Alphonse Daudet
Der Unsterbliche
Alphonse Daudet

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Achtes Kapitel

Dieser Loisillon sollte nun einmal in allem Glück haben, folglich auch in der Wahl seiner Sterbestunde. Acht Tage später und die Salons wären geschlossen, Paris auseinander gestoben, die Abgeordnetenkammer vertagt, die Akademie in Ferien gewesen und einige Vertreter der zahlreichen gelehrten Gesellschaften, deren Vorsitzender oder Schriftführer er war, hätten ihm in Gemeinschaft der Diätenausträger des Instituts allein die letzte Ehre erwiesen. Findig, wie er seiner Lebtage gewesen, trat er seine letzte Reise gerade zur günstigsten Stunde an, am Vorabende der großen Preisverteilung, in einer ganz unbesetzten Woche ohne Verbrechen, ohne Duell, ohne großen Prozeß oder politische Katastrophe, einer Woche, in der das Schauspiel der Leichenfeierlichkeit des Sekretärs der Akademie die einzige Zerstreuung der Pariser abgab.

Auf mittags zwölf Uhr war die Totenmesse angeordnet, und schon lange vor dieser Zeit bewegten sich ungeheure Menschenmassen um Saint-Germain des Prés her; die Zufahrt war gesperrt, nur die Wagen der Eingeladenen hatten das Recht, auf den Platz zu fahren, von dem ein strenges Regiment führender, in regelmäßigen Zwischenräumen aufgestellter Kreis von Stadtsergeanten das Publikum fern hielt. Was Loisillon gewesen, was er in den siebzig Jahren, die er unter ihnen gelebt, gethan und geleistet, was der silbergestickte Anfangsbuchstabe auf dem feierlichen schwarzen Behang zu bedeuten hatte, das wußten in dieser wogenden Menschenmenge nur wenige, aber die Entfaltung der Polizeimacht, der weite Raum, der für den einen toten Mann frei gelassen wurde, das machte Eindruck. Durch die Entfernung, durch gähnenden leeren Raum drückt sich ja allezeit Majestät und Ehrfurcht aus! Das Gerücht, daß alle möglichen berühmten Männer und auch Damen von der Bühne sich einfinden werden, hatte sich verbreitet, und die Maulaffen feilhaltende Pariser Volksmenge gab den plaudernd in Gruppen vor der Kirche Umherstehenden alle möglichen Namen.

Hier war es, unter der schwarz ausgeschlagenen Vorhalle, wo man die Totenklage um Loisillon hören mußte, die wahre, aufrichtige, nicht die, welche bald darauf am Montparnasse gesprochen werden sollte; hier vernahm man über den Mann und seine Leistungen die wirkliche Kritik, die von den morgen in der Zeitung stehenden Artikeln wesentlich verschieden war. Die Leistungen waren: »Eine Reise nach dem Andorrathal« und zwei Berichte, die zur Zeit, als Loisillon Leiter der Beaux Arts gewesen, in der Staatsdruckerei herausgegeben worden waren.

Seinem innersten Wesen nach war er der Typus eines durchtriebenen Winkeladvokaten gewesen, mit gekrümmtem Lakaienrücken, geistlos, winselnd, mit dem stehenden Ausdruck des um Verzeihung Bittens, um Verzeihung für seine Ehrenkreuze, seine Palmen, seinen Platz in der Akademie, wo seine etwas gaunerhafte Gewandtheit ihn zum Vermittler und Bindeglied zwischen so vielen verschiedenen Elementen, deren keinem man ihn beigesellen konnte, werden ließ; um Verzeihung für sein außerordentliches Glück, für den der Nichtigkeit, der schweifwedelnden Niedrigkeit eingeräumten Vorzug. Man erinnerte sich gegenseitig an einen Ausspruch, den er bei Gelegenheit eines akademischen Diners gethan, wo er sich, eine Serviette überm Arme, am Tische zu schaffen gemacht und ganz stolz ausgerufen hatte: »Gott, was für einen vortrefflichen Bedienten hätte ich gegeben!« Das wäre die richtige Grabschrift für ihn!

Und während man über die Nichtigkeit dieser Existenz tiefsinnige Betrachtungen anstellte, ward diesem Nichts, diesem unbedeutenden Menschen im Tode noch ein Triumph zu teil. Ein Privatwagen nach dem andern rollte an der Freitreppe der Kirche heran; die langen braunen oder blauen Ueberröcke der herrschaftlichen Diener flogen, flatterten, schleiften an der Erde und kehrten die Vorhalle unter dem Geräusch herabgelassener Wagentritte und zugeworfener Thüren; die Gruppen der Berichterstatter der Presse wichen ehrfurchtsvoll vor der stolzen hohen Gestalt der Herzogin Padovani auseinander: Frau Ancelin erschien blühend wie immer in ihrer Kreppwolke, Frau Eviza, deren langgeschlitzte Augen unter dem Schleier glühende, versengende Blicke schossen, die einen Cato vom Pfade der Tugend abzulenken vermocht hätten, die ganze Gemeinschaft der Gläubigen, die frommen, eifrigen Priesterinnen und Anhängerinnen der Akademie, fanden sich ein, weniger um dem Gedächtnis des verstorbenen Loisillon eine Ehre anzuthun, als um ihre Götzenbilder zu betrachten, diese von ihnen auf den Altar erhobenen, von ihren geschickten kleinen Händen geformten Unsterblichen, diese wahrhaftigen Erzeugnisse weiblicher Handarbeit, auf welche sie all ihr brach liegendes Vermögen an Stolz, Ehrgeiz, Schlauheit, Willenskraft verwendet hatten. Unter dem Vorwande irgend einer Stiftung für die Waisen dramatischer Künstler, deren Vorstand der Tote gewesen, erschienen die Schauspielerinnen, in Wahrheit aber führte sie nichts andres her als das in allen brennende Verlangen, mit dabei zu sein, zur Gesellschaft zu gehören. Und als sie nun kamen, aufgelöst in Schmerz, pathetisch und tief ergriffen, war man versucht, sie für die nächststehenden aller Leidtragenden zu halten. Plötzlich thut sich ein Wagenschlag auf, schwarze Schleier wälzen sich heraus, hilflos, schwankend, ein Jammerbild, dessen Anblick kaum zu ertragen ist. Die Witwe? Nein! Marguérite Oger, die große dramatische Künstlerin, deren Erscheinen an allen Enden des Platzes stürmische Erregung, erneute Versuche, sich vorwärts zu drängen, Rippenstöße und Quetschungen zur Folge hat. Von der Vorhalle fliegt ein Herr von der Presse ihr entgegen, drückt ihr die Hände, reicht ihr stützend den Arm und spricht ihr Mut ein.

»Ja, ja . . . Sie haben recht. Ich werde stark sein.«

Die Thränen verschluckend und das Taschentuch heftig auf die Augen pressend, tritt sie, oder vielmehr hält sie ihren Einzug in das düstere Mittelschiff der Kirche, in dessen Tiefe die Kerzen flimmern, sinkt neben den andern Damen auf einem Betstuhl in die Kniee, kraftlos, im Schmerze versinkend. Nach einer Weile richtet sie sich, immer noch schwach und jammervoll, ein wenig auf und fragt eine neben ihr knieende Kollegin: »Wie viel ging gestern im Vaudeville ein?«

»Viertausendzweihundert!« erwidert die Freundin, ebenfalls im Tone tiefsten Schmerzes.

In der Menge verloren und schier erdrückt, hörte Freydet, der sich ganz hinten befand, alles um sich rufen und sagen: »Marguérite! . . . Das ist Marguérite! . . . Ach, wie hübsch sie hineingegangen ist. . . .« Allein seine Kleinheit war ihm in diesem Falle sehr hinderlich und er mühte sich vergeblich, sich Bahn zu brechen, als eine Hand sich auf seine Schulter legte: »Was, noch in Paris? . . . Die arme Schwester wird nicht sehr vergnügt darüber sein. . . .« Zu gleicher Zeit riß ihn Védrine mit sich fort, gebrauchte seine kräftigen Ellbogen als Ruder und teilte das Menschengewoge, das er um Haupteslänge überragte, mit der Bemerkung: »Gehören zur Familie, meine Herren . . .« und lotste den Provinzler, der über diese Begegnung einerseits von Herzen froh, andrerseits etwas verlegen war, weil der Bildhauer nach seiner Art sich laut und unumwunden aussprach, glücklich bis in die erste Reihe der Schaulustigen. »Hm! Hm! Dieser Glückspilz, der Loisillon. . . . Gerade so viel Leute wie bei Béranger . . . das muß unsrer hoffnungsvollen Jugend ja das Wasser im Munde zusammenziehen.« Plötzlich, als er Freydet beim Herannahen des Leichenzugs den Hut abnehmen sah, sagte er: »Du siehst ja ganz anders aus . . . was hast du denn mit dir angefangen? Dreh dich doch . . . ja, du Unglückseliger, du siehst ja wie Ludwig Philipp aus? . . . Der Schnurrbart war abrasiert, die Haare zum Toupé frisiert und das gute, sonnengebräunte, rötliche Gesicht des Dichters, der seine kleine Person mit feierlicher Steifheit stramm aufgerichtet hielt, strahlte zwischen kunstvoll zugestutzten, ergrauenden Kotelettes. »Ach! Ich begreife . . .« lachte Védrine, »den Kopf hast du dir für die Herzöge, für Chantilly zurechtstutzen lassen. . . . Die Akademie hat dich also immer noch nicht losgelassen? . . . Aber so sieh dir doch nur dies Fastnachtsspiel an. . . .«

Es war ein entsetzliches Schauspiel, das sich auf dem weiten, von Menschen gesäuberten Platze im hellen Sonnenschein dem Auge darbot: hinter dem Leichenwagen kamen die Mitglieder des Büreaus der Akademie, und es war, als ob man eine grausame Wette gemacht hätte, die lächerlichsten Greisengestalten zu diesem Behuf auszulesen, welche in dem von David gezeichneten Kostüme, dem Frack mit den grünen Stickereien, dem dreieckigen Hut, dem Galadegen, der an so mißbildeten Beinen herumbaumelte, wie David sie jedenfalls nicht vorausgesetzt hatte, noch häßlicher aussahen, als sonst wohl. Gazan war der erste, den Hut quer über den unregelmäßigen, eckigen Schädel, und das helle Pflanzengrün des Frackes ganz geeignet, die Erdfarbe der fetten, schuppigen Rüsseltiermaske noch hervorzuheben. Neben ihm der düstere, himmellange Laniboire, mit dem bläulich gefleckten Gesichte und dem vom Schlage schief gezogenen Hanswurstmunde; er verbarg seine Palmen unter einem Ueberrock, der ihm zu kurz war und die Spitze des Degens und die Frackschöße frei ließ, was ihm, im Verein mit dem spitzen Hute, das Ansehen eines Leichenvorgängers verlieh, wenn er sich auch an Anstand und Würde beileibe nicht mit dem Pedell messen konnte, der, den Ebenholzstab in der Hand, dem Büreau voranschritt. Andre folgten, Astier-Réhu, Desmininières, einer wie der andre mit beklommener Miene, verlegen, beschämt, durch demütige Haltung um Entschuldigung bittend für das Groteske ihrer Ordenstracht, die in dem kalten, feierlichen, gewissermaßen historischen Lichte ihres Kuppelsaales noch annehmbar war, hier aber im Alltagslichte, auf offener Straße, mitten im Leben drin, jeden Zuschauer lächeln machte wie ein Affenputz.

»Wahrhaftig! Man möchte doch gleich eine Handvoll Nüsse unter sie werfen, um sie auf allen vieren danach haschen zu sehen. . . .« Aber Freydet vernahm diese ruchlose Aeußerung seines gefährlichen Begleiters nicht mehr. Er drückte sich unbemerkt von seiner Seite weg, mischte sich unter das Leichengefolge und schritt mit demselben zwischen zwei Reihen Soldaten mit Gewehr bei Fuß hindurch in das Innere der Kirche. Eigentlich bedeutete Loisillons Tod ja für ihn eine große Freude; persönlich gekannt hatte er ihn nicht, und ihn in seinen Werken zu lieben, war etwas schwierig, da solche nicht vorhanden; das einzige, wofür er ihm Dank schuldig, war eben nur sein Tod, der so gerade zur rechten Zeit einen Sitz in der Akademie frei machte. Trotzdem aber verfehlte dieser Trauergang, gegen den der eingeborene Pariser durch die Gewohnheit abgestumpft ist, auf ihn seine Wirkung nicht; diese Spaliere von Soldaten, den Tornister auf dem Rücken, das dumpfe Aufschlagen der Gewehrkolben auf den Steinfliesen, das auf einen Ruck, wie aus einer Hand erfolgte – ein schneidiger kleiner Lieutenant, blutjung, in einem Stehkragen bis an die Ohren steckend und noch weit entfernt, an seine Bequemlichkeit zu denken, kommandierte diese Beisetzung und betrieb seine Aufgabe als erste Feldherrnthat – die Trauermusik, die schwarz verhüllten Trommeln, das alles erfüllte ihn mit ehrfurchtsvoller Rührung, und wie immer, wenn eine lebhafte Empfindung sich seiner bemächtigte, strömten ihm die Verse von selbst zu. Es war ein schöner Anfang, ein großartiges, packendes Bild der Verwirrung, der inneren Bangigkeit, der geistigen Dunkelheit und Verdüsterung, die das Erlöschen eines seiner großen Männer in der Atmosphäre eines Landes zurückläßt. Er unterbrach sich aber in seinem schöpferischen Sinnen, um Danjou einen Platz anzubieten, der, sehr verspätet, unter einem Kreuzfeuer weiblicher Blicke und allgemeinem Geflüster eingetreten war, den harten, stolzen Kopf hochtragend und gewohnheitsmäßig von Zeit zu Zeit mit der flachen Hand darüber streichend, jedenfalls, um sich zu vergewissern, ob der künstliche Haarboden an seiner richtigen Stelle sitze.

»Er hat mich nicht erkannt . . .« sagte sich Freydet, verstimmt durch den vernichtenden Blick, mit dem der Akademiker diesen Wurm, der es gewagt hatte, ihm ein Zeichen zu machen, in den Staub zurück verwies, »vermutlich mein Backenbart . . .«, und da der Strom der Verse nun schon abgelenkt war, machte sich der Kandidat wieder daran, seinen Schlachtplan zu entwerfen, seine Besuche zu überdenken und den offiziellen Brief, welchen er an den Sekretär zu richten hatte. Freilich war der ja jetzt tot . . . ob Astier-Réhus Ernennung wohl noch vor den Ferien erfolgen würde? Und wann die Neuwahl? Die Frage beschäftigte ihn bis in ihre geringsten Einzelheiten, bis auf den Frack; sollte er Astier-Réhus Schneider nehmen oder nicht? Und lieferte dieser Schneider zugleich auch Degen und Hut?

»Pie Jesu, Domine . . .« eine herrliche Opernstimme stieg hinter dem Altar auf und bat um Frieden für Loisillon, den der Gott der Barmherzigkeit offenbar furchtbar zu martern im Sinne haben mußte, denn in allen Tonarten und Registern, Einzelstimmen und Chor ertönte es durch die Kirche: »Ruhe für ihn, Ruhe o Gott! . . . Laß ihn im Frieden schlafen nach so viel Aufregung und Streit und Widerstreit! . . .« Und auf diesen Gesang mit seiner unwiderstehlichen Traurigkeit antwortete aus dem Schiffe das Weinen der Frauen, beherrscht und übertönt von Marguérite Ogers tragischem Schluchzen, ihrem entsetzlichen, ergreifenden Schluchzen aus »Musidora«. All diese Klänge rührten dem guten Kandidaten ans Herz, andre Thränen, andre Schmerzen, andres Leid lebte in ihm wieder auf und gesellte sich zu diesem; er dachte an seine verstorbenen Lieben, an die Schwester, die ihm eine Mutter war, die es wußte, daß sie zum Tode verurteilt, die in all ihren Briefen davon sprach. Ach! – Ob sie auch nur den Tag seines Triumphes erlebte? . . . Seine Augen strömten über, thränenblind stand er da und griff nach seinem Taschentuche.

»Sie thun zu viel . . . zu viel . . . das glaubt Ihnen kein Mensch . . .« kicherte die Fratze des dicken Lavaux an sein Ohr. Entrüstet wandte er sich um, allein die Stimme des jungen Offiziers kommandierte donnernd: »Gewehr – auf!« und die Bajonette klirrten an den Gewehren, während die Orgel dumpf grollend, den »Trauermarsch auf den Tod eines Helden« mächtig erklingen ließ. Nun begann der Zug sich nach dem Ausgang in Bewegung zu setzen, das Bureau wieder an der Spitze, Gazan, Lamboire, Desminières, sein guter Lehrer Astier-Réhu. Sie sahen jetzt stattlich aus, wie sie in dem geheimnisvollen Halbdunkel der Kirche, wo das lächerliche Papageigrün der Amtstracht mild abgetönt erschien, zu zwei und zwei das Schiff entlang schritten, langsam, zögernd, als ob sie sich nur höchst ungern in das grelle Tageslicht hinauswagten, von dem ein breiter Streifen durch das geöffnete Portal hereinfiel. Hinter ihnen die ganze Gesellschaft unter Vortritt ihres Dekans, des merkwürdigen Jean Réhu, der, in einem langen Ueberrock noch größer erscheinend, sein winziges braunes Köpfchen, das wie eine geschnitzte Kokosnuß aussah, hoch und steif trug und mit einem geistesabwesenden, verächtlichen Blicke die Ceremonie überflog, in dem deutlich zu lesen stand: »Ich habe das schon unzählbar oft mitgemacht!« Und wirklich mußte er in den sechzig Jahren, die er die Diäten der Akademie genoß, unzähligemal diese Psalmodieen gehört, Weihwasser auf ruhmbedeckte Katafalke gesprengt haben!

Aber wenn dieser seinen Titel eines Unsterblichen in wunderbarer Weise rechtfertigte, so erschien sein Gefolge von Großvätern als eine wehmütige, stark aufgetragene Parodie desselben. Altersschwach, gebeugt, gekrümmt wie alte Obstbäume, mit bleiernen Füßen, schlotternden Beinen, gingen sie, da sie nicht geführt wurden, schwankend, unsicher, mit den Händen tastend ihres Weges, und ihre Namen, welche die Umstehenden sich zuraunten, riefen längst vergessene Werke ins Gedächtnis. Im Vergleich mit diesen aus dem Grabe Erstandenen, diesen »Urlaubern des Père Lachaise«, wie eine böse Zunge im Trauerzuge sie nannte, erschienen die übrigen Akademiker jugendlich: sie schritten, ihren Wuchs möglichst zur Geltung bringend, stramm dahin unter den begeisterten Blicken der Frauen, die versengend durch die schwarzen Schleier drangen, durch das Gewoge der Menschenmasse, zwischen den Tschakos und Tornistern der erstaunten Krieger. Auch dieses Mal erfolgte auf den Gruß, den Freydet an zwei oder drei »Zukunftskollegen« richtete, nur ein kaltes, verächtliches Lächeln, wie es uns in bangen Träumen zu widerfahren pflegt, daß unsre liebsten Freunde uns nicht mehr erkennen. Aber er hatte nicht viel Zeit, sich darüber zu betrüben, der Strom und Gegenstrom, der sich nach dem Ausgang und nach dem Chor der Kirche zu bewegte, hatte ihn erfaßt.

»Nun, nun! Herr Vicomte, jetzt gilt es sich zu rühren . . .« Dieser wohlmeinende Rat, den ihm der liebenswürdige Picheral mitten in dem Getöse, dem Durcheinander von Stühlen, ins Ohr flüsterte, ließ das erstarrte Blut wieder etwas frischer durch die Adern des Kandidaten fließen; als er sich jedoch zu dem Katafalk durchgearbeitet hatte, murmelte Danjou, der ihm den Weihwedel reichte, ohne ihn anzusehen: »Nur jetzt nichts thun . . . lassen Sie allem seinen Lauf! . . .« Die Beine zitterten ihm. Rühren Sie sich, lassen Sie allem seinen Lauf! . . . Welcher Rat war der bessre, welchen sollte er befolgen? Der einzige, der ihm das sagen konnte, war sein Meister Astier, und den hoffte er draußen zu treffen. Leicht war das nun gerade nicht, in der dicht mit Menschen gefüllten Vorhalle, wo sich der Zug in Ordnung aufstellte, während der mit Blumen überladene Sarg auf den Wagen gehoben wurde. Nirgends geht es lebhafter zu, als wenn man, die Kirche nach einem Trauergottesdienst verlassend, in den hellen Sonnenschein eines schönen Sommertages heraustritt; man begrüßt sich, winkt sich zu, spricht ein paar Worte, die mit der ernsten Handlung nicht im geringsten Zusammenhang stehen; auf allen Gesichtern ist Erleichterung zu lesen, ein Verlangen, sich für die endlos lange Stunde des regungslosen Verharrens und Anhörens von Totenklagen möglichst rasch zu entschädigen. Verabredungen, die getroffen werden, Reisepläne, die man bespricht, alles zeugt von der Ungeduld des Lebens, das so rasch als möglich nach kurzem, gezwungenem Innehalten wieder aufgenommen wird und den armen Loisillon sofort dahin verweist, wo er von nun ab hingehört, in die Vergangenheit.

»Vergessen Sie nicht . . . im Théâtre français heute abend . . . es ist der letzte Dienstag . . .« miaute Frau Ancelin. »Machen Sie die Geschichte bis zum Ende mit?« fragte Paul Astier den dicken Lavaux.

»Nein; ich bringe Frau Eviza nach Hause.«

»Um sechs Uhr also bei Keyser; wird einem wohlthun nach den Reden.«

Während die Privatcoupés nach verschiedenen Richtungen in raschem Trabe davoneilten, fuhren die Wagen des Trauergefolges in langer Reihe auf. Die Fenster der umliegenden Häuser waren dicht mit Menschen besetzt und in der Richtung des Boulevards St. Germain drängte man sich auf den Wagen der Pferdebahn, die nicht weiter fahren konnte; Kopf über Kopf standen die Leute, daß ihre dunkeln Reihen in den blauen Himmel hineinzuragen schienen. Geblendet von der Sonne, den Hut als Schirm dagegen haltend, stand Freydet und weidete sich am Anblick dieser unabsehbaren Menschenmenge, ein Anblick, der sein Herz mit Stolz erfüllte, denn da man diese ruhmvollen Ehrenbezeigungen wahrhaftig nicht wohl auf den Verfasser der »Reise im Andorrathale« beziehen konnte, so galten sie in seinen Augen der Akademie. Zu gleicher Zeit mußte er sich aber zu seinem größten Leidwesen zugestehen, daß die teuern »Zukunftskollegen« sich sehr ablehnend gegen ihn verhielten, bei seinem Herannahen stets vollkommen in ihr Gespräch vertieft waren, ihm den Rücken kehrten, sich gegen den Eindringling zusammenrotteten. Und das waren die nämlichen Männer, die ihm vorgestern bei Voisin die Hand gedrückt, ihn vertraulich beiseite gezogen und gefragt hatten: »Wann werden Sie denn einer von den Unsrigen sein?« Die schmerzlichste Niederlage aber sollte er bei Astier-Réhu erleben!

»Wie traurig, lieber Meister . . .« sagte der Kandidat, mit vorschriftsmäßig gerührter Miene auf ihn zutretend, um mit ihm zu sprechen, ein bißchen Sympathie zu ergattern. Ohne zu antworten, stand der andre neben dem Leichenwagen und blätterte in dem Entwurf der Rede, die er zu halten im Sinne hatte, und Freydet wiederholte sein: »Wie traurig! . . .«

»Mein bester Freydet, das ist einfach unanständig . . .« sprach der Meister mit lauter, grober Stimme, klappte die Kinnlade energisch zusammen und widmete sich wieder seinen Blättern.

Unanständig! . . . Wieso? . . . Mit einer unwillkürlichen Bewegung griff der Aermste nach seinen Knöpfen, warf einen prüfenden Blick über seinen ganzen Anzug bis zur Stiefelspitze, konnte sich jedoch das vorwurfsschwere Wort in keiner Weise erklären. Was ging denn vor? Was hatte er sich denn zu schulden kommen lassen?

Einige Minuten war er wie betäubt; es schwirrte ihm im Kopfe; undeutlich wie durch einen Schleier sah er die schwankende Blumenpyramide des Leichenwagens sich in Bewegung setzen, grüne Fräcke an ihren vier Ecken, andre grüne Fräcke dahinter, dann die ganze akademische Gesellschaft und unmittelbar hinter derselben, jedoch mit einem wohlabgemessenen Zwischenraum, eine Gruppe, in die er sich, ohne zu wissen wie, aufgenommen, verschmolzen sah. Es waren junge Männer und alte, alle fürchterlich mutlos, müde und traurig dreinschauend, alle die nämliche tiefe Falte einer fixen Idee auf der Stirne, alle mit dem nämlichen gehässigen, mißtrauischen Blick den Nachbar betrachtend. Und als er, sich von seiner Bestürzung erholend, diese Persönlichkeiten wieder zu benennen im stande war, erkannte er die welken, enttäuschten Züge Vater Mosers, des ewigen Kandidaten; das ehrliche Gesicht von Dalzon, dem Verfasser des Buches, der bei den letzten Wahlen durchgefallen war, und von Salèles und Guérineau. Das Schleppschiff! Wahrhaftig! Alle die, um welche sich die Akademie nicht mehr bekümmert, die sie in der schimmernden Furche ihres stolzen Bootes nach sich zieht, sicher, daß sie sich gehörig in den zuverlässigen Angelhaken verbissen. Da waren sie, einer wie der andre, die armen Gefangenen, zum Teil schon tot, tief unterm Wasser fortgezogen, zum Teil noch zappelnd, schnappend, mit einem begehrlichen, schmerzvollen Blick, der verlangt, fordert, ewig verlangen und zürnen wird. Und während er sich im stillen gelobt, diesem Schicksal nicht anheimzufallen, folgte Abel von Freydet unverrückt der vorgehaltenen Lockspeise; auch er mit fortgezogen von dem Angelhaken, der ihm schon viel zu tief ins Fleisch gedrungen war, als daß er sich noch hätte losreißen können.

Weit vorn auf dem für das Leichengefolge freigehaltenen Wege wechselte dumpfes Trommeln mit hellem Trompetengeschmetter, das auf der ganzen Strecke die Bewohner der Häuser an ihre Fenster rief, die Vorübergehenden stehen bleiben machte, und dann stimmte die Musik in langgezogenen Tönen wieder den Trauermarsch an. Und angesichts dieser gewaltigen Ehrenbezeigungen, dieses Totengeleites einer ganzen Nation, dieser hoffärtigen Auflehnung des zu Staub gewordenen, gedemütigten Menschen, der vom Tode besiegt, seine Niederlage noch schmückt, noch verherrlicht, war es ein schöner Gedanke, daß dies alles Loisillon galt, Loisillon, dem ständigen Sekretär der französischen Akademie, das heißt einem Nichts.


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