Alphonse Daudet
Der Unsterbliche
Alphonse Daudet

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Erstes Kapitel.

Im »Lexikon der Zeitgenössischen Berühmtheiten«, Jahrgang 1880, steht unter Astier-Réhu zu lesen:

»Astier, genannt Astier-Réhu (Peter Alexander Léonard), Mitglied der französischen Akademie, ist geboren 1816 in Sauvagnat (Puy-de-Dôme) als Sohn einfacher Landleute. Von Jugend auf zeigte er hervorragende Begabung für historische Forschung. Studien von einer Gründlichkeit, wie sie heutzutage immer seltener wird, im Lyceum von Riom begonnen und im Gymnasium Louis-le-Grand, an welcher Lehranstalt er später als Professor thätig werden sollte, vollendet, erschlossen ihm die Pforten der oberen Ecole Normale. Nachdem er dieselbe durchlaufen, ward er Professor der Geschichte am Lyceum von Mende, wo er seine ›Studie über Mark Aurel‹ schrieb, welche von der Akademie preisgekrönt wurde. Das Jahr darauf von Herrn von Salvandy nach Paris berufen, wußte der hochbegabte junge Gelehrte seine Dankbarkeit für die ihm zu teil gewordene sehr berechtigte Bevorzugung dadurch an den Tag zu legen, dass er Schlag auf Schlag: ›Die großen Staatsmänner Ludwig XIV.‹ (preisgekrönt von der französischen Akademie), ›Bonaparte und das Konkordat‹ (preisgekrönt von der französischen Akademie) und die bewundernswerte ›Einleitung zur Geschichte des Hauses Orleans‹ veröffentlichte, welche den großartigen Vorhof jenes gewaltigen Werkes bildet, an welches der Geschichtschreiber zwanzig Jahre seines Lebens gewendet hat. Die Akademie hatte ihm keinen Preis mehr zu bieten; sie bot ihm Sitz und Stimme ihrer Auserwählten. Vorher schon hatte er ein wenig zur Familie gehört, indem er Fräulein Réhu, die Tochter des vielbeklagten berühmten Architekten und Mitglieds der Akademie der Inschriften und schönen Wissenschaften, Paulin Réhu und die Enkelin Jean Réhus, des Dekans der französischen Akademie, meisterhaften Ovid-Uebersetzers und Verfassers der ›Briefe an Urania‹, dessen jugendfrohes Alter die Freude und Bewunderung des Instituts ist, heimgeführt hatte.

»Man weiß, mit welch edler Uneigennützigkeit der durch seinen Kollegen und Freund, Herrn Thiers, zum Archivar des Auswärtigen Amtes berufene Léonard Astier-Réhu nach Verlauf einiger Jahre diesen Posten niederlegte (1878), weil er seine Feder und die Würde der geschichtlichen Wahrheit nicht unter die Forderung unsrer gegenwärtigen Regierungen beugen konnte. Des ihm so wichtigen archivistischen Amtes beraubt, wußte er seine Muße wohl zu nutzen und hat uns im Verlauf von zwei Jahren die drei letzten Bände seiner Geschichte gegeben und uns einen ›Galilei‹ mit noch ungedruckten und höchst merkwürdigen Dokumenten angekündigt. Die sämtlichen Werke Astier-Réhus sind im Verlag der Akademischen Buchhandlung von Petit-Séquard erschienen.«

Da der Herausgeber des »Lexikons der Berühmtheiten« es jedem Beteiligten anheimstellt, über sich selbst Bericht zu erstatten, so ist die Richtigkeit seiner Mitteilungen nicht anzuzweifeln. Aber weshalb behaupten, dass Astier-Réhu seine Entlassung als Archivar genommen habe, während jedes Kind weiß, dass er abgesetzt, abgelohnt wurde wie der nächste beste Droschkenkutscher, weil der Geschichtschreiber des Hauses Orleans sich Band V, Seite 327 den unvorsichtigen Satz hatte entschlüpfen lassen: »Damals, wie heute, war Frankreich von einer demagogischen Hochflut überschwemmt . . .«

Was doch eine solche Metapher nicht anrichten kann! Die zwölftausend Franken Jahreseinkommen, eine Wohnung am Quai d'Orsan, Heizung, Beleuchtung, und überdies jene unschätzbaren historischen Räume, in denen seine Bücher Leben und Wirklichkeit gewonnen hatten, das alles riß diese »demagogische Hochflut«, seine Hochflut mit sich fort! Der arme Mann erholte sich nie mehr von diesem Schlage. Selbst nach zwei Jahren grämte er sich noch um jene äußeren Vorteile und der Schmerz um die Ehren seines Amtes nagte an seinem Herzen und zwar an gewissen Tagen, an bestimmten Monats- und Wochentagen, mit erhöhter Lebhaftigkeit. Am schlimmsten war es an Teyssèdres Tag.

Teyssèdres Beruf war, Fußböden zu bohnern. Er übte denselben regelmäßig am Mittwoch im Hause Astier und am Nachmittag dieses Mittwochs hielt Frau Astier ihren Empfangstag und zwar in dem Arbeitszimmer ihres Gatten, dem einzigen gesellschaftswürdigen Raume dieses dritten Stockwerkes in der Rue de Beaune, einer weiland glänzenden, mit äußerst großartigen Plafonds geschmückten, aber entsetzlich unbequemen Behausung. Man kann sich leicht vorstellen, in welchen Zustand dieser allwöchentlich wiederkehrende Mittwoch den in seiner fleißigen, systematischen Arbeit unterbrochenen berühmten Geschichtschreiber versetzte: er hatte allmählich einen leidenschaftlichen Haß auf diesen Bodenwichser geworfen, auf seinen ›Landsmann‹ mit dem Quittengesicht, das so hart und gelb war, wie seine Stücke Wachs, auf diesen ganzen Teyssèdre, der unter dem Vorwande, daß er von Riom sei und Herr Astier nur von »Chauvagnat«, ohne einen Anflug von Respekt den schweren mit Manuskripten, Notizen, Zettelchen und Büchern beladenen Tisch hin und her bugsierte und den armen großen Mann von einem Zimmer ins andre jagte, bis derselbe sich schließlich genötigt sah, seine Zuflucht in einem seinem Arbeitszimmer in der Höhe abgewonnenen Hängeboden zu nehmen, wo er, trotzdem er eben nicht hochgewachsen war, nur sitzend sich aufhalten konnte. Dieser mit einem verblichenen gestickten Lehnstuhle, einem alten Spiel- und einem Schreibtische ausgestattete Schlupfwinkel empfing sein Licht von den obersten Scheiben des darunter liegenden Bogenfensters, was ungefähr wie eine niedere Gewächshausthüre aussah, durch die man den Gelehrten, wenn er, wie der Kardinal Balue in seinem Käfig, mühselig zusammengekauert über die Arbeit gebeugt saß, vom Kopf bis zu den Füßen erblicken konnte. Hier saß er eines Morgens, die Augen fest auf eine alte Scharteke geheftet, als mitten in das Donnergetöse, mit welchem Teyssèdres Thätigkeit den Raum erfüllte, die Klingel der Vorthüre ertönte.

»Sind Sie es, Fage?« fragte die tiefe, metallische Stimme des Akademikers.

»Nein, Herr Astier . . . es ist der junge Herr,« erwiderte Teyssèdre, welcher am Mittwoch morgen Portierdienst versah, weil Corentine der gnädigen Frau beim Ankleiden half.

»Was macht der Meister?« rief Paul Astier, dabei eilig auf das Zimmer seiner Mutter zusteuernd. Der Akademiker gab keine Antwort. Die Ironie, mit der sein Sohn ihn Meister, lieber Meister nannte, nur um den Titel zu verhöhnen, der ihm sonst so wohl that, verletzte ihn immer aufs neue.

»Wenn Fage kommt, soll man ihn sogleich heraufschicken,« befahl der Hausherr, ohne sich mit einer direkten Anrede an Teyssèdre zu wenden.

»Jawohl, Herr Astier . . .« und wiederum erschütterte Donnergetöse das Haus. »Guten Morgen, Mama . . .«

»Ach, das ist ja Paul, komm doch herein. . . . Vorsichtig mit den Plissés, Corentine.«

Frau Astier schlüpfte eben vor dem Spiegel in einen Rock. Mit ihrer schmalen und schlanken Gestalt sah sie trotz der Müdigkeit, die sich in ihren Zügen ausprägte, und der Haut, die allzu dünn war, um zu den sehr haltbaren zu gehören, noch recht gut aus. Ohne sich vom Fleck zu rühren, bot sie dem Sohne die gepuderte Wange zum Kuß, die er mit dem spitzen, blonden Schnurrbart leicht berührte; von keiner Seite lag große Zärtlichkeit in dieser Begrüßung.

»Bleibt der Herr Paul zum Frühstück?« fragte die dienstthuende Corentine, ein kräftiges Landmädchen mit fettig glänzendem, von Pockennarben durchfurchtem Gesicht, die wie die Hirtin auf der Wiese am Boden kauerte und am Gewand ihrer Herrin, einem fadenscheinigen schwarzen Fähnchen, etwas ausbesserte. Ton und Haltung zeugten von jener Vertraulichkeit, wie sie das schlecht bezahlte »Mädchen für alles« sich gern herausnimmt.

Nein, Paul blieb nicht beim Frühstück; er wurde erwartet und hatte sein Boghey vor der Thüre. Er war nur gekommen, um ein Wort mit der Mutter zu sprechen.

»Deinen kleinen englischen Wagen . . . wie? Den müssen wir uns besehen.«

Frau Astier trat an das offne Fenster, schob die von der hellen Maisonne beschienene Jalousie ein wenig auseinander, nur eben weit genug, um einen Ausblick auf das flotte, höchst elegante, nagelneue kleine Gespann mit dem funkelnden Beschlag und dem frisch lackierten Holzwerk und den Diener in neuer Livree, der das Pferd am Zaume hielt, zu gewinnen.

»Oh! Ist das schön, gnädige Frau!« flüsterte Corentine, die gleichfalls hinunterblickte. »Wie muß der Herr Paul sich da drin nobel ausnehmen.«

Die Mutter war strahlend, allein nun gingen auch gegenüber Fenster auf, Leute blieben stehen, um sich die Equipage zu besehen, die das ganze Ende der Rue de Beaune in Aufruhr versetzte, und Frau Astier zog sich ins Innere des Zimmers zurück, entließ das Dienstmädchen und vollendete, sich auf den Rand einer Chaiselongue setzend, die Reparatur am Saume ihres Kleides selbst. Trotzdem sie ausschließlich mit ihrer Nähterei beschäftigt zu sein schien, wartete sie mit großer Spannung auf die Mitteilungen ihres Sohnes, deren Inhalt sie im großen ganzen so ziemlich vorher wußte. Paul Astier hatte sich in einem Lehnstuhle ausgestreckt und spielte mit einem Elfenbeinfächer, einem alten Dinge, das er, solange er denken konnte, bei seiner Mutter gesehen, und sprach ebensowenig. Die Aehnlichkeit zwischen Mutter und Sohn war auffallend, derselbe rosige kreolische Fleischton, gehoben durch dunkles Haar, dieselbe Zierlichkeit im Wuchs, das unerforschliche, verschleierte graue Auge, in beiden Gesichtern die nämlichen kaum wahrnehmbaren Mängel, die feine etwas schiefe Nase, die ihnen einen Ausdruck von Durchtriebenheit verlieh, jedenfalls nicht vertrauenerweckend wirkte. Schweigend beobachteten sie sich gegenseitig, jedes auf eine Bemerkung des andern wartend; von draußen herein ertönten Teyssèdres wuchtige Bürstenstriche.

»Niedlich, das alles . . .« sagte Paul vor sich hin.

»Was, das alles?« fragte seine Mutter aufblickend.

Nachlässig, wie wenn er sich einem Modell gegenüber befände, deutete er mit dem Fächer auf Frau Astiers entblößte Arme und die unter einem Leibchen von Battist verborgenen fein gezeichneten Schultern.

»Ja, aber das ist weniger niedlich,« sagte sie lachend und wies ihm den ungemein langen Hals, an dem Falten und Fältchen von ihrem Alter Zeugnis ablegten. »Oh! Und überhaupt . . .« Ihr Gedanke war: »Was schadet das, wenn du nur schön bist,« sie sprach ihn aber nicht aus. Diese berühmte Meisterin der Konversation, die über alle Künste der Rede, alle Lügen der Gesellschaft verfügte, alles zu sagen oder erraten zu lassen verstand, sie hatte für die einzige wahre Empfindung, die ihr Leben erfüllte, keinen Ausdruck.

Sie gehörte in der That nicht zu denen, die sich nicht entschließen können, alt zu werden. Lange vor der Zeit, da die Asche die Glut erstickt – es mochte sein, daß die Glut bei ihr nie sehr heftig gewesen war – hatte sie alle Koketterie, alles weibliche Verlangen zu erobern und zu verführen, all ihr Dichten und Trachten nach Ruhm und Erfolg, sei es in der Liebe oder der Gesellschaft, auf den Sohn übertragen, auf den hübschen großen Jungen mit der tadellos eleganten Erscheinung des modernen Künstlers, dem kecken Schnurrbart, dem an der Stirne modisch zugestutzten Haar und dem militärischen Zuschnitt, den das Freiwilligenjahr der heutigen Jugend verleiht.

»Ist dein erster Stock vermietet?« fragte die Mutter endlich.

»Hübsch vermietet! Keine Katze! Annoncen, Anschreiben am Hause, nichts zieht! Ich kann auch sagen, wie Védrine bei seiner Privatausstellung: »Ich weiß nicht, was die Leute haben: sie kommen nicht.« Er lachte leise und herzlich vor sich hin bei der Erinnerung, wie Védrine sich mitten unter seinen Bildhauer- und Mosaikarbeiten mit friedlichem Selbstgefühl und stolzer Gewißheit, ohne Groll und Gereiztheit über das Ausbleiben des Publikums verwundert hatte. Aber Frau Astier lachte nicht: dieser prachtvolle erste Stock stand seit zwei Jahren leer! . . . Rue Fortuny! Eine glänzende Lage, ein Haus im Stil Ludwig XII. . . . ein von ihrem Sohne erbautes Haus! Was konnten die Leute denn mehr verlangen? Sie, diese Menschen, vermutlich ganz die nämlichen, die nicht in Védrines Ausstellung gingen. . . . Den Faden ihrer Nähterei mit den Zähnen abbeißend, bemerkte sie: »Und doch müßte eigentlich ein gutes Geschäft mit dem Hause zu machen sein!«

»Vorzüglich, versteht sich, aber Geld gehört dazu, um es zu betreiben.« Der Crédit Foncier hatte ihm alles abgenommen, dann sind ihm die Bauunternehmer auf den Hals gekommen. . . . Ende des Monats sind zehntausend Franken für Tischlerarbeit zu bezahlen und kein Heller in der Kasse.

Die Mutter, welche eben vor dem Spiegel ihre Taille anzog, erbleichte und sah sich erbleichen. Es war jenes Schauern des Duellanten, wenn er die Waffe des Gegners sich erheben und auf sich zielen sieht.

»Das Honorar für die Restauration von Mousseaux hast du doch erhalten?«

»Mousseaux! Längst!«

»Und das Rosensche Grab?«

»Immer dasselbe Lied. . . . Védrine macht seine Figur nicht fertig.«

»Weshalb hast du den Auftrag auch Védrine gegeben? Dein Vater hat dir doch gesagt . . .«

»Weiß ich, weiß ich. . . . Den Herren vom Institut ist er das schwarze Schaf.«

Er stand auf und ging im Zimmer hin und her.

»Du kennst mich ja: laß mich doch zufrieden! Praktisch bin ich, und wenn ich ihn und keinen andern für die Figur genommen habe, so werde ich vermutlich meine Gründe dafür gehabt haben.«

»Du hast sie wohl nicht, meine zehntausend Franken?« sagte er, plötzlich vor der Mutter stehen bleibend.

Das hatte sie erwartet, seit er eingetreten war; aus andrer Veranlassung kam er nie zu ihr.

»Zehntausend Franken? . . . Wie sollte ich? . . .«

Sie sprach nicht weiter, aber der Schmerzenszug um den Mund und ihr Blick sagten deutlich genug: »Du weißt es ja, daß ich dir alles gegeben habe, daß ich meine Toilette aus abgelegten Kleidern von andern zusammenstückle, daß ich mir seit drei Jahren keinen Hut gekauft habe, daß Corentine mein Weißzeug in der Küche wäscht, weil ich mich schämen würde, einer Wäscherin diese fadenscheinigen Lappen zu geben, und du weißt auch, daß dir nicht geben können, was du verlangst, schlimmer ist als alles andre Elend, weshalb also thust du mir das zuleid?« Und so beredt war dieser stumme Vorwurf, daß Paul Astier laut darauf erwiderte: »Natürlich; an dich habe ich ja gar nicht gedacht. . . . Du, ach freilich! Ja, wenn du könntest . . .« Dann fuhr er mit seiner kühlen, ironischen Miene fort: »Aber, der da droben, der Meister. . . . Vielleicht, daß du es herausschlagen könntest. . . . Du weißt, mit ihm umzugehen!«

»Jetzt nicht mehr; das ist vorüber.«

»Nun, der Mann arbeitet ja doch, seine Bücher werden gekauft, ihr braucht so gut wie nichts . . .«

Sein Blick überflog in dem Dämmerlicht des Raumes prüfend die ganze Armseligkeit dieser Einrichtung, die verblichenen Gardinen, den fadenscheinigen Teppich – nichts war in den dreißig Jahren dieses Ehestandes erneuert worden. Wohin kam denn alles Geld? »Himmel . . . sollte denn der Urheber meiner Tage zufällig und insgeheim ein Lebemann sein?« Léonard Astier-Réhu ein Lebemann! Der Gedanke war so ungeheuerlich, so unwahrscheinlich, daß seine Frau trotz allen Herzeleids lachen mußte. Nein, was das betraf, glaubte sie, daß man ruhig sein könne. »Die Sache ist einfach die, daß er mißtrauisch ist, daß er Heimlichkeiten hat; der Bauer vergräbt seine Sparpfennige in der Erde; wir haben ihm zu viel zuleide gethan.« Sie sprachen leise, wie Verschwörer, die Augen fest auf den Bodenteppich geheftet.

»Und der Großpapa?« meinte Paul ohne rechte Zuversicht. »Wenn du's versuchtest?«

»Der Großvater! Du bist verrückt!«

Er kannte ihn doch wahrhaftig hinreichend, den alten Réhu mit der grausamen Selbstsucht, den fast Hundertjährigen, der sie lieber alle vor seinen Augen hätte hinsterben sehen, als auf eine Prise Tabak verzichtet oder sich einer der Stecknadeln beraubt, mit denen die Umschläge seines Rockes stets besteckt waren. Ach, in welcher Not mußte das arme Kind sein, um auf eine derartige Idee zu verfallen.

»Laß uns einmal nachdenken . . . willst du, daß ich einen Versuch mache . . .«

»Bei wem?«

»Rue de Courcelles. . . . Ein Vorschuß auf das Grabmal.«

»Das verbiete ich dir ein für allemal, hörst du!« Der Ton war herrisch, seine Lippen ganz blaß und in den Augen lag ein böser Blick, sofort aber veränderte sich sein Ausdruck wieder und mit gleichmütiger, etwas spöttischer Miene fuhr er fort: »Mach dir doch keine Sorgen über die Geschichte und befasse dich nicht damit. Es ist eine Krisis, wie ich ihrer schon viele hinter mir habe.«

Sie reichte ihm den Hut, nach dem er sich suchend umblickte; da er nichts erlangen konnte, wollte er gehen, und nur um ihn ein paar Minuten länger festzuhalten, fing sie an, ihm von einer sehr wichtigen Angelegenheit, einer Heirat, mit deren Zustandebringen sie beauftragt sei, zu erzählen.

Beim Worte Heirat zuckte er leicht zusammen, sah sie von der Seite an und fragte: »Wer denn?« Sie hatte ihr Wort gegeben, noch keine Silbe darüber zu sprechen, aber ihm. . . . »Der Fürst Athis.«

»Samy! . . . Und die Dame?«

Auch sie zeigte ihr schlaues Näschen nun im Profil.

»Du kennst sie nicht. . . . Eine Ausländerin . . . ungeheuer reich. Wenn mir's gelingt, kann ich dir aus aller Not helfen . . . die Bedingungen sind schwarz auf weiß festgestellt.«

Er lächelte, sichtlich vollkommen beruhigt.

»Und die Herzogin?«

»Hat keine Ahnung, wie du dir denken kannst.«

»Ihr Samy, ihr Fürst! Eine Liebe, die fünfzehn Jahre gedauert hat!«

Frau Astier machte eine gleichgültige Handbewegung, in der sich die ganze herzlose Grausamkeit, deren die Frau gegen ihr eignes Geschlecht fähig ist, verriet.

»Pah! Das ist ihre Sache! Sie ist in einem Alter . . .«

»In welchem Alter eigentlich?«

»1827 ist sie geboren . . . Wir schreiben jetzt 80. Das Rechenexempel ist nicht allzu schwer. Gerade ein Jahr älter als ich.«

»Die Herzogin!« stieß Paul ganz verblüfft hervor.

»Nun ja, natürlich, du Schlingel!« lachte die Mutter. »Was setzt dich denn so in Erstaunen? Du hast sie wohl für zwanzig Jahre jünger gehalten? Es ist also richtig, daß auch die durchtriebensten von euch sich darin herzlich schlecht auskennen. . . . Nun denn, du wirst wohl einsehen, daß dieser arme Fürst nicht lebenslang diese Halfter mit sich umherschleppen konnte, um so weniger, als der alte Herzog eines schönen Tages sterben kann und er sie dann heiraten müßte. Und heiraten . . . diese alte Frau . . .«

»Beneidenswertes Glück, dich zur Freundin zu haben.«

Nun ward sie heftig: Die Herzogin, ihre Freundin! Ja wahrhaftig! Eine Frau, die mit sechsmalhunderttausend Franken Jahresrente nie auf den Gedanken gekommen war, ihr zu helfen, nie, obwohl sie intim standen, obwohl sie ihr elendes, armseliges Dasein von Grund aus kannte . . . höchstens von Zeit zu Zeit ein Kleid, die Erlaubnis, bei ihrer Putzmacherin einen Hut zu bestellen . . . unnütze Geschenke, die einem keine Freude machen können . . .

»Wie Großpapa Réhus Neujahrsgaben,« bemerkte Paul beistimmend, »ein Atlas, ein Globus . . .«

»O! Ich glaube, daß Antonia noch geiziger ist! Erinnere dich nur in Mousseaux, was für Pfläumchen wir da in der besten Fruchtzeit zum Nachtisch bekamen, wenn Samy nicht da war. Und dabei Obst- und Gemüsegärten in Menge, aber alles kommt auf den Markt nach Blois oder Vendôme. Das liegt im Blute; ihr Vater, der Marschall, war am Hofe Ludwig Philipps berüchtigt, und an dem Hofe für geizig gelten, wollte schon etwas heißen. Sie sind eine wie die andre, diese korsischen Familien, filzig und aufgeblasen! Auf Silbergeschirr mit Wappen essen sie Kastanien, die den Schweinen nicht gut genug waren. Die Herzogin! Sie rechnet selbst ab mit ihrem Hausmeister, jeden Morgen muß man ihr das Fleisch herausbringen, und abends hält sie in ihrem spitzenbesetzten Nachthemd – ich weiß das vom Fürsten selbst – noch Kassensturz!«

Frau Astiers schwache Stimme klang, als sie ihren Gefühlen so freien Lauf ließ, scharf und pfeifend, wie der Schrei eines Seevogels, der sich für einen Augenblick auf einem Mast niederläßt. Ihr Sohn war anfangs belustigt über diese Herzensergießungen, bald aber ward er ungeduldig und hörte nur mit halbem Ohr zu.

»Muß machen, daß ich fortkomme,« unterbrach er sie plötzlich. »Ein geschäftliches Frühstück . . . handelt sich um Wichtiges . . .«

»Einen Auftrag?«

»Nein, für diesmal keine Architekterei.«

Die Neugier der Mutter war erweckt; sie wollte mehr wissen.

»Ein andermal, später . . . die Sache ist noch im Werden,« vertröstete er sie, und als er vor dem Gehen einen flüchtigen Kuß auf ihre Wange drückte, flüsterte er ihr ins Ohr: »Wenn du Gelegenheit hast, so denke doch an die zehntausend Franken . . .«

Ohne diesen erwachsenen Sohn, der insgeheim die Scheidewand zwischen ihnen bildete, wäre das Zusammenleben des Astier-Réhuschen Ehepaares nach den Begriffen der Gesellschaft und namentlich denen der akademischen Kreise ein vollkommen glückliches gewesen. Heute, nach dreißig Jahren, waren ihre gegenseitigen Empfindungen dieselben wie zu Anfang ihrer Ehe; sie hatten sich wie unter einer Schneedecke, in der Kalthaustemperatur, wie die Gärtner das nennen, trefflich konserviert. Als der vom Institut preisgekrönte Professor Astier gegen das Jahr 1850 um die Hand des Fräulein Adelaide Réhu, welches damals bei ihrem Großvater im Palais Mazarin lebte, warb, war es nicht ihre ätherische Schönheit, nicht ihre rosige, jugendfrische Haut gewesen, was ihn hauptsächlich anzog, auch das Geld spielte keine Rolle bei dieser Werbung, denn Adelaides Eltern, welche urplötzlich an der Cholera verstorben waren, hatten wenig hinterlassen, und der Großvater, ein Kreole von der Insel Martinique, der unter dem Direktorium die Rolle eines schönen Stutzers, Spielers, Lebemanns, Duellanten und Witzboldes gespielt hatte, versicherte hoch und teuer, daß er die magere Mitgift nicht um einen Heller vermehren werde. Was diesen Sohn des Sauvagnat, der noch weit mehr ehrgeizig als geldgierig war, lockte und verführte, war die Akademie. Wenn er die beiden Höfe durchschritt, um seine tägliche Blumenspende zu überreichen, wenn er die feierlichen Vorsäle mit den staubigen, breiten Treppen durcheilte, so wandelte er eher auf Pfaden des Ruhmes, als der Liebe, und als er Fräulein Adelaide als Gattin in die Arme schloß, umfing er mit ihr das ganze Institut, seine Löwen, seine Kuppel, diesen Dom, nach dem er sich gesehnt wie der Gläubige nach Mekka, Paulin Réhu, den Mann der Inschriften und schönen Wissenschaften, und Jean Réhu, den Verfasser der »Briefe an Urania.«

Diese Schönheit war so erhaben über die Vergänglichkeit, dieser Leidenschaft konnte der Zahn der Zeit so wenig anhaben, und sie erhielt sich in solcher Stärke, daß er seiner Frau gegenüber immer in der Stellung eines Sterblichen verblieb, dem der Götter einer sein Kind gewährt, wie es in den mythologischen Zeiten zu geschehen pflegte. Auch nachdem er durch vier Wahlgänge selbst zum Gott geworden, verminderte sich diese Ehrfurcht keineswegs. Frau Astier ihrerseits, die auf diese Heirat nur eingegangen war, um dem Leben an der Seite des ewig Anekdoten erzählenden, selbstsüchtigen, harten Großvaters zu entfliehen, hatte nicht ermangelt, sehr bald herauszufinden, mit wie wenig Geist dies bäuerlich arbeitsame Gehirn Oktavbände hervorbrachte, welche Beschränktheit sich hinter der feierlichen Lorbeerkrone der Akademie und hinter dem Posaunenklang dieser Rednerstimme barg. Als sie aber dann mit Hilfe von großen und kleinen Intriguen, durch vieles Anpochen an Vorder- und Hinterthüren ihn zum Akademiker gemacht hatte, überkam sie eine Art von Verehrung für seine Größe und sie vergaß, daß sie selbst es gewesen war, welche ihm zu dem palmengestickten Frack, der seine Mittelmäßigkeit so trefflich verhüllte, verholfen hatte.

In dieser freudlosen Verbindung ohne innere Zusammengehörigkeit und herzlichen Austausch war das einzig Naturgemäße und echt Menschliche das Kind, und gerade das Kind war es, welches den Frieden störte. Von allem, was der Vater für den Sohn erstrebte und träumte, Auszeichnungen auf der Schule, Erwerbung von Preisen, später die Ecole Normale und ein Professorat, erfüllte sich nichts. Im Lyceum trug Paul nur im Turnen und Fechten Preise davon und zeichnete sich im übrigen durch eigensinnige und absichtliche Unwissenheit aus, hinter welcher sich ein praktischer Sinn und eine etwas verfrühte Lebensklugheit verbargen. Die größte Sorgfalt auf seinen äußeren Menschen verwendend, begab er sich nie auf den Spaziergang, ohne den Jungens hoch und heilig zu versichern, daß sich wieder eine reiche Dame in ihn vergaffen werde. Zwei- oder dreimal wollte der Vater bei Fällen von Widerspenstigkeit und Faulheit auf kräftige, in der Auvergne bräuchliche Art eingreifen, allein die Mutter war immer bereit zu entschuldigen und zu beschönigen. Astier-Réhu schalt und wetterte, daß seine vorgeschobene Kinnlade, die ihm in den Zeiten des Lehramts den Spottnamen Krokodilus eingetragen hatte, bedenklich knackte, und in letzter Instanz griff er zu der Drohung, daß er seinen Koffer packen und nach Sauvagnat zurückkehren werde, um seine Weinberge zu bebauen.

»O Léonard! Léonard!« sagte dann Frau Astier mit leisem Spott, und alles blieb beim alten. Eines Tages aber kam es doch wirklich so weit, daß der Koffer gepackt wurde, und das war, als Paul Astier sich nach dreijährigem Architekturstudium in der Ecole des Beaux Arts rundweg weigerte, sich an der Konkurrenz um den römischen Preis zu beteiligen. Fassungslos vor Entrüstung stammelte der Vater: »Ja, Unglücksmensch . . . weißt du denn nicht . . . daß Rom . . . Rom . . . Rom, das bedeutet das Institut!« Der junge Mann schlug ihm ein Schnippchen. Sein Trachten ging nach Reichtum, und den verlieh das Institut nicht, dafür hatte er an seinem Vater, seinem Großvater und dem Urahnen Réhu überzeugende Beispiele. Sich in die Höhe schwingen, umtriebig sein, Aufträge bekommen, große Aufträge und auf der Stelle Geld verdienen, dahin stand sein Ehrgeiz; die Palmen auf dem grünen Frack lockten ihn gar nicht!

Léonard Astier war am Ersticken vor Wut. Seinen Sohn derartige Blasphemieen aussprechen hören und erleben müssen, daß seine Frau, die Tochter der Réhus, ihm beistimmte! Nun wurde urplötzlich der Koffer vom Speicher geholt, der alte Koffer, den er als Lehrer in der Provinz gehabt, mit großen Nägeln beschlagen und mit Scharnieren wie die Thürangeln eines Tempelthores versehen, hoch und tief genug, daß er dereinst das ganze ungeheure Manuskript des »Mark Aurel« samt allen Träumen von Ruhm und Ehre beherbergt hatte, mit denen der Historiker sich die Stufen zur Akademie hinaufgeschwungen. Diesmal verfing es nicht, daß Frau Astier ihren Mund kraus zog und: »O Léonard . . . Léonard! . . .« flötete, diesmal half alles nichts, es wurde gepackt. Zwei Tage lang versperrte das Kofferungetüm sein Arbeitszimmer, dann gelangte er auf den Vorplatz, von wo er sich nicht mehr rührte und allmählich Stellung und Pflichten einer Holzkiste einnahm.

Thatsache war, daß Paul Astier anfänglich vom Erfolg Recht bekam: durch seine Mutter und ihre Beziehungen zu der vornehmen Welt, die sie mit Geschicklichkeit und persönlicher Anmut zu nutzen wußte, erhielt er nach kurzer Zeit Aufträge, die von ihm reden machten. Die Herzogin Padovani, die Frau des früheren Gesandten und Ministers, vertraute ihm die Restaurierung des merkwürdigen Schlosses Mousseaux-sur-la-Loire an, einer ehemals königlichen Behausung, die dem Verfall nahe war und deren charakteristisches Gepräge er mit Geschmack und einer Erfindungskraft, die an dem höchst mittelmäßigen Schüler der Beaux Arts wirklich verblüffte, wiederherzustellen wußte. Mousseaux trug ihm dann das neue Hotel der türkischen Botschaft ein, und endlich beehrte ihn die Fürstin Rosen mit dem Auftrag, dem bei der Expedition Christians von Illyrien tragisch ums Leben gekommenen Fürsten Herbert ein Mausoleum zu errichten. Nun glaubte der junge Mann sein Glück in Händen zu halten: Vater Astier ließ sich von seiner Frau bereden, achtzigtausend Franken Ersparnisse auf den Ankauf eines Grundstückes in der Rue Fortuny zu verwenden, wo Paul sich einen Palast erbaute oder vielmehr den Flügel eines solchen, den er mit einem eleganten Zinshaus künstlerisch verband, denn er war ein praktischer junger Mann, und wenn er wie jeder Künstler, der in der Mode ist, seinen kleinen Palast haben wollte, so sollte ihm dieser auch die zum Bewohnen eines solchen nötigen Zinsen abwerfen.

Unglücklicherweise thun Zinshäuser nicht immer ihre Schuldigkeit und sind zuweilen schwierig zu vermieten, und die Art, wie der junge Baumeister seinen Hausstand einrichtete, zwei Pferde im Stall, ein Wagen- und ein Reitpferd, der Klub, die Gesellschaft, Schwierigkeiten beim Einkassieren von Ausständen, das alles raubte ihm die Möglichkeit, zuzuwarten. Ueberdies erklärte Vater Astier mit einem Male, daß er von jetzt ab durchaus nichts mehr hergebe, und alles, was die Mutter zu gunsten des Sohnes unternehmen und vorbringen konnte, scheiterte an dieser felsenfesten Entschlossenheit, die ihrem bis dahin im Hause maßgebenden Willen eisernen Widerstand entgegensetzte. Damit begann ein endloser Kampf, in dem die Mutter alle Schlauheit aufbot und wie ein ungetreuer Verwalter auf alle Ausgaben draufschlug, nur um Geld in die Hand zu bekommen und die Bitten ihres Sohnes nicht abschlägig beantworten zu müssen, während Léonard mißtrauisch wurde, sich zur Wehr setzte und die Rechnungen nachsah. In diesem demütigenden Treiben war es die feinere Natur der Frau, die zuerst müde ward und unterlag, und es mußte wahrhaftig schlimm um Paul stehen, wenn sie einen erneuten Versuch wagte.

Als sie den langen, düsteren Speisesaal betrat, der von hohen, schmalen Fenstern, zu welchen ein paar Stufen hinaufführten, sein spärliches Licht empfing – früher hatten Geistliche hier einen Kosttisch gehabt – fand Frau Astier ihren Mann mit verdrießlicher, fast zorniger Miene, am Tische sitzend. Das war etwas Ungewöhnliches, denn in der Regel erschien der Meister bei sämtlichen Mahlzeiten mit einer gleichmäßigen, behaglichen Fröhlichkeit, die ebenso unverwüstlich war wie sein Appetit und seine Berghundzähne, denen nichts widerstand, weder das steinalte Brot, noch das lederzähe Fleisch, noch all die mannigfaltigen Verdrießlichkeiten, die ihm jeder Lebenstag brachte.

»Weil Teyssèdre da ist, ohne Zweifel . . .« dachte Frau Astier, während sie in dem raschelnden Gesellschaftskleid ihren Platz einnahm und einigermaßen erstaunt war, das Kompliment, welches er ihr sonst jeden Mittwoch über ihre noch so armselige Toilette zu machen pflegte, heute nicht vernehmen zu dürfen. Zuversichtlich darauf rechnend, daß die böse Stimmung sich mit den ersten Bissen verflüchtigen werde, beschloß sie, mit ihrem Angriff noch eine Weile zu warten: allein obwohl der Meister tapfer schluckte, war die üble Laune noch im Zunehmen; der Wein schmeckte nach dem Kork, die Würstchen aus übrig gebliebenem Suppenfleisch waren verbrannt.

»Das heißt es nur, weil Ihr Herr Fage Sie heute morgen hat sitzen lassen,« schrie Corentine wütend aus der daneben liegenden Küche herein, und ihr glänzendes, narbenbedecktes Gesicht erschien, von Zorn und Herdfeuer gerötet, unter dem Schiebfensterchen in der Mauer, durch welches zur Zeit der geistlichen Herren die Platten hereingeschoben wurden. Schmetternd flog das Fenster wieder zu, und Léonard Astier seufzte: »Dies Mädchen ist von einer Unverschämtheit . . .« wobei ihm sehr beklommen zu Mute war, denn wenn der Name Fage vor seiner Frau genannt wurde, so hatte das nichts Gutes zu bedeuten. Zu jeder andern Zeit würde Frau Astier auch nicht ermangelt haben, ihm sofort zu bemerken: »Ach! Ach! . . . Schon wieder dieser Fage . . . schon wieder dein Buchbinder . . .« und eine häusliche Szene wäre unfehlbar daraus entstanden, worauf Corentine, als sie das verräterische Wort hereingeworfen, jedenfalls mit Sicherheit gerechnet hatte. Heute aber galt es, den Meister nicht zu erzürnen, sondern ihn im Gegenteil durch geschickte Wendungen und Einleitungen auf den Punkt zu bringen, wo man ihn haben wollte; zu dem Zweck empfahl es sich zum Beispiel, ihm etwas von Loisillon, dem lebenslänglichen Sekretär der Akademie, zu erzählen, dessen Gesundheitszustand sich von Tag zu Tag verschlimmerte. Loisillons Amt und seine Wohnung im Institut sollten Léonard Astier als Ersatz für die verlorene Stellung zufallen, und obwohl er zu dem sterbenden Kollegen in den herzlichsten Beziehungen stand, machte die Hoffnung auf ein gutes Gehalt, eine bequeme, luftige Behausung und verschiedene andre Annehmlichkeiten, daß ihm der Gedanke an dies nahe Ende in sehr rosigem Lichte erschien, worüber er sich möglicherweise insgeheim schämen mochte, was aber im engsten Familienkreise unbefangen ausgesprochen wurde. Heute jedoch gelang es nicht einmal durch Berührung dieses Punktes die Falten seiner Stirne zu glätten.

»Der arme Loisillon,« flötete Frau Astier, »jetzt findet er sogar die Wörter nicht mehr! Lavaux hat uns gestern bei der Herzogin erzählt, daß er keinen Satz mehr zusammenbringt und immer sagt: ›Bi–bi–biblio–Bibliothek!‹ Und dabei,« setzte sie mit eingekniffenen Lippen und langgestrecktem Halse hinzu, »dabei ist der Mann Mitarbeiter am Wörterbuche.«

Astier-Réhu verzog keine Miene.

»Als Witz nicht übel,« sagte er in lehrhaftem Tone, die Kinnladen mit Geräusch bewegend. »Allein ich habe in einer meiner Arbeiten ausgesprochen: ›In Frankreich hat nichts Dauer als das Provisorium‹. Seit zehn Jahren ist er am Tode und wird uns alle überleben. . . . Alle . . . . Alle,« wiederholte er wütend, indem er sein Stück hartes Brot auseinanderbrach.

Teyssèdre hatte ihn heute entschieden ganz querköpfig gemacht.

Dann fing Frau Astier von der in einigen Tagen bevorstehenden großen Sitzung der fünf Akademieen an, welcher der Großherzog von Finnland beiwohnen sollte. Es traf sich, daß Astier-Réhu, der für dieses Vierteljahr Vorstand war, der Sitzung präsidieren und die Eröffnungsrede mit einer verbindlichen Wendung für Seine Hoheit sprechen sollte. Durch einige geschickt gestellte Fragen nach dieser Rede, die schon zu Faden geschlagen war, in Zug gebracht, skizzierte er den Inhalt derselben in großen Zügen und betonte hauptsächlich, welch einen gewaltigen Streich er gegen die neueste Richtung in der Literatur zu führen gedenke; diese Lumpen, diese Paviane sollten einmal öffentlich wuchtige Peitschenhiebe bekommen! . . .

Aus dem viereckigen Gesichte, dessen Stirn sich unter dem dichten Gestrüpp der im Gegensatz zu dem vollkommen weißen Bart schwarz gebliebenen Augbrauen tiefer rötete, leuchteten die runden großen Augen, die sehr von der Eßlust ihres Besitzers zeugten.

»Dabei fällt mir ein,« unterbrach er sich hastig, »mein Frack? . . . Hat man danach gesehen? . . . Als wir Montribot begruben, habe ich ihn zum letztenmal getragen, und seither . . .«

Als ob die Frauen nicht an alles dächten! Natürlich hatte Frau Astier heute früh das Staatskleid einer gründlichen Prüfung unterzogen. Die Seide der Palmen war aufgeworfen und locker geworden, das Futter taugte nichts mehr, mein Gott, der Frack war auch alt genug . . . er stammte aus dem Jahre . . . ja, wahrhaftig, vom Tage seiner Aufnahme in die Akademie, am 12. Oktober 1866 stammte er her! Das Richtige wäre entschieden, sich für die Sitzung einen neuen machen zu lassen. Die fünf Akademieen, eine Hoheit, ganz Paris würde kommen . . . man war der Sache das schuldig.

Léonard widersprach, aber ohne rechte Energie: er gab vor, daß die Ausgabe zu groß sei, um so mehr, als der neue Frack auch die Anschaffung einer neuen Weste nach sich ziehen werde, allermindenstens einer Weste, das Uniformbeinkleid trug man ja eigentlich nicht mehr.

»Es ist aber dringend nötig, mein Freund, es muß sein.«

Sie beharrte darauf. Aus lauter Sparsamkeit machten sie sich einfach lächerlich. Die Dinge, welche sie umgaben, würden alt und morsch, zum Beispiel ihre Zimmereinrichtung . . . sie mußte sich ja schämen, so oft eine Freundin zu ihr kam, und für eine verhältnismäßig kleine Summe . . .

»Latet anguis in herba,« sagte Astier-Réhu, der nicht ungern bei den Klassikern eine Anleihe machte, leise. Die Falte auf seiner Stirn ward tiefer, sie schob sich wie der Riegel eines Ladens vor, dies kaum noch so offne, ehrliche Gesicht verschließend. Wie oft hatte er nicht Geld hergegeben, um die Rechnung einer Putzmacherin, einer Schneiderin zu bereinigen, oder um neue Vorhänge anzuschaffen, Lücken im Wäscheschrank auszufüllen, und hinterdrein hatte sich herausgestellt, daß keine Rechnung bezahlt, nichts angeschafft worden und das Geld in das unersättliche Sieb der Rue Fortuny geflossen war – damit war er fertig; so leicht war er nicht mehr dranzukriegen. Er machte seinen Rücken rund, hielt die Augen fest auf seinen Teller geheftet, auf dem ein riesiges Stück Auvergner Käse lag, und sprach keine Silbe mehr.

Frau Astier kannte dieses eigensinnige Schweigen, diesen passiven Widerstand eines Wollsacks, sobald die Geldfrage zwischen ihnen aufs Tapet kam, allein diesmal hatte sie sich geschworen, ihm eine Antwort abzuringen.

»Ach so! Du ziehst dich in dein Schneckenhaus zurück . . . o, wir kennen das, du machst wieder einmal den Igel! Kein Geld vorhanden, nicht wahr? Keinen Heller, keinen Pfennig hast du?«

Der Rücken wurde immer runder und runder.

»Und doch findest du stets welches für Herrn Fage . . .«

Léonard Astier erbebte, richtete sich auf, sah seiner Frau mit ängstlicher Spannung ins Gesicht. . . . Geld! . . . Er . . . dem Fage!

»Wenn ich dran denke, was das kostet, deine Einbände,« fuhr sie fort, überglücklich, ihn aus der festen Burg des Schweigens herausgedrängt zu haben, »und wozu, wenn ich fragen darf, der Aufwand für die Papierwische?«

Er atmete auf; sie wußte offenbar nichts, und ihr Angriff ging ins Blaue. Aber das Wort »Papierwische« traf ihn ins Herz; Handschriften von unvergleichlichem Wert, Briefe mit Namensunterschrift von Richelieu, Colbert, Newton, Galilei, Pascal nannte sie Wische; wahre Weltwunder, die er für ein Naswasser erstand und die ein Vermögen repräsentierten. »Ja wohl, meine Gnädige, ein Vermögen.« Er steigerte sich immer mehr, er führte Zahlen an, nannte die Höhe der Angebote, die man ihm gemacht; Bos, der berühmte Bos aus der Rue de l'Abbaye – und der verstand sich doch wahrhaftig ein wenig darauf – war jeden Tag bereit, ihm für drei einzelne Stücke aus seiner Sammlung, für drei Briefe Karl V. an François Rabelais, zwanzigtausend Franken zu geben.

»Wische! Ja freilich ›Wische‹ sind das – nette Wische!«

Frau Astier hörte ihm staunend zu. Sie wußte ja, daß er seit zwei oder drei Jahren angefangen hatte, Handschriften zu sammeln, er hatte ihr auch zuweilen von einem oder dem andern glücklichen Fund erzählt, und sie hatte ihm mit halbem Ohre zugehört, zerstreut und gleichgültig, wie man dem Manne zuhört, dessen Stimme man seit dreißig Jahren vernimmt, aber nie wäre sie auf die Vermutung gekommen, daß . . . zwanzigtausend Franken für drei Blätter! . . . Ja, und wie war es denn möglich, daß er das nicht annahm?

Nun aber gab es bei dem wackeren Forscher einen vulkanischen Ausbruch.

»Meine Handschriften Karl V. verkaufen? . . . Nie und nimmermehr! . . . Und wenn ich euch alle hungern, an den Thüren um ein Stück Brot betteln sehen müßte, nicht berühren würde ich sie!«

Ganz bleich, den Mund vorgeschoben, wild wie ein Wahnsinniger, schlug er auf den Tisch; dieser Astier-Réhu war seiner Frau bis auf den heutigen Tag ein Unbekannter geblieben. Im grellen Lichtschein der Leidenschaft bietet der Mensch zuweilen selbst seinen Nächsten einen ungeahnten, fremden Anblick. Sofort wieder ruhig werdend und etwas beschämt über seine Heftigkeit, setzte der Akademiker dann auseinander, daß diese Dokumente ihm für die Herstellung seiner Bücher unentbehrlich seien, zumal jetzt, da er die Archive des Auswärtigen Amtes nicht mehr zur Verfügung habe. Sein Material verkaufen, das hieße einfach der schriftstellerischen Thätigkeit entsagen! Er hatte im Gegenteil die Absicht, seine Sammlung zu erweitern und zu vergrößern, und einen wunden und heikeln Punkt berührend, setzte er in einem Tone, in dem all sein getäuschtes und betrogenes Vatergefühl durchklang, hinzu: »Mein Herr Sohn wird ja nach meinem Tode alles verkaufen, sobald es ihm beliebt, und da er nur das eine Streben hat, reich zu werden, wird er sein Ziel sicherlich erreichen.«

»Ja, aber einstweilen . . .«

Dieses in einem so erschreckend natürlichen und ruhigen Tone geflötete »einstweilen« rief Léonards ganze Eifersucht gegen den Sohn, der ihm das Herz seiner Frau vorenthielt, wach, und mit gewaltigem Vorschieben der Kinnladen sprach er: »Einstweilen soll er sich nach der Decke strecken, wie sein Vater. Ich habe keinen Palast und keine Pferde und keine englischen Dogcarts. Mir thut's die Pferdebahn für meine Besorgungen, und als Wohnung begnüge ich mich mit einem dritten Stock, der ein vierter wäre, wenn man das Zwischengeschoß zählen dürfte, und in dem ich das Opfer dieses Teyssèdre bin. Ich häufe Buch auf Buch, ich arbeite Tag und Nacht, jedes Jahr zwei bis drei Oktavbände, ich gehöre zwei akademischen Kommissionen an und fehle in keiner Sitzung, ich bin bei jedem Begräbnis auf meinem Posten und gestatte mir nicht einmal den Luxus, im Sommer eine Einladung aufs Land anzunehmen, um nicht in Gefahr zu kommen, ein paar Pfennige im Spiel zu verlieren. Ich will es meinem Herrn Sohn wünschen, daß er mit fünfundsechzig Jahren noch ebensoviel Ausdauer und Mut zeigen möge.«

Es war seit langer Zeit zum erstenmal, daß er von Paul sprach, und das mit solcher Herbigkeit! Die Mutter war erschüttert, und doch lag in dem harten, fast grausamen Blick, den sie auf ihren Mann warf, ein Anflug von Respekt, der vorhin nicht drin gewesen.

»Es klingelt,« sagte Léonard, der schon aufgestanden war und seine Serviette über den Stuhlrücken hing. »Das wird der Erwartete sein.«

»Zur gnädigen Frau. . . . Heute geht's einmal zeitig los.«

Corentine legte mit den hastig an der Schürze abgetrockneten groben Küchenfingern eine Karte auf den Tischrand. Frau Astier warf einen raschen Blick darauf: »Vicomte von Freydet«; es blitzte freudig auf in ihrem Auge, allein ohne ihre Befriedigung laut werden zu lassen, fragte sie im ruhigsten Tone: »Freydet ist also in Paris?«

»Ja, wegen seines Buches.« . . .

»Ach! Mein Gott, sein Buch! . . . Und ich habe es noch nicht aufgeschnitten! Was steht denn drin . . . wovon handelt es denn?«

Sie verschluckte hastig die letzten Bissen und spülte die schlanken weißen Finger in ihrem Wasserglase, während der Professor ihr in sehr zerstreuter Weise über den neuen Band von Freydet das Nötigste mitteilte. »Gott in der Natur« hieß das Buch und war eine philosophische Dichtung, die für den Preis Boisseau in Vorschlag kommen sollte.

»Ach so! Und er wird den Preis bekommen, nicht? . . . Er muß ihn bekommen. Sie sind so reizende Menschen, er und seine Schwester. . . . Und grenzenlos gut ist er gegen das arme gelähmte Geschöpf.«

Astier machte eine ausweichende Gebärde. Er konnte für nichts einstehen, doch würde er selbstverständlich die Wahl der Freydetschen Dichtung befürworten, zumal der Verfasser, seiner Ansicht nach, entschieden erfreuliche Fortschritte machte. »Mein persönliches Urteil, falls er dich danach fragen sollte, lautet dahin, daß für meinen Geschmack immer noch zu viel davon drin ist, wenn auch bedeutend weniger als in seinen andern Büchern. Jedenfalls sag' ihm, daß sein alter Lehrer zufrieden ist.«

Wovon war zu viel drin, wovon weniger? Frau Astier mußte das offenbar wissen, denn ohne eine nähere Erklärung zu verlangen, stand sie vom Tische auf und schwebte leicht und anmutig in das für heute zum Salon umgeschaffene Arbeitszimmer ihres Mannes.

Einige Augenblicke blieb Léonard Astier noch im Speisezimmer; mehr und mehr wieder in trübe Gedanken versinkend, zerschnitt er achtlos die Stückchen Käse, die noch auf seinem Teller lagen, in winzige Krümelchen. Dann riß ihn Corentine, die, ohne auf ihn zu achten, geräuschvoll und hastig abzuräumen begann, aus seinem Nachdenken, er erhob sich schwerfällig, erreichte mit Hilfe eines gewundenen Hühnerstiegchens seinen Hängeboden und nahm die Lupe und die alte Scharteke, deren Untersuchung ihn den ganzen Morgen in Anspruch genommen, wieder zur Hand.


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