staunen begriffen, war so augenfällig zu Finnen disponiert, daß die hellen Tupfen an seiner Halsbinde, das reiche Dessin seiner Weste und sogar seine schimmernden Pretiosen wie eine Hautkrankheit an ihm erschienen. Mr. Chevy Slyme und sein Freund Mr. Tigg schlossen die Reihe. So war der liebenswürdige kleine Familienzirkel beschaffen, der sich jetzt in Mr. Pecksniffs »guter Stube« versammelt hatte und nur darauf lauerte, über den liebenswürdigen Hausherrn oder wen immer sonst herzufallen.

»Dieser Anblick erquickt mein Herz«, begann Mr. Pecksniff, stand auf und sah sich mit gefalteten Händen im Kreise um. »Er erquickt nicht minder die Herzen meiner Töchter. Es ist eine erfreuliche Auszeichnung, die Sie uns haben zuteil werden lassen, und glauben Sie mir« – von seinem Lächeln an dieser Stelle seiner Rede kann sich niemand auch nur annähernd einen Begriff machen – »wir werden es nimmermehr vergessen.«

»Ich bedaure, Sie unterbrechen zu müssen, Pecksniff«, fiel Mr. Spottletoe, der Herr mit dem gewaltigen Backenbart, ein, »aber Sie sind sehr im Irrtum, Sir. Meinen Sie wirklich, es fiele irgend jemandem bei, Ihnen eine Auszeichnung zuteil werden zu lassen, Sir?«

Ein allgemeines Gemurmel schien zu bestätigen, daß tatsächlich niemand diese Absicht hege.

»Wenn Sie so fortzufahren gedenken, wie Sie angefangen haben«, rief Mr. Spottletoe hitzig und schlug mit der Faust auf den Tisch, »so wäre es besser, wenn Sie lieber gleich davon abstünden und die Versammlung sich auflöste. Ihr alberner Wunsch, hier als Oberhaupt der Familie zu fungieren, ist für mich nichts Neues, aber ich kann Ihnen sagen, Sir –«

»Ja natürlich! Er will etwas sagen. Er! Wie? Ist etwa er das Oberhaupt?« Und im Nu fielen, von der »entschlossenen« Dame abwärts, alle einmütig über Mr. Spottletoe her, bis dieser nach vergeblichen Bemühungen, sich Gehör zu verschaffen, sich wieder niedersetzte, stumm die Arme verschränkte, zornig den Kopf schüttelte und seiner Gattin durch Gebärden zu verstehen gab, der Spitzbube Pecksniff solle vorderhand nur fortmachen. Er wolle ihm im richtigen Augenblick schon zu Leibe gehen und ihn vernichten.

»Es tut mir durchaus nicht leid«, nahm Mr. Pecksniff seine Rede wieder auf, »«es tut mir in der Tat durchaus nicht leid, daß sich dieser kleine Zwischenfall ereignet hat. Weiß man doch wenigstens, daß sich niemand hier einer Maske bedient und wir ohne Rückhalt und ehrlich und offen in unsern wahren Charakteren voreinander erscheinen können.«

Sofort erhob sich bei diesen Worten die älteste Tochter der »entschlossenen« Dame ein wenig von ihrem Sitze und drückte, wie es schien, mehr aus unterdrückter Leidenschaft als Befangenheit, von Kopf bis zu Fuß zitternd, im allgemeinen die Hoffnung aus, daß vor allem »gewisse« Leute in ihren eigenen Charakteren erscheinen sollten – wäre es auch nur, weil ein solches Benehmen den löblichen Reiz der Neuheit hätte, und daß vorgenannte »gewisse« Leute, wenn sie von ihren Verwandten sprächen, sorgfältig darauf achten möchten, wer alles zugegen sei, sonst könnte ihnen etwas zu Ohren kommen, was sie vermutlich sehr verstimmen dürfte. Und was rote Nasen beträfe, so habe sie bisher noch nicht gewußt, daß eine rote Nase eine »Maske« sei oder jemandem zum Schimpf gereiche, sofern die Leute ihre Nasen weder selber machten noch färbten, sondern diesen Gesichtsanhang eben erhielten, ohne daß man sie vorher um Erlaubnis frage, und übrigens sei noch sehr zweifelhaft, ob »gewisse« Nasen nicht röter wären als andere. Da diese Bemerkungen von den beiden Schwestern der Sprecherin mit einem schrillen Gelächter begrüßt wurden, sah sich Miss Charitas Pecksniff genötigt, mit großer Höflichkeit um Auskunft zu bitten, ob eine dieser höchst gemeinen Anspielungen vielleicht auf sie gemünzt sei. Und als sie keine weitere Erklärung als das Sprichwort »Wen's juckt, der kratze sich« erhielt, schritt sie ihrerseits zu einer ziemlich scharfen und persönlichen Entgegnung – angestachelt von ihrer Schwester Gratia, die die ganze Zeit über mit großer Herzlichkeit und womöglich noch natürlicher als sonst laut gelacht hatte. Da erfahrungsgemäß eine Meinungsverschiedenheit unter Damen nicht erörtert werden kann, ohne daß nicht alle Angehörigen gleichen Geschlechts, die sich in Hörweite befinden, dabei Partei ergreifen, so mischten sich alsbald die »entschlossene« Dame, ihre beiden Töchter, Mrs. Spottletoe und das taube Bäschen, das sich durch den Umstand, daß es nicht wußte, um was es sich handelte, keineswegs abhalten ließ, samt und sonders lebhaft ein.

Da die beiden Misses Pecksniff den drei Misses Chuzzlewit so ziemlich gewachsen waren, so würde sich die Schlacht zweifellos sehr in die Länge gezogen haben ohne die hohe Tapferkeit und Bravour der »entschlossenen« Dame, die kraft ihrer sarkastischen Zunge Mrs. Spottletoe dermaßen mit höhnenden Worten bearbeitete, daß diese, ehe noch das Scharmützel zwei Minuten gewährt hatte, zu Tränen ihre Zuflucht nehmen mußte. Das hatte irgendwie zur Folge, daß Mr. Spottletoe Mr. Pecksniff die geballte Faust dicht vors Auge hielt wie eine Naturmerkwürdigkeit, aus deren näherer Betrachtung sich große Erbauung und Belehrung erholen ließe. Nachdem er sich sodann ohne erforschlichen Grund erbötig gemacht hatte, Mr. George Chuzzlewit mit Fußtritten zu regulieren, wenn man ihm sechs Pence dafür zahle, reichte er seiner Gattin den Arm und stolzierte indigniert hinaus. Das lenkte die Aufmerksamkeit der Streitkräfte einigermaßen ab und machte dem Kampfe wenigstens soweit ein Ende, daß nur noch hie und da unbedeutende Wutblitze aufzuckten.

Schließlich erhob sich Mr. Pecksniff abermals von seinem Sitze. Die beiden Misses Pecksniff nahmen dabei eine Miene an, als ob es nicht nur im Bereiche des Zimmers, sondern auf der ganzen Welt gar keine Misses Chuzzlewit gäbe, und die drei Misses Chuzzlewit ihrerseits taten desgleichen.

»Es ist sehr zu beklagen«, begann Mr. Pecksniff in demutsvoller Rückerinnerung an Mr. Spottletoes geballte Faust, »daß sich unser Freund so hastig entfernt hat. Andererseits haben wir Grund, uns gegenseitig dazu Glück zu wünschen. Können wir jetzt wenigstens sicher sein, solange er abwesend ist, in dem, was wir sprechen oder tun, nicht durch seinen Argwohn gestört zu werden. Ist das nicht ein sehr beruhigender Gedanke?«

»Pecksniff«, rief Anthony, der die ganze Gesellschaft von Anfang an mit atemlos lauerndem Blick beobachtet hatte, »heucheln Sie nicht so!« »Was soll ich nicht, mein werter Herr?« fragte Mr. Pecksniff.

»Nicht so heucheln!«

»Charitas, mein liebes Kind«, wendete sich Mr. Pecksniff an seine Tochter, »erinnere mich heute abend vor dem Schlafengehen, daß ich noch angelegentlicher als sonst für Mr. Anthony Chuzzlewit bete, da er mir unrecht getan hat.« Er sprach diese Worte mit höchst milder Stimme und beiseite, als gälten sie lediglich seiner Tochter. Mit dem freudigen Bewußtsein eines guten Gewissens nahm er dann seine Rede wieder auf:

»Alle unsre Gedanken weilen bei unserm vielgeliebten, aber unfreundlichen Verwandten, und da er gewissermaßen unserm Bereich entrückt ist, so haben wir uns heute recht eigentlich wie zu einem Leichenbegängnis versammelt – wenn sich auch glücklicherweise nicht wirklich ein Toter im Hause befindet.«

Die »entschlossene« Dame war nun aber nicht überzeugt, daß man hier das Wort »glücklicherweise« gebrauchen dürfe. Eher das Gegenteil.

»Gut, meine teure Madame!« gab Mr. Pecksniff zu. »Sei dem, wie es wolle – wir sind nun einmal da; und weil wir da sind, so wollen wir in Erwägung ziehen, ob es nicht möglich sei, durch was immer für erlaubte Mittel –«

»Ach was, Sie wissen so gut wie ich«, unterbrach die »entschlossene« Dame, »daß in einem solchen Falle alle Mittel erlaubt sind – oder vielleicht nicht?«

»Sehr gut, meine teure Madame, sehr gut! – Also ob es nicht möglich ist, durch was immer für Mittel – wir wollen sagen, durch jedes Mittel – unserm teuern Verwandten seine gegenwärtige Verblendung zu Gemüte zu führen. Ob es nicht möglich ist, ihm durch was immer für Mittel hinsichtlich des wahren Charakters und der Absichten der gewissen jungen Frauensperson die Augen zu öffnen, deren seltsame – deren höchst seltsame Stellung bei ihm« – hier dämpfte Mr. Pecksniff seine Stimme zu einem eindringlichen Flüstern – »tatsächlich einen Schandfleck auf unsere Familie wirft, und die bekanntermaßen« – hier erhob er seine Stimme wieder – »wozu wäre sie sonst bei ihm! – die hinterlistigsten Absichten auf sein Vermögen hegt.«

Wie wenig sonst die Anwesenden miteinander harmonieren mochten, so waren sie doch hinsichtlich dieses Punktes aufs entschiedenste gleicher Ansicht. »Gütiger Himmel, wirklich Absichten hegt sie auf Martin Chuzzlewits Vermögen?!« Die entschlossene Dame war für Gift, ihre drei Töchter für Einsperrung in Bridewell bei Brot und Wasser, das Bäschen mit dem Zahnweh redete Botanybai das Wort, und die beiden Misses Pecksniff verfielen auf Auspeitschenlassen. Mr. Tigg ausgenommen, der unbeschadet seiner außerordentlichen Schäbigkeit, kraft seiner schnurrbartverbrämten Oberlippe und seiner Brustschnüre gewissermaßen als galanter Ritter galt, zweifelte niemand an der Erlaubtheit solcher Maßregeln. Und auch er durfte seine Bedenken nur ungestraft aussprechen, weil er dabei die Damen voll Bewunderung beliebäugelte.

»Nun«, sagte Mr. Pecksniff und kreuzte seine beiden Zeigefinger in einer Weise, die etwas ungemein Versöhnliches und Beweisendes hatte, »auf der einen Seite will ich nicht gerade so weit gehen, zu behaupten, daß die ›Person‹ alle die Züchtigungen verdiente, die hier empfohlen worden sind; und auf der andren Seite möchte ich wieder meinen gesunden Menschenverstand um keinen Preis so weit kompromittieren, um zu behaupten, daß sie sie wieder nicht verdiene. Ich wollte eigentlich nur bemerken, daß es geraten sein dürfte, einige praktische Maßregeln zu ersinnen, um unseren wertgeschätzten – soll ich sagen, unsern hochverehrten –?« »Nein!« fiel ihm die entschlossene Dame mit lauter Stimme ins Wort. »Nun, so will ich es unterlassen – Sie haben ganz recht, meine teure Madame; ich schätze Sie und danke Ihnen für Ihren umsichtigen Einwurf – also unsern nicht hochverehrten Verwandten zu veranlassen, auf die Stimme der Natur zu hören und nicht auf die – auf die – auf die – –«

»Nur weiter, Pa!« rief Gratia.

»Ich muß gestehen«, entschuldigte sich Mr. Pecksniff, die versammelte Verwandtschaft mit einem Lächeln beehrend, »die Wahrheit ist, daß ich um ein passendes Wort verlegen bin. Der Name der gewissen Fabeltiere aus dem blinden Heidentume, die in den Fluten zu singen pflegten, ist mir entfallen.«

»Schwäne?« riet Mr. George Chuzzlewit.

»Nein, nein. Nicht Schwäne – obgleich den Schwänen sehr ähnlich. Ich danke Ihnen.«

Der behaarte Neffe öffnete ein einziges und letztes Mal den Mund und meinte: »Austern?«

»Nein«, versetzte Mr. Pecksniff mit der ihm angebotenen Höflichkeit; »auch nicht Austern. Aber doch keineswegs den Austern unähnlich – eine ganz exzellente Idee übrigens: ich danke Ihnen, werter Herr; danke recht sehr. Halt, ich hab's: Sirenen! Du mein Himmel! Natürlich: Sirenen. – – Ich glaube, gesagt zu haben, daß man auf Maßregeln sinnen sollte, unsern wertgeschätzten Verwandten zu veranlassen, daß er auf die Stimme der Natur höre und nicht auf die Sirenenklänge der Arglist. Nun dürfen wir aber auch nicht die Tatsache aus dem Gesicht verlieren, daß unser geschätzter Verwandter einen Enkel hat, dem er noch bis vor kurzem sehr zugetan war und den ich heute sehr gerne ebenfalls hier gesehen hätte, zumal ich eine wahre und tiefe Hochachtung für ihn empfinde. Ein hübscher junger Mann – ein äußerst hübscher junger Mann! – – Ich wollte Ihnen nun den Vorschlag machen, ob wir Mr. Chuzzlewits Mißtrauen nicht von uns abwenden und unsre Uneigennützigkeit dadurch an den Tag legen könnten, wenn wir –«

»Wenn Mr. George Chuzzlewit mir etwas zu sagen hat«, unterbrach die entschlossene Dame streng die schöne Rede, »so soll er gefälligst frei herausreden wie ein Mann und nicht mich und meine Tochter anstieren, als ob er uns fressen wollte.«

»Was das Anstieren betrifft, Mrs. Ned«, erwiderte Mr. George ärgerlich, »so habe ich mir sagen lassen, daß auch die Katze den Kaiser anschauen darf. Und ich als angestammtes und – hüm – nicht angeheiratetes Mitglied der Familie kann um so mehr anschauen, wen ich will. Na, und hinsichtlich des Fressens erlaube ich mir die Bemerkung, daß ich darin nicht so begierig bin, Madam.«

»Davon bin ich noch nicht so überzeugt«, meinte die entschlossene Dame spitz.

»Und wenn es auch der Fall wäre«, rief Mr. George Chuzzlewit, durch diese Erwiderung sehr gereizt, »so würde mir jedenfalls beizeiten einfallen, daß eine Frau, die drei Männer überlebt und unter diesen Verlusten so wenig gelitten hat wie Sie, bedenklich – zäh sein muß.«

Die entschlossene Dame sprang auf.

»Auch muß ich ferner noch bemerken«, sprach Mr. George erregt weiter und nickte bei jedem Wort heftig mit dem Kopf, »ohne Namen zu nennen und anzüglich werden zu wollen, daß ich der Ansicht bin, es würde weit anständiger und passender sein, wenn gewisse Leute, die sich durch Heirat listigerweise in die Verwandtschaft eingeschlichen und später ihre Gatten unter die Erde gekeift haben, es unterlassen würden, auch noch über lebende wirkliche Familienangehörige wie die Aasgeier herzufallen. Auch glaube ich, wäre es höchst angebracht, wenn solche Individuen hübsch zu Hause blieben und mit dem zufrieden wären, was sie bereits ergattert haben, statt hier herumzulungern und ihre Finger in eine Familienpastete zu stecken, die schon nach ihnen riecht, wenn sie noch fünfzig Meilen davon entfernt sind.«

»Darauf hätte ich gefaßt sein können!« rief die entschlossene Dame, blickte mit geringschätzigem Lächeln umher und rauschte sodann mit ihren drei Töchtern zur Türe. »Übrigens war ich von Anfang an vollkommen darauf gefaßt. Was könnte man auch Besseres von einer solchen – Atmosphäre erwarten!«

»Richten Sie gefälligst Ihren Halbsoldoffiziersblick nicht auf mich, Madam, wenn ich bitten darf«, fiel ihr Miss Charitas ins Wort, »Sie sind mir widerwärtig.«

Dies war eine beißende Anspielung auf eine Witwenpension, die die entschlossene Dame nach ihrem zweiten Gatten und vor ihrer letzten Ehe bezogen hatte. Der Hieb saß tief, denn Mrs. Chuzzlewit fuhr auf und schrie:

»Ich mußte verzichten auf die Gedächtnisstiftung eines teuren Vaterlandes, eben weil ich in diese Familie trat, du höchst erbärmliche Hexe! – – – Und ich fühle jetzt – wenn ich es auch damals nicht fühlte –, daß mir ganz recht geschah, als ich durch eine solche Selbsterniedrigung meiner Ansprüche an das Vereinigte Königreich von Großbritannien und Irland verlustig ging. – – – Nun, meine lieben Töchter, wenn ihr bereit seid und euch hinlänglich durch Beherzigung des edlen Beispiels dieser beiden jungen Damen erbaut habt, so könnten wir, dächte ich, gehen. Und Ihnen, Mr. Pecksniff, sind wir wirklich ungemein verbunden. Wir kamen, um uns zu amüsieren, und in dieser Hinsicht haben Sie unsere Erwartungen sogar noch bei weitem übertroffen. Ich danke Ihnen. – Adieu!«

Mit diesen Abschiedsworten fegte die entschlossene Frau aus dem Zimmer und aus dem Hause, von ihren Töchtern gefolgt, die einmütig ihre drei spitzigen Nasen rümpften und ein verächtliches Kichern anstimmten. Einen Augenblick später gingen sie ostentativ und mit dem Ausdruck nicht zu bändigenden Entzückens außen am Fenster vorüber. Mit diesem Schlußcoup, der die drinnen gewaltig entmutigen sollte, verschwanden sie.

Ehe noch Mr. Pecksniff oder irgend einer der noch anwesenden Gäste den Mund zu einer Bemerkung öffnen konnte, kam aus der entgegengesetzten Richtung her eine andere Gestalt in großer Eile am Fenster vorbei, und unmittelbar darauf stürzte Mr. Spottletoe ins Zimmer. Im Vergleich zu seiner jetzigen Aufregung war er der reinste Eiszapfen gewesen, als er sich vor einer Stunde entfernte. Von seinem kahlen Haupte troff so viel Öl hernieder, daß sein Backenbart geradezu gesalbt erschien; sein Gesicht glühte, und er zitterte an allen Gliedern und schnappte nach Luft.

»Mein werter Herr!« rief Mr. Pecksniff.

»O ja!« keuchte Mr. Spottletoe. »O ja, freilich! Oh, selbstverständlich! Oh, natürlich! Ihr hört, was er sagt! Hört ihr alle, was er sagt?«

»Was gibt's denn?« riefen mehrere Stimmen.

»Oh, nichts!« rief Mr. Spottletoe, noch immer nach Luft schnappend. »Ganz und gar nichts! – Vollkommen bedeutungslos. Fragt doch ihn! Er kann's euch am besten sagen!«

»Ich verstehe nicht, was unser Freund meint«, sagte Mr. Pecksniff und sah sich voller Erstaunen im Kreise um. »Ich versichre Ihnen, daß mir sein Benehmen geradezu rätselhaft erscheint.«

»Rätselhaft!« schrie Mr. Spottletoe. »Rätselhaft! Wollen Sie uns vielleicht weismachen, Sir, Sie wüßten nicht, was vorgefallen ist? – Haben Sie uns vielleicht nicht hierher gelockt und ein Komplott gegen uns geschmiedet?! Erdreisten Sie sich vielleicht gar, zu sagen, Sie wüßten nicht, daß Martin Chuzzlewit fort ist, auf und davon? Ist es Ihnen vielleicht sogar unbekannt, wohin er sich gewendet hat, Sir?!«

»Fort?« riefen alle wild durcheinander.

»Fort!« echote Mr. Spottletoe. »Fort, während wir hier konferierten! Fort; und niemand will wissen, wohin. Oh, natürlich nicht! Die Wirtin dachte bis zum letzten Augenblick, er mache bloß eine Spazierfahrt. Sie hatte doch keine Ahnung. Natürlich nicht! Wie sollte sie wohl! Sie ist auch nicht die Kreatur dieses Kerls. Oh, Gott bewahre!«

Diesen Ausrufen ließ der aufgeregte Gentleman eine Art ironischen Geheuls folgen, dann schwieg er plötzlich, sah die Gesellschaft eine kurze Weile stumm an und stürzte mit furchtbarer Eile wieder hinaus.

Vergeblich beteuerte Mr. Pecksniff, daß diese neuerliche und so gut gelungene Flucht Martin Chuzzlewits für ihn mindestens ebenso unerwartet und überraschend komme wie für sonst jemanden. Von allen Beschimpfungen und Verwünschungen, die jemals auf ein unglückliches Haupt gehäuft worden, kann wohl keine aufrichtiger gemeint und kräftiger gewesen sein als die, mit denen sich jeder einzelne der noch zurückgebliebenen Verwandten von dem unglücklichen Mr. Pecksniff verabschiedete.

Fürchterlich war die moralische Höhe, auf die sich Mr. Tigg ihm gegenüber stellte, und das taube Bäschen, dem das doppelt harte Los zuteil geworden, die Vorgänge mit ansehen zu müssen und nichts als die Katastrophe hören zu können, kratzte sich die Füße vor der Tür ab und verteilte die Eindrücke davon über die ganze obere Treppe, zum Zeichen, daß sie den Staub von ihren Schuhen schüttele, ehe sie dieses Haus der Arglist und Treulosigkeit verlasse.

Kurz, Mr. Pecksniff blieb nur ein einziger Trost, nämlich das Bewußtsein, daß alle diese Verwandten und Freunde ihn zuvor schon aufs äußerste gehaßt und er seinerseits nicht mehr Liebe an sie verschwendet hatte, als er bei seinem ungeheuern Reichtum an diesem Artikel leicht verschmerzen konnte. Die Betrachtungen, die er von diesem Gesichtspunkte aus anstellte, bereiteten ihm ungemein viel Trost – eine Tatsache, die um so mehr Beachtung verdient, als sie zeigt, wie leicht ein wahrhaft guter Mensch sich über Enttäuschungen aller Art hinwegzusetzen vermag.


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