Charles Dickens
Martin Chuzzlewit
Charles Dickens

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5. Kapitel

Enthält einen ausführlichen Bericht über die Einführung des neuen Zöglings in den Schoß der Familie Pecksniff

Der beste der Architekten und Landbeschauer besaß ein Pferd, an dem die bereits erwähnten Feinde eine seltsame Ähnlichkeit mit seinem Gebieter entdecken wollten – nicht gerade in Anbetracht der äußeren Gestalt, denn es war ein klapperdürres, verhungertes Pferd, das weit schmaler im Futter stand als Mr. Pecksniff, sondern hinsichtlich seines moralischen Charakters, der – sagten sie – sehr viel versprach, aber nichts hielt. Es tat nämlich immer, als ob es trabe, kam aber nie recht vorwärts. Selbst beim langsamsten Reiseschritt pflegte es seine Beine so hoch zu heben und eine so gewaltige Rührigkeit zu entfalten, daß man hätte glauben müssen, es lege mindestens vierzehn Meilen in der Stunde zurück. Dabei war es stets so vollkommen selbstzufrieden mit seiner Geschwindigkeit und ließ sich, wenn es Gelegenheit hatte, sich mit den schnellsten Trabern zu messen, so wenig aus der Fassung bringen, daß man der Täuschung nur um so schwerer widerstehen konnte. Es war eine Art Tier, das die Brust jedes Laien mit dem lebhaftesten Gefühl der Hoffnung erfüllte, aber alle die, die es näher kannten, geradezu in Verzweiflung brachte. In welcher Hinsicht diese Charakterzüge mit denen seines Gebieters verglichen werden konnten, vermögen nur die Lästerer dieses trefflichen Mannes anzugeben. Doch bleibt es eine traurige Wahrheit und ein beklagenswerter Beleg für die Lieblosigkeit der Welt, daß diese Vergleiche tatsächlich angestellt wurden.

Auf dieses Pferd und das dazugehörige überdachte Fuhrwerk – es war eigentlich mehr ein Gig mit einer sonderbaren Geschwulst als etwas anderes – konzentrierten sich an einem schönen Morgen Mr. Pinchs Gedanken und Wünsche. Sollte er doch mit dieser stattlichen Equipage allein nach Salisbury fahren, um dort den neuen Zögling zu treffen und ihn im Triumphzuge nach Hause zu bringen.

Welch bessere Zeit könnte es wohl für Fahren, Reiten, Gehen und alle möglichen Bewegungen in freier Luft geben als einen frischen frostigen Morgen, wo die Hoffnung freudig mit dem raschen Blut durch die Adern pulsiert und den Körper von Kopf bis zu Fuß durchprickelt! Solch frohen Anfang nahm ein nervenstählender Frühwintertag, ein Tag, der die erschlaffende Sommerszeit und den Frühling beschämt, der oft nur halb so kalt ist. Die Glöckchen der Schafe klangen so klar durch die belebende Luft, als fühlten sie ihren Einfluß wie beseelte Wesen; die Bäume schüttelten statt Blättern funkelnden Reif hernieder wie Diamantenstaub. Von den Schornsteinen stieg der Rauch hoch, hoch in die Luft, als sei die jauchzende Erde aus ihrer Leblosigkeit erwacht und wolle sich nicht länger mehr durch schwere Dünste erdrücken lassen. Die Eiskruste auf dem sonst plätschernden Bach war so durchsichtig und dünn, daß es aussah, als hätte das Wasser freiwillig haltgemacht, um sich des lieblichen Morgens zu freuen. Und damit die Sonne nicht zu früh diesen Zauber breche, schwebte zwischen ihr und der Erde ein Nebel hin und her, ähnlich dem, der in Sommernächten auf den Mond lauert.

Tom Pinch fuhr weiter – nicht schnell zwar, aber doch mit dem Gefühle rascher Fahrt; und alles, was ihm begegnete, trug dazu bei, ihn in seinem Glücksgefühl zu bestärken. Als er zum Beispiel des Schlagbaums ansichtig wurde, bemerkte er, wie die Frau des Mauteinnehmers, die gerade mit einem Frachtwagen unterhandelte, wie toll in das kleine Häuschen zurückeilte, bloß um ihrem Manne zu melden, »daß Mr. Pinch käme«. Und dann, als er sich der Zollschranke näherte, eilten die Kinder des Wächters heraus und schrien zu seinem Entzücken in winzigem Chor: »Mr. Pinch! Mr. Pinch!« Der Mauteinnehmer, sonst ein recht widerhaariger Patron, mit dem die Leute nicht gerne verkehrten, kam sogar in höchsteigener Person heraus, um den Schlagbaumzoll in Empfang zu nehmen und ihm einen rauhen »guten Morgen« zu wünschen. Von alledem und einem Blick auf das Familienfrühstück auf einem kleinen runden Tische vor dem Feuer schmeckte Tom Pinch seine Brotrinde, die er mitgenommen, so würzig, als wäre sie frisch von einem Laib wirklichen Feenbrotes abgeschnitten.

Und das war noch lange nicht alles. Nicht bloß verheiratete Leute und Kinder boten Tom Pinch, wenn er vorüberfuhr, ein freundliches Willkommen. Nein, nein, funkelnde Augen und schneeige Hälse kamen an so manches Mansardenfenster geeilt, als er vorbeirasselte, und die Mädchen gaben seine Grüße zurück – nicht kärglich, sondern siebenfältig, wohlgemessen. Und so vergnügt waren alle! Und einige der Gottlosesten warfen Tom sogar Kußhändchen zu, wenn er zurückblickte. Denn wer genierte sich vor dem armen Tom Pinch!? Er war doch so harmlos.

Und dann wurde der Morgen so schön, und alles lachte so lustig und hellauf, daß die Sonne zu sagen schien: »Ich kann's nicht länger aushalten, ich muß ein bißchen herunterschauen.« – Der Nebel, viel zu zart und scheu für so lustige Gesellschaft, floh erschrocken vor ihr dahin, und wie er entschwebte, tauchten Hügel, Täler und ferne Auen voll friedlicher Lämmer und lärmender Krähen auf, so glänzend wie ein funkelnagelneues Bild. Und in der Freude über diesen Anblick blieb auch der Bach nicht länger stehen, sondern eilte lebendig weiter, um die Kunde der drei Meilen weiter unten liegenden Mühle zu bringen.

Mr. Pinch holperte vergnüglich weiter, voll froher Gedanken und heiterer Eindrücke, als er plötzlich bei einer Biegung einen Wanderer, der mit lauter, aber nicht unmusikalischer Stimme vor sich hin sang, mitten auf der Straße fürbaß schreiten sah. Es war ein junger Mensch von fünf- oder sechsundzwanzig Jahren, der sich so frei und flott bewegte, daß die langen Enden seines losen roten Halstuchs ebenso oft nach hinten wie nach vorn flatterten. Den großen Strauß von roten Winterbeeren, die er im Knopfloch seines Samtrockes stecken hatte, konnte man so deutlich von hinten unterscheiden, als ob der Fremde den Rock verkehrt angehabt hätte.

Der junge Mann sang so laut und mit so viel Nachdruck, daß er das Rasseln der Räder nicht eher vernahm, als bis das Fuhrwerk dicht hinter ihm war. Dann erst drehte er sich um, zeigte Tom ein fröhliches Gesicht und ein Paar lachende blaue Augen und machte halt.

»Sieh da, Mark!« rief Tom Pinch und zügelte seinen Gaul. »Wer hätte das gedacht, daß wir hier zusammentreffen! Nun, das nenne ich mir eine Überraschung!«

Mark griff an seinen Hut und sagte, während ein Schatten über sein eben noch so lebhaftes Gesicht flog, er wolle nach Salisbury.

»Und wie Sie sich herausgeputzt haben!« lobte Mr. Pinch und betrachtete den jungen Mann mit großem Wohlgefallen. »Wirklich, ich hätte mir nicht vorgestellt, daß Sie ein so fescher Bursche sind, Mark!«

»Danke schönstens, Mr. Pinch; macht sich, macht sich. Meine Schuld ist's nicht, müssen Sie wissen. Und mit dem Herausgeputztsein, sehen Sie, da hat's so einen Haken.« Und dabei machte der junge Mann ein recht melancholisches Gesicht.

»Wieso einen Haken?« fragte Mr. Pinch.

»Je nun, es kann eben jeder leicht heiter und guter Dinge sein, wenn er gut gekleidet ist. Man braucht das niemandem besonders hoch anzurechnen. Ja, wenn ich recht zerlumpt und doch dabei lustig wäre, so würde ich anfangen zu glauben, daß ich mir etwas darauf zugute tun dürfte, Mr. Pinch.«

»Sie haben also nur gesungen, sozusagen, trotz der guten Kleidung; was, Mark?« fragte Mr. Pinch.

»Sie sprechen doch immer wie ein Buch, Sir«, entgegnete Mark mit breitem Grinsen. »Meiner Seel.«

»Nun«, meinte Pinch, »Sie sind wirklich der sonderbarste junge Mensch, Mark, den ich je in meinem Leben kennengelernt habe. Sie sind mir zwar immer so vorgekommen, aber jetzt wird mir's zur völligen Gewißheit. Ich will übrigens gleichfalls nach Salisbury. Kommen Sie, steigen Sie auf! Es wird mich freuen, wenn Sie mir ein bißchen Gesellschaft leisten.«

Der junge Mann nahm das Anerbieten mit Dank an, stieg auf, setzte sich aber bloß mit halbem Leibe und nur auf den Rand des Sitzes, um dadurch auszudrücken, daß er Mr. Pinchs liebenswürdige Aufforderung zu würdigen wisse.

»Als ich Sie vorhin gar so herausgeputzt sah«, begann Mr. Pinch wieder, »glaubte ich wahrhaftig, Sie gingen auf Freiersfüßen, Mark.«

»Nun, Sir, ich habe auch schon an dergleichen gedacht«, gab Mark zu. »Das wäre schon eher eine Kunst, wenn man mit einem recht zanksüchtigen Weibe zu Haus noch vergnügt sein könnte, namentlich wenn die Kinder die Masern oder etwas dergleichen haben. Aber ich fürchte mich fast, es zu versuchen. Ich bin mir noch nicht recht klar diesbezüglich.« »Sie sind wohl nicht besonders verliebter Natur?« fragte Pinch.

»Nicht besonders, Sir, glaube ich.«

»Bei Ihren Ansichten, Mark, müßten Sie aber gerade eine heiraten, die Sie nicht liebten und die recht häßlich wäre.«

»Allerdings, Sir; aber das hieße doch vielleicht einen Grundsatz ein wenig gar zu weit treiben. – Glauben Sie nicht?«

»Möglich«, meinte Pinch, und dann lachten beide herzlich.

»Meiner Seel, Sir«, sagte Mark, »ich glaube, Sie kennen mich noch nicht annähernd. Ich denke nicht, daß es je einen Menschen gegeben hat, der sich unter Verhältnissen, die andre Leute elend machen können, so tapfer gehalten hätte, wie ich es imstande wäre. Wenn ich nur Aussicht hätte, je in eine solche Lage zu geraten! Meiner Ansicht nach wird niemand auch nur halbwegs erfahren, was in mir steckt, wenn nicht etwas ganz Unerwartetes passiert. Aber dazu winkt mir keine Chance. – Ich habe übrigens dem »Drachen« den Rücken gekehrt auf Nimmerwiedersehen, Sir.«

»Dem »Drachen« den Rücken gekehrt?« rief Mr. Pinch, höchst erstaunt. »Aber Mark, das benimmt mir ja förmlich den Atem!«

»Jawohl, Sir«, bestätigte Mark und schaute gedankenschwer ins Weite. »Warum sollte ich im »Drachen« bleiben? Für mich ist das nicht der richtige Platz. Als ich London verließ – ich bin ein gebürtiger Kenter – und den Dienst annahm, war ich der festen Meinung, es wäre so ein recht abgelegener und einsamer Winkel von Alt-England und man brauchte eine rechte Kunst, unter solchen Umständen vergnügt zu sein. Aber, du mein Himmel, im »Drachen« gibt's keine Langeweile! Kegel und Cricketspiel, lustige Lieder und jeden Winterabend Gesellschaft um den Kamin herum. – Im »Drachen« ist jeder fidel. Das ist wirklich nicht schwer.«

»Aber wenn es wahr ist, was die Leute sagen, Mark und ich muß es wohl glauben, da ich es aus eigner Erfahrung bestätigen kann«, meinte Mr. Pinch, »so sind hauptsächlich Sie der Urheber aller dieser Lustigkeit!«

»Vielleicht ist es wirklich so, Sir«, antwortete Mark, »aber das ist noch immer kein Trost für mich.« »Gut!« sagte Mr. Pinch und dämpfte seine ohnehin schon leise Stimme noch mehr. »Es geht mir nicht recht ein, was Sie da sagen. – Aber was soll aus Mrs. Lupin werden, Mark?«

Mark blickte noch starrer vor sich hin und antwortete, er glaube nicht, daß sie sich viel daraus mache. Es gäbe genug flotte junge Burschen, die froh wären, im »Drachen« zu dienen. Er kenne selbst ein ganzes Dutzend.

»Wohl möglich«, gab Mr. Pinch zu, »aber ich bin durchaus nicht überzeugt, ob auch Mrs. Lupin an ihnen eine Freude haben wird. Ich habe immer geglaubt, Mrs. Lupin und Sie würden noch ein Paar werden; und soviel ich weiß, war jedermann dieser Ansicht.«

»Ich habe nie auch nur ein Wort mit ihr gesprochen«, entgegnete Mark ein wenig verwirrt, »das wie Courschneiderei ausgesehen hätte und auch sie nicht mit mir; ich weiß auch gar nicht, wie ich so etwas hätte anbringen sollen und was sie mir darauf gesagt hätte. Es würde mir übrigens auch keinesfalls gepaßt haben, Sir.«

»Wie? Sie würden nicht gern Drachenwirt werden, Mark?« rief Mr. Pinch.

»Nein, Sir, gewiß nicht. Das wäre für einen Menschen meinesgleichen ein direkter Ruin. Ich sollte hergehen und mir es fürs ganze Leben bequem machen?! Da erführe ja niemand, was in mir steckt. Was wäre es für den Drachenwirt für eine Kunst, vergnügt zu sein? Er müßte doch, selbst wenn er gar nicht wollte!«

»Weiß Mrs. Lupin, daß Sie für immer scheiden wollen?« fragte Mr. Pinch.

»Ich hab ihr's noch nicht mitgeteilt, Sir, aber ich muß wohl bald. Heute morgen will ich mich dort« – Mark deutete auf die Stadt – »nach etwas Neuem und Passendem umsehen.«

»Und welcher Art soll die Stelle sein?«

»Ich dachte mir«, versetzte Mark, »irgendeine, die mit Totengräberei zu tun hat.«

»Um Gottes willen, Mark!« rief Mr. Pinch.

»Hm, es ist ein recht dumpfiger, wurmiger Beruf, Sir«, meinte Mark und schüttelte argumentierend den Kopf, »immerhin wäre es ein gewisses Verdienst, dabei vergnügt zu sein – wenn es die Totengräber nicht sowieso schon sind, was allerdings die Sache ändern würde. Wissen Sie vielleicht etwas Näheres darüber, Sir?«

»Nein, wahrhaftig ganz und gar nichts«, antwortete Mr. Pinch. »Der Gedanke ist mir überhaupt noch gar nicht in den Kopf gekommen.«

»Nun, im Fall es nicht nach Wunsch ausfallen sollte«, sagte Mark gedankenvoll, »gibt es ja schließlich, wie Sie wissen, noch andere Berufe. Das Leichenbestattergeschäft zum Beispiel ist düster genug. Da wäre noch Ehre einzulegen. Eine Gehilfenstelle bei einem Pfandleiher in einer armen Gegend wäre vielleicht auch nicht schlecht. Ein Gefangenenwärter sieht gleichfalls manches Elend, und als Bedienter bei einem Doktor wäre man mitten drin im Morden. Ein Gerichtsdiener ist auch kein schlechter Posten. Oder ein Steuereintreiber. Kurz, es gibt gewiß eine Menge von Beschäftigungen, wo ich die beste Gelegenheit hätte, meine gute Laune zu üben.«

Mr. Pinch war über diese seltsamen Ansichten so verblüfft, daß er gar nicht wußte, was sagen, und ließ nur hin und wieder ein paar Worte über irgendein gleichgültiges Thema fallen und warf forschende Seitenblicke auf das rotbackige Gesicht seines wunderlichen Freundes, bis sie an eine Wegkreuzung vor der Vorstadt kamen, wo Mark auszusteigen wünschte.

»Aber Gott bewahre, Mark«, rief Pinch, der erst jetzt bemerkte, daß sein Gefährte, wie mitten im Sommer, nichts als seinen Rock über dem bloßen Hemde trug, »warum tragen Sie denn keine Weste?«

»Wozu sollte sie denn gut sein, Sir?«

»Wozu gut? Je nun, um die Brust warm zu halten.«

»Ach, lieber Himmel, Sir!« rief Mark. »Sie kennen mich, scheint's, sehr wenig. Meine Brust braucht keine Wärme. Und selbst wenn – was könnte die Folge sein, daß ich keine Weste trage? Eine Lungenentzündung vielleicht? Nun, es wäre wenigstens Ehre dabei einzulegen, wenn man trotz einer Lungenentzündung guter Laune ist.«

Da Mr. Pinch weiter keine Antwort darauf gab, sondern bloß sehr tief Atem holte, die Augen weit aufriß und gewaltig mit dem Kopf nickte, so bedankte sich Mark bei ihm für die Fahrt und sprang leichtfüßig vom Wagen, ohne daß Pinch anzuhalten brauchte. Dann eilte er mit seinem roten Halstuch und dem offnen Rock einen Seitenpfad hinunter und wandte sich noch von Zeit zu Zeit um, um Mr. Pinch gutmütig und sorglos zuzunicken.

Mr. Pinch hatte die kuriose Ansicht, Salisbury müsse eine ganz verzweifelt lockere und zügellose Stadt sein. Nachdem er daher sein Pferd eingestellt und dem Stallknecht zu verstehen gegeben hatte, er werde in ein paar Stunden wieder zurückkommen, um nachzusehen, ob auch der Gaul seinen Hafer bekommen habe, streifte er mit der dunkeln und nicht unangenehmen Vorstellung, daß überall Geheimnisse und Teufeleien aller Art gärten, in den Straßen umher. Für einen Mann von seiner ruhigen Lebensweise wurde diese kleine Selbsttäuschung noch durch den Umstand unterstützt, daß gerade Markttag war und der Platz mit seinen Nebenstraßen von Karren, Pferden, Eseln, Körben, Wagen, Gemüsehaufen, Fleischbänken, Kaldaunen- und Geflügelständen und allen nur erdenklichen Höcklerwarenbuden nur so wimmelte. Junge und alte Pächter und Landwirte in Zwilchkitteln, braunen und grauen Überröcken, mit rotwollnen Halstüchern, Ledergamaschen, wunderlich geformten Hüten, Hetzpeitschen und derben Knütteln standen in Gruppen umher oder schwatzten laut auf den Türstufen der Wirtshäuser miteinander. Andere tauschten ungeheure Summen in schmierigen Banknoten aus und hantierten dabei mit so furchtbar großen Brieftaschen, daß sie förmlich rot und blau wurden, bis sie sie glücklich aus den Taschen herausgezerrt hatten, und fast Krämpfe bekamen, ehe es ihnen gelang, sie wieder zu verstauen. Auch Pächtersfrauen in Biberhüten und roten Mänteln waren zugegen und ritten auf zottigen, von allen irdischen Leidenschaften geläuterten Pferden, die gehorsam überall hintrabten, ohne zu fragen, warum und wozu, und wahrscheinlich auf Wunsch ihrer Gebieterinnen sogar in Porzellanläden, umringt von zerbrechlichem Geschirr, stockstill gestanden hätten, ohne einen Huf zu rühren. Und dann die riesige Menge von Hunden, die sich lebhaft für die Marktpreise und die Geschäfte ihrer Herren zu interessieren schienen, und überhaupt das ganze geräuschvolle Treiben von Menschen und Tieren!

Entzückt betrachtete Mr. Pinch alle die herrlichen zum Verkauf ausgestellten Dinge, und besonders die Messerschmiedbuden fesselten seinen Blick. Er erstand sogar ein Taschenmesser mit sieben Klingen. Nur schnitt leider keine einzige, wie er zu spät bemerkte. Nachdem er sich alles und jedes auf dem Marktplatz genau betrachtet und zugesehen hatte, wie sich die Pächter zum Mittagessen begaben, ging auch er zurück in sein Wirtshaus, um nach seinem Pferde zu sehen, das, wie er zu seiner Freude bemerkte, nach Herzenslust fraß. Eine Weile starrte er noch das Bankgebäude an und zerbrach sich den Kopf, wo wohl die unterirdischen Gänge liegen möchten, in denen das viele Geld aufbewahrt würde, und dann machte er sich wieder auf, um die Stadt zu durchwandern und sich am Anblicke der Schaufenster zu laben.

Vor allem fesselten ihn hier die Läden der Juweliere, in denen alle Schätze der Erde ausgestellt waren. Darunter silberne Uhren von solchem Umfang, daß ihre Größe allein schon einen tadellosen Gang verbürgte.

Aber was waren sogar Gold und Silber, Pretiosen und Uhrwerke gegen die Buchläden, aus denen der liebliche Duft frisch aus der Presse gekommenen Papiers wehte und in ihm sofort Erinnerungen weckte an die neue Schulgrammatik, die vor langer Zeit sein Eigentum geworden und auf deren Vorsatzblatt er mit zierlicher, fehlerfreier Schrift geschrieben hatte: Master Pinch, Grovehouse Akademy. Und dann der Geruch nach Ledereinbänden und die Reihen und Reihen von Büchern – welches Glück, sie lesen zu dürfen! Im Schaufenster lagen die funkelnagelneusten Werke aus London mit weitaufgeschlagenen Titelblättern und bisweilen sogar der ersten Seite des ersten Kapitels, um schlau damit das Publikum zu verlocken, sie zu lesen und dann, außer sich vor Neugierde, wie es weitergehe, in den Laden zu stürzen und das Buch zu kaufen! Die hübschen Titelkupfer und Vignetten, die wie die Wegweiser vor großen Städten Wunder auf Wunder verhießen! Werke mit gravitätischen Porträts und altehrwürdigen Namen, deren Inhalt ihm gar wohl bekannt war und um die er alle Minen der Erde gegeben haben würde, wenn er sie auf dem schmalen Bücherbrette neben seinem Bette in Pecksniffs Haus hätte aufstellen können. Es war zum Herzzerbrechen!

Dann kam wieder ein Buchladen, nicht ganz so schlimm wie der erste, aber doch immer noch verführerisch genug. Kinderbücher lagen da im Fenster. Da prangte in seiner ganzen Anziehungskraft und Größe, mit Hund und Beil, Ziegenfellmütze und Vogelflinte, der arme Robinson Crusoe und sah ruhig auf Philipp Quarl und die ganze Schar seiner Nachahmer rings umher herab und rief Mr. Pinch zum Zeugen an, daß er allein von all den Geschichtshelden hier dem Gestade der Jugenderinnerung einen unauslöschlichen Fußstapfen aufgedrückt habe, von dem der Tritt ganzer Generationen auch nicht das kleinste Sandkörnchen zu verrücken imstande sei. Da lagen auch die morgenländischen Märchen von fliegenden Kisten und Zauberlehrlingen, die Jahre und Jahre in Höhlen über magischen Büchern gesessen – die Geschichte von dem Kaufmann Abdullah mit dem schrecklichen kleinen alten Weib, das immer aus dem Koffer in seiner Schlafkammer sprang; dann der mächtige Talisman – die prächtige ›Tausend und eine Nacht‹ – mit Cassim Baba, der gevierteilt und blutig in der Räuberhöhle hing. Und so wirksam rieben alle diese Zauber an der Wunderlampe seiner Phantasie, daß, als er sein Gesicht wieder der geräuschvollen Straße zuwandte, eine geschäftige Schar von Bildern und Erscheinungen vor ihm auftauchte und er mit neuem Entzücken die glücklichen Tage seiner Kindheit, bevor er zu Pecksniffs gekommen, wieder durchlebte.

Weniger interessierten ihn jetzt die Apothekerläden mit den großen glühenden Flaschen und den kleineren Glanzrepositorien in deren Stöpseln, ihrem liebenswürdigen Gemisch von Arznei und Parfüm und ihren Eibischzeltchen und Lakritzen. Am wenigsten achtete er auf die Modegeschäfte, in denen die gewissen neuesten Londoner Westen prunkten, die immer einen so bezaubernden Eindruck machen und dann zu Hause ganz anders aussehen. Doch blieb er aufmerksam stehen, um vor dem Schauspielhaus den Theaterzettel zu lesen, und betrachtete mit ehrfurchtsvollem Schauer den Eingang, aus dem gleich darauf ein bleicher Gentleman mit langem schwarzem Haar heraustrat und einen Jungen beauftragte, in seine Wohnung zu laufen und ihm sein Schwert zu holen. Wie angewurzelt blieb Mr. Pinch stehen, als er das hörte, und wäre vielleicht bis in die Nacht hinein so stehen geblieben, hätte ihn nicht das Abendläuten der Münsterglocke veranlaßt, sich loszureißen.

Nun war der Gehilfe des Organisten glücklicherweise sein Freund und, wie er, ein sehr sanfter und ruhiger Mensch, der gleichfalls schon in der Schule ein etwas altmodisch gesetzter Knabe gewesen, obgleich ihn die wilden Kameraden deshalb nicht weniger gern gehabt hatten. Da es das Glück wollte – Tom sagte immer, er habe ungemein viel Glück –, daß genannter Gehilfe gerade an diesem Nachmittag ausschließlich den Dienst versehen mußte, so half ihm Tom die Bälge treten, und schließlich nach Beendigung des Gottesdienstes spielte er selbst. Es wurde bereits dunkel, und das gelbe Licht, das durch die alten Fenster im Chor hereinströmte, mischte sich mit einem trüben Rot. Als die gewaltigen Töne durch die Kirche brausten, war es Tom, als weckten sie ein Echo in all den alten Grüften und auch in der geheimnisvollen Tiefe seines eigenen Herzens. Hehre Gedanken und reiche Hoffnung wachten in seiner Seele auf, während die Klänge so dahinströmten, und darunter – wenn auch ernster und feierlicher – die Erinnerungen an die Bilder des heutigen Tages bis zu deren unbedeutendsten Anklängen aus den Tagen der Kindheit. Das Gefühl, das die Orgeltöne in ihm weckten, schien sein ganzes Leben zu umfassen, und je mehr die ihn umgebende Wirklichkeit von Stein, Holz und farbigem Glas in der Dunkelheit verschwand, um so heller traten diese Visionen hervor. Er würde bald den neuen Zögling und den seiner harrenden Mr. Pecksniff ganz vergessen und seinem übervollen Herzen bis um Mitternacht Luft gemacht haben, hätte nicht ein sehr irdischer alter Küster darauf bestanden, die Kirche unverzüglich zu schließen. Er nahm daher unter vielen Dankesbezeugungen Abschied von seinem Freund, tastete sich, so gut es ging, zur Pforte und eilte durch die jetzt im Laternenschein funkelnden Gassen zu seinem Abendessen. Da die Pächter sich inzwischen sämtlich bereits heimbegeben hatten, so war die sandbestreute Gaststube des Wirtshauses, wo Tom Pinch sein Pferd eingestellt hatte, leer. Er rückte einen kleinen Tisch vor den Kamin und machte sich sehr vergnügt über ein gutgebratenes Beefsteak mit dampfend heißen Kartoffeln her. Vor ihm stand auch ein Krug vortrefflichen Wiltshire-Bieres, und alles dies wirkte so herzerhebend auf ihn, daß er von Zeit zu Zeit Messer und Gabel niederlegen und sich vergnügt die Hände reiben mußte. Als der Käse mit Sellerie kam, zog Mr. Pinch ein Buch aus der Tasche und spielte nur mehr mit dem Essen, indem er abwechselnd einen Bissen nahm oder einen Schluck Bier trank, ein bißchen las und dann wohl auch ganz innehielt, um nachzudenken, zu welchem Schlag von jungen Leuten der neue Zögling wohl gehören möge. Er wollte sich eben wieder aufs neue in sein Buch vertiefen, als die Türe aufging und ein Gast eintrat und dabei so viel kalte Luft mit hereinbrachte, daß einen Augenblick fast das Feuer ausgehen zu wollen schien.

»Sehr frostig heute abend, Sir«, bemerkte der neue Ankömmling mit einer höflichen Verbeugung, als Mr. Pinch seinen kleinen Tisch ein wenig wegrückte, um ihm Platz zu machen. »Bitte, inkommodieren Sie sich meinetwegen nicht.«

Trotzdem er dies in sehr höflichem Tone sagte, zog er doch einen großen, ledergepolsterten Sessel bis mitten vor den Kamin, setzte sich gerade vor das Feuer und stemmte seine Beine gegen den Sims.

»Meine Füße sind ganz erstarrt. Ah! Es ist wahrhaftig bitter kalt draußen.«

»Sie sind wohl lange unterwegs gewesen?« fragte Mr. Pinch.

»Den ganzen Tag. Und dazu noch auf dem Außensitz der Postkutsche.«

Da nimmt's mich nicht wunder, daß er soviel Kälte hereingebracht hat, dachte Mr. Pinch. Armer Kerl! Er muß gut durchfroren sein.

Der Fremde versank jetzt gleichfalls in tiefes Nachsinnen und blieb wohl fünf bis zehn Minuten stumm vor dem Feuer sitzen. Endlich stand er auf und legte sein Halstuch und seinen Oberrock, der im Gegensatze zu dem Mr. Pinchs sehr warm und dick war, ab, blieb aber immer noch so wortkarg wie zuvor. Dann setzte er sich wieder wie vorher an seinen alten Platz, lehnte sich im Sessel zurück und fing an, an seinen Nägeln zu beißen. Er war jung, ungefähr einundzwanzig, und sehr hübsch, und in seinen scharfen dunkeln Augen und seinem Gesicht lag etwas Entschiedenes, das Tom als großen Gegensatz zu seinem eigenen Wesen fühlte und das ihn sehr schüchtern machte.

Im Zimmer hing eine Wanduhr, nach der der Fremde wiederholt hinblickte. Auch Tom tat desgleichen, teils unwillkürlich dem Beispiel seines schweigsamen Gefährten folgend, teils, weil sich der neue Zögling um halb sieben einfinden sollte und der Zeiger bereits sechs Uhr zurückgelegt hatte. Sooft Tom nach der Uhr sah und dabei dem Blick des Fremden begegnete, wurde er so verlegen, als wäre er bei etwas Unrechtem ertappt worden, so daß der junge Mann schließlich lächelnd fragte:

»Es scheint, daß wir beide auf etwas warten? Ich meinerseits bin von einem Herrn hierher bestellt.«

»Ich gleichfalls.«

»Um halb sieben.«

»Um halb sieben«, sagte Tom fast gleichzeitig. – Der junge Mann sah erstaunt auf.

»Der Herr, den ich erwarte«, bemerkte Tom schüchtern, »sollte um diese Zeit nach einer Person namens Pinch fragen.«

»Du lieber Himmel!« rief der Fremde aufspringend. »Und ich habe Sie die ganze Zeit über vom Feuer verdrängt! Ich hatte keine Ahnung, daß Sie Mr. Pinch sein könnten. Ich bin der Mr. Martin, der Sie hier treffen soll. Bitte, entschuldigen Sie vielmals. Wie geht es Ihnen? Bitte, rücken Sie doch näher ans Feuer!«

»Danke bestens«, entgegnete Tom, »danke bestens. Mir ist nicht so kalt wie Ihnen. Und dann haben wir noch eine lange Fahrt vor uns. Nun, wenn Sie durchaus wollen. – Danke! Ich – ich bin recht erfreut«, fügte er in seiner schüchtern offenherzigen Weise hinzu, »ich bin wirklich sehr erfreut, in Ihnen Mr. Martin zu sehen. Noch kaum vor einer Minute wünschte ich mir, er möge Ihnen gleichen.«

»Nun, das freut mich«, erwiderte Martin und schüttelte Mr. Pinch abermals die Hand, »ich versichre Ihnen, auch ich dachte, es könne sich gar nicht glücklicher treffen, als daß Sie Mr. Pinch wären.«

»Wahrhaftig?« rief Tom hoch erfreut. »Ist das Ihr Ernst?«

»Auf Ehre, mein voller Ernst!« erwiderte der junge Mann. »Ich weiß, Sie und ich werden vortrefflich miteinander auskommen, und das beruhigt mich nicht wenig, denn, offen gestanden, ich gehöre nicht zu den Leuten, die sich mit jedermann vertragen können, und ich hatte schon die größten Bedenken deswegen. Aber jetzt ist ja alles gut. Würden Sie wohl so freundlich sein und einmal klingeln?«

Mr. Pinch sprang auf und willfahrte mit großer Bereitwilligkeit – der Glockenzug hing gerade über Mr. Martins Kopf – der ausgesprochenen Bitte und horchte mit lächelnder Miene auf das, was sein Freund weiter zu sagen habe.

»Wenn Sie gern Punsch trinken, so erlauben Sie mir, daß ich zwei Gläser kommen lasse, so heiß wie möglich, damit wir unsre Freundschaft in gehöriger Weise einweihen können. Und, um nur die Wahrheit zu sagen, ich habe mich schon lange nicht so nach einem fröhlichen, heißen Trunk gesehnt. Nur wollte ich nicht Gefahr laufen, von Ihnen für einen Trinker gehalten zu werden, ehe ich wußte, was für ein Mensch Sie sind. Sie wissen, der erste Eindruck prägt sich oft tief ein.«

Mr. Pinch fand das sehr richtig, und der Punsch wurde bestellt. Nachdem beide von dem dampfenden Gemische getrunken hatten, wurden sie bald sehr vertraut.

»Wissen Sie, ich bin so eine Art Verwandter von Pecksniffs«, sagte der junge Mann.

»Wirklich?«

»Ja. Mein Großvater ist ein Vetter von ihm. Ich bin demnach irgendwie verwandt mit ihm. In welchem Grad, können Sie vielleicht besser herausrechnen. Ich war's bisher noch nicht imstande.«

»Martin ist also Ihr Taufname?« fragte Mr. Pinch gedankenvoll. »Oh!«

»Allerdings. Ich wollte, es wäre mein Familienname. Jedenfalls wäre er hübscher, kürzer und bequemer zu unterschreiben als Chuzzlewit.« »Du mein Himmel!« rief Mr. Pinch und fuhr unwillkürlich zusammen.

»Sie wundern sich doch nicht, daß ich zwei Namen habe?« lachte Martin und setzte sein Glas an die Lippen. »Die meisten Leute haben zwei.«

»O nein«, sagte Mr. Pinch, »durchaus nicht. O mein Gott, nein! Warum sollte ich auch!«

In Wirklichkeit erinnerte er sich, daß ihm Mr. Pecksniff ausdrücklich geboten hatte, nichts von dem alten Herrn gleichen Namens, der im »Drachen« gewohnt hatte, zu erwähnen, da er selbst mit dem neuen Zögling darüber reden wolle. Um daher seine Verwirrung besser zu verbergen, führte auch er sein Glas zum Munde. Ein paar Sekunden sahen sich die beiden durch ihre Punschgläser an und setzten sie dann leer nieder.

»Ich habe bereits vor zehn Minuten im Stall den Auftrag gegeben, man möge das Fuhrwerk parat halten«, begann Mr. Pinch nach einer Pause und sah wieder auf die Uhr. »Wollen wir aufbrechen?«

»Ganz nach Belieben.«

»Kutschieren Sie gern?« fragte Mr. Pinch, und sein Gesicht strahlte vor Vergnügen, seinem neuen Freund eine Freude zu machen. »Wenn Sie wünschen, trete ich Ihnen die Zügel ab.«

»Das kommt ganz auf das Pferd an«, meinte Martin lachend. »Ist's ein schlechter Gaul, so halte ich mir lieber die Hände in meinen Überrocktaschen warm.«

Er schien das für einen brillanten Witz zu halten, wenigstens nach seinem lauten Lachen zu schließen, in das Mr. Pinch selbstverständlich herzlich mit einstimmte. Dann wurde gezahlt, und die beiden jungen Leute hüllten sich, so gut es eben jedem je nach seinem Mantel möglich war, warm ein und begaben sich miteinander nach der Haustüre, vor der bereits Mr. Pecksniffs Equipage wartete.

»Ich mag nicht kutschieren – ich danke Ihnen, Mr. Pinch«, sagte Martin und stieg ein. »Übrigens, ich habe da noch einen Koffer. Läßt er sich allenfalls unterbringen?«

»O gewiß«, entgegnete Tom. »Nur irgendwo hinein damit, Dick!« Der Koffer war gerade nicht so klein, daß man ihn hätte in den ersten besten Winkel schieben können, aber Dick, der Stallknecht, fand schließlich doch einen Platz für ihn, und Mr. Chuzzlewit half dabei. Das Gepäck nahm nun fast den ganzen Platz Mr. Pinchs ein, und Mr. Chuzzlewit sagte, er fürchte, es werde seinen Freund sehr genieren, aber Mr. Pinch versicherte, das sei durchaus nicht der Fall, trotzdem er in Wirklichkeit so unbequem sitzen mußte, daß er kaum mehr als seine Knie sehen konnte.

Kein Wind, sagt man, kann so schlimm sein, daß er einem nicht wenigstens etwas Gutes zubliese, und dieses Sprichwort bewahrheitete sich auch in diesem Fall, denn die Kälte wehte von Mr. Pinchs Seite her, so daß Mr. Martin durch ihn und überdies noch von dem Koffer gedeckt, warm wie in einer Stube saß, was ein großer Trost für beide Teile war.

Silbern lag die bereifte Landschaft im Mondlicht da. Anfangs stimmte die tiefe feierliche Stille der Nacht die beiden zum Schweigen, aber bald taten der genossene Punsch und die gesunde frische Luft ihre Wirkung, und sie plauderten ohne Unterlaß. Als sie die Hälfte des Weges zurückgelegt hatten und haltmachten, um das Pferd tränken zu lassen, bestellte Martin, der sehr freigebig mit seinem Gelde umging, ein weiteres Glas Punsch, das sie gemeinschaftlich austranken, was sie keineswegs schweigsamer machte. In der Hauptsache drehte sich ihre Unterhaltung natürlich um Mr. Pecksniff und seine Familie, von denen Tom Pinch mit Tränen in den Augen ein Bild entwarf, das jeden auch nur halbwegs gefühlvollen Menschen rein zur Anbetung zwingen mußte. Mr. Pecksniff konnte so etwas natürlich nicht im mindesten voraussehen oder auch nur entfernt ahnen, sonst würde er schon um seiner Bescheidenheit willen niemals Tom Pinch ausgeschickt haben, um den neuen Schüler abzuholen.

So fuhren sie weiter, »immer weiter und weiter« – wie es in den Ritterromanen heißt –, bis endlich die Lichter des Dorfes vor ihnen auftauchten, hinter denen der Kirchturm einen langen Schatten wie den Zeiger auf der Uhr des Lebens auf das Gras des Friedhofes warf.

»Eine hübsche Kirche!« sagte Martin, während sein Begleiter den langsamen Schritt seines Pferdes noch langsamer werden ließ, je näher sie dem Dorfe kamen. »Nicht wahr!?« rief Tom mit großem Stolz. »Es ist auch die lieblichste kleine Orgel darin, die Sie gehört haben. Ich spiele sie Sonntag.«

»Wirklich?« versetzte Martin. »Man sollte glauben, daß sich das kaum lohnt. Was bekommen Sie denn dafür?«

»Nichts.«

»Nun, da muß ich gestehen«, meinte Martin, »daß Sie wirklich ein recht seltsamer Kauz sind!«

– Beide schwiegen eine Weile. –

»Wenn ich sage ›nichts‹«, fing Mr. Pinch heiter wieder an, »so drücke ich mich eigentlich falsch aus, denn ich finde sehr viel Vergnügen daran und verbringe damit so manche glückliche Stunde. Auch führte es kürzlich zu einem sehr angenehmen Erlebnis. – – – Aber ich kann mir denken, daß Sie das wohl nicht weiter interessieren wird.«

»O doch, doch! Was war es denn?«

»Es gab mir Gelegenheit«, sagte Tom in leiser Stimme, »eines der lieblichsten und schönsten Gesichter zu sehen; so schön, daß Sie es sich gar nicht vorstellen können.«

»Wer weiß, ob ich mir nicht ein ebenso schönes vergegenwärtigen kann«, fiel Martin gedankenvoll ein.

»Sie kam«, fuhr Tom fort und legte die Hand auf den Arm seines neuen Freundes, »eines Morgens früh, als es kaum hell war, und wie ich über die Schulter blickte, stand sie gerade im Portal. Es überlief mich ganz kalt dabei. Ich dachte fast, es sei ein Geist. Ich faßte mich aber sofort und brauchte daher – glücklicherweise – nicht in meinem Spiele aufzuhören.«

»Warum glücklicherweise?«

»Warum? Weil sie stehen blieb und lauschte. Ich hatte meine Brille auf und sah sie durch den Schlitz in dem Vorhang so deutlich, wie ich Sie jetzt sehe. Wie schön sie war! – – Nach einer Weile entfernte sie sich leise, und ich fuhr fort zu spielen, bis sie außer Hörweite war.«

»Warum das?«

»Begreifen Sie denn nicht?« antwortete Tom. »Damit sie im Glauben, ich hätte sie nicht gesehen, ein andermal wiederkäme.«

»Und tat sie das?« »Allerdings. – Schon am andern Morgen; und auch abends; aber stets nur, wenn sonst niemand in der Kirche war und sie allein sein konnte. Ich stand von da an immer noch früher auf und blieb länger sitzen, damit sie, wenn sie käme, die Kirchtüre offen finde und die Orgel bereits spielen hören könne. So ging es einige Tage, und stets blieb sie eine Zeitlang, um zuzuhören. Aber jetzt ist sie fort, und von allen unwahrscheinlichen Dingen in dieser Welt ist es vielleicht das Allerunwahrscheinlichste, daß ich je ihr Antlitz wiedersehen werde.«

»Und Sie wissen nichts weiter von ihr?«

»Nein.«

»Und sind ihr nicht nachgegangen, als sie die Kirche verließ?«

»Warum hätte ich sie dadurch in Verlegenheit setzen sollen?!« sagte Tom Pinch schlicht. »Ich konnte doch nicht annehmen, daß ihr meine Gesellschaft auch passe! Sie kam, um die Orgel zu hören, nicht um mich zu sehen. Hätte ich sie da von dem Orte verscheuchen sollen, den sie so liebgewonnen zu haben schien? Nein, Gott segne sie!« rief er. »Wenn ich ihr jeden Tag nur eine frohe Minute verschaffen könnte, so wollte ich gerne Jahre und Jahre die Orgel spielen, bis ich ein alter Mann bin. Ich wäre zufrieden, wenn sie bei der Musik zuweilen auch nur ein klein wenig an einen armen Kerl wie mich dächte. Ja, für königlich würde ich mich belohnt halten, wenn sie mich nur ein einziges Mal in Gedanken mit dem Orgelspiel, das ihr so teuer ist, in Verbindung brächte!«

Der neue Schüler war augenscheinlich sehr verwundert über Mr. Pinchs Einfalt und hätte es ihm wahrscheinlich auch gesagt und ihm manchen guten Rat gegeben, wenn sie nicht in diesem Augenblick an Mr. Pecksniffs Haustüre angekommen wären. Der vordern diesmal, denn es war eine festliche Gelegenheit! Nachdem Tom dem Knecht das Pferd übergeben und Mr. Chuzzlewit beschworen hatte, keiner Seele auch nur eine Silbe von dem, was er ihm soeben in der Überfülle seines Herzens anvertraut, zu verraten, führte er Martin ins Haus, um ihn unverzüglich vorzustellen.

Mr. Pecksniff hatte sie augenscheinlich nicht so früh erwartet, denn er saß unter lauter aufgeschlagenen Büchern und durchblätterte mit einem Bleistift im Munde und einem Zirkel in der Hand Band um Band. Auch Miss Charitas war mitten in der Arbeit überrascht worden, denn sie hatte einen gewaltigen Weidenkorb vor sich und beschäftigte sich damit, überflüssigerweise Nachtmützen – für die Armen zu verfertigen. Ebenso unverhofft schien die plötzliche Ankunft Miss Gratia zu kommen, die auf ihrem Schemel saß und – ach, wie entzückend! – einer großen Puppe, die sie für ein Nachbarkind kleidete, ein Unterröckchen nähte. Und, was sie noch verlegener machte: die Puppe war eine Puppe in Lebensgröße, und das Puppenhäubchen hatte sie auf ihren eigenen schönen Locken befestigt – damit es nicht verlorengehe oder sich jemand darauf setze. Kurz, es würde schwer, wo nicht unmöglich sein, sich auch nur annähernd eine Vorstellung von der Verwirrung und Überraschung zu machen, in der die Pecksniffs sich befanden.

»Welche Überraschung!« rief Mr. Pecksniff, blickte auf und gab seiner gedankenvollen Miene allmählich den Ausdruck freudigen Wiedererkennens. »Schon hier!? Martin, mein lieber Junge, ich bin ganz entzückt, Sie in meinem Hause willkommen zu heißen!«

Mit dieser freundlichen Begrüßung zog Mr. Pecksniff den jungen Mann in seine Arme und klopfte ihm dabei stumm und liebevoll auf den Rücken, um damit auszudrücken, seine Gefühle seien viel zu überwältigend, als daß er sie in Worten kundgeben könnte.

»Und hier«, sagte er, seine Rührung niederkämpfend, »hier sind meine Töchter, Martin – meine zwei einzigen Kinder, die Sie wohl – oh, dieser traurige Familienzwist! – seit Ihrer Kindheit nicht mehr gesehen haben. Wenn Sie sie damals überhaupt kannten. Aber, meine Lieben, warum errötet ihr? Wohl, weil ihr bei eurer alltäglichen Beschäftigung ertappt worden seid? Wir wollten Sie eigentlich in unserm kleinen Staatszimmer empfangen, Martin«, schloß er lächelnd, »aber es ist traulicher so. – Nicht?«

O gesegneter Stern der Unschuld, wo du auch sein magst, wie mußtest du erglänzen in deiner ätherischen Heimat, als die beiden Misses Pecksniff errötend ihre Lilienhände Martin hinstreckten! Wie mußtest du funkeln vor Freude, als sich Gratia des Häubchens in ihrem Haar erinnerte, ihr schönes Antlitz mit den Händen bedeckte und das Köpfchen abwandte, während die sanfte Schwester ihr die Haube abnahm und sie in mildem, schwesterlichem Tadel damit auf den drallen Nacken schlug.

»Und wie«, fragte Mr. Pecksniff, wandte sich nach wohlgefälliger Betrachtung dieser entzückenden kleinen Zwischenszene um und faßte Mr. Pinch jovial am Arm, »wie sind Sie mit unserm Freunde hier zufrieden, Martin?«

»Oh, außerordentlich, Sir. Ich versichere Ihnen, wir vertragen uns großartig.«

»Stets der alte Tom Pinch«, säuselte Mr. Pecksniff mit wehmütiger Zärtlichkeit. »Ach, ist es mir doch wie gestern, daß Thomas noch ein Knabe war, frisch von der Schule weg. Und doch sind, glaube ich, Jahre hingeschwunden, seit Tom Pinch bei mir eintrat.«

Mr. Pinch konnte vor Rührung nicht sprechen, drückte seinem Meister nur bewegt die Hand und stammelte ein paar Worte des Dankes.

»Und Thomas Pinch und ich«, fuhr Mr. Pecksniff mit tieferer Stimme fort, »gedenken noch weiter beieinander auszuharren in Treue und Freundschaft! Und wenn einer von uns in einer jener lärmvollen Kreuz- und Quergassen des Lebens überfahren werden sollte, so wird der andere ihn nach dem Spital begleiten in Hoffnung und an seinem Bette sitzen in Liebe.«

»Schon gut, schon gut!« tröstete er den tief ergriffenen Mr. Pinch und schüttelte ihn väterlich am Arm. »Nichts mehr davon! – – Martin, mein lieber Freund, damit Sie sich gleich heimisch fühlen in diesen Mauern, will ich Ihnen zeigen, wie wir wohnen und leben. Kommen Sie!«

Dabei ergriff er eine brennende Kerze und schickte sich an, in Begleitung seines jungen Gastes das Zimmer zu verlassen. An der Türe machte er halt.

»Sie werden uns doch Gesellschaft leisten, Tom Pinch?«

– Ach, und wie gern! Und wenn es in den Tod gegangen wäre, hätte Tom ihn begleitet und mit Freuden sein Leben für ihn hingegeben. –

»Dies«, erklärte Mr. Pecksniff und öffnete eine Stubentüre, »ist das kleine Staatszimmer, das ich bereits vorhin erwähnte. Der Stolz meiner Mädchen, Martin. – Und dies«, er öffnete eine andere Türe, »ist das kleine Gemach, in dem ich meine Werke – im besten Falle unbedeutende Dinge – geschaffen habe. Hier mein Porträt von Spiller. Die Büste hier ist von Spoker. Man sagt, sie sei sehr ähnlich. Ich glaube selbst um den linken Mundwinkel herum eine gewisse Ähnlichkeit herauszufinden.«

Martin murmelte, sie sei sprechend ähnlich, nur nicht durchgeistigt genug, und Mr. Pecksniff bemerkte, denselben Fehler hätten auch Kenner daran bemängelt. Es sei merkwürdig, daß es auch seinem jungen Verwandten sogleich aufgefallen sei, und er freue sich zu sehen, daß Martin soviel Verständnis für Kunst besitze.

»Sie sehen hier allerhand Bücher«, erklärte er mit einer Handbewegung gegen die Wand, »die in unser Fach einschlagen. Ich habe mich selbst ein wenig in der Schriftstellerei versucht, aber noch nichts herausgegeben. – Achtung, hier ist eine Stufe! – – Und das«, er öffnete wieder eine Türe, »ist mein Schlafgemach. Hier lese ich noch, wenn meine Kinder glauben, ich sei bereits zu Bett gegangen. Es ist wohl meiner Gesundheit nicht sehr zuträglich, aber kurz ist das Leben, ewig ist die Kunst. – – – Sie sehen, ein Griff, und ich kann sofort eine Idee, die mir durch den Kopf schießt, zu Papier bringen.«

Zur näheren Erklärung deutete Mr. Pecksniff auf einen kleinen runden Tisch, auf dem eine Lampe, mehrere Bogen Papier, ein Radiergummi und ein Reißzeug bereit lagen.

Dann öffnete er abermals eine Türe in demselben Stockwerk, schloß sie aber hastig wieder wie eine Blaubartkammer. Ehe er sie jedoch ganz zugemacht hatte, blickte er sich lächelnd um und sagte:

»Warum nicht?«

Martin konnte diese Frage mit dem besten Willen nicht beantworten, da er sich durchaus nicht denken konnte, was sein Lehrer meine. Mr. Pecksniff beantwortete sie daher selbst, indem er die Türe wieder öffnete und sprach:

»Das Zimmer meiner Töchter. Für uns ist es ein einfaches Stübchen, aber für sie ein kleines süßes Nestchen. Reinlich, nett und luftig. Blumen, wie Sie bemerken. Hyazinthen. Und Bücher. Und Vögel.« – Die »Voliere« bestand jedoch nur aus einem einzigen alten Spatzen ohne Schwanz, der eigens zur heutigen Parade aus der Küche ausgeborgt worden war. »Kleinigkeiten – Spielereien –, wie es eben Mädchen lieben. Nichts weiter. Wer Freude an kalter Pracht hat, sucht hier vergebens.«

Sodann führte Mr. Pecksniff seinen Gast in den ersten Stock hinauf.

»Dies hier«, sagte er und schloß das Vorderzimmer auf, »ist der Raum, in dem sich, kann ich sagen, schon so manches Talent entwickelt hat. Hier war es, wo mir die Idee zu einem Kirchturm kam, den ich vielleicht eines Tages der Welt noch geben werde. Hier arbeiten wir, mein lieber Martin. Mancher Baumeister ist hier schon herangebildet worden: – was meinen Sie, Mr. Pinch?«

Tom pflichtete vollkommen bei; ja noch mehr, er glaubte es sogar.

»Sehen Sie hier« – Mr. Pecksniff leuchtete mit der Kerze hastig von einer Papierrolle zur andern – »einige Spuren unserer Tätigkeit. Die Kathedrale von Salisbury von Norden. Von Süden. Von Osten. Von Westen. Von Südosten. Von Nordwesten. – Eine Brücke. – Ein Armenhaus. – Ein Gefängnis. – Eine Kirche. – Ein Pulvermagazin. – Ein Weinkeller. – Ein Portikus. – Ein Sommerhaus. – Ein Eiskeller. – Grundrisse, Aufrisse, Durchschnitte aller Art. Und dies«, fügte er hinzu, als sie schließlich in eine Art Saal mit vier kleinen Betten darin gelangten, »dies ist Ihr Schlafzimmer, in dem Sie an Mr. Pinch einen ruhigen Mitbewohner haben. Mittagslage. Eine herrliche Aussicht. Hier Mr. Pinchs kleine Bibliothek, wie Sie sehen. Alles angenehm und zweckmäßig. Wenn Sie, wann immer, noch irgendwelchen weiteren Komfort wünschen, so bitte ich, es mich wissen zu lassen. Sogar Fremde brauchen in dieser Hinsicht bei uns sich nicht zu genieren, geschweige denn Sie, mein lieber Martin.«

Das war die pure Wahrheit, zu Mr. Pecksniffs Ehre sei es gesagt. Bis jetzt hatte jeder Zögling die unumschränkteste Freiheit genossen, was ihm in dieser Beziehung einfallen mochte, den Hausherrn »wissen zu lassen«. Einige hatten davon sogar fünf Jahre lang Tag für Tag Gebrauch gemacht, ohne daß es irgendwelche Folgen gehabt hätte. »Die Dienerschaft«, erklärte Mr. Pecksniff, »schläft oben. – So. Damit wären wir fertig.«

Wohlgefällig nahm er die Lobsprüche entgegen, die ihm sein junger Freund hinsichtlich der trefflichen Einrichtungen rückhaltslos spendete, und dann begaben sie sich wieder in das Wohnzimmer hinunter.

Hier hatte inzwischen eine große Veränderung stattgefunden, denn die festlichen Vorbereitungen waren in ziemlich ausgedehntem Maßstab beendet, und die beiden Misses Pecksniff harrten mit gastfreundlichen Mienen. Zwei Flaschen Johannisbeerwein – eine weiß und eine rot – standen auf dem Tisch, dann eine Platte mit Sandwiches – alle sehr lang und dünn geschnitten –, eine weitere mit Äpfeln, eine dritte mit Kapitänszwieback – bekanntlich eine gaumenanfeuchtende und liebliche Speise –, ein Teller mit klein und grieselig geschnittenen Orangen, tüchtig mit Zucker gepudert, und ein hausbackener Kuchen, der wie eine geologische Hautreliefkarte aussah. Mit einem Wort, die Opulenz dieser Vorbereitungen benahm Tom Pinch fast den Atem.

Leutselig wie immer ersuchte Pecksniff die Gesellschaft, diesen kulinarischen Genüssen, die, abgesehen von ihrer Reichlichkeit, noch die liebenswürdige Zugabe hatten, im schönsten Einklang mit der Nacht draußen zu stehen – denn auch sie waren kalt –, nach Herzenslust zuzusprechen.

»Martin«, sagte er, »wird sich zwischen euch beide setzen, meine Kinder, während Mr. Pinch an meiner Seite Platz nimmt. Und jetzt wollen wir auf das Wohl unseres neuen Hausgenossen trinken. Mögen wir stets unter- und miteinander zufrieden sein! – Also, Martin, mein lieber Freund, Ihre Gesundheit! Mr. Pinch, wenn Sie die Flasche schonen, bekommen Sie's mit mir zu tun.«

Mr. Pecksniff trank und machte – aus Achtung für die Gefühle der Anwesenden – ein Gesicht, als ob der Wein durchaus nicht sauer wäre und ihm die Tränen in die Augen triebe. –

»Dies«, fuhr er – in bezug auf die Gesellschaft und nicht auf den Wein – fort, »ist etwas, was einen für so manchen Verdruß und so manche herbe Enttäuschung entschädigen kann. – Laßt uns guter Dinge sein.« – Hier nahm er ein Stück von dem Kapitänszwieback. »Ein armselig Herz, das niemals Freude empfindet! Und unsre Herzen sind wahrhaftig nicht armselig! Nein!«

Mit solchen Aufforderungen zur Heiterkeit würzte er die Unterhaltung, während Mr. Pinch, vielleicht um sich zu überzeugen, daß alles, was er sah und hörte, greifbare Wirklichkeit und kein Traumgebilde sei, von allem aß und namentlich den dünnen Sandwiches in überraschender Weise zusprach. Auch handhabte er emsig sein Glas und machte, eingedenk der liebenswürdigen Aufforderung Mr. Pecksniffs, so nachdrückliche Angriffe auf die Flasche, daß, sooft er sich von neuem einschenkte, Miss Charitas einen starren, gläsernen Blick, wie wenn sie ein Gespenst sähe, nicht unterdrücken konnte. Auch Mr. Pecksniff wurde in solchen Momenten nachdenklich, um nicht zu sagen niedergeschlagen; aber da er das Gewächs kannte, machte ihn wahrscheinlich der Gedanke an den morgigen voraussichtlichen Zustand Mr. Pinchs besorgt.

Martin und die jungen Damen waren bald die besten Freunde geworden und tauschten zur gegenseitigen Erheiterung Erinnerungen aus ihren Kinderjahren aus. Miss Gratia lachte unbändig über alles, was gesprochen wurde, und gar, wenn sie Mr. Pinchs glückstrahlendes Gesicht ansah, kamen solche Anfälle von Lustigkeit über sie, daß sie fast hysterische Krämpfe bekam. Ihre verständigere Schwester verwies ihr das jedesmal und flüsterte ihr ärgerlich zu, die Sache sei durchaus nicht zum Lachen und sie könne den Kerl nicht ausstehen. Schließlich brach aber auch sie in ein Lächeln aus – freilich mit mehr Mäßigung und mit dem Bedeuten, das ginge wirklich schon über den Spaß.

Endlich wurde es hohe Zeit, an jene Vorschrift des alten Philosophen zu denken, die man beobachten muß, um sich Gesundheit, Reichtum und Weisheit zu erhalten, und deren Untrüglichkeit seit Menschenaltern durch die ungeheuren Schätze an Gold bewahrheitet wird, die ohne Unterlaß Kaminkehrer und andere Leute, die um die frühe Morgenstunde auf sind und beizeiten zu Bett gehen, aufhäufen. Die jungen Damen erhoben sich, nahmen von Mr. Chuzzlewit mit großer Süßigkeit, von ihrem Vater mit kindlicher Hochachtung und von Mr. Pinch mit gebührender Herablassung Abschied und verfügten sich in ihr »Nestchen«. Mr. Pecksniff bestand darauf, seinen jungen Freund die Treppe hinauf zu begleiten, um sich persönlich zu überzeugen, daß es ihm an keiner Bequemlichkeit fehle, nahm ihn beim Arm und führte ihn noch einmal in das Schlafgemach mit den vier Betten, während Mr. Pinch mit dem Licht in der Hand folgte.

»Mr. Pinch«, sagte Pecksniff und setzte sich mit verschränkten Armen auf eines der Gastbetten, »ich vermisse die Lichtputzschere dort auf jenem Leuchter. Wollen Sie die Güte haben, hinunterzugehen und eine heraufholen?«

Mr. Pinch, überglücklich, sich nützlich machen zu können, eilte unverzüglich in die Küche.

»Sie müssen entschuldigen, Martin, Tom Pinch hat keine Lebensart«, sagte Mr. Pecksniff mit gönnerhaftem Lächeln, als Tom draußen war. »Aber er meint's gut.«

»Er ist ein sehr guter Mensch, Sir.«

»O ja«, gab Mr. Pecksniff zu. »Ja, Thomas Pinch meint's gut. Er ist dankbar. Ich habe noch nie bereut, zu Thomas Pinch freundlich gewesen zu sein.«

»Ich denke, Sie werden es auch künftighin nie zu bereuen haben, Sir.«

»Nein«, entgegnete Pecksniff. »Nein. Hoffentlich nicht. Armer Bursche! Er bemüht sich nach Kräften –, aber er hat kein Talent. Sie sollten ihn sich nützlich zu machen suchen, Martin. Wenn Thomas einen Fehler hat, so ist es der, daß er bisweilen seine Stellung ein bißchen vergißt. Doch da ist ja leicht wieder ein Zügel angelegt. Eine gute Seele. Sie werden sehen, er ist leicht lenkbar. Gute Nacht!«

»Gute Nacht, Sir.«

– Inzwischen war Mr. Pinch mit der Lichtschere wieder zurückgekehrt. –

»Und auch Ihnen gute Nacht, Pinch«, sagte Pecksniff. »Schlafen Sie wohl, alle beide. – Und Gott behüte euch!«

Diesen Segenswunsch mit großer Inbrunst auf die Häupter seiner jungen Freunde herabrufend, begab sich Mr. Pecksniff in sein eigenes Schlafgemach, während diese, müde von der langen Reise, bald fest einschliefen.

Wenn Martin überhaupt träumte, so werden wir den Schlüssel zum Inhalt seiner Visionen in den folgenden Kapiteln dieser Geschichte finden. Thomas Pinch träumte jedenfalls von lauter Festen, von Kirchenmusik und seraphischen Pecksniffs.

Es dauerte hingegen eine ziemliche Weile, ehe Mr. Pecksniff sein Lager aufsuchte. Volle zwei Stunden blieb er noch vor dem Kamin seines Schlafzimmers sitzen und starrte, tief in Gedanken versunken, in die Kohlen. Aber endlich schlief auch er ein, um zu träumen. So schließt in den ruhigen Stunden der Nacht ein Haus nicht weniger unzusammenhängende und wirre Ideen ein als das Gehirn eines Wahnsinnigen.


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