Alphonse Daudet
Der Unsterbliche
Alphonse Daudet

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Sechzehntes Kapitel.

Es war zum Ersticken voll im Zimmer Nr. VIII, wo nach endloser Voruntersuchung und Aufgebot eines ganzen Apparates hoher Einflüsse, um das Verfahren zu hemmen, die Anklage gegen Albin Fage zur Verhandlung kam. Niemals hatte dieser Saal der Strafkammer, dessen blau bemalte, verblichene Wände mit den rautenförmigen Vergoldungen einen fettigen Geruch von Elend und Armut aushauchen, auf seinen schmutzigen Bänken ein solches Publikum sich niederlassen, in den Gängen eine so elegante, vornehme Menschenmenge sich ansammeln und aufstellen sehen, so viel blumengeschmückte Hüte und Frühlingstoiletten, welche den Stempel erster Künstlerhände trugen und von welchen das matte Schwarz der Roben und Barette kräftig abstach. Und immer noch drängte die Menge durch die Doppelthüren des Einganges, deren Flügel unaufhörlich auf und zu klappten, hinter einem bunten Strom von aneinander gedrängten, in die Höhe blickenden Köpfen, welche erst, wenn sie in das helle Licht des Treppenhauses traten, deutlich sichtbar wurden. Sie waren alle bekannt, nur zu bekannt, zum Weinen alltäglich, diese Statisten der Pariser Festlichkeiten, vornehmen Leichenbegängnisse und ersten Theateraufführungen: im Vortrab kamen Marguérite Oger und die kleine Gräfin Foder und die schöne Frau Henry vom amerikanischen Konsulat. Dann die zur akademischen Gemeinde gehörigen Damen: Frau Ancelin in Blaßlila am Arme des Vorstandes der Anwaltskammer, Herrn Raverand; Frau Eviza wie ein junger Rosenstrauch, umringt von einem Bienenschwarm summender, diensteifriger Referendare; und hinter den Richtern, an den reservierten Plätzen stand Danjou, mit verschränkten Armen, Richter und Publikum überblickend, sein scharfes, regelmäßiges Profil, das richtige Komödiantengesicht, das man seit vierzig Jahren überall gesehen und das zum Typus gesellschaftlicher Trivialität in ihren mannigfachen Kundgebungen geworden ist, zur Ansicht bietend. Mit Ausnahme von den als Zeugen geladenen Akademikern Astier-Réhu und Baron Huchenard war er der einzige Unsterbliche, welcher es gewagt hatte, der jedenfalls höchst respektswidrigen Verteidigung von Albin Fages Advokaten die Stirn zu bieten, jenem gefährlichen Spötter Margery, dessen näselnder Ton schon beim ersten Worte, das er spricht, Richterbank und Publikum vor Lachen bersten macht. Daß es an Stoff zur Heiterkeit heute nicht fehlen werde, lag in der Luft, das sah man an dem Uebermut, mit welchem die feierlichen Barette der Herren Richter zusammengesteckt wurden, an dem Leuchten und boshaften Zwinkern der Augen und dem Lächeln, das verständnisinnig und vielversprechend von Mund zu Mund flog. Eine Menge Geschichten über die galanten Heldenthaten des kleinen Buckligen waren im Umlauf, und nun wurde derselbe auf die Anklagebank geführt, hob den langen pomadisierten Kopf hoch und warf über die Barriere hinüber durch den ganzen Saal einen jener Sperberblicke, welche die Frauen nie mißverstehen. Es war von sehr kompromittierenden Briefen die Rede, von einer Art Selbstbiographie des Angeklagten, in welcher die Namen von zwei oder drei eine große Rolle spielenden Damen, Namen, die in jede schmutzige Geschichte verwickelt sind und immer wieder aufs Tapet kommen, unverblümt genannt sein sollten. Auf der Journalistenbank ging thatsächlich ein Exemplar dieser eigenhändigen Darlegung seiner Rechtssache, welche er allerdings bis zu einer äußerst naiven und anspruchsvollen Selbstbiographie erweitert hatte, welche aber die ihr im Publikum unterlegten Enthüllungen nicht enthielt, von Hand zu Hand. In der Langeweile der Untersuchungshaft hatte Fage für seine Richter niedergeschrieben, daß er in der Nähe von Bassy (Haute-Marne) geboren sei und zwar so gerad und wohlgebaut wie je einer – das behaupten sie nämlich alle – daß aber ein Sturz vom Pferde ihm im fünfzehnten Lebensjahre eine Verkrüppelung seines Rückens zugezogen habe. Seine Leidenschaft für die Weiber war erst ziemlich spät, dann aber mit unerhörter Heftigkeit erwacht; er war damals bei einem Buchhändler in der Passage des Panoramas in Arbeit. Da ihm sein mißbildeter Körper bei derartigen Eroberungen sehr hinderlich war, sah er sich nach einem Mittel um, viel Geld zu verdienen, und die Aufzählung seiner Liebschaften, abwechselnd mit der seiner Fälschungen, die Schilderung des angewandten Verfahrens, des dazu verwendeten Materials lieferte Kapitelüberschriften wie diese: »Meine erste Geliebte. – Angelina, die Bücherhefterin. – Um ein hochrotes Band. – Besuch des Lebkuchenmarktes. – Ich trete in Beziehungen zu Astier-Réhu. – Die geheimnisvolle Tinte. – Herausforderung an die Herren Chemiker des Institutes. . . .« Diese Uebersicht genügt, um die Geckenhaftigkeit des Buckligen, zu welcher sich die Selbstüberhebung des Autodidakten, des Arbeiters, der sich aus eigner Kraft ein gewisses Maß von Kenntnissen erworben, gesellte: der Haupteindruck jedoch, der nach Lesung dieses Schriftstückes zurückblieb, war der einer förmlichen Bestürzung darüber, daß ein ständiger Sekretär der französischen Akademie, die offizielle Wissenschaft und Litteratur sich zwei oder drei Jahre fortgesetzt auf so plumpe Weise durch diese unwissende Mißgeburt, deren Hirn mit allerhand zusammengelesenem, schlecht verdautem Wissenskram und Abfällen von Büchern angefüllt war, hatte betrügen lassen; darin lag der Humor der Sache, und das erklärte Anteil und Andrang der Leute. In der Person Astier-Réhus erblickte man die Akademie selbst auf dem Armensünderstühlchen, dieses Anblicks halber kam man her und aller Augen flogen nach der Zeugenbank, wo der Aermste regungslos, in Gedanken verloren, saß, ohne ein einziges Mal den Kopf umzuwenden nach Freydet, der, hinter ihm stehend, mit schwarzen Handschuhen, Krepp um den Hut, in tiefer Trauer um seine kürzlich verstorbene Schwester, es für angemessen hielt, seinem alten Lehrer fade Trostesworte und Versicherungen seiner Verehrung zu spenden, auf welche Astier nur einsilbig Antwort gab. Da er von seiten der Verteidigung als Zeuge benannt worden, hatte der Kandidat Sorge, dieser Umstand könnte ihm in den Augen seines verehrten Meisters schaden, und er entschuldigte sich deshalb und setzte ihm auseinander, wie ein mehrfaches, rein zufälliges Zusammentreffen mit diesem erbärmlichen Fage in Védrines Atelier ihm diese höchst unerwartete Zeugenschaft eingetragen und ihn in diese mißliche Lage versetzt habe. Allein sein Flüstern verlor sich in dem Geräusch, das den ganzen Saal erfüllte, in dem dumpfen Summen der unentwegt vor sich gehenden Rechtsprechung, bei der Namen aufgerufen und Strafsachen mit dem eintönigen: »Vertagt . . . über acht Tage . . .« erledigt wurden, das wie das Beil der Guillotine herabfiel, die Auseinandersetzungen und Einsprache der Advokaten einfach abschnitt, der flehentlichen Klage der armen Teufel, die mit rotem Kopfe, sich den Schweiß von der Stirn reibend, vor den Schranken standen, ein Ende machte. »Aber, Herr Präsident. . . .« »Vertagt.« Zuweilen ertönte, wenn ein Name aufgerufen wurde, aus dem Hintergrunde des Saales ein jämmerlicher Ruf, verzweiflungsvoll winkende Arme wurden sichtbar: »Ich bin da, Herr Präsident . . . aber ich kann nicht durchkommen . . . man läßt mich nicht vor.« . . . »Vertagt.« Ach! Wenn man mitangesehen hat, wie die Geschäftslast in dieser Weise beseitigt, aus dem Wege geschafft wird, wenn man erlebt hat, wie die traditionelle Wage der Gerechtigkeit mit solcher Geschwindigkeit und Fingerfertigkeit gehandhabt wird, da nimmt man von der französischen Rechtspflege einen großen Eindruck mit fort; es ist ungefähr, wie wenn bei einem Armenbegräbnis in hastiger Ueberstürzung von einem fremden Priester, der den Toten nie im Leben gesehen, die Messe gelesen wird. »Anklage gegen Albin Fage,« ertönte die Stimme des Präsidenten, und Schweigen verbreitete sich über den ganzen Saal bis hinaus auf Vorplatz und Treppe, wo die Leute auf Bänke stiegen, um hereinsehen zu können. Dann nach kurzem Gemurmel am Richtertische begaben sich die Zeugen Mann für Mann in langer Reihe nach dem für sie bestimmten Saale, einem kahlen, frostigen Raume mit abgetretenen, einst rot gewesenen Fliesen, der von einem engen Gäßchen her ein spärliches Licht empfing. Astier-Réhu, welcher jedenfalls zuerst aufgerufen werden mußte, ging gar nicht hinein, sondern schritt in dem dunkeln Korridor zwischen den beiden Sälen auf und ab, Freydet wollte ihm Gesellschaft leisten, er erklärte jedoch dumpf und bestimmt: »Nein, nein . . . lassen Sie mich allein . . . ich will Ruhe haben! . . .« worauf der Kandidat sich zu den übrigen Zeugen begab, die in kleinen Gruppen plaudernd umherstanden. Der Baron Huchenard war da und Bos, der Paläograph, der Chemiker Delpech von der Akademie der Wissenschaften, verschiedene Sachverständige und Handschriftenkundige, ferner zwei oder drei hübsche Dämchen, von denen, deren Photographieen in Albin Fages Behausung als Wandschmuck prangten, die, glückselig über die Reklame, welche die Gerichtsverhandlung ihnen machen mußte, sehr laut sprachen und lachten und wahrhaft verblüffende kleine Gebäude von Frühlingshütchen zur Schau trugen, welche in lebhaftem Gegensatz zu der weißen Haube und den gestrickten Handschuhen der Portiersfrau von der Cour des Comptes standen. Auch Védrine war vorgeladen und Freydet ließ sich neben ihm auf dem breiten Sims des niedrigen, offenstehenden Fensters nieder. Die beiden Kameraden, von entgegengesetzten Strömungen fortgetragen, in verschiedener Richtung sich bewegend, was in Paris die Menschen so rasch und gänzlich trennt, hatten sich seit dem vorhergegangenen Sommer und dem kürzlich stattgehabten Leichenbegängnis der armen Germaine von Freydet nicht wieder gesehen, und Védrine drückte dem Freunde mit Wärme die Hand, fragte teilnehmend, wie es nach diesem entsetzlichen Schlage körperlich und geistig um ihn stehe. Freydet zuckte die Achseln: »Hart ist es allerdings . . . sehr hart, aber was willst du machen? Ich bin daran gewöhnt . . .« Und als der andre angesichts einer so rohen Selbstsucht die Augen weit aufriß, setzte er hinzu: »Ja, ja, so ist's! Bedenke doch, daß sie mich zweimal . . . zweimal in einem Jahre abgelehnt haben. . . .« Der entsetzliche Schlag, das war für ihn nichts andres als seine Niederlage bei der Bewerbung um den Fauteuil Ripault-Babins, der ihm soeben entgangen war wie der von Loisillon; schließlich begriff er aber doch, woran Védrine dachte, und stieß einen tiefen Seufzer aus: »Ach ja . . . meine arme Germaine. . . .« Den ganzen Winter hatte sie sich abgemüht für diese unglückselige Kandidatur. . . . Zwei Diners in der Woche und bis nachts zwölf, ein Uhr ihren Fahrstuhl von einer Ecke des Salons in die andre gerollt . . . ihre letzte Kraft hatte sie der Sache geopfert, an der sie noch leidenschaftlicher hing, noch zäher festhielt als ihr Bruder. . . . Und noch zuletzt, ganz zuletzt, als sie nicht mehr sprechen konnte, da hatten ihre armen verkrümmten, eingebogenen Finger auf dem Betttuche noch punktiert. »Ja, mein Lieber, punktierend, meine Aussichten auf die Nachfolge Ripault-Babins berechnend, überdenkend, ist sie gestorben. . . . O, und wär's auch nur um ihretwillen, ich muß, ich will das Ziel erreichen, trotz aller Widersacher, nur dem Andenken dieser teuern Toten zu Ehren. . . .« Er hielt plötzlich inne und fuhr dann mit ganz veränderter, tieferer Stimme fort: »Wahrhaftig, ich weiß nicht, weshalb ich dir solches Zeug vorschwatze. . . . Die Wahrheit ist ja, daß ich für nichts mehr Gedanken und Empfindung habe, seit sie mir diesen Ehrgeiz eingeredet haben. . . . Meine Schwester starb, kaum daß ich eine Thräne für sie gehabt . . . ich mußte ja meine Besuche machen, um die Akademie betteln, wie der andre sagt. Mein Herz vertrocknet darüber, ich gehe zu Grunde – es ist ein Wahnsinn!«

Wie wenig konnte der Bildhauer seinen milden, weichen, höflichen, lebensfrohen Freydet in diesen herben Worten, in dem fieberischen Tone, der sie noch heftiger, noch gereizter klingen ließ, wiederfinden; das zerstreute, unstäte Auge, die tiefe Sorgenfalte auf der Stirn, die brennend heißen Hände, alles bestätigte die Macht der Leidenschaft, das Vorhandensein einer fixen Idee, doch schien die Begegnung mit Védrine wohlthätig zu wirken, ein gewisses Nachlassen der Spannung herbeizuführen, und weich und herzlich fragte er: »Was treibst du? . . . Was machst du? . . . Wie geht es deiner Frau? Den Kindern? . . .« Mit seinem guten, ruhigen Lächeln versicherte Védrine, daß Gott sei Dank, die ganze Familie wohlauf sei. Die Kleine sollte jetzt entwöhnt werden; der Junge erfüllte seinen Beruf, schön zu sein, vortrefflich wie immer und wartete mit Spannung auf den hundertjährigen Geburtstag des alten Réhu. Er selber war an der Arbeit. Zwei Bilder hatte er dieses Jahr in den Salon geschickt; sie waren nicht schlecht aufgehängt gewesen und nicht schlecht verkauft worden. Ein ebenso unkluger wie blutgieriger Gläubiger hatte sich des Paladins bemächtigt, welcher, von Stufe zu Stufe sinkend, erst in einem wundervollen Erdgeschosse der Rue Saint-Pétersbourg den Platz versperrt hatte, dann in eine Stallung der Batignolles übergesiedelt war und sich nun im Schuppen eines Viehhändlers in Levallois, wo ihm die ganze Familie von Zeit zu Zeit einen Besuch abstattete, einen Schnupfen holte.

»Und das ist der Ruhm!« setzte Védrine lachend hinzu, während die Stimme des Gerichtsdieners soeben den Zeugen Astier-Réhu aufrief. Einen Augenblick ward die Gestalt des ständigen Sekretärs in dem stauberfüllten Lichtstreifen, der durch die geöffnete Thür des Sitzungssaales in den dunkeln Gang fiel, sichtbar: steif und fest stand er da, nur der Rücken, den er unbeobachtet glaubte, und die breiten, fröstelnd in die Höhe gezogenen Schultern verrieten eine lebhafte Erregung: »Armer Mann!« sagte der Bildhauer halblaut, »er hat schwere Prüfungen zu bestehen. . . . Diese Geschichte mit den Handschriften, die Heirat seines Sohnes . . .«

»Paul Astier ist verheiratet?«

»Seit drei Tagen – mit der Herzogin. Eine Art morganatischer Ehe. Der Trauung wohnte niemand bei als die Frau Mama und die vier vorschriftsmäßigen Zeugen. Du kannst dir ja denken, daß ich einer derselben war, denn es scheint ein eigentümliches Verhängnis zu sein, daß ich mit allem Thun und Treiben dieser Astiers etwas zu schaffen habe.«

Und Védrine schilderte, wie es ihn gepackt habe, als er in dem Rathaussaale die Herzogin erscheinen gesehen, bleich wie eine Tote, immer noch stolz, aber innerlich gebrochen, schmerzdurchwühlt, das Haupt dicht bedeckt mit vollständig grauen Haaren, ihren schönen braunen Haaren, die sie zu färben nicht mehr der Mühe wert fand. An ihrer Seite Paul Astier, der Herr Graf, hübsch wie immer, kühl und lächelnd. Man sieht sich gegenseitig an, niemand findet das richtige Wort, bis auf den Standesbeamten, der, nachdem er die beiden alten Damen ins Auge gefaßt hat, das Bedürfnis empfindet, mit einer tiefen Verbeugung und süßer Miene zu bemerken: »Wir erwarten nur noch die Braut . . .«

»Die Braut ist hier,« erwidert die Herzogin, hoch erhobenen Hauptes vortretend, mit einem qualvoll bitteren Lächeln, das ihren schönen Mund entstellt und verzerrt. Vom Standesamt, wo der den Trauungsakt vornehmende Beamte so viel Takt hat, ihnen jegliche Rede zu ersparen, begibt man sich ins Institut catholique, Rue de Vaugirard. Eine sehr aristokratische Kirche, ganz vergoldet, mit Blumen geschmückt, ein Meer von Kerzenlicht und kein Mensch darin. Niemand als die Hochzeitsgesellschaft auf einer einzigen Reihe von Stühlen hört den päpstlichen Nuntius, Monsignore Adriani, endlose Homilien herplappern, die er aus einem kunstvoll bemalten, mit Miniaturen geschmückten Kirchenbuche abliest. Es war ein prächtiges Bild, dieser weltmännische Prälat mit der großen, scharfgeschnittenen Nase, den schmalen Lippen, den breiten Schultern, für die der violette Kragen zu eng erschien, wie er mit einem schauspielerischen, ironischen Seitenblick, der über die samtnen Betstühle des traurigen Paares hinglitt, von der vielgerühmten Ehre des Gatten, der vielgerühmten Anmut und Schönheit der Braut sprach. Dann kam der Aufbruch, kalte, förmliche Begrüßungen und Glückwünsche wurden zwischen den Arkaden des kleinen Kreuzganges ausgetauscht, und in dem erleichterten Aufatmen der Herzogin, in ihrem aus tiefstem Herzen kommenden: »Gott sei Dank, es ist überstanden!« lag die tiefe Verzweiflung und Enttäuschung der Frau, welche den ungeheuern Abgrund ermessen und sich, treu ihrem verpfändeten Worte, geschlossenen Auges hinabstürzt.

»Herr Gott im Himmel, ich habe doch in meinem Leben schon genug Düsteres, Klägliches, Jammervolles mit angesehen – etwas Herzzerreißenderes als Paul Astiers Hochzeit aber sicher nicht,« schloß Védrine bewegt.

»Doch ein hochnäsiger Schlingel, unser junger Freund,« murmelte Freydet zwischen den Zähnen.

»Jawohl, einer unsrer niedlichen »struggle for life«.

Der Bildhauer wiederholte das Wort, mit welchem er dies neuerstandene Geschlecht civilisierter Raubtiere bezeichnete, welchen das abgedroschene, dehnbare Stichwort vom »Kampf ums Dasein« zur heuchlerischen Bemäntelung jeder Art von Niedrigkeit dient.

»Immerhin,« entgegnete Freydet, »hat er's erreicht. Jetzt ist er reich, und danach ging sein Streben. Diesmal hat sie ihn nicht irre geleitet, die schiefe Nase!«

»Wollen's abwarten! Eine bequeme Frau ist die Herzogin nun eben nicht und sie hat ihn mit einem verteufelt bösen Blick angesehen auf dem Standesamte! Wenn er seiner Alten allzu überdrüssig wird, so können wir's erleben, diesen Sohn und Enkel von Unsterblichen noch vor dem Schwurgericht zu erblicken.«

»Zeuge Védrine!« rief der Gerichtsdiener mit lauter Stimme.

Zu gleicher Zeit drang durch die sich öffnende Saalthür schallendes Gelächter der dichtgedrängten, mitteilsamen Zuschauermenge. »Sapperlot! Da drin haben sie keine Langeweile!« sagte der im Vorsaale aufgestellte Mann von der Pariser Garde. Der Zeugensaal, welcher sich während des Gespräches zwischen den beiden alten Schulkameraden allmählich geleert hatte, beherbergte nun niemand mehr als den Vicomte von Freydet und die Portiersfrau von der Cour des Comptes, für welche das »Vor-Gericht-müssen« sehr erschütternd war und die mit der Gebärde einer Geistesgestörten fortgesetzt ihre Haubenbänder zerknüllte und dann wieder glatt strich. Für den guten Kandidaten dagegen war diese Verhandlung eine höchst erwünschte Gelegenheit, der französischen Akademie im allgemeinen und seinem einstigen Lehrer im besondern Weihrauch zu streuen, und als er, nachdem auch die wackere Frau an die Reihe gekommen, den Raum ganz für sich allein hatte, ging er mit großen Schritten auf und ab, stellte sich dann ans Fenster, drechselte wohlgerundete, herrlich klingende Sätze und begleitete dieselben mit zweckentsprechenden großartigen Bewegungen seiner schwarz bekleideten Hände, was jedoch in dem gegenüberliegenden Hause, einem alten, düsteren, schmierigen Gemäuer, welchem das ehrlose, schändliche Gewerbe, welchem es Obdach bot, auf der Stirn geschrieben stand, offenbar zu einem Mißverständnis Veranlassung gab. . . . Eine rundliche Hand an einem dicken, entblößten Arm schob einen rosa Vorhang beiseite und machte eine einladende Gebärde. . . . O! Dieses Paris! Die Röte der Scham stieg in Freydets Wangen, hastig zog er sich von dem Fenster zurück und suchte im Korridor Schutz und Sicherheit.

»Das ist der Staatsanwalt, der jetzt spricht,« sagte ihm ganz leise der Aufwärter, während in der Stickluft des überfüllten Saales eine Stimme mit gemachter, unwahrer Entrüstung deklamierte: »Sie haben die unschuldige Leidenschaft eines alten Mannes mißbraucht . . .«

»Nun . . . und was wird mit mir?« sagte Freydet laut vor sich hin.

»Scheint, daß man Sie vergessen hat . . .«

Im ersten Augenblick war er sprachlos, dann im höchsten Grade unwillig über das seltsame Geschick, das ihm unmöglich machte, sich zu zeigen, sich als kampfesmutigen Ritter der Akademie aufzuspielen, von sich reden zu machen, seinen Namen wenigstens einmal in allen Zeitungen zu lesen. In diesem Augenblick wurde die Eröffnung der angeblichen Sammlung Mesnil-Case mit einer fürchterlichen Lachsalve begrüßt: Briefe von Königen, Päpsten, Kaiserinnen, von Turenne, Buffon, Montaigne, La Boëtie, Clémence Isaure. Dieses phantastische Inhaltsverzeichnis reichte hin, die unglaubliche Kindlichkeit des offiziellen Historiographen darzuthun, der sich von diesem Gnomen hatte nasführen lassen. Allein beim Gedanken, daß dieses respektwidrige Gelächter seinem Lehrer und Beschützer Astier-Réhu ans Leben ging, empfand Freydet eine Entrüstung, in die sich freilich ein gut Teil Selbstsucht mischte, war er es doch, welcher den Rückschlag zu empfinden haben mußte, dessen Kandidatur dadurch abermals im höchsten Grade fraglich wurde. Er schlich sich hinaus, mischte sich in das Durcheinander des allgemeinen Aufbruches, den diensteifrig wimmelnde Livreen und Wagenrollen verkündigten und der gleich darauf im prächtigen Abendsonnenschein des schönen Junitages stattfand, wobei rosa, weiße und fliederfarbige Sonnenschirme, die hastig geöffnet wurden, wie riesige Blumen erschienen. Helles Lachen ertönte noch von allen Seiten, wie wenn man nach einer übermütigen, zündenden Komödie nach Hause geht: »Gesalzen hatte er's gekriegt, der kleine Bucklige; fünf Jahre Gefängnis und die Kosten! Aber wie köstlich er wieder gewesen ist, dieser Margery!« »Ach! Kinder . . . Kinder! Wie drollig! . . .« jubelte Marguérite Oger, und Danjou, der Frau Eviza an ihren Wagen geleitete, sagte mit lauter Stimme, cynisch wie immer: »Man hat der hohen Akademie ins Gesicht gespuckt, mitten hinein, und wohl gezielt. . . .«

Trotz der hier und da geflüsterten Warnung: »Nehmen Sie sich in acht; er ist in der Nähe!«, bekam Léonard Astier, der ganz allein, ohne rechts oder links zu blicken, durch die Menge schritt, diesen Ausspruch und noch andre zu hören, und das war für ihn der Anfang der Mißachtung, seiner anerkannten, von ganz Paris bewitzelten Lächerlichkeit.

»Nehmen Sie meinen Arm, lieber Meister,« sprach Freydet, der sich, einem unwiderstehlichen Drange seines Herzens folgend, ihm zugesellt hatte.

»Ach! Mein Freund, wie wohl thun Sie mir!« sagte der Greis mit dumpfer, thränenumflorter Stimme.

Eine Zeitlang schritten sie schweigend dahin. Das frische Grün beschattete und schmückte die Steine des Quais; das Treiben der Straße und das Rauschen des Wassers klangen fröhlich zusammen in der heiteren Luft. Es war einer jener Tage, wo man zu fühlen glaubt, daß menschliches Leid und Elend sich eine Ruhepause gestatten.

»Wohin?« fragte Freydet.

»Wohin Sie wollen, nur nicht nach Hause . . .« erwiderte der Aermste, welchen beim Gedanken an den Auftritt bei Tische, den seine Frau ihm keinesfalls erlassen würde, ein kindliches Gruseln befiel.

Sie speisten miteinander in der Nahe des Point-du-Jour, nachdem sie lange dem Wasser entlang gegangen waren, und die warmen, guten Worte des Zöglings, verbunden mit der weichen, wohligen Abendluft, trugen das Ihrige dazu bei, den unglücklichen Astier-Réhu zu beruhigen, so daß er schließlich gefaßt und in leidlicher Stimmung zu später Stunde den Heimweg antrat, erholt von den fünf Stunden des Prangerstehens im Zimmer Nro. VIII, fünf Stunden, die er mit gefesselten Händen unter dem beleidigenden Gelächter der Menge und dem giftigen Stachel des Advokaten hatte aushalten müssen: »Lache nur, lache nur, du Affengesindel! . . . Die Nachwelt wird Richter sein!« So tröstete er sich selbst, während er die weiten Höfe des Institutes, in dem alles schwieg, alles schlief, jedes Licht verlöscht war und wo die breiten Freitreppen zur Rechten und zur Linken wie riesige schwarze, rechtwinkelige Löcher erschienen, durchschritt. Nachdem er sich die Treppe hinaufgetastet, gelang es ihm, ohne das mindeste Geräusch zu erregen, leise wie ein Dieb in sein Arbeitszimmer zu schlüpfen. Seit der Verheiratung Pauls und seinem Bruche mit dem Sohne warf er sich allabendlich hier auf ein selbst zurechtgemachtes Lager, um jenen endlosen, eigensinnigen nächtlichen Debatten und Zänkereien zu entgehen, in welchen die Frau durch die nicht zu erschöpfende Sprungkraft ihrer Nerven immer siegreich bleibt, und der Mann zuguterletzt um des lieben Friedens und des ersehnten Rechtes auf Schlaf willen alles verspricht, in allem nachgibt!

Schlaf! Nie hatte er eine solche Sehnsucht, ein solches Bedürfnis nach diesem Tröster empfunden, wie heute nach diesem langen Tage der Aufregung und Anstrengung, und der Eintritt in den vollkommen dunkeln Raum berührte ihn schon wie tiefe Ruhe, als er plötzlich am Fensterkreuz die unbestimmten Umrisse einer menschlichen Gestalt unterschied.

»So! Nun bist du also befriedigt. . . .« Seine Frau! Seine Frau, die ihm auflauerte, ihn erwartete und deren zornige Stimme ihn in der Dunkelheit auf die Stelle gebannt hielt.

»Jetzt hast du ihn ja gehabt, diesen Prozeß. . . . Du hast sie ja haben wollen, die Lächerlichkeit, nun steckst du darin, nun bist du damit übergossen vom Kopf bis zu den Zehen, daß du dich vor keinem Menschen mehr sehen lassen kannst. . . . Das war wohl der Mühe wert, Lärm zu schlagen, ein Geschrei zu erheben, dein Sohn entehre dich, ihn zu beschimpfen, ihm zu fluchen; er hat sehr wohl daran gethan, seinen Namen zu ändern, der arme Junge, jetzt wo der deinige gleichbedeutend mit Unwissenheit und Einfaltspinselei ist und kein Mensch ihn aussprechen kann, ohne zu lachen. . . . Und das alles, frage ich dich . . . das alles deinem Geschichtswerk zuliebe? . . . Aber, Unglücksmensch! Wer kennt es denn, dein Geschichtswerk? Wen interessiert es denn, ob deine Dokumente echt sind oder gefälscht? Du weißt es ja sehr wohl, daß du nicht gelesen wirst. . . .«

So ging der Redestrom fort und fort, das scharfe, fadendünne Stimmchen ward zur höchsten Höhe hinaufgeschraubt und ihm kam es vor, als ob das Prangerstehen wieder begonnen habe, als ob die offizielle rechtlich erlaubte Beschimpfung von heute nur ihren Fortgang nähme, und wie dort im Zimmer Nro. VIII versuchte er keine Einwendung, machte keine drohende Bewegung, sondern ließ alles über sich ergehen, im Gefühl, daß hier eine Macht waltete, die ihm unerreichbar war, ein Gerichtshof, der keine Entgegnung duldete, und jede Beleidigung nahm er hin – hier, wie er sie dort hingenommen. Aber grausam war er, dieser unsichtbare Mund, der ihn zerfleischte, die spitze Zunge, die ihn an der empfindlichsten Stelle traf, die scharfen Zähne, die seine Eitelkeit als Mann und Schriftsteller erbarmungslos in Fetzen rissen.

. . . Ein netter Quark, seine Bücher! Bildete er sich vielleicht zufällig ein, daß diese ihm den Sitz in der Akademie eingetragen? Seiner Frau verdankte er den grünen Frack, und nichts andrem auf der weiten Welt! Ein Leben voll Intriguen, voll Umtriebe und Kunstgriffe, um eine Thür nach der andern aufzustoßen, zu erschleichen . . . die ganze Jugend eines Weibes meckernden Erklärungen und Zudringlichkeiten alter Männer, die ihren tiefsten Widerwillen erregt, geopfert. . . . »Ja freilich! Mein Bester, das mußte eben sein . . . in die Akademie gelangt man mit Talent, das hattest du nicht – mit einem großen Namen oder einer bedeutenden Stellung. . . . Das alles fehlte dir . . . und so mußte, wohl oder übel, ich die Sache in die Hand nehmen. . . .« Und in der Besorgnis, er könne diese Worte nicht buchstäblich nehmen, er könne darin nur den Ausbruch der Verzweiflung einer gekränkten, in ihrer Eitelkeit als Gattin gedemütigten, in ihrer blinden Mutterliebe verletzten Frau erblicken, ging sie genau auf alle Einzelheiten jener Wahl ein, erinnerte ihn an seinen berühmten Ausspruch, daß Frau Astiers Schleierchen nach Tabak röchen, obwohl er nicht rauche . . . »ein Wort, mein Lieber, das dich weit berühmter gemacht hat, als all' deine Bücher samt und sonders . . .«

Aus seiner Brust drang ein leiser, tiefer Schmerzenslaut, der dumpfe Schrei eines Menschen, dem man den Leib aufgeschlitzt hat und der mit beiden Händen nach seinen Eingeweiden greift. Ohne sich rühren zu lassen, fuhr die spitze Stimme fort: »Nun! So packe ihn doch, deinen Koffer, packe ihn doch, aber diesmal endlich im vollen Ernst! Verschwinde, daß man nichts mehr von dir hört! . . . Dein Sohn ist reich, glücklicherweise. . . . Er wird dir so viel schicken, daß du davon leben kannst . . . denn daß du jetzt weder einen Verleger, noch eine Zeitschrift findest, die deine Albernheiten drucken, das sagst du dir doch vielleicht selbst, und so wird es Pauls sogenannte Ehrlosigkeit sein, die dich vor dem Hungertode schützt!«

»Das ist zu viel!« murmelte der arme Mann, indem er sich zum Gehen wandte, und als er, vor dieser versengenden Wut flüchtend, sich an den Mauern entlang tastete, durch die dunkeln Gänge und Treppen, durch die Höfe, wo jeder Fußtritt weithin dröhnend durch die Nacht schallte, murmelte er, dem Weinen nahe: »Das ist zu viel . . . das ist zu viel . . .«

Wohin geht er? Gerade aus, wie in einem Traume; er geht über den Platz und bis zur Mitte der Brücke, auf welcher die frische, feuchte Luft ihn belebt, zu sich bringt. Er setzt sich auf eine Bank, rückt sich den Hut aus der Stirn und schiebt die Aermel zurück, um seinen pochenden Adern Freiheit und Kühlung zu verschaffen: das gleichmäßige Rauschen und Gurgeln des Wassers bringt ihm Ruhe und Sammlung, damit aber auch Erinnerung und tiefes Weh. Was für ein Weib! Was für ein Ungeheuer! Und fünfunddreißig Jahre hatte er neben ihr dahinleben können, ohne sie zu verstehen. . . . Ein Schauer überschleicht ihn, Abscheu ergreift ihn beim Gedanken an all' die Schändlichkeiten, die er zu hören bekommen. Sie hat nichts verschont, nichts am Leben gelassen in ihm, nicht einmal das bißchen Stolz, das ihn noch aufrecht gehalten: den Glauben an sein Werk, den Glauben an die Akademie. Unwillkürlich wendet er sich um, als ihm die Akademie in den Sinn kommt. Am Ausgang der menschenleeren Brücke, die sich als breite Avenue bis zum Fuße des Gebäudes fortsetzt, erhebt der massige, in der Nacht gewaltig hervortretende Palast Mazarin seinen Portikus und seine Kuppel genau so, wie auf den Bücherumschlägen der Didots, die er in seiner Jugend so oft angesehen, und genau so, wie er denselben in dem ehrgeizigen Traume seines ganzen Lebens unausgesetzt vor Augen gehabt. Oh! Diese Kuppel, diese Steine, das trügerische Ziel, die Ursache all seines Unglücks . . . dort hat er sich seine Frau geholt! Ohne Liebe, ohne Freudigkeit hat er um sie geworben, nur weil er mit ihrer Hand das Institut zu erlangen gehofft! Und er hat ihn errungen, diesen Platz, den ihm viele neiden! Er weiß jetzt auch, auf welche Weise! . . .

In diesem Augenblicke nähern sich Schritte der Brücke, Lachen und Plaudern ertönt: es sind Studenten, die mit ihren Mädchen am Arme nach Hause gehen. Er fürchtet, erkannt zu werden, steht auf, beugt sich über die Brüstung, und während die ausgelassene Schar an ihm vorüberstreift, ohne sich um ihn zu bekümmern, denkt er mit Bitterkeit, daß er sich keine Freude gegönnt hat, daß er nie eine schöne Nacht wie diese durchschwärmt und im Sternenschein gesungen hat; der Ehrgeiz hatte ja immer all' seine Fibern angespannt erhalten, er war ja immer unterwegs gewesen nach jener Kuppel, die einem Tempel ähnelte – einem Tempel, dessen Glaubenssätze und dessen Heiligkeit er im voraus anerkannte und verehrte.

Und was hatte er in Erwiderung all dieser Treue empfangen? Nichts – das Nichts. Schon am Tage seiner Aufnahme hatte ihn, nachdem die Reden beendigt, die kleinen Bosheiten ausgetauscht gewesen, jenes Gefühl der Leere, der getäuschten Hoffnung beschlichen, und in der Droschke, mit der er nach Hause fuhr, um den grünen Frack abzulegen, hatte er sich gesagt: »Nun hab' ich's erreicht! Nun bin ich drin . . . ist's denn nur das?« Seither aber hatte er sich selbst vorgeredet, von den Kollegen wiederholen hören und selbst wiederholt, daß es etwas Schönes, Herrliches sei, und schließlich hatte er's auch geglaubt. . . . Aber jetzt ist der Schleier zerrissen, die Lüge vernichtet, jetzt sieht er klar und mit hundert Stimmen möchte er der Jugend Frankreichs zurufen: »Die Akademie ist ein Trugbild, ein Köder, eine Täuschung! . . . Geht euern Weg ohne sie, vollendet euer Werk draußen, vor allem aber opfert ihr nichts, denn sie hat euch keinen Lohn zu bieten, nichts, weder Talent, noch Ruhm, noch jenes köstliche Gut des Selbstbewußtseins, der inneren Befriedigung! Sie ist weder eine Zufluchts- noch eine Friedensstätte, die Akademie! . . . Ein hohles Götzenbild, eine Religion, die allen Trostes bar. Das Elend des Lebens, seine großen Schmerzen befallen uns dort wie anderswo, unter dieser Kuppel ist man schon zum Selbstmörder geworden und zum Irrsinnigen. Und die, welche in Jammer und Leid sich zu ihr gewendet, welche die Arme, die des Liebens oder Fluchens müde geworden, nach ihr ausgestreckt, die haben nichts als einen wesenlosen Schatten umfangen.«

Er redet laut mit entblößtem Haupte, der alte Professor, beide Hände auf die Brüstung der Brücke gestützt, wie es einst in seinen Vorlesungen sein Brauch gewesen, sie auf den Katheder zu legen. Unter ihm rauscht und wogt der Fluß, Schatten huschen drüber hin und die unabsehbare Reihe der Gasflammen zu seinen beiden Seiten blinzelt und zwinkert mit jenem geheimnisvollen Leben des Lichtes, unheimlich und beängstigend, wie alles, was sich bewegt, uns ansieht und sich nicht auszudrücken vermag. An der steilen Böschung ertönt, sich allmählich entfernend, der meckernde Gesang eines Betrunkenen:

»Wenn Kupido . . . am Morgen . . . erwacht. . . .«

Irgend ein Auvergnate, der sich in froher Weinlaune wieder auf sein Kohlenschiff begibt. Das erinnert ihn an Teyssèdre, den Bohner, und sein Glas Wein; er sieht ihn vor sich, wie er sich mit dem Rockärmel den Mund wischt: »Das ist das einzig Gute, was man im Leben hat!« Sogar diese bescheidene Wonne der Natur, er hat sie nicht gekannt, nicht genossen! selbst diesen Elenden, er muß ihn beneiden. Und sich einsam und verlassen fühlend, ohne Zuflucht, ohne eine Brust, an der er sich ausweinen könnte, gelangt er zu der Erkenntnis, daß jenes Scheusal recht gehabt hat und daß Léonard Astier seinen Koffer endlich in vollem Ernst packen muß.

Die Schutzmänner finden des Morgens auf einer Bank des Ponts des Arts einen breitkrempigen Hut, einen jener Hüte, auf welche sich die Individualität des Eigentümers einigermaßen übertragen hat. In demselben liegt eine schwere, dicke goldne Uhr und eine Visitenkarte mit dem Namen: »Léonard Astier-Réhu, ständiger Sekretär der französischen Akademie«, und quer über diesen Zeilen steht in hastiger, flüchtiger Schrift: »Ich sterbe freiwillig, durch eigne Hand. . . .« Oh ja! Freiwillig gewiß und auch gern! Als ihn die Bootsleute, nachdem sie einen ganzen Vormittag nach ihm gesucht, aus den weiten Maschen eines eisernen Netzes, welches ganz in der Nähe der Brücke ein Damenbad umgab, hervorzogen, da war auf diesen Zügen, auf diesen zusammengepreßten Lippen, dem vorgeschobenen Kiefer der feste Entschluß zum Sterben ebenso deutlich zu lesen, wie in jenem kurzen Satze der langgezogenen, bestimmten Handschrift. Man hatte ihn zuerst nach der nächstgelegenen Hilfsstation gebracht, wo Picheral hinkam, um die Identität festzustellen, bei welcher Thätigkeit sich seltsam genug ausnahm, wie er mit entblößtem Kopfe, im Frack an dem Uferabhange hin und her lief und hüpfte. Es war nicht der erste »Ständige«, den man aus der Seine zog; dieselbe Geschichte hatte sich zu Zeiten Picherals des Vaters ereignet und zwar fast unter den nämlichen Verhältnissen. Der Sohn schien daher auch weniger erschüttert zu sein, als verdrießlich darüber, daß man die Nacht nicht abwarten konnte, um Astier-Réhu nach Hause zu schaffen; allein man mußte sich die Abwesenheit seiner Gattin zu nutze machen und, um ihr eine zu heftige Gemütsbewegung zu ersparen, ihn jetzt heimbringen, solange sie zum Frühstück bei ihrem Sohn war.

Die Turmuhr des Palastes Mazarin schlug ein Uhr, als die Tragbahre der Polizeistation unter der Kuppel eintraf; weithin erdröhnte der schwere Schritt der Träger und eine nasse Spur bezeichnete unheimlich ihren Weg. Unten an der Treppe B ward abgesetzt und Atem geschöpft; ein viereckiges Stück tiefblauen Himmels leuchtete über dem im Sonnenlichte blendend daliegenden Hofe. Man hatte die Decke der Bahre zurückgeschlagen und die Kollegen von der Wörterbuchkommission, welche zum Zeichen der Trauer ihre Sitzung plötzlich aufgehoben hatten, blickten zum letztenmal in die Züge Léonard Astier-Réhus. Die Hüte in der Hand, umstanden sie ihn, einigermaßen bestürzt und ein wenig verletzt. Auch Neugierige sammelten sich, Arbeiter, kleine Beamte, Lehrburschen, denn das Institut dient als Durchgang von der Rue Mazarin zum Quai. Mitten unter ihnen stand der gute Freydet, wischte sich die Augen und schämte sich im stillen, daß sein erster Gedanke gewesen war: Wieder ein Fauteuil frei. Eben kam der alte Réhu die Treppe herab; es war die Stunde seines Verdauungsganges. Er wußte von nichts, schien sehr verwundert über die Menschenansammlung, die er von den letzten Treppenstufen aus übersah, und ohne sich von der erschrockenen Gebärde einzelner abhalten zu lassen, trat er näher, um die Ursache dieses Auflaufes zu sehen. Ob er die Sachlage erfaßte? Ob er den Toten erkannte? Seine Züge blieben unbeweglich, auch seine Augen so leer und ausdruckslos, wie die der Minerva unter ihrem Marmorhelm; dann schritt er, nachdem er aufmerksam hingesehen, während man das gestreifte Tuch wieder über das stille Gesicht des armen Mannes zog, aufrecht und stolz seines Weges, neben ihm her der langgezogene, schmale Schatten. Dieser war ein Unsterblicher, wahrhaftig, und ein greisenhaftes Kopfnicken, wie es den Geistesgestörten eigen, schien zu sagen: »Auch das habe ich noch erlebt, ich!«

Ende.


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