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Der himmlische Sämann

Es war eine sanfte stille Sommernacht.

Ein kleiner Knabe lag in seinem Bettchen und sah in den dunkeln Himmel hinein, an dem tausend funkelnde Sterne flimmerten.

Plötzlich fiel ein Stern herunter und dann noch einer und wieder einer, und mit einemmal stürzte ein ganzer leuchtender Sternenregen herunter.

»O wie schön,« sagte der Knabe und setzte sich in seinem Bettchen auf; das hatte er noch nie gesehen, denn um diese späte Stunde schlief er sonst schon ganz fest und tief. Heute aber konnte er nicht schlafen, er hatte so viel zu denken.

Wo war das Schwesterchen hergekommen, das heute morgen so plötzlich da war und in der weiß und goldenen Wiege neben Mütterchens Bett lag? Gestern war es noch nicht dagewesen. Wer hatte es gebracht? Oder hatte es doch Flügel und war hereingeflogen? Das wollte er wissen. Den ganzen Tag war er schon umhergegangen und hatte alle gefragt, die ihm begegnet waren. Aber jeder sagte etwas andres, und zuletzt war er ganz verwirrt im Kopf, und alle seine kleinen jungen Gedanken schwirrten wie aufgestörte Vögel um das Geheimnisvolle herum, das er nicht verstehen konnte und das ihn so quälte, weil niemand es ihm erklären wollte.

Zuerst hatte er die Nana gefragt, die ihm morgens mit leiser geheimnisvoller Stimme sagte: »Du hast ein kleines Schwesterchen bekommen.«

Er sah sie mit großen erstaunten Augen an und fragte: »Wer hat sie gebracht?«

»Der Storch,« sagte Nana.

Aber da mußte er lachen. Der Storch, den er so gut kannte, der auf dem Dache der Scheune nistete, oft auf einem Bein stand und sehr weise in die Welt schaute – wie sollte der ein Schwesterchen tragen und wo sollte der es wohl hernehmen!

Nana eilte sich sehr mit dem Ankleiden und schob ihn dann schnell in den Garten hinaus. »Spiel hier ein wenig, ich bringe dir deine Milch in die Laube.«

Im Garten stand der Gärtner und band Rosen an den Stöcken fest. »Wo ist das Schwesterchen hergekommen?« fragte der Knabe ihn hastig.

Der alte Mann lächelte freundlich, sah dem Knaben in die großen fragenden Augen, hustete ein paarmal und antwortete: »Das hat Mütterchen aus dem Brunnen geholt.«

»Aber«, sagte der Knabe, »der ist ja so tief und dunkel und naß, da kann Mütterchen ja gar nicht hinein.« Er sah den Alten so bittend an, aber der ging zu einem entfernten Rosenbeet und sagte nichts mehr.

Da erblickte er seinen Vater auf der Schwelle des Hauses. Er lief zu ihm hin. »O Vater, darf ich das kleine Schwesterchen sehen?«

»Ja, mein Junge, das darfst du, ich wollte dich eben rufen. Komm mit mir, aber sei ganz leise und still, Mütterchen schläft und Schwesterchen auch.«

Behutsam schritten sie beide auf den Zehen in das halbdunkle Zimmer. Des Knaben Herz klopfte laut, und seine Gedanken waren voll Verwunderung und Fragen.

Da lag Mütterchen weiß und still im Bett. Das Schwesterchen wie ein süßes Püppchen mit ganz kleinem Näschen und Mündchen und dünnen roten Fingerchen lag auch still und schlief. Die ganze Stube war heute ganz anders als sonst. Etwas Geheimnisvolles fühlte man darin: dieses Schwesterchen, das gestern noch nicht da war und jetzt so plötzlich ganz selbstverständlich hier neben Mütterchen lag, als sei es immer dagewesen, und alles im Hause ging auf Zehen, vorsichtig und flüsternd, und alle schienen nur noch für das kleine Schwesterchen da zu sein, keiner hatte Zeit und Gedanken mehr für ihn. Er kam sich plötzlich so einsam vor.

»Woher ist das Schwesterchen gekommen?« fragte er den Vater.

Dieser nahm ihn sanft am Arm und führte ihn aus dem Zimmer. »Gott hat es uns geschickt,« sagte er draußen zu ihm.

»Ist es in dem großen gelben Postwagen gekommen?« fragte der Knabe, das hätte er eher verstanden. Aber da sah er, wie ein schnelles Lächeln über das Gesicht des Vaters ging; dabei legte er seine Hand gütig auf des Knaben Kopf und sagte: «Nein, nicht im Postwagen – aber das verstehst du jetzt noch nicht.«

Da wurde der Knabe sehr traurig, daß auch sein Vater ihm die Last des Geheimnisses nicht von der Seele nehmen wollte.

Langsam ging er wieder in den Garten zurück, und als er im Hofe die Mägde am Brunnen sah, lief er zu ihnen. »Hat das Schwesterchen Flügel?« fragte er.

»Nein, Flügel hat es nicht,« sagten die Mägde.

»Kann es denn schon laufen?«

Da lachten die Mägde laut, steckten die Köpfe zusammen und flüsterten miteinander.

»Aber wo ist denn das Schwesterchen hergekommen?« sagte der Knabe zum Knecht, der eben vorüberging.

Der nahm die Pfeife aus dem Munde, spuckte auf den Boden und sah den Knaben lange an. »Na. wo wird es hergekommen sein, da, wo du auch hergekommen bist,« sagte er lachend und ging seiner Wege.

Schwerer und schwerer wurde dem Knaben das kleine Herz. Wie ein Mühlrad ging's ihm im Kopf herum. Ja, wo war er denn hergekommen? Er war da bei Vater und Mutter, und es war so schön, da zu sein; aber einmal war er wohl auch so heimlich und plötzlich dagewesen, wie diese neue kleine Schwester. Ach, wenn er nur Mütterchen hätte fragen können, die wußte es sicher, aber sie lag im Bett und sah so bleich und müde aus. Ob daran wohl das Schwesterchen schuld war, ob es Mütterchen erschreckt hatte?

So sann er den ganzen Tag. Niemand kümmerte sich heute um ihn, alle schienen nur Augen und Ohren für die stille dunkle Stube zu haben. Einmal hörte er das Kleine darinnen schreien – da hielt er sich die Ohren zu und lief ins Feld und jagte nach Schmetterlingen, er wollte die Frage nicht mehr hören, die immer in seinem Kopfe herumging: wo ist das Schwesterchen hergekommen?

Und nun lag er in seinem Bettchen und konnte nicht schlafen. Und da es so nachtstill ringsum war und er nichts andres sah und hörte, wälzte er sich auf seinem Bettchen hin und her und seufzte tief und dachte immer nur an das eine: wo ist nur das Schwesterchen hergekommen?

Da ging die Tür leise auf, und ein alter Mann trat herein.

Er hatte einen langen weißen Bart. Auf dem Kopfe trug er eine hohe rote Mütze, die mit allerlei wunderlichen Zeichen bestickt war in Gold und Edelsteinen. In der Hand hielt er ein großes goldenes Buch. – Der alte Mann trat an das Bett des Knaben und berührte leise seine Stirn.

»Ach, du bist es,« sagte der Knabe und nickte dem Alten freundlich zu, denn er kannte ihn schon lange.

»Ich ging vorüber und sah, daß du noch nicht schläfst, da will ich dir meine Bilder zeigen,« sagte Vater Traum und blätterte in dem goldenen Buch.

»Ach nein, heute nicht,« sagte der Knabe, »heute will ich dich etwas fragen.«

»Frag' nur, mein Kind.«

»Woher ist das kleine Schwesterchen gekommen? Aber sag's so, daß ich es verstehen kann.«

Da nahm Vater Traum seine hohe bunte Mütze vom Kopf, drehte sie einigemal in der Hand und sagte: »Hör' zu, mein Kind! Du weißt, dort oben über dem blauen Himmel wohnt der gute Gott, der die Menschen liebt und die Welt regiert. Viele Tausende von Engeln helfen ihm dabei. Eine Arbeit aber gibt er nicht aus der Hand, die tut er immer selbst. – Du hast doch schon gesehen, wie der Sämann übers Feld geht und die goldenen Samenkörner in die warme Erde streut, wo sie lange still liegen bleiben und wachsen, bis sie so stark sind, daß sie aus der Erde an die Sonne kommen. Siehst du, so geht der gute Gott nächtens über die blaue Himmelswiese und streut die goldenen Sterne in die Herzen der Mütter, die zu ihm um ein Kindlein beten.«

Da lächelte der Knabe und sagte: »Ach ja. das sah ich eben. Eine ganze Menge goldener Sterne fielen herunter, da müssen viele Mütter um ein Kindlein gebetet haben.«

»Und in jedes dieser betenden Herzen fällt ein Stern. Und jede Frau, die ihn in ihrem Herzen fühlt, wird plötzlich so voll Glück und Freude und geht zu einem guten Manne, den sie so lieb hat, daß sie ihn küssen kann und sagt zu ihm: ›Nun werden wir bald ein Kindlein haben.‹ Da fühlt auch der Mann eine große himmlische Freude, und beide fangen an zu sorgen, daß alles schön und gut im Herzen der Mutter ist, damit das Kindlein wie der Halm in der lieben Erde wachsen und gedeihen kann. Und Mann und Frau bauen eine Wiege und legen weiches weißes Linnen hinein, daß das Kindlein gut gebettet ist, wenn es so stark und groß geworden, daß es keinen Platz mehr unter dem Herzen seiner Mutter hat. Dann kommt eine schwere Stunde für die gute Mutter, denn das Kindlein zerreißt ihr das Herz, wie die Pflanze die Erde zerreißt, wenn sie ans Licht kommt.«

»Aber das tut weh,« sagte der Knabe.

»Ja, das tut weh, aber sieh, deshalb liebt die Mutter das Kindlein so sehr, weil es an ihrem Herzen gelegen und sie so viel Schmerzen um das Kind erduldet hat.«

»Ach so,« sagte der Knabe, »deshalb liegt Mütterchen im Bett und sieht so blaß aus und sagt kein Wort. Aber wird das Herz wieder ganz heil?«

»Ja, langsam, ganz langsam wird es wieder ganz heil,« erwiderte Vater Traum.

»Habe ich auch im Herzen meiner Mutter gelegen?«

»Freilich, freilich, liebes Kind.«

»Kann Gott nicht auch einen Stern in das Herz des Vaters fallen lassen?«

»Nein, mein Kind – der Vater hat keine Zeit, stille zu warten, wie die gute warme Erde wartet, bis die goldene Saat in ihrem Herzen reif wird für das Licht der Sonne; der Vater muß hinaus in die Welt und an die Arbeit, hat Sorgen und Gefahren zu bestehen. Aber Mütterchen kann still daheim bleiben und das kommende Kind in ihrem Herzen hüten, und dann muß sie es später noch lange an ihrem Herzen ernähren, wie die Würzlein der Pflanze Nahrung aus der Erde saugen. Verstehst du jetzt, wo Schwesterchen herkommt?«

»Ach ja,« sagte der Knabe, und ihm war, als ob eine schwere Last von ihm genommen wäre. »Höre, lieber Vater Traum, werde ich auch einmal ein Vater werden?«

»Ja, das wirst du, wenn du stark und tüchtig genug bist, um für Mutter und Kind zu sorgen, daß sie Brot und Freude im Hause haben.«

»Oh,« sagte der Knabe und ballte seine kleinen Hände zu festen Fäusten, »ich will stark werden.«

»Aber du mußt auch sehr gut sein, so gut, daß eine gute Frau dich gerne küssen mag.«

»Oh, ich will sehr, sehr gut werden,« flüsterte der Knabe mit leiser glücklicher Stimme.

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