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Ein Weihnachtsmärchen

Es war Christnacht. Die Luft war bitter kalt, und der Mond stand wie eine große silberne Lampe am Himmel und leuchtete auf die Erde herunter, die sich in ihren dicken, weichen weißen Winterpelz eingehüllt hatte.

In dem kleinen Dorfe schliefen alle gesunden Leute fest und tief und freuten sich noch im Traum, daß der nächste Tag ein Feiertag war.

Es war so still und feierlich ringsumher, wie es nur in der heiligen Christnacht ist, wo der Friedensengel zur Erde kommt und den Menschen neue Hoffnung und neue Liebe in die Herzen legt.

Nur die armen kranken Leute schliefen nicht. Aber sie waren heute nicht so traurig wie zu andrer Zeit, denn es war der helle Schein der Christnacht um sie her, und das machte sie so ruhig und friedlich, daß sie ihre Schmerzen nicht mehr deutlich fühlten. –

In einem der kleinsten Dorfhäuschen schliefen zwei Kinder und träumten von all den schönen Dingen und guten Sachen, die sie sich wünschten. Von warmen Kleidern und neuen starken Schuhen, von bunten Bällen und Tieren und Puppen. Sie konnten nur davon träumen, denn sie waren sehr arm, und dazu war die gute Mutter krank und konnte nicht auf Arbeit gehen und der Vater war tot. So hatten sie dieses Mal einen traurigen Weihnachtsabend gehabt. In der Ecke stand ein kleines, ganz kleines Christbäumchen, das eine gute Nachbarin ihnen gebracht hatte, aber sonst war das Zimmer leer und kalt. Aber im Traum bekamen sie alles, was sie sich je gewünscht hatten. Und so schliefen sie fest und waren glücklich.

Nebenan im kleinen Stübchen lag die kranke Mutter. Sie hustete, und ihr Kopf und ihre Hände waren heiß, und sie konnte nicht schlafen. Aber obgleich sie sehr traurig war, daß sie ihren beiden Kindern kein fröhliches Fest hatte machen können, war es doch heute seltsam still und glücklich in ihrem Herzen; von draußen kam der helle Schein der Christnacht in das Zimmer herein, und sie hörte eine leise frohe Stimme, die sie sanft tröstete. »Siehe, es ist Christnacht,« sagte diese Stimme, »da geschehen große und gute Dinge auf Erden!«

Draußen im kleinen Gärtchen vor dem Häuschen der armen Witwe leuchtete der Schnee wie lauteres Silber, und das ärmliche Häuschen wurde ordentlich schön in diesem Glanz. In einer Ecke des Gartens stand ein großer dicker Schneemann. Unförmlich war sein Kopf und seine ganze Gestalt, denn die beiden Kinder hatten ihn mit kalten blauen Händen aufgebaut, um doch ein wenig Vergnügen zu haben. Ein paar kleine schwarze Augen, die ihm die Kinder mit zwei alten Knöpfen eingebohrt hatten, lachten in seinem Gesicht, auf dem Kopfe saß ihm schief eine alte Kappe, und die Arme hingen ihm plump und schwer an den Seiten herunter. Er sah sehr komisch aus, und die beiden Kinder hatten fröhlich gelacht, als der Schneemann fertig war.

Jetzt im Mondlicht lachte auch der Schneemann. Er sah ganz lebendig aus und schaute gerad' nach dem Fenster hin, hinter dem die Kinder schliefen.

Da schlug es Mitternacht von der Dorfkirche. Langsam kamen die feinen Töne durch die Stille der Nacht hergeweht.

Eins – zwei – drei –

Da, als der zwölfte Schlag verklungen war, stieg plötzlich der Schneemann von dem Hügel herunter, auf den die Kinder ihn hingestellt hatten.

Er humpelte sehr ungeschickt daher, denn er hatte nur ein paar Beinstumpen, für die Füße hatten die Kinder keine Zeit mehr gehabt.

Jetzt lachte er über das ganze runde weiße Gesicht und sprach laut zu sich selbst. »Die armen Dinger da drin sollen auch eine Freude haben,« sagte er, und dabei bückte er sich und nahm mit seinen großen plumpen Händen von dem reinen Schnee, der wie Silber im Monde leuchtete, und formte viele kleine Bälle daraus. Von diesen nahm er dann einen und warf ihn gegen das Fenster, hinter dem die beiden Kinder schliefen.

»Was war denn das?« sagte Heinz zu seiner Schwester und fuhr mit beiden Beinen aus dem Bett heraus.

Da kam wieder ein Schneeball an das Fenster geflogen.

»Oh, oh,« flüsterte ängstlich Liese, «ich fürchte mich!« Und sie steckte ihr Köpfchen tief unter die Decke.

Aber Heinz war tapfer und ging an das Fenster und schaute in die helle Christnacht hinaus.

Da stand der Schneemann und lachte ihn mit seinen schwarzen Augen an und sagte: »Mach' auf, ich will euch etwas Schönes sagen!«

»Ach, du bist es,« sagte Heinz und öffnete das Fenster, »du bist lebendig geworden und kannst sprechen?«

»Ja, ja,« antwortete der Schneemann, »in der Christnacht darf alles einmal leben, was sonst tot und stumm bleiben muß. Und diese kurzen Stunden meines Lebens will ich benutzen, euch eine Freude zu machen, denn ihr habt mich geschaffen, und dafür will ich euch danken, denn es ist so schön, zu leben.«

»Aber komm doch herein,« sagte Heinz, »es ist ja kalt hier drinnen, aber draußen ist es doch noch viel kälter.«

»Wird gleich warm sein dadrinnen,« entgegnete der Schneemann und warf einen Schneeball an den kleinen Ofen, und im Nu prasselte ein helles Feuer darinnen auf.

»Ach wie schön!« sagte nun die kleine Liese und dehnte sich behaglich in ihrem Bette.

»Aber heraus, heraus ihr Kinder!« rief der Schneemann. »Ich will euch etwas Wundervolles zeigen, aber da müßt ihr mit mir in den Wald hinaus, da gibt es in der Christnacht Wunder über Wunder.«

»Komm, mach' schnell!« sagte Heinz zur Liese.

»Ach, es ist so kalt draußen, und ich habe nichts Warmes anzuziehen und dann ist es auch so dunkel im Wald, da fürchte ich mich,« sagte Liese.

»Na, für die Kälte hilft das,« rief der Schneemann und warf ihr einen Schneeball an den Kopf, und flugs hatte sie eine warme Kappe, einen weichen Mantel und dicke warme Handschuhe an. »Und was die Dunkelheit im Walde betrifft – na, du wirst ja selbst sehen, wie es damit ist; aber wenn du nicht willst, dann geht der Heinz allein mit und sieht die Weihnachtswunder im Walde.«

»Nein, nein,« rief Liese, »ich komme schon.«

»Aber können wir denn die Mutter so allein lassen?« fragte Heinz und lauschte an Mutters Tür. »Ich glaube, sie schläft wieder schlecht, sie stöhnt so laut.«

»Leg' ihr diesen Schneeball in die Hand, da wird sie ruhig schlafen und wundervolle Träume haben, bis wir zurück sind. Und hier – eins, zwei, drei, vier – nehmt diese Bälle und hebt sie gut auf, dann werdet ihr morgen viel Schönes finden. Und nun kommt schnell! Wenn der Hahn kräht, müssen wir wieder zu Hause sein.«

So gingen sie denn zu dreien durch das stille Dorf, in dem alle Leute schliefen.

»Horcht!« sagte der Schneemann und führte die Kinder dicht an den Ställen der Tiere vorüber. Da hörte man ganz deutlich, wie die Pferde und Kühe und Katzen miteinander sprachen, und man verstand sie ganz gut.

»Ja,« sagte der Schneemann, »das ist auch eins der Wunder der Christnacht. Einmal im Jahr dürfen auch die Tiere reden, damit sie alles aus ihren Herzen heraus sprechen können, was sie so lange still und stumm erduldet haben. Und manchem Menschen wäre es gut, er könnte es hören, was die Tiere sich in dieser Nacht erzählen, er würde dann wohl nicht mehr so hartherzig gegen sie sein, denn da sie immer so stumm und still sind und sich alles gefallen lassen müssen, glaubt er oft, sie fühlten Leid und Schmerzen weniger als er selbst.«

»Wau, wau!« bellte der Hofhund aus seiner Hütte heraus. »Wohin geht ihr denn so spät in der Nacht?«

»In den Wald zur Christnacht,« sagte der Schneemann. »Willst du mit? Auch für dich ist da Schönes zu erleben.«

»Ich bin an der Kette – an der Kette.«

»Mach' dich los, mach' dich los!« rief der Schneemann. Und da fiel die Kette klirrend ab, und der Hund sprang vergnügt zu ihnen her.

»Wie das gut tut, bei euch zu sein!« sagte er. »Nur einmal im Jahr sprechen zu können und dann an der Kette liegen und zu niemand hingehen können – das ist hart.«

Und so wanderten sie nun zu vieren die schneeweiße Dorfstraße entlang zum Walde hin. Es ging etwas langsam, weil der Schneemann keine ordentlichen Füße hatte. »Hättet ihr mich nur etwas besser gemacht!« sagte er seufzend.

»Ja, wenn wir das gewußt hätten,« sagte Heinz.

»Man muß alles ordentlich machen, was man tut,« brummte der weiße Mann.

Aber endlich kamen sie doch zum Walde.

»Oh, wie ist das schön!« sagte Liese leise, und Heinz faltete die Hände vor lauter Erstaunen.

Das war aber auch eine Pracht!

Der große dunkle Wald war heute hell und strahlend. Oben leuchtete der Mond mit seinem silbernen Licht, und unten schimmerte und glitzerte der weiße Schnee. Die Bäume hatten tausend funkelnde Schneesterne auf ihren Zweigen, daß es aussah, als seien sie mit blitzenden Edelsteinen behangen – es war ein Leuchten, Flammen und Glitzern, und aus dem allen zusammen wurde ein seltsames geheimnisvolles Licht, wie sie es sonst nie gesehen hatten.

Und auf den weiten Schneematten spielten alle Tiere des Waldes. Und alle lagerten heute friedlich nebeneinander, die sich sonst in Streit und Hader verfolgten und anfeindeten. Da lagen Wolf und Bär und Fuchs und Hasen und plauderten miteinander. Eichhörnchen und Wiesel, Rehe und Hirsche spielten Verstecken zusammen, und Hunderte von kleinen Mäuschen huschten zwischen ihnen hin und her. Alle waren sie so glücklich und froh und sagten zueinander: »Ach, wenn es doch immer so bei uns sein könnte!« Der Hofhund lief voll Freude zu ihnen hin und wedelte mit seinem Schwanze und war über die Maßen vergnügt.

Aus allen Dörfern und Städten umher klangen von fernher die Christglocken. Tausende von Vögeln sangen in den Zweigen – sie sangen mit menschlichen Stimmen, denn es war ja die heilige Christnacht.

»Stille Nacht, heilige Nacht!« tönte es tausendstimmig durch den Wald, und von den Bäumen kam ein wundervolles tiefes Rauschen, als sängen auch sie dies hohe Lied zur Ehre des Heilandes mit.

Und immer tiefer in den Wald gingen die vier zusammen, stumm vor Entzücken und wie verzaubert von all der Herrlichkeit umher.

Und je tiefer sie hineinkamen, desto schöner wurde es. Das Licht wurde immer strahlender, und die Vögel sangen immer lauter, und die Bäume rauschten feierlich wie die Orgel sonntags in der Kirche. –

Plötzlich kamen sie an eine weite Wiese. Da blühten mitten im Schnee alle, alle Blumen, die man sonst nur im Sommer findet, und sie nickten mit ihren Köpfchen und läuteten mit ihren Glöckchen und riefen mit ihren feinen Stimmchen: »Willkommen, willkommen im Garten des Christkinds!«

Und unter einer großen Tanne, die ihre schweren weißen Äste weit wie ein Dach ausbreitete, saß das Christkind auf einem silbernen Stuhl. Es war weißer als der Schnee und glänzender als alles Licht umher, und seine Stimme war lieblicher als der Gesang der Vögel. Als es die Kinder sah, kam es von seinem silbernen Stuhl herunter zu ihnen und winkte ihnen freundlich und sprach gar sanft zu ihnen.

»Kommet zu mir her, meine lieben Kinder,« sagte es, »habt ihr heute einen Wunsch, so wird er euch erfüllt werden. Was wünschest du, lieber Knabe?«

»Ach,« sagte Heinz, ohne sich lange zu besinnen, »ich wünsche, daß unser Mütterchen gesund wird.«

»Und du, mein liebes kleines Mädchen?«

»Unser Mütterchen – unser Mütterchen –« sagte Liese schüchtern.

»Habt ihr wohl noch einen Wunsch?« fragte das Christkind. »Denkt ein wenig nach, vielleicht wünscht ihr noch etwas?«

Die beiden dachten lange nach, und endlich sagten sie: »Nur Mütterchen soll gesund sein, dann ist alles gut.«

Da legte das Christkind seine lieben Hände auf das Haupt der Kinder und sagte: »Seid gesegnet, daß ihr nur an euer Mütterchen dachtet – es wird euch wohl gehen immerdar! Hier, nehmt dieses Würzelchen vom heiligen Christdorn, legt es eurem Mütterchen auf das Herz, und es wird gesund werden.« Dann grüßte es noch einmal mit der Hand und ging zu seiner schönen Tanne zurück.

»Jetzt aber schnell nach Hause!« sagte der Schneemann. »Ehe der Hahn kräht, muß ich an meinem Platze sein, sonst zerfalle ich zu Schnee, und ihr findet den Weg nicht allein zurück.«

So gingen sie denn so schnell als nur möglich durch den leuchtenden, singenden, rauschenden Weihnachtswald, und Heinz hielt das Wunderwürzlein fest in der Hand, und sie konnten es kaum erwarten, es ihrem Mütterlein auf das gute Herz zu legen.

Als sie im Dorf ankamen, war es schon grauer Morgen, der Mond stand ganz bleich am Himmel und leuchtete nicht mehr.

»Dank euch,« sagte der Hofhund, »Dank euch, es war so wunderschön! Nun will ich wieder geduldig meine Kette tragen.«

»Leb' wohl,« sagten die Kinder, »wir werden jetzt immer gut zu dir und allen Tieren sein.«

»Lebt wohl!« sagte auch der Schneemann, als die Kinder an der Tür ihrer Hütte angelangt waren. »Lebt wohl und redet zu niemand von dem, was ihr gesehen und gehört, sonst ist der Zauber fort von allem, was man euch gab. Aber es ist höchste Zeit für mich,« sagte er und sprang auf seinen Hügel hinauf.

Da krähte der Hahn.

Dem armen Schneemann blieb der Mund offenstehen, und steif und kalt schaute er von seinem Hügel auf die Kinder herab, als kenne er sie nicht mehr. –

Heinz und Liese sahen traurig zu ihm hin, sie hatten sich nicht mehr bei ihm bedanken können für all das Herrliche, das er ihnen gezeigt hatte, und das tat ihnen sehr leid.

So gingen sie denn ins Haus und in Mütterchens Stübchen. Die lag und schlief sanft, und aus dem Schneeball, den sie ihr in die Hand gelegt hatten, war ein blankes Goldstück geworden.

Da nahm Heinz das Würzelchen und legte es ihr gerade mitten auf das Herz, und dann setzten sie sich still zur Seite und warteten, ob es nun wohl bald aufwachen würde.

Und es dauerte auch nicht lange, da schlug die Mutter die Augen auf und lächelte so glücklich, wie sie es lange nicht getan, und dann stand sie langsam auf und ging durch das Zimmer zu den erstaunten Kindern hin und nahm sie in ihre Arme, und sie alle weinten vor großem Glück und seliger Freude. – Und als sie in das andre Zimmer kamen, brannte dort noch immer das helle, prasselnde Feuer im Ofen, und auf dem Tisch, wo vorher die Schneebälle gelegen hatten, lagen eine Menge guter und nützlicher Dinge.

»Ei, seht,« sagte die Mutter, »das haben uns wohl die guten Nachbarn beschert, und die haben mir wohl auch dieses Goldstück in die Hand gelegt, während ich schlief.«

»Nein, das hat der Schneemann getan,« rief die kleine Liese.

Aber Heinz stieß sie in die Seite, daß sie nicht weiterreden sollte, »Ach, Mutter, mir träumte vom Christkind,« sagte er, »daß es dich gesund machen würde – und nun bist du wirklich gesund, nun ist alles, alles wieder gut bei uns.«

»Ja,« sagte die Mutter, »in der Christnacht geht der Engel des Friedens durch die Welt und macht die Menschen gut und glücklich. Wir wollen Gott danken für seine große Güte.«

Und sie fielen auf die Knie und sangen das heilige Lied der Hirten auf dem Felde, das so herrlich und mächtig ist, daß es seit vielen hundert Jahren zur Weihnachtszeit über die ganze Welt hintönt:

Ehre sei Gott in der Höhe und Frieden auf Erden!

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