Alphonse Daudet
Der Unsterbliche
Alphonse Daudet

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Zehntes Kapitel.

»Für mich haben Menschen und Dinge eine Stelle, an der man sie packen und anfassen kann und muß; jeder hat eine Handhabe, die man herausfinden muß, um ihn fest und sicher zu halten, nach Belieben mit ihm umzuspringen, und das Herausfinden ist meine Stärke!. . . Kutscher, zum ›Schwarzen Kopf!‹«

Auf Paul Astiers Geheiß fuhr der offene Landauer, aus welchem Freydet, Védrine und er selbst ihre feierlichen hohen Hüte mit ihrer begräbnismäßigen Schwärze in den strahlend hellen, sonnigen Nachmittag hineinstreckten, vor dem bezeichneten Gasthof zur Rechten der Brücke von Saint Cloud vor und bei jeder Schwankung des soliden Lohnfuhrwerks auf dem Kies des Platzes konnte man einen vielsagenden langen Ueberzug von grünem Stoff aus dem zurückgeschlagenen Dach des Wagens hervorragen sehen. Paul hatte als Zeugen seines Duells mit Athis in erster Linie den Vicomte von Freydet gewählt, den sein Titel und das kleine Beiwort für diesen Zweck empfahlen, und ferner den Grafen Adriani; allein die hohe Nuntiatur war nach der Geschichte mit dem Kardinalshut sehr besorgt, in kein weiteres Gerede verwickelt zu werden, und so war er genötigt gewesen, an Stelle des jungen Pepino den Bildhauer um diesen Dienst anzugehen, nicht ohne die stille Hoffnung, daß Védrine bei Gelegenheit der Besprechung dieser Sache in der Presse sich am Ende doch zum Marquis bekennen werde. Von großem Belang schien übrigens der ganze Handel nicht zu sein; ein kleiner Wortwechsel am Spieltisch des Klubs, als der Prinz vor seiner Abreise nach Petersburg ein letztes Mal dort erschienen war. Beizulegen war die Sache nicht wohl gewesen, da man mit einem Tausendsasa wie Paul Astier, der sich auf dem Fechtboden so sehr auszeichnete und dessen durchschossene As am Schießstand der Avenue d'Antin unter Glas und Rahmen hingen, doch nicht zurücktreten konnte.

Während der Wagen sich vor der Terrasse des Restaurants aufstellte, von allen Kellnern verständnis- und rücksichtsvoll ins Auge gefaßt, sah man einen kurzen, dicken Herrn in weißen Gamaschen, weißer Krawatte, Seidenhut und der ganzen gezierten Eleganz eines Badearztes ein enges, abschüssiges Sträßchen herabkugeln und von weitem schon heftige Zeichen mit seinem Sonnenschirm machen. »Da ist Gomès,« sagte Paul. Doktor Gomès, der früher an einem Spital angestellt gewesen und sich durchs Spiel und eine Liebschaft, von der er nicht mehr loskommen konnte, zu Grund gerichtet hatte, war das »Onkelchen« aller Dirnen, ein Abenteurer niederster Sorte, nicht eben schlecht, aber zu allem bereit und Spezialist für Ausflüge der hier vorliegenden Art, für die er seinen festen Preis hatte: fünfzig Franken und das Frühstück. Augenblicklich befand er sich bei der schönen Cloclo in Ville d'Arvay in der Sommerfrische, von wo er atemlos an den ihm bestimmten Ort kam, in der Hand eine große Reisetasche, die sein Besteck, Verbandzeug, ein paar Phiolen, kurz alles für eine fliegende Ambulanz nötige enthielt.

»Hieb oder Stich?« fragte er, Paul gegenüber im Wagen Platz nehmend.

»Stich, . . . Stich, Doktor. Die Degen des Instituts . . . die französische Akademie gegen die sciences morales et politiques!«

Gomès lächelte, seine Tasche zwischen seinen Füßen unterbringend.

»Das wußte ich nicht und habe den großen Apparat mitgeschleppt.«

»Muß ausgepackt werden, kann dem Feind Eindruck machen,« verkündete Védrine mit gewohnter Ruhe. Der Doktor blinzelte, etwas aus der Fassung gebracht durch diese ihm gänzlich unbekannten Zeugen, welchen er von Paul Astier, der ihn ganz als Bedienten behandelte, nicht vorgestellt wurde.

Als der Landauer sich wieder in Bewegung setzte, that sich oben in einem »Gesellschaftszimmer« ein Fenster auf und ein neugieriges Paar ward an demselben sichtbar, ein langes, schlankes Mädchen mit Kornblumenaugen, entblößten Armen und Schultern, die Frühstücksserviette nachlässig um den Hals geworfen. Neben ihr ein bärtiger, buckliger Mensch, ein Zwerg, wie man sie auf Jahrmärkten für Geld sieht, mit einem pomadisierten Kopf, der kaum über das Fenstergesims heraufreichte, und den unverhältnismäßig langen Arm wie ein Fühlhorn um die herabgebeugte Gestalt seiner Begleiterin geschlungen, der Marie Douval, munteren Liebhaberin am Théâtre Gymnase, deren Namen der Doktor laut nannte. »Wen hat sie denn da bei sich?« Die andern sahen hinauf, das Mädchen war jedoch verschwunden und der lange Kopf des Buckligen ruhte wie abgeschnitten auf der Fensterbrüstung.

»Eh! Papa Fage . . .« Védrine grüßte mit der Hand hinauf und belustigte sich höchlich über Freydets Entsetzen. »Hab' ich dir's nicht gesagt? Die hübschesten Weiber von Paris . . .«

»Scheußlich!«

»Das setzt Sie in Erstaunen, Herr von Freydet?« Und Paul Astier entwarf nun eine Schilderung der weiblichen Natur, die nichts als Gift und Verachtung atmete. Das Weib sei ein verderbtes, verdrehtes Kind, mit all den Widersprüchen und Unarten des Kindes, seinem Hang zur Dieberei, Lüge, Neckerei, Bosheit, Feigheit. . . . Und dann erpicht auf Leckerbissen, und eitel, neugierig! Schwadronieren können, ja, aber keinen eignen Gedanken, und ließ man sich mit ihnen in ein ernstliches Gespräch ein, nichts als Versenklöcher, Hinterthüren, Wortverdrehungen, glatt und schlüpfrig wie ein Trottoir bei Glatteis. Plaudern mit einer Frau, das gebe es nicht! . . . Nichts sei in ihnen, weder Güte, noch Mitleid, noch Geiz, nicht einmal landläufiger, gesunder Menschenverstand. Den Gatten hintergehen mit einem Geliebten, dem sie um kein Haar treuer; eine Todesangst, Mutter zu werden . . . das sei die Frau von heutzutage. Für eine neue Hutform, eine Toilette von Spricht fähig zu stehlen und jede Gesetzesübertretung zu begehen, denn die Toilette, die liebe sie wahrhaft, das sei aber auch das einzige! . . . Um zu wissen, bis zu welchem Grad von Leidenschaft diese Liebe gehen könne, müsse man wie er die Damen aus der vornehmsten Welt, die feinsten, elegantesten in die Empfangsräume des großen Schneiders begleitet haben! . . . Auf dem vertrautesten Fuß mit den ersten Arbeiterinnen stehend, die sie zum Frühstück in ihre Schlösser einluden, erwiesen sie dem Meister Spricht eine Ehrfurcht, die nicht weit hinter der vor dem heiligen Vater zurückblieb. . . . Die Marquise von Rocanera führte ihm, kaum daß sie der Schule entronnen waren, ihre Töchter zu, und wenig fehlte, so bäte sie ihn, die Mädchen zu segnen.

»Vollkommen richtig,« bemerkte der Doktor mit dem automatischen Beifallsnicken eines Untergebenen, dessen Halswirbel sich durch die fortwährende Zustimmung einer besondern Gelenkigkeit erfreuen. Es trat eine kleine Pause ein, man war überrascht und verlegen, das Gleichgewicht der Unterhaltung war durch diesen derben, heftigen und unerklärlichen Ausfall des sonst so kühlen, zurückhaltenden jungen Mannes ins Schwanken gekommen. Die Sonne brannte sengend heiß auf den steilen Hohlweg, den die Pferde mit Anstrengung hinanstiegen, und wurde von den hohen Steinmauern, welche ihn zu beiden Seiten begrenzten, mit doppelter Gewalt zurückgestrahlt.

»Was weibliches Mitgefühl und Nächstenliebe betrifft, so habe ich eine Szene mitangesehen,« sprach Védrine, das Haupt nach hinten gelegt, auf dem umgelegten Wagendach ruhend, die Augen, vor denen in aller Deutlichkeit ein nur für ihn sichtbares Bild stand, halb geschlossen. »Nicht bei dem großen Schneider, nein! . . . sondern im Spital, in Bouchereaus Dienst. Eine weißgetünchte Zelle, ein eisernes Bett, die Decken am Boden liegend, und darauf ein Tobsüchtiger im letzten Paroxismus, nackt, mit Schweiß und Schaum überzogen, zusammengekrampft, mit verrenkten Gliedern, gekrümmt wie ein Clown, in die Höhe geworfen von Zuckungen, ein Geheul ausstoßend, daß der Platz vor Notre-Dame davon widerhallte, . . . am Kopfende des Bettes zwei weibliche Wesen, an jeder Seite eine, die barmherzige Schwester und eine kleine Studentin aus Bouchereaus Kurs, beide noch sehr jung, und beide ohne Widerwillen, ohne Furcht über diesen Unseligen gebeugt, dem niemand in die Nähe kommen wollte, ihm Stirne und Mund von Todesschweiß reinigend, den Schaum, der ihn zu ersticken drohte, von seinen Lippen nehmend. . . . Die Schwester betete dabei, die andre nicht, aber in dem Leuchten ihrer Augen, in der weichen Zärtlichkeit dieser mutigen, kleinen Hände, die zwischen die Zähne des Gemarterten hineingriffen, um ihn von dem erstickenden Speichel zu befreien, in der heldenhaften Mütterlichkeit ihrer Bewegungen, in ihrem Nichtmüdewerden, da fühlte man in beiden – das Weib! Und es war, um weinend in die Kniee zu sinken.«

»Dank dir, Védrine,« flüsterte Freydet, vom Gedanken an seine Schwester überwältigt. Der Doktor machte eine Bewegung mit dem Kopfe: »O! Sehr richtig . . .« Aber trocken und gereizt schnitt ihm Paul Astier das Wort ab: »Nun ja, Krankenpflegerinnen, das geb' ich zu . . . Gebrechliche Geschöpfe, wie sie selbst sind, finden sie ein ungeheures Vergnügen am Pflegen, Verbinden, heißen Tüchern, einem Bad, einem Umschlag . . . namentlich aber an der Macht über die Kranken, Geschwächten . . .« Seine Stimme war kreischend, klang so hoch und scharf wie die seiner Mutter und in seinem kalten Auge flackerte ein böser Glanz, so daß alle sich fragten: »Was hat er nur?« und sich dem Doktor der sachverständige Gedanke aufdrängte: ». . . Er hat gut sagen, Stich und akademische Degen; ich für mein Teil möchte nicht in des Fürsten Haut stecken.«

»Was den Instinkt, der Mütterlichkeit betrifft,« kicherte Paul Astier, »so wäre allerhand zu erzählen, und zwar aus unsern Bekanntenkreisen, und im Punkt von Treue und Feingefühl, da ist die kleine Witwe, die in der Gruft, auf dem Grabstein des Verstorbenen . . .«

»Du erzählst uns wohl die Geschichte der Witwe von Ephesus,« unterbrach ihn Védrine. Die Beteiligung am Gespräch ward nun allgemeiner, und tüchtig hin und her gerüttelt auf dem holperigen Weg, setzten sie das zwischen Männern nie zum Abschluß kommende Gespräch über die Frau und die Liebe fort.

»Achtung, meine Herren,« sagte der Doktor, der von seinem Rücksitz aus zwei Wagen in rascher Gangart hinter ihnen den Abhang heraufkommen sah. Im ersten, einer offenen Kalesche, saßen die Zeugen des Fürsten, und Gomès, der sich erhoben hatte und nun wieder an seinem Platz saß, nannte halblaut und mit einer gewissen Ehrfurcht ihre Namen. »Marquis d'Urbin . . . General Bonneuil . . . vom Jockeyklub . . . eleganter Sportsmann! . . . und mein Kollege Aubouis.« Ein ausgehungerter Kerl, dieser Doktor Aubouis, aber er hatte einen Orden, somit kostete es bei ihm hundert Franken. Dem offenen Wagen folgte ein herrschaftliches Coupé, in welchem der tief verstimmte Fürst mit seinem Getreuen Lavaux saß. Noch fünf Minuten, und die drei Wagen befanden sich dicht hintereinander, wie Hochzeits- oder Leichenkutschen, und man vernahm nichts als das Geräusch der Räder und das Schnauben und Pusten der erhitzten Pferde, die ihre Kinnketten schüttelten.

»Vorfahren!« befahl eine näselnde, herausfordernde, hochmütige Stimme.

»Das ist nicht mehr als recht und billig,« sagte Paul, »sie wollen uns Quartier machen.« Die Wagenräder gerieten bei Ausführung des Befehls auf dem schmalen Weg in etwas bedenkliche Berührung miteinander, die Zeugen tauschten einen höflichen Gruß aus, die beiden Aerzte ein kollegialisches Lächeln; dann fuhr das Coupé vorüber und man erblickte hinter dem trotz der Hitze geschlossenen Wagenfenster ein unbewegliches, leichenblasses, trübselig dreinschauendes Profil. »Viel weißer wird er nicht aussehen, wenn sie ihn in einer Stunde heimbringen mit durchbohrter Brust,« dachte Paul bei sich, und er sah den Stich vor sich: eine Finte in Sekund, und dann geradeaus zwischen die dritte und vierte Rippe.

Auf der Höhe wurde die Luft frischer, sie war wunderbar durchwürzt von Lindenblüten-, Akazien- und Rosenduft, und hinter der niederen Umzäunung des Parkes wurden sanft abfallende, prachtvolle Wiesengründe sichtbar, da und dort von dunklen Baumschatten gefleckt. Man hörte eine Thorglocke hell durch die Landschaft bimmeln.

»Wir sind am Ziel,« sagte der Doktor, welchem der Platz wohlbekannt war: es war das Gestüt des Marquis d'Urbin, welches dieser schon seit zwei Jahren zum Verkaufe ausbot, und in welchem außer ein paar Stutenfüllen, die hinter hohen Einfriedigungen in den Wiesen ihre Sprünge machten, keine Pferde mehr waren.

Die Stätte des Zweikampfes sollte ein breiter, ebener Streifen vor einem weißgetünchten, verlassenen Stalle an der tiefsten Stelle des Besitztumes sein, wohin man durch sanft hinabführende moos- und grasbewachsene Alleen gelangte, welche die feindlichen Parteien vereint, schweigend, in tadelloser Korrektheit durchschritten. Nur Védrine, dem diese Förmlichkeit und Steifheit ans Leben ging, rief zur Verzweiflung des in seinem engen Hemdkragen sehr feierlichen Freydet plötzlich: »Halt! Maiblumen!« bückte sich und pflückte welche, und, hingerissen von der wandellosen, friedlichen Schönheit der Dinge im Gegensatze zu der thörichten Erregung der Menschen, von den herrlichen Wäldern, welche den gegenüberliegenden Hügel bekleideten, dem Fernblicke auf vereinzelt daliegende Dächergruppen, dem schimmernden Flusse und dem nebelartigen bläulichen Dufte des heißen Sommertages, der alle Linien weich verhüllte, brach er in die bewundernden Worte aus: »Ist das schön! Ist das still!« und wies unwillkürlich mit der Hand dem hinter ihm Gehenden, dessen feine Stiefel er krachen hörte, den weiten Horizont. Ach! Mit welch unendlicher Verachtung ward dieser inkorrekte Védrine samt seinem Horizont und seinem Himmel ordentlich überflutet, denn darin war Fürst Athis groß, aufs Verachten verstand er sich. Verachtung drückte sein Auge aus, dies berühmte Auge, dessen Blick Bismarck nicht hatte standhalten, können, Verachtung drückte die große Pferdenase aus, Verachtung der Mund mit den tief herabgezogenen Winkeln; ohne zu wissen weshalb, ohne zu sprechen, ohne zu hören, ohne etwas zu lesen oder zu begreifen, verachtete er alles, und sein Glück als Diplomat, seine Erfolge in der Gesellschaft und bei den Frauen dankte er dieser allgemeinen, sich auf alles erstreckenden Verachtung. Im Grunde genommen eine hohle Schelle, dieser Samy, eine Strohpuppe, welche das Mitleid einer bedeutenden Frau aus dem Kehrichtwagen, unter den Austernschalen der nächtlichen Wirtshäuser aufgelesen, aufgerichtet, in die Höhe gehoben hatte, dem sie eingeblasen, was er zu sagen, und noch mehr, was er zu verschweigen habe, dessen Schritte, Handlungen, Bewegungen sie geleitet bis zu dem Tage, da er den Gipfel erreicht hatte und nun mit einem Fußtritte die Leiter wegstieß, deren er nicht mehr bedurfte. Die Welt im allgemeinen fand das heldenhaft, Védrines Ansicht lautete anders, und das auf Talleyrand angewendete Wort: »Ein seidener Strumpf mit Schmutz ausgefüllt« kam ihm in den Sinn, als er dies Geschöpf von so lobenswerter und selbstbewußter Korrektheit würdevoll an sich vorüberschreiten sah. Offenbar war diese Herzogin eine Frau von Geist, die, um die Nichtigkeit ihres Geliebten zu maskieren, ihn zum Diplomaten und Akademiker gemacht und ihn so in die beiden vom offiziellen Karneval vorgeschriebenen Dominos gehüllt hatte, die, so abgetragen und fadenscheinig sie auch alle beide sind, doch in der Gesellschaft noch für voll gelten; daß diese Frau ihn aber geliebt hatte, diesen ausgebrannten Menschen, diese komische Figur mit dem harten Herzen, das konnte Védrine sich kaum erklären. Sein Fürstentitel? Sie war von ebenso erlauchter Familie wie er. Sein englischer Schick, der Rock, der diesen Rücken eines Gehenkten so eng umschloß, dieses schmutzfarbige Beinkleid, das keineswegs edle Formen zeigte? Sollte man denn diesem kleinen Piraten von einem Paul Astier glauben, daß die Frauen am Niedrigen, körperlich oder geistig Mißgestalteten Gefallen finden?

Der Fürst war an dem zu halber Manneshöhe reichenden hölzernen Gatter angelangt, welches die Allee von dem Weidegrunde trennte, und sei es, daß er in seine schlotternden Beine wenig Vertrauen hatte, sei es, daß er eine solche Körperanstrengung für einen Mann von Anstand nicht passend fand, kurz, er zögerte, sichtlich beengt von der Nähe dieses großen Lümmels von einem Künstler, den er sich auf der Ferse fühlte, und entschloß sich dann, den Umweg bis zu einer Oeffnung des kunstlosen Zaunes zu machen. Der andre zwinkerte mit den kleinen Aeuglein. »Geh du nur, mein Bester, es hilft doch nichts, einmal mußt du ja doch hin vor das weiße Haus, und wer weiß, ob dir nicht dort der Lohn für deine Gemeinheit ausbezahlt wird . . . verdient hast du ihn . . . und zuguterletzt kommt immer alles ins Reine auf dieser Welt. . . .« Befriedigt und erquickt durch dies Selbstgespräch, schwang sich der Bildhauer dann, ohne auch nur die Hand zu Hilfe zu nehmen, mit kraftvollem aber ganz inkorrektem Satze über den Verschlag und gesellte sich den übrigen Zeugen zu, welche eifrig beschäftigt waren, Degen und Plätze zu verlosen. Trotz der pedantischen Steifheit und dem Ernste der Köpfe war man versucht, die mit ängstlicher Aufmerksamkeit über die rollenden Geldstücke gebeugten und hastig nach »Kopf oder Schrift« Fragenden für eine Gesellschaft runzeliger und ergrauender Schuljungen zu halten, die sich in der Pause die Zeit vertreiben. Während der Beratung über einen Fall, in dem die Lage des Geldstückes zweifelhaft geblieben, hörte Védrine sich halblaut beim Namen rufen und zwar von Paul Astier, der im Begriffe war, sich hinter dem Häuschen auszukleiden, und eben mit großer Kaltblütigkeit seine Taschen leerte. »Was schwatzt er denn da, der General? . . . Mit seinem Stock im Bereich unsrer Degen sein, um Unglück zu verhüten! Das will ich nicht, verstehst du mich . . . ich will kein Duell grüner Jungen in diesem Falle. . . . Wir sind beide gewitzte Leute!«

Das klang humoristisch, aber er preßte die Zähne aufeinander, und in seinem Auge war ein wildes Leuchten.

»Ernsthaft also?« fragte Védrine mit einem Blick, der den jungen Mann durch und durch zu erforschen schien.

»So ernsthaft, als nur etwas sein kann.«

»Sonderbar . . . mir ahnte das.« Und der Bildhauer ging, dem General die nötigen Erklärungen abzugeben. Dieser, ein alter Reiteroffizier, gespalten von den Fußsohlen bis zu den Satyrohren, die an glühendem Kolorit mit denen Védrines wetteiferten und sich jetzt so scharlachrot färbten, daß man das Blut herausspritzen zu sehen glaubte, schnarrte sein: »Angenommen, mein Herr! . . . Ganz zu Befehl, mein Herr! . . .« daß die Worte einem wie Peitschenhiebe ins Gesicht flogen. Ob Samy, welchem der Doktor eben behilflich war, den Hemdärmel zurückzuschlagen, sie gehört hatte? War es das Erscheinen des gelenkigen, geschmeidigen und kräftigen jungen Mannes, der eben mit bloßem Hals und Armen, die rund und voll waren wie die einer Frau, und dem erbarmungslosen Blick heraustrat? Thatsache ist, daß, nachdem er hierher gekommen war, weil es eben der Leute halber sein mußte, aber ohne einen Schein von Besorgtheit, als Kavalier, der nicht seinen ersten Ehrenhandel ausficht und der genau weiß, was zwei gute Zeugen wert sind, sein Gesicht sich nun jäh verwandelte, erdfahl wurde und unter dem Bart sich ein gewisses Zittern der Kinnlade verriet, die häßliche Grimasse der Furcht. Trotzdem bewahrte er seine Haltung und trat mit Anstand und ziemlich tapfer vor.

»Voran, meine Herren!«

Ja, alles empfängt seine Vergeltung. Das kam ihm heute innerlich zum Bewußtsein angesichts dieser unerbittlichen Degenspitze, die auf ihn gezückt war, ihn aus der Entfernung gleichsam betastete, ihn da und dort zu schonen schien, um anderwärts desto sicherer zu treffen. Man ging darauf aus, ihn zu töten . . . dessen war er sicher. Und während er, den langen mageren Arm weit vorgestreckt, im Geklirr der Degen stand, kamen ihm zum allererstenmal Gewissensbisse darüber, daß er so niedriger Weise, so unedel die Geliebte verlassen, sie, die ihn aus Schlamm und Schmutz hervorgezogen, emporgehoben, und zugleich hatte er das bestimmte Gefühl, daß diese Frau der nahen, ihn rings umdrohenden Gefahr nicht fremd war, dieser Gefahr, welche ihm die ganze Atmosphäre zu verwandeln schien, die den Himmel, der ihm wie ein Traumlicht hoch und weit geöffnet vorkam, sich weiter entfernen, sich drehen ließ, die ihm alle Gesichter der Zeugen, der Aerzte, ja der beiden Stalljungen, welche die neugierig von der Weide herüberkommenden Pferde mit Gertenhieben zurückjagten, so seltsam und verschwommen erscheinen ließ. »Genug, genug . . . so halten Sie doch ein . . .« schrieen plötzlich heftige, grobe Stimmen. Was war geschehen? Die Gefahr ist vorüber, fern gerückt, der Himmel wieder unbeweglich wie immer, jedes Ding hat wieder seine Form und Farbe. Aber zu seinen Füßen, auf dem aufgewühlten, zertretenen Boden breitet sich eine große Blutlache aus und färbt die gelbe Erde schwarz, und mitten drin liegt Paul Astier, den Hals an mehreren Stellen durchbohrt, geschlachtet wie ein Schwein, und in dem bestürzten, erschütternden Schweigen des Kampfplatzes summt die Wiese ringsum ihr zirpendes, surrendes Sommerlied weiter, und die Pferde, auf die niemand mehr acht hat, stehen in einiger Entfernung beisammen und strecken die Hälse, reißen die Nüstern auf und blicken neugierig auf den Körper des Besiegten.

Er verstand es doch wahrhaftig mit dem Degen umzugehen. In seiner Hand, die den Degengriff so eisern umschlossen hielt, wußte die Klinge zu surren und zu sausen und zu blitzen und sich zu biegen und zu strecken, während der andre, der da vor ihm steht, nichts in Händen hält als einen unsicher wackelnden, furchtsamen Bratspieß. Wie ist es nur geschehen? Sie werden sagen, und heute Abend werden die Zeitungen es nachsprechen und morgen wird es ganz Paris diesen nachsprechen, daß Paul Astier im Ausfall ausgeglitten und in sein eigenes Eisen gestürzt sei; man wird das sehr eingehend und ausführlich und genau erzählen, aber steht die Genauigkeit unsrer Worte nicht immer in umgekehrtem Verhältnis zu unsrer Kenntnis der Thatsachen? Selbst für die, welche Zeugen eines Zweikampfes sind, selbst für die, welche ihn ausfechten, ist der entscheidende Moment etwas verschleiert; der Augenblick, in welchem, allen Voraussetzungen, aller Logik entgegen, das Schicksal sein Wort spricht, ist immer in jene dunkle Wolke gehüllt, die sich in den Gesängen Homers auf jeden Entscheidungskampf herabsenkt.

In der kleinen Wohnung des Stallknechts, die unmittelbar in der Nähe gewesen, schlug Paul Astier nach langer, tiefer Ohnmacht die Augen wieder auf, und das erste, worauf sein Blick von dem eisernen Bett, auf dem er lag, aus fiel, war eine Lithographie des kaiserlichen Prinzen, die an derselben Wand, über einer mit chirurgischen Instrumenten beladenen Kommode hing, und in dem Bewußtsein, das ihm mit dem Erkennen der Außendinge zurückkehrte, erschien ihm das melancholische Gesicht mit den durch die Feuchtigkeit der Mauer verblaßten Augen, dies düstere Geschick einer so jäh hingerafften Jugend wie eine böse Vorbedeutung. Diese ehrgeizige, schlaue Natur war aber auch unerschrocken und furchtlos, und mühsam den Kopf erhebend, dessen Bewegung durch zahlreiche Binden und Verbände gehemmt war, fragte er mit schwacher, aber immer noch spöttischer Stimme: »Hieb oder Stich, Doktor?«, Gomès, der eben im Begriff war, seine Jodoformgazestreifen aufzurollen, gebot ihm mit großartiger Handbewegung zu schweigen. »Stich, Glückspilz, der Sie sind . . . aber nur ein Haarbreit weiter, und . . . Aubouis und ich hielten schon die Arterie für durchstochen« . . . Der junge Mann bekam ein wenig Farbe, seine Augen leuchteten. Es thut so wohl, nicht sterben zu müssen! Und mit sofort wieder erwachtem Lebenstrieb und Ehrgeiz wollte er genau wissen, wieviel Zeit die Heilung, die völlige Genesung ihm kosten werde. »Drei Wochen . . . einen Monat« . . . nach Ansicht des Doktors, der ihm sehr nachlässig, mit einem komisch wirkenden Anflug von Verachtung Antwort gab, ärgerlich wie er im Grund war und durch die Niederlage seines Patienten gekränkt. Paul überlegte, die Blicke nach der Wand gekehrt . . . Athis war fort, Colette verheiratet, ehe er sich nur rühren konnte. . . . Die Sache war mißglückt, man mußte etwas andres finden!

Die Thür ging auf und ein breiter Strom von Licht fiel herein. Oh! Das Leben, die liebe Sonne . . . Védrine und Freydet traten auf das Bett zu; fröhlich streckte ihm der Bildhauer die Hand entgegen. »Du hast uns einen netten Schrecken eingejagt.« Er hatte seinen kleinen Tausendsasa wirklich lieb; er war ihm wert, wie ein Kunstwerk. »Ja, wahrhaftig« . . . bestätigte der Vicomte, sich den Schweiß von der Stirne trocknend, mit sichtlich großer Erleichterung. Hatte er doch vorhin seine Wahl, all seine Hoffnungen auf die Akademie in dieser Blutlache am Boden liegen sehen. Nie und nimmermehr würde der Vater Astier ins Zeug gegangen sein für einen Mann, der in eine solch entsetzliche Katastrophe mitverwickelt! Ein wackres Herz von Haus aus, dieser Freydet, aber die fixe Idee seiner Kandidatur zog ihn an wie der Pol die Magnetnadel; wie er sich auch drehen und wenden mochte, wie das Leben ihn auch schüttelte, auf diesen Punkt kam er immer wieder zurück. Und während der Verwundete seinen Freunden zulächelte, ein wenig beschämt freilich, daß er, der starke, der ganze Kerl, hier ausgestreckt auf dem Schragen lag, erging sich Freydet in Ausdrücken der Begeisterung über die korrekte Haltung der Zeugen, mit denen man sich soeben über den Kampfbericht verständigt, das korrekte Benehmen des Doktors Aubouis, der sich erboten hatte, seinem Kollegen Hilfe zu leisten, und endlich die Korrektheit des Fürsten, der im offenen Wagen zurückgefahren war und für Paul Astier sein sanft gehendes, einspänniges Coupé dagelassen hatte, das bis dicht an das kleine Häuschen gelangen konnte. Oh! So korrekt!

»Ist der langweilig mit seiner Korrektheit!« warf Védrine hin, als er bemerkte, daß Paul nicht unterlassen konnte, ein Gesicht zu schneiden.

». . . Eine sehr sonderbare Geschichte« . . . flüsterte der junge Mann mit undeutlicher Stimme, wie in tiefen Gedanken vor sich hin. Er und nicht der andre war es also! Sein bleiches, blutbeflecktes Gesicht wird hinter dem Fenster des im Schritt fahrenden Coupés zu erblicken sein. Was doch so ein einziger Fehlstich . . . Trotz der Einsprache des Doktors richtete er mit einemmal sich hastig auf, durchblätterte seine Brieftasche, nahm eine Visitenkarte heraus und schrieb mit unsicher geführtem Bleistift rasch und flüchtig darauf: »Das Schicksal ist so treulos wie die Menschen. Ich wollte Sie rächen . . . ich habe es nicht vermocht. Verzeihen Sie mir!« Er unterzeichnete, las das Geschriebene durch, dachte nach, las es noch einmal, und nachdem er die Karte in ein Kouvert gesteckt, in ein entsetzliches Kouvert, das irgend einem ländlichen Spezereiladen entsprungen sein mochte und das sich in der staubigen Kommode vorgefunden hatte, schrieb er die Adresse: »Herzogin Padovani« und bat Freydet inständig, das Billet so bald als möglich persönlich zu übergeben.

»In einer Stunde soll es geschehen sein, mein lieber Paul.«

Er dankte mit einer Handbewegung, winkte ihnen verabschiedend zu, streckte sich dann lang aus, schloß die Augen und blieb stumm und regungslos bis zur Abfahrt. An sein Ohr drang das Zirpen und Surren der Tausende von Mückchen und Käferchen auf der sonnebeschienenen Wiese. Das Gesurre kam ihm vor wie das dumpfe Brausen des nahenden Fiebers und unter den geschlossenen Lidern verfolgte er alle Krümmungen und Windungen der neuen Intrigue, die so ganz verschieden war von der vorigen, und die er jetzt eben auf dem Kampfplatz, in voller Niederlage so wunderbar, wie durch Eingebung eingeleitet hatte.

Handelte es sich wirklich um eine völlige Improvisation? Darin täuschte sich der ehrgeizige Junge vielleicht, denn die Triebfeder unsrer Handlungen entgeht uns oft, ist uns verloren, verborgen unter all dem, was in den Stunden der Entscheidung auf uns eindringt, in uns sich regt, wie der Führer, der sie erregt und in Bewegung gebracht hat, in der Menge verschwindet. Ein Mensch ist auch eine Menge. Vielfältig, aus verschiedenstem zusammengesetzt wie eine solche, hat er wie sie unklare, plötzliche, nicht vorhergesehene Regungen, aber der Anführer ist da, er steht hinter der Handlung, und so spontan, so ganz vom Augenblick geboren unsre Bewegungen erscheinen mögen, sie sind immer vorbereitet, so gut wie die der großen Massen. Von dem Abend auf der Terrasse des Hotel Padovani an, wo Lavaux dem jungen Nobelgardisten die Herzogin als eine glänzende Partie bezeichnet hatte, war Paul Astier der Gedanke gekommen, daß, wenn es mit der Fürstin Rosen nichts sein sollte, die schöne Antonia ihm immer noch bliebe. Auch vorgestern hatte er daran gedacht, als er im Theater den Grafen Adriani in der Loge der Herzogin bemerkte, aber nur so nebenbei, undeutlich, seine Seele war von andrem erfüllt, seine Kraft in andrer Richtung in Anspruch genommen, und er glaubte noch an seinen Sieg. Nun war das Spiel endgültig verloren und sein erster Gedanke, als er sich dem Leben wiedergegeben fühlte, war: Die Herzogin! Und so war dieser plötzlich, fast unbewußt ausgeführte Entschluß nur das Aufgehen einer schon lange in ihm keimenden Saat. »Ich wollte Sie rächen. Ich habe es nicht vermocht!« Gut, großherzig, leidenschaftlich und rachsüchtig wie er sie kannte, sie, welche die Corsen Mari Anto nannten, würde sie morgen an seinem Bett sitzen. Dafür zu sorgen, daß sie nicht mehr von ihm lasse, war dann seine Sache.

Als Védrine und Freydet in dem Landauer, welcher das aus Rücksicht auf den Kranken Schritt fahrende Coupé weit hinter sich gelassen, nach der Stadt zurückkehrten, stellen beide angesichts der leeren Sitze, auf welchen in ihrem grünen Ueberzug die Degen des Zweikampfes lagen, ihre Betrachtungen an. »Sie machen jetzt weniger Lärm als im Herfahren, die erbärmlichen Dinger . . .« sagte Védrine, die Futterale mit dem Fuße anstoßend. Freydet dachte laut: »Es ist richtig, es sind die der Akademie« . . . und wieder seine wichtig thuende, korrekte Zeugenmiene aufsetzend: »Wir hatten alle Vorteile auf unsrer Seite, das Terrain, die Waffen, einen Schläger ersten Ranges. . . . Wie er gesagt hat, die Sache ist sehr sonderbar.« . . .

Die Schönheit des von der untergehenden Sonne in Gold- und Purpurtinten gehüllten Stromes nahm sie eine Weile gefangen und hinderte sie, ihr Gespräch fortzusetzen. Nachdem die Brücke überschritten war, lenkte der Kutscher im Trab in die Rue de Boulogne ein. »Im ganzen,« sagte Védrine, plötzlich die Unterhaltung fortsetzend, als ob kein langes Schweigen dazwischen läge, »ist der Junge, trotzdem ihm alles zu glücken scheint, ein Pechvogel. Ich habe ihn jetzt ein paarmal vom Leben ordentlich gezaust werden sehen, in Lagen, die ein Prüfstein dafür sind, ob der Mensch Glück hat, bei denen er alle Anlage dazu, die ihm in der Haut stecken mag, ausschwitzt. Nun denn, er denkt an alles, ist schlau und durchtrieben, richtet sich die Palette ganz prächtig her, und im letzten Augenblick klappt es nicht, geschieht etwas, das ihn zwar nicht zu Grunde richtet, ihn aber auch nicht zu seinem Ziel gelangen läßt. . . . Weshalb? . . . Vielleicht ganz einfach, weil er eine schiefe Nase hat. . . . Ich versichere dich, daß derartige Abweichungen und Unregelmäßigkeiten fast immer das Zeichen eines unwahren Geistes, einer nicht ehrlichen Sinnesart sind. Ein falscher Meißelschlag und alles ist verpfuscht!«

Sie freuten sich dieses Einfalls und plauderten dann des Weiteren über Glück und Unstern; Védrine erzählte einen seltsamen Fall, der sich während seines Aufenthalts in Corsica bei den Padovanis fast unter seinen Augen zugetragen hatte. Es war in Barbicaglia gewesen, am Ufer des Meeres, dem Leuchtturm der Sanguinaires gerade gegenüber. Den Dienst in diesem Leuchtturm versah ein alter, pflichtgetreuer Wächter, der nahe daran war, sich in den Ruhestand zurückzuziehen. In einer Nacht, da er die Wache hatte, schlummert der Alte ein, schläft fünf Minuten lang, keine einzige länger, und hemmt mit lang ausgestrecktem Fuß den Mechanismus des farbigen Blickfeuers. Nun will es der Zufall, daß in dieser Nacht, im nämlichen Augenblick, der General-Inspektor, der auf einem Aviso seine jährliche Inspektionsreise macht, sich dem Leuchtturm gerade gegenüber befindet, zu seinem Erstaunen in demselben festes Licht erblickt, halten läßt, beobachtet und den Thatbestand feststellt. Am andern Morgen erscheint die offizielle Schaluppe und bringt einen Aushilfswächter auf die Insel samt dem Befehl, den armen Alten sofort vom Amt zu jagen. »Ich glaube,« setzte der Bildhauer hinzu, »daß dies ein seltenes Beispiel von Mißgeschick ist, das zeitliche und räumliche Zusammentreffen des kurzen Schlummers des alten Mannes und des untersuchenden Späherblicks.« Mit einer seiner großen, ruhigen Armbewegungen machte er den Freund auf ein breites Stück tiefgrünen Himmels, da und dort mit aufgehenden, in den letzten Augenblicken des schönen Tages schon sichtbar werdenden Sternen besäet, aufmerksam, das sich leuchtend hinter der Place de la Concorde, auf der sie sich nun befanden, hinspannte.

Wenige Augenblicke nachher hielt der Wagen in der schon dunkeln kurzen Rue de Poitiers vor dem hohen wappengeschmückten Palast Padovani, dessen Vorhänge und Rouleaux fest geschlossen waren und aus dessen Garten ein übermütiges Jubilieren der Vögel herüberscholl. Die Herzogin war abgereist, nach Mousseaux zum Sommeraufenthalt. Freydet hielt unschlüssig sein großes Briefkouvert in der Hand. Ganz darauf vorbereitet, von der schönen Antonia empfangen zu werden und einen herzergreifenden Bericht über den Zweikampf abzustatten, vielleicht auch ein Wort von seiner Kandidatur einfließen zu lassen, wußte er nun nicht, ob es besser wäre, den Brief hier abzugeben, oder ihn binnen drei bis vier Tagen, von Clos-Jallanges aus, eigenhändig abzuliefern. Schließlich übergab er ihn doch dem Diener und kehrte zum Wagen zurück.

»Armer Junge! . . . Er hat mir so dringend gesagt, daß der Brief Eile habe.«

»Ohne Zweifel,« sagte Védrine, indes der Landauer sie den Quai entlang, an dem in regelmäßigen Zwischenräumen eben ein gelbliches Flämmchen nach dem andern aufflackerte, zu dem für die Abfassung des Protokolls vereinbarten Ort trug, »ohne Zweifel . . . ich weiß nicht, was das Billet enthält, aber demnach, daß er sich die Mühe gegeben hat, es zu dieser Stunde, in dieser Lage zu schreiben, muß es etwas sehr Wichtiges, sehr fein Ersonnenes, ein merkwürdig kluger Streich sein. . . . Da haben wir's wieder . . . die Sache hat die größte Eile – und die Herzogin ist fort.«

Und ganz ernsthaft seine Nasenspitze zwischen den Fingern krumm biegend, setzte er hinzu: »Das kommt davon, siehst du.«


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