Alphonse Daudet
Numa Roumestan
Alphonse Daudet

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Zwanzigstes Kapitel.

Eine Taufe.

Der große Tag in Aps ist der Montag, der Markttag.

Lange vor Tagesanbruch beleben sich die Wege, die nach der Stadt führen, jene breiten, verödeten Landstraßen, zwischen Arles und Avignon, wo der Staub so weiß und ruhig liegt, wie frischgefallner Schnee; da knarren langsame Lastwagen, gackern Hühner in ihren Gitterkäfigen, springen bellende Hunde, trippeln Schafherden mit dem rieselnden Geräusch eines fallenden Platzregens vorüber, mit dem langen Schäferwagen, der wie von hüpfenden Wogen getragen aus der Herde hervorragt. Man vernimmt die rauhen Rufe der Ochsentreiber, die hinter ihrem Vieh einherkeuchen, den dumpfen Ton der Knüppelschläge, die auf die runzligen Weichen der Tiere niederfallen, und erblickt Schattenrisse von Reitern mit dem dreizackigen Stierstachel bewaffnet. Alles das drängt sich in der Dämmerung tappend durch die Thore, deren Zinnen sich als Zacken auf dem gestirnten Himmel abzeichnen, strömt auf die Wallpromenade, welche die schlummernde Stadt umschließt, die um diese Stunde wieder den eigentümlichen Anblick einer alten Römer- und Sarazenenstadt mit unregelmäßigen Dächern und spitzigen Erkern über schadhaften, wackeligen Treppen gewährt. Das wirre Gewimmel schläfriger Menschen und Tiere läßt sich geräuschlos zwischen den silberweißen Stämmen der Platanen nieder, dringt bis auf den Bürgersteig, ja bis in die Höfe der Häuser ein und verbreitet den Duft warmer Streu, aromatischer Kräuter und reifer Früchte. Dann beim Erwachen sieht sich die Stadt von allen Seiten durch einen ungeheuren, belebten, geräuschvollen Markt überflutet, als ob 145 das ganze Landvolk der Provence, Mensch und Vieh, Frucht und Saat sich erhoben und die Stadt in Nacht und Nebel überrumpelt hätte.

Dieser Markt gewährt dann einen prächtigen Anblick ländlichen Reichtums, der je nach der Jahreszeit in verschiedener Gestalt auftritt. An bestimmten Plätzen werden da nach unvordenklichem Brauche die Orangen, Granatäpfel, Goldquitten, Sorbäpfel, die grünen und gelben Melonen in Körben, in Haufen, in Schobern, nach Tausenden aufgeschichtet; die Pfirsiche, Feigen, Trauben stehen festgepackt in Versandkörben neben Säcken voll Gemüsen. Die Hämmel, die Zicklein, die rosenroten und wie Seide schimmernden Schweine gebärden sich unzufrieden innerhalb ihrer Pferche. Die unter das Joch gespannten Ochsen werden den Käufern vorgeführt; Stiere mit dampfenden Nüstern zerren an dem Eisenring, mit welchem sie an die Mauer gebunden sind. Und weiterhin tummeln sich Pferde in großer Zahl, kleine Pferde von der Insel Camargue, Arabermischlinge springen umher, deren braune, weiße und rötliche Mähnen bunt durcheinander fliegen, und die auf den Ruf ihres Namens »Té! Lucifer . . . Té! Esterel . . .« herbeikommen und den Hafer aus der Hand ihrer Hüter fressen, die in ihren Kanonenstiefeln ganz wie Gauchos der Pampas von Südamerika aussehen. Dann kommt das Geflügel, an den roten Pfoten paarweise zusammengebunden, Hennen und Perlhühner, die mit den Flügeln schlagend zu den Füßen der in langer Reihe dasitzenden Händlerinnen liegen. Alsdann der Fischmarkt, Aale, die noch ganz lebendig auf Fenchelkraut liegen, Forellen aus dem Sorgues- und dem Durancefluß ihre glänzenden Schuppen vermischend: ein regenbogenfarbiger Todeskampf. Und endlich ganz zuletzt erheben sich, gleich einem entlaubten, winterlichen Walde, Schaufeln, Heugabeln, Rechen von abgeschältem, weißem, neuem Holze, inmitten von Pflügen und Eggen.

Auf der andern Seite der Promenade längs des Walles stehen in zwei Reihen die ausgespannten Fuhrwerke mit ihren Reifen, Planen, ihren hohen Leitern und staubigen Rädern; und auf dem freien Raume dazwischen drängt sich 146 die Menge mühsam vorwärts, ruft sich an, streitet und feilscht in verschiedenen Mundarten, in dem feineren, affektierten provençalischen Dialekt, der gewisse Kopf- und Schulterbewegungen und ein keckes Gebärdenspiel erfordert, oder in dem languedocschen, welcher härter und schwerfälliger ist und in seiner Aussprache an das Spanische mahnt. Von Zeit zu Zeit weicht dieses Gewoge von Filzhüten, von Arleser- und Venaisinerhauben, dieses mühsame Gedränge eines ganzen Volkes von Käufern und Verkäufern auf den Ruf eines nachzügelnden Fuhrmanns zurück, der seinen Wagen mit großer Mühe im Schritt vorwärts bringt.

Von den städtischen Bewohnern sieht man wenig, da sie verächtlich auf dieses Eindringen der ländlichen Bevölkerung herabsehen, auf welchem doch die Eigentümlichkeit und der Wohlstand der Stadt beruht. Von morgens bis abends durchlaufen die Landleute die Straßen, halten sich vor den Läden der Sattler, der Schuster, der Uhrmacher auf, betrachten die geharnischten Stundenschläger der Rathausuhr, die Schaufenster der Läden und stehen geblendet vor den Vergoldungen und Spiegelscheiben der Cafés, wie weiland die Ochsentreiber Theokrits vor dem Palaste der Ptolemäer.

Die einen kommen, mit großen Flaschen und Päcken beladen, aus den Apotheken, andre, eine ganze Hochzeitsgesellschaft, treten beim Goldschmied ein, um nach schlauem Feilschen die langen Ohrgehänge und die Halskette für die Braut auszuwählen. Und die grobtuchenen Röcke, die wilden, sonnverbrannten Gesichter, dies geschäftige, gierige Treiben, dies alles könnte glauben machen, man befände sich in einer von den Chouans zur Zeit der großen Kriege eingenommenen Stadt in der Vendée.

An jenem Morgen, dem dritten Montage des Februar, war das Getriebe ein so lebhaftes und die Menge so dicht gedrängt, wie an den schönsten Sommertagen, in die man sich durch einen wolkenlosen, von warmer Sonne vergoldeten Himmel versetzt glauben konnte. Man sprach und gestikulierte gruppenweise; es handelte sich aber weniger um Kauf und Verkauf, als um ein Ereignis, welches den 147 Verkehr vorübergehend zum Stocken brachte und veranlaßte, daß sich alle Blicke, alle Köpfe, sogar die großen Augen der Wiederkäuer und die beweglichen Ohren der kleinen Camargueser Pferde der St. Perpetuakirche zuwandten. Es hatte sich nämlich auf dem Markte unter Hervorrufung einer außerordentlichen Haussebewegung das Gerücht verbreitet, daß Numas Junge, der kleine Roumestan, dessen Geburt drei Wochen zuvor in Aps und im ganzen Süden mit lautem Entzücken begrüßt worden war, heute getauft werden solle.

Unglücklicherweise sollte die Taufe, welche wegen der tiefen Trauer der Familie verschoben worden war, aus demselben Grunde in aller Stille vollzogen werden, und ohne einige alte Hexen aus der Gegend von Baux, die jeden Montag auf den Stufen der St. Perpetuakirche einen kleinen Markt von aromatischen, auf den Abhängen der Alpillen gepflückten Arzneikräutern veranstalten, wäre die Feierlichkeit wahrscheinlich ganz unbemerkt vorübergegangen. Als aber die alten Kräuterweiber den Wagen der Tante Portal vor der Kirche halten sahen, machten sie die Knoblauchverkäuferinnen darauf aufmerksam, die, mit ihren glänzenden Schnüren und Kränzen am Arme, von einem Ende der Promenade zum andern wandern; die Knoblauchhändlerinnen brachten die Kunde auf den Fischmarkt und bald ergoß sich durch die kleine nach der Kirche führende Gasse der ganze Lärm und das Getriebe des Marktes auf den Platz vor der Kirche. Man drängte sich um Ménicle, der kerzengerade in Trauergala, den Crêpe am Arm und am Hute, auf seinem Kutscherbocke saß und auf alle Fragen nur mit stummem Achselzucken antwortete. Trotzdem verblieb man dabei zu warten, und unter den über die Straße gespannten Kattunstreifen der Marktgasse häufte sich die Menge an, man drückte sich zum Ersticken, die Kühneren stiegen auf die Ecksteine, und aller Augen waren nach dem großen Kirchenportal gerichtet, das endlich geöffnet wurde.

Ein vielstimmiges »Ah!« wie bei einem Feuerwerk erklang triumphierend in allen Tonarten und verstummte dann plötzlich beim Erscheinen eines großen, schwarzgekleideten alten Herrn, der für einen Taufpaten sehr betrübt und 148 düster aussah. Derselbe reichte Madame Portal den Arm, die sehr stolz darauf war, daß sie mit dem höchsten Gerichtspräsidenten Gevatter gestanden hatte und ihr Name neben dem seinigen im Kirchenbuche verzeichnet war. Aber auch sie war durch den kürzlich erfolgten Trauerfall und die schmerzlichen Erinnerungen verdüstert, welche diese Kirche aufs neue in ihr wachgerufen hatte. Die Menge war enttäuscht beim Anblick dieses ernstblickenden Paares, welchem der große Mann von Aps in Handschuhen und ebenfalls ganz schwarz gekleidet folgte. Er fühlte sich erstarrt durch diese stille, nüchterne Taufe zwischen vier Kerzen, ohne andre Musik als das Geschrei des Kleinen, auf welchen das Latein des Sakramentes und das auf sein zartes, kahles Vogelköpfchen gespritzte Weihwasser den unangenehmsten Eindruck hervorgebracht hatten. Aber das Erscheinen einer üppigen, breitschultrigen, plumpen, gleich einem preisgekrönten Vierfüßler bebänderten Amme und das schimmernde Päckchen Spitzen und Stickereien, das sie im Arme trug, machte der Verstimmung des Publikums ein Ende, ein neues Geschrei erhob sich gleich dem Zischen einer aufsteigenden Rakete und die allgemeine freudige Erregung sprühte in tausend begeisterten Ausrufen auf.

»Lou vaqui.... Da ist er ...vé! vé!«

Ueberrascht, geblendet, blinzelnd unter den Sonnenstrahlen, blieb Roumestan einen Augenblick oben auf der Freitreppe stehen, um diese schwarzbraunen Gesichter, das dichte Gewoge dieser schwarzen Herde zu betrachten, aus welcher eine überströmende Zärtlichkeit zu ihm emporstieg; und obgleich an Huldigungen gewöhnt, empfand er doch hier eine der lebhaftesten Gemütsbewegungen seiner staatsmännischen Laufbahn, eine stolze Trunkenheit, welche von dem ihm ganz neuen, aber schon sehr lebhaften Gefühl der Vaterschaft geadelt wurde. Er war bereits im Begriffe zu sprechen, besann sich aber noch rechtzeitig, daß dieser Platz vor der Kirche nicht dazu geeignet war.

»Steigen Sie ein, Amme . . .« sagte er zu der phlegmatischen Burgunderin, die ihre Milchkuhaugen verblüfft aufriß, und während diese sich mit ihrer leichten Bürde in 149 der Karosse niederließ, befahl er dem Kutscher, rasch durch eine Querstraße zurückzukehren. Aber ein ungeheures Geschrei antwortete ihm: »Nein, nein . . . den langen Weg . . . den langen Weg!«

Das hieß, daß er über den Markt in seiner ganzen Ausdehnung fahren solle.

»Nun denn, meinetwegen den langen Weg,« sagte Roumestan, nachdem er seinen Schwiegervater, dem er den fröhlichen Aufzug hatte ersparen wollen, einen fragenden Blick zugeworfen, und der Wagen setzte sich unter dem Gekrache seines altertümlichen Gestelles in Gang, zunächst die Straße entlang, dann auf die Promenade unter den Hochrufen der Menge, die sich an dem eignen Geschrei berauschte und in ihrer wahnsinnigen Begeisterung jeden Augenblick zwischen die Pferde oder die Räder geriet. Und unter diesen begeisterten Zurufen, dem Schwenken der Hüte und Taschentücher, umhaucht von den Düften des Marktes und dem heißen Atem der Menge fuhr man mit herabgelassenen Wagenfenstern im Schritt durch das Gedränge. Die Frauen streckten ihre bronzefarbenen, vor Erregung glühenden Gesichter bis in den Wagen, und wenn sie auch nur das Häubchen des Kleinen erblickt hatten, riefen sie aus: »Diou! lou bèu drôle!... Gott! Das schöne Kind! . . .«

»Ganz wie sein Vater, qué?...«

»Hat schon seine Bourbonnase und sein liebes Wesen . . .«

»Laß es sehen, mein Liebling, laß es sehen dein schönes Gesichtchen. . . .«

»Er ist hübsch wie ein Ei.«

»Zum Anbeißen.«

»Té! mein Schatz.«

»Mein Rebhuhn. . . .«

»Mein Lämmchen. . . .«

»Mein Perlhühnchen. . . .«

»Meine Prachtperle. . . .«

Und sie umhüllten und beleckten das Kind förmlich mit der braunen Flamme ihrer Augen. Er aber, das Vierwochenkind, war durchaus nicht ängstlich. Aufgeweckt durch den Lärm, lag er ganz ruhig, zwei Milchtropfen in den 150 Mundwinkeln, auf seinem mit rosa Schleifen geschmückten Kissen und blickte mit seinen starren Katzenaugen um sich; sichtlich erfreut über die am Wagenschlag erscheinenden Köpfe und über dieses stets wachsende Geschrei, zu dem sich bald auch das Blöken, Heulen und Kreischen der von einem krampfhaften Nachahmungstrieb befallenen Tiere gesellte. Ein furchtbares Durcheinander von emporgereckten Hälsen, offenen Mäulern und klaffenden Tierschnauzen – alles zur Ehre Roumestans und seines Sprößlings. Und selbst da, als alle im Wagen ihre gequälten Ohren mit beiden Händen zuhielten, blieb der kleine Weltbürger unempfindlich und seine Kaltblütigkeit wirkte sogar erheiternd auf den alten Präsidenten, welcher sagte: »Wenn der nicht für das Forum geboren ist. . . .«

Sie hofften beim Verlassen des Marktes loszukommen, aber die Menge folgte ihnen und verstärkte sich noch durch das scharenweise Herbeiströmen der Weber vom Cheminneuf, der Spinnerinnen und der Lastträger von der Avenue Berchère. Die Kaufleute eilten aus ihren Läden herbei, der Balkon des Klubs der Weißen füllte sich mit Schaulustigen, und bald zogen auch die Musikvereine mit ihren Bannern herbei und stimmten Chorgesänge und Fanfarenmusik an, wie gewöhnlich bei der Ankunft Numas, nur war heute alles noch etwas heiterer und trug das Gepräge eines außergewöhnlichen, improvisierten Festes.

* * *

Im schönsten Salon des Hauses Portal, dessen weißes Tafelwerk nebst den geflammten Seidentapeten ein Jahrhundert alt war, wartete Rosalie, auf einer Chaiselongue ruhend, ungeduldig auf die Rückkehr ihres Kindes und ließ ihren Blick von der leeren Wiege auf die menschenleere und von der Sonne beleuchtete Straße schweifen. Auf ihren feinen, blassen, von Harm und Thränen abgemagerten Zügen, auf denen indessen eine wohlthätige Ruhe lag, konnte man die ganze Geschichte ihres Lebens während der letzten Monate lesen: ihre Sorgen, ihren 151 herzzerreißenden Gram, ihren Bruch mit Numa, den Tod ihrer Hortense, und endlich die Geburt des Kindes, vor der alles andre in den Hintergrund trat. Als dieses große Glück eintraf, hatte sie gar nicht mehr darauf gerechnet; zerschmettert von so vielen Schlägen, hielt sie sich nicht mehr für fähig, Leben zu spenden. In den letzten Tagen bildete sie sich sogar ein, die ungeduldigen Stöße des kleinen, eingekerkerten Wesens gar nicht mehr zu fühlen, und in abergläubischer Furcht versteckte sie die Wiege und das ganze bereitliegende Kinderzeug. Sie gab bloß ihrer englischen Kammerjungfer den Vermerk: »Wenn man Kinderkleider von Ihnen verlangt, so wissen Sie, wo Sie welche finden können.«

Sich mit geschlossenen Augen und zusammengebissenen Zähnen auf ein Folterbett zu begeben und viele Stunden lang alle fünf Minuten unwillkürlich einen herzzerreißenden Schrei auszustoßen, sein Geschick als Opferlamm auf sich zu nehmen, dessen Freuden alle teuer erkauft werden müssen, – all das besagt nicht viel, wenn am Ziele die Hoffnung winkt; aber mit der Erwartung einer schließlichen Enttäuschung die größten Schmerzen ertragen zu müssen, bei welchem die beinahe tierischen Klagelaute des Weibes mit dem Schluchzen der enttäuschten Mutter sich vermischen – welch ein schreckliches Martyrium! Halb tot in ihrem Blute liegend, rief sie wiederholt in tiefster Erschöpfung: »es ist tot . . . es ist tot . . .« Als sie aber dann jenen Stimmversuch, das erste, geschrieene Atmen, den Anruf des Lichts von den Lippen des Neugebornen vernahm, o mit welch überströmender Zärtlichkeit antwortete sie da: »Mein Kind! . . .«

Es lebte. Man brachte es ihr. Ihr gehörte dieses kleine, kurzatmige, geblendete, verblüffte und beinahe blinde Wesen. Dieses kleine Etwas von Fleisch und Blut fesselte sie aufs neue ans Leben, und sie brauchte es bloß an sich zu drücken, um zu fühlen, wie die fiebernde Glut ihres Körpers der Empfindung erquickender Frische wich. Nun gab es keine Trauer, kein Elend mehr! Ihr Kind, ihr Knabe, diese Sehnsucht, diese schmerzliche Trauer, die sie zehn lange Jahre ertragen hatte, die ihr brennende Thränen in die Augen trieb, wenn sie die Kinder andrer Leute 152 anblickte, dieses kleine Wesen, das sie im voraus auf so viele niedliche Rosenwangen geküßt hatte, es war da und verursachte ihr ein immer neues Entzücken, eine immer neue Ueberraschung, so oft sie sich von ihrem Bette aus zur Wiege neigte, die Musselinvorhänge von dem kaum hörbar Schlummernden abzog und den Neugebornen fröstelnd und zusammengekrümmt daliegen sah. Sie wollte ihn immer in ihrer Nähe haben. Wenn man ihn austrug, wurde sie unruhig und zählte die Minuten bis zu seiner Rückkehr, aber nie mit solcher Angst, wie an diesem Morgen der Taufe.

»Wie viel Uhr ist es? . . .« fragte sie jeden Augenblick. . . . »Wie lange sie bleiben! . . . Mein Gott, wie lange das währt! . . .«

Frau Le Quesnoi, die bei ihrer Tochter geblieben war, beruhigte sie, obgleich sie selbst sich ein wenig ängstigte; denn dieser Enkel, der erste, der einzige, war den Großeltern sehr ans Herz gewachsen und erhellte ihre Trauer mit einem Hoffnungsstrahl.

Ein lärmendes Geräusch in der Ferne, das sich dumpf grollend näherte, verdoppelte die Unruhe der beiden Frauen.

Man sieht hinaus, man horcht. Gesang, Freudenschüsse, Geschrei, Glockengeläute ertönt. Und plötzlich ruft die englische Bonne, die auf die Straße hinausblickt: »Gnädige Frau, es ist die Taufe! . . .«

Das sollte die Taufe sein, dieser Aufruhr, dieses Geheul von Kannibalen, die den Kriegsreigen tanzen?

»O dieser Süden . . . dieser Süden! . . .« rief die erschrockene junge Mutter wiederholt. Mit Zittern dachte sie daran, daß man ihr Kind in dem Tumult ersticken könnte.

Doch nein. Da ist es, höchst lebendig, mit den kurzen Aermchen zappelnd und aus großen Augen um sich blickend, prächtig anzuschauen in dem langen Taufkleide, das Rosalie selbst gestickt und mit Spitzen besetzt hat, das Kleid ihres totgebornen Kindes. Und in dieser Stunde besitzt sie beide Kinder in einem, das tote und das lebendige.

»Er hat auf dem ganzen Wege nicht einmal geschrieen, noch die Brust verlangt,« versichert Tante Portal, die in ihrer bilderreichen Weise nunmehr von dem Triumphzug durch 153 die Stadt erzählt, während in dem alten Hause, das wieder zur Triumphhalle geworden, Thüren auf und zu schlagen und die Diener unter den Thorweg eilen, wo man den Musikanten Brauselimonade verabreicht. Fanfaren beginnen zu schmettern, daß die Scheiben erzittern. Die alten Le Quesnois sind in den entlegenen Garten hinabgegangen, um nicht diesem Jubel beizuwohnen, der ihnen das Herz zerreißt, und da Roumestan auf dem Balkon sprechen wird, so eilen Tante Portal und Polly, die englische Bonne, schnell in den Salon, um ihn zu hören.

»Möchte vielleicht die gnädige Frau gütigst den Kleinen einen Augenblick halten?« fragt die Amme neugierig wie eine Wilde; und Rosalie ist ganz glücklich, daß sie nun mit ihrem Kinde auf den Knieen allein bleibt. Von ihrem Fenster aus sieht sie die funkelnden Banner im Winde flattern und die dicht gedrängte Menge, die den Worten ihres großen Mannes lauscht. Von Zeit zu Zeit dringen einzelne Worte der Rede bis zu ihr; aber sie hört vor allem nur den weichen Klang dieser verführerischen, herzergreifenden Stimme, und ein schmerzlicher Schauder durchdringt sie bei dem Gedanken an all das Leid, das diese Beredsamkeit, die so gut zu lügen und zu betrügen versteht, über sie gebracht hat. Jetzt hat das ein Ende; sie fühlt sich geschützt gegen Enttäuschungen und Verletzungen. Sie hat ein Kind. Dies Wort umfaßt ihr ganzes Glück, all ihr Träumen und Hoffen. Und indem sie das geliebte kleine Wesen wie einen Schild gegen ihre Brust drückte, befragte sie es ganz leise, ganz in der Nähe, als suche sie eine Antwort oder eine Aehnlichkeit in den Umrissen dieses kleinen, formlosen Gesichts, in den zarten Zügen, die wie von einer liebkosenden Hand in Wachs gedrückt erschienen und schon einen sinnlichen, gewaltthätigen Mund, eine abenteuerlich gebogene Nase und ein weiches, viereckiges Kinn andeuteten.

»Wirst auch du ein Lügner sein? Wirst auch du dein Leben lang dich und andre verraten und harmlose Herzen brechen, die kein andres Unrecht begangen haben als das: ›dir zu glauben und dich zu lieben?‹ Wirst auch du so unbeständig, leichtsinnig und grausam sein und das Leben wie 154 ein Virtuose, wie ein Bänkelsänger auffassen? Wirst auch du mit Worten um dich werfen, ohne dich um ihren Wert und ihre Uebereinstimmung mit deinen Gedanken zu kümmern, wenn sie nur glänzen und schön klingen?«

Und den Mund zum Kusse spitzend über dem kleinen von Flaumhärchen umgebenen Ohre: »Wirst du ein Roumestan sein? Sag!«

Auf dem Balkon steigerte sich der Redner bis zu feurigen Herzensergüssen, von denen man nur die mit der Emphase des Südens betonten Schlagwörter vernahm: »Meine Seele. . . . Mein Blut. . . . Moral. . . . Religion. . . . Vaterland. . . .«, bekräftigt durch die Hurrarufe des nach seinem Bilde geschaffenen Publikums, dessen Vorzüge und Laster er in sich zusammenfaßte: der gärende, erregbare, lärmende Süden, ein brandendes Meer mit seinen zahllosen Wellen, deren jede sein Bild widerspiegelte.

Ein letztes Vivat, und langsam hörte man die Menge sich verlaufen. Roumestan trat, sich die Stirn trocknend, in das Zimmer, und berauscht von seinem Triumphe, erwärmt von dieser unerschöpflichen Zärtlichkeit eines ganzen Volkes, näherte er sich seiner Frau und küßte sie mit aufrichtiger Zärtlichkeit. Er fühlte sich liebend, gut und zärtlich für sie gestimmt, ohne Groll, wie ohne Gewissensbisse, wie am ersten Tage ihrer Ehe.

»Bé?... Meinst du, daß man deinem Herrn Sohn genug Ehre erweist?«

Vor dem Kanapee kniend, spielte der große Mann von Aps mit seinem Kinde, haschte nach den kleinen Fingern, die sich an alles anklammerten, und nach den kleinen Füßen, die in der Luft strampelten. Rosalie betrachtete ihn mit gefurchter Stirn und suchte für diese widerspruchsvolle, unbegreifliche Natur eine Erklärung zu finden. Dann, als sei es ihr gelungen, fragte sie hastig: »Numa, wie heißt doch das Sprichwort, das Tante Portal neulich anführte? . . . Gassenfreud' . . . wie geht es doch weiter?«

»Ach ja. . . . ›Gau de carriero, doulou d'oustau....‹ Gassenfreud' – Hausleid.«

»So ist es,« sagte sie mit tiefer Empfindung.

155 Und den ganzen Jammer ihres Lebens in die Worte legend, die langsam und schwer, wie Steine in einen Abgrund von ihren Lippen fielen, wiederholte sie das Sprichwort, in welchem ein ganzer Menschenschlag sich geschildert und sein Wesen klar ausgesprochen hat: »Gassenfreud' – Hausleid. . . .«

 

Ende.

 


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