Alphonse Daudet
Numa Roumestan
Alphonse Daudet

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Viertes Kapitel.

Eine Tante aus dem Süden. – Kindheitserinnerungen.

Das Portalsche Haus, in welchem der große Mann von Aps während seines Aufenthaltes in der Provence zu wohnen pflegt, gehört zu den Sehenswürdigkeiten des Ortes. Dasselbe steht in Joannes »Reiseführer« neben dem Tempel der Juno, der Arena, dem alten Theater und dem Turm der Antonine, jenen antiken Resten der Römerherrschaft, auf welche die Stadt sich so viel zu gute thut und die sie sorgfältig in stand hält. Aber weder das schwerfällige, bogenförmige, mit riesigen Nägeln beschlagene Einfahrtsthor, noch die hohen, von dichtem Gitterwerk strotzenden und mit pompösen Lanzenstangen ausgestatteten Fenster sind es, welche man an dem alten Provinzialgebäude von den Fremden bewundern läßt, sondern nur der Balkon im ersten Stockwerk, ein schmaler Balkon mit schwarzen Eisenbeschlägen in Form eines Vorbaues über der Eingangshalle. Von hier aus spricht 52 Roumestan, von hier aus zeigt er sich der Menge, wenn er ankommt, und die Wucht der Faust des Redners hat ausgereicht – die ganze Stadt könnte es bezeugen – um dem ehemals schnurgraden Balkon seine wunderlichen Krümmungen und Ausbauchungen zu verleihen.

»Té! vé!... Il a pétri le fer, notre Numa!...« »Du siehst, er hat das Eisen zerknetet, unser Numa!« So erklären sie einem mit weit aufgerissenen Augen und einer so energischen Betonung des »r« – »pétrrri le ferrr« – daß auch nicht der Schatten eines Zweifels Raum hat.

Der Menschenschlag in der Gegend von Aps ist stolz und gut geartet, aber von einer Erregbarkeit und einer Ueberschwänglichkeit der Redeweise, wovon die Tante Portal als beredter Typus des dortigen Bürgerstandes einen Begriff geben kann.

Von enormem Körperumfang, apoplektisch, mit blutunterlaufenen, herabhängenden Wangen, deren bläulichrote Farbe im Gegensatz zu einem ursprünglich hellen Teint steht, der noch an dem weißen Halse und an der Stirn wahrnehmbar ist, auf welcher schöne, wohlgepflegte, silbergraue Löckchen aus einer Haube mit dunkelblauen Bändern hervorschauen, mit schiefeingehaktem Kleiderleib, nichtsdestoweniger aber eine stattliche, würdevolle Erscheinung mit angenehmem Lächeln auf den Lippen – so stellt sich Madame Portal im Halblicht ihres nach südlichem Brauche stets luftdicht verschlossenen Salons dar. Man könnte sie für ein Familienbild, für eine Marquise von Mirabeau halten, welche ganz in dieses alte, vor hundert Jahren von Gonzague Portal, erstem Rate beim Staatsgerichtshof von Aix, erbaute Haus passen würde. Man findet in der Provence noch immer Häuser und Leute, die an die Zeit von ehemals erinnern; es ist, als sei das vorige Jahrhundert soeben erst durch diese hohen Pfeilerthüren hinausgeschritten und habe einen Zipfel seines Falbelkleides darin eingeklemmt gelassen.

Sollte es aber jemand im Laufe des Gesprächs unglücklicherweise einfallen, zu behaupten, die Protestanten seien ebensoviel wert wie die Katholiken, oder Heinrich V. werde noch nicht so bald den Thron besteigen, so würde das alte Bild 53 sich wutentbrannt und mit geschwollenen Halsadern aus seinem Rahmen stürzen, mit bebenden Händen in die schön geordneten, glatten Löckchen fahren, Beleidigungen, Drohungen und Verwünschungen ausstoßen, kurz in einen jener entsetzlichen, stadtbekannten Zornausbrüche geraten, von denen man sich gar drollige Dinge erzählt. Zum Beispiel: Der Diener läßt bei einer Soiree ein Brett mit Gläsern fallen; Tante Portal schreit auf, ereifert sich nach und nach und gerät schließlich unter Vorwürfen und Wehklagen in eine solche Raserei, daß sie keine Worte mehr findet, um ihre Entrüstung zum Ausdruck zu bringen. Der Aerger schnürt ihr die Kehle zu, und da ihre Hand den ungeschickten Diener, der sich klugerweise geflüchtet hat, nicht erreichen kann, schlägt sie ihr seidnes Kleid über den Kopf und erstickt darin das Uebermaß von Wut und Schmerz, unbekümmert darum, daß sie ihren Gästen ihre umfangreichen, gestärkten weißen Unterröcke zeigt.

An jedem andern Orte hätte man sie für verrückt erklärt, aber in Aps, in der Heimat der feuerfangenden Hitzköpfe, findet man nur, daß Madame Portal »etwas laut« spreche. In der That hört man, wenn man an einem jener friedlichen Sommernachmittage, wo die klösterliche Stille der Stadt nur durch das Zirpen der Grillen oder einige Tonleitern unterbrochen wird, über den Kavallerieplatz geht, gar seltsame Rufe aus dem alten Gebäude hervordringen, mit denen die Dame ihre Leute ausschilt und antreibt, wie z. B.: »Ungeheuer . . . Mörder . . . Straßenräuber . . . Kirchenräuber . . . ich hau' dir einen Arm ab . . . ich reiß' dir das Zwerchfell aus dem Leibe!« Thüren werden auf und zu geschlagen, Treppengeländer erzittern unter dem Widerhall der hohen geweißten Wölbungen, Fenster werden geräuschvoll aufgerissen, öffnen sich mit Gekrache, wie um die den unglücklichen Dienstboten abgerissenen Lappen auf die Straße fliegen zu lassen. Die Dienerschaft aber fährt ruhig in ihrer Arbeit fort, denn sie ist an diese Stürme schon gewöhnt und weiß wohl, daß sie nichts weiter zu bedeuten haben, vielmehr nur die gewöhnliche Ausdrucksweise der Madame Portal sind. Alles in allem ist sie eine ausgezeichnete Frau, von leidenschaftlichem, 54 großmütigem Charakter wie dieser Menschenschlag im allgemeinen, mit dem Bedürfnis zu gefallen, sich aufzuopfern, für andre durchs Feuer zu gehen, und niemand hatte die guten Wirkungen dieser Eigenschaften mehr empfunden, als Numa. Seit seiner Wahl zum Abgeordneten gehörte das Haus am Kavallerieplatz ihm, und seine Tante hatte sich nur das Recht vorbehalten, es bis zu ihrem Tode zu bewohnen. Und. welches Fest war für sie die Ankunft ihrer Pariser, die Reihenfolge von Morgen- und Abendständchen, von feierlichen Empfängen und Besuchen, mit denen die Anwesenheit des großen Mannes ihr sonst so einsames und doch so abwechselungsbedürftiges Leben in Schwung brachte. Zudem verehrte sie ihre Nichte Rosalie mit aller Hochachtung, welche ihr der Gegensatz ihrer beiden Naturen abnötigte, mit aller Ehrfurcht, den ihr die Tochter des Präsidenten Le Quesnoi, des ersten Justizbeamten von Frankreich, einflößte.

Allerdings bedurfte die junge Frau einer seltenen Nachsicht und jener Heilighaltung der Familie, die sie von ihren Eltern ererbt hatte, um zwei volle Monate hindurch die Launen, die ermüdenden Einfälle dieser ungeordneten, stets überreizten Einbildungskraft, deren Beweglichkeit nur der Trägheit des unbeholfenen Körpers zu vergleichen war, über sich ergehen zu lassen. In dem Vorsaal, der kühl war wie ein maurischer Hof, und in dem sich ein schimmliger, dumpfiger Geruch zusammenzog, saß Rosalie, die als Pariserin nicht unthätig bleiben konnte, und hörte mit einer Stickerei in der Hand stundenlang die überraschenden, vertraulichen Erzählungen der wohlbeleibten Dame an, die ihr gegenüber mit schlenkernden Armen und – um besser gestikulieren zu können – mit leeren Händen sich in einen Lehnstuhl versenkt hatte und unermüdlich die Chronik der ganzen Stadt, sowie ihre Erlebnisse mit Dienstmädchen und Kutschern herleierte, daß einem darüber der Atem verging; je nach ihrer Laune und der Glocke, die es geschlagen hatte, schuf sie Engel oder Ungeheuer, ereiferte sie sich für oder gegen jemand und überhäufte, in Ermangelung von wirklichen Beschwerdegründen, den jeweiligen Gegenstand ihres Widerwillens mit den schrecklichsten, fabelhaftesten Anschuldigungen, mit düsteren, blutigen 55 Erfindungen, womit ihr Kopf vollgepfropft war, wie die »Annalen der Glaubenspropaganda«. Aber Rosalie hatte sich durch das Zusammenleben mit Numa an diese rhetorischen Uebertreibungen und Tollheiten gewöhnt, und so ließ sie, ihren eignen Gedanken nachhängend, alles an sich vorübergehen. Höchstens fragte sie sich selbst, wie es möglich war, daß sie bei ihrer Zurückhaltung und Bedachtsamkeit in eine solche Familie von Komödianten geraten sei, die sich in Phrasen kleideten und mit theatralischen Gebärden um sich warfen; und die Geschichte mußte schon sehr stark sein, wenn sie die Erzählende mit einem leicht hingeworfenen »aber Tante!« unterbrach.

»In der That, du hast recht, meine Liebe,« sagte sie dann; »ich übertreibe vielleicht ein wenig.« Aber die zügellose Einbildungskraft der Tante geriet alsbald wieder in die gewohnten, tollen Bahnen und zwar mit einem so ausdrucksvollen bald tragischen, bald komischen Mienenspiel, daß man auf ihrem breiten Gesichte abwechselnd die beiden Masken des antiken Theaters erscheinen sah. Ruhiger wurde sie nur, wenn sie von ihrer einzigen Reise nach Paris und den Wundern der Passage »Somon«»Passage du Saumon«: Einer der glasbedeckten Spaziergänge in Paris. erzählte, wo sie in einem kleinen Hotel abgestiegen war, das den Geschäftsleuten aus der Provence gewöhnlich als Aufenthalt diente, und wo man nur unter dem treibhausmäßig erhitzten Glasdach Luft schöpfen konnte. In allen Pariser Erzählungen der Tante erschien diese Passage als Mittelpunkt all ihrer Erlebnisse, als elegantester, mit nichts zu vergleichender Aufenthaltsort der feinen Welt.

Diese an sich langweiligen und gehaltlosen Herzensergießungen waren gewürzt durch das drolligste, wunderlichste Französisch, in welchem abgedroschene Redensarten und veraltete, blumenreiche Wendungen mit seltsamen Provinzialismen abwechselten. Madame Portal verabscheute nämlich die gewöhnliche Landessprache, jenes wunderbar gemischte, klangvolle Patois, das wie ein lateinisches Echo über das 56 blaue Meer herübertönt und nur vom Volk und auf dem Lande gesprochen wird. Sie gehörte zu jenem provençalischen Bürgertum, welches »Pécaïré« in »Péchère« verwandelt und sich einbildet, in dieser Weise richtiger zu sprechen. Wenn der Kutscher Ménicle (Dominique) sich unterfing, frisch von der Leber weg zu sagen: »Voù baia de civado au chivaou...«Je vais donner de l'avoine au cheval. (ich will dem Pferd Hafer geben), so nahm sie eine majestätische Miene an und antwortete: »Das verstehe ich nicht, sprechen Sie französisch, mein Freund!« worauf sich Ménicle in schülerhaftem Tone verbesserte: »Je vais bayer dé civade au chivau...« und die Tante befriedigt nickte: »So ist's gut . . . Jetzt habe ich verstanden.« Der Diener aber entfernte sich mit der festen Ueberzeugung, daß er nun französisch gesprochen habe, und allerdings kennt das Volk des Südens unterhalb Valence kein andres Französisch als dieses.

Uebrigens verstümmelte Tante Portal alle Wörter, wenn auch nicht nach ihrer eignen Laune, so doch nach der Ueberlieferung einer ortsüblichen Grammatik, welche déligence statt diligence, achéter statt acheter, anédote statt anecdote, un régitre statt un registre vorschrieb. »Une taie d'oreiller« (ein Kopfkissenüberzug) war für sie »une coussinière«, »une ombrelle« (ein Sonnenschirm) »une ombrette«; »la chaufferette«, der Fußwärmer, den sie zu jeder Jahreszeit unter den Füßen hatte, hieß »banquette«. Sie weinte nicht, sie ließ Thränen fallen (elle tombait les larmes); und obwohl sie sehr schwerfällig geworden war, brauchte sie nicht mehr als eine halbe Stunde, »pas plus de demi-heure«, um ihren Gang durch die Stadt zu machen. Alle ihre Reden waren mit jenen kleinen Floskeln ohne bestimmte Bedeutung verziert, deren die provençalische Sprache so überreich ist, mit jenen Füllwörtern, welche man zwischen die Sätze einschiebt, um deren mannigfache Bedeutung zu mildern, zu verstärken oder hervorzuheben, wie: »aïe, ouïe, avaï, açavaï« (wenigstens, nichtsdestoweniger, je nachdem &c.).

Diese Mißachtung der Südländerin für den Dialekt 57 ihrer Provinz erstreckt sich auch auf Sitten und Gebräuche des Landes, ja sogar auf die Kleidung. Gleichwie Tante Portal nicht will, daß ihr Kutscher provençalisch spricht, so würde sie auch kein Dienstmädchen mit dem arlesischen Band- und Spitzentuch bei sich dulden. »Mein Haus ist weder ein Pachthof, noch eine Spinnerei,« sagte sie. Auch erlaubte sie ihren Dienstmädchen nicht, einen Hut zu tragen. Der Hut ist in Aps das Kennzeichen einer guten bürgerlichen Abstammung; er allein gibt das Anrecht auf den Ehrennamen Madame, der Personen von untergeordneter Herkunft nicht zukommt, und man muß sehen, mit welch überlegener Miene die Frau eines Hauptmanns a. D. oder eines Bürgermeistereibeamten mit 800 Franken Jahresgehalt, welche ihre Markteinkäufe selbst besorgt, von der Höhe ihres riesigen Damenhutes herab mit irgend einer steinreichen Pächterin von Crau spricht, die ihr feines, mit echten antiken Spitzen besetztes Tuch aus Cambrai um den Kopf geschlungen trägt. Im Hause Portal trugen die Frauen schon seit mehr als einem Jahrhundert den Hut, und die Tante sah infolgedessen sehr geringschätzig auf die armen Leute herab, weshalb es auch einige Tage nach dem Feste in der Arena zu einem schrecklichen Auftritt zwischen ihr und Roumestan kam.

Es war an einem Freitag vormittag während des Frühstücks, – eines Gabelfrühstücks nach südlichem Brauche, frisch und einladend für das Auge, aber streng nach kirchlicher Vorschrift, denn Tante Portal bestand unerbittlich auf ihren Fasttagen und ließ abwechselungsweise die dicken grünen Schoten, die frischen Feigen und die wie riesige Magnoliablüten aussehenden geöffneten Wassermelonen auftischen, die Anchovispastetchen und zwischen den Kühlkrügen mit frischem Wasser und den Strohflaschen mit süßem Wein jene weißen, dünnen, leichten Brötchen, wie man sie nur im Süden findet. Draußen zirpten die Grillen und tanzten die Strahlen der Mittagssonne, während ein goldner Streifen sich durch eine kleine Oeffnung in den hohen, gewölbten Speisesaal stahl, in welchem jeder Laut wie in einem Klosterrefektorium wiederhallte.

Mitten auf der Tafel dampften zwei schöne Kotelettes 58 für Numa. Obwohl sein Name in den geistlichen Kongregationen gepriesen und in alle Gebete mit eingefügt wurde, oder vielleicht gerade deshalb hatte der große Mann von Aps vom Bischof einen Dispens erhalten, so daß er, als der einzige in der Familie, sich des Fleisches nicht zu enthalten brauchte und jetzt heiteren Angesichtes mit seinen kräftigen Händen das noch blutige, halbgebratene Fleisch zurechtschnitt, ohne sich um seine Frau und seine Schwägerin zu sorgen, die sich, gleich Tante Portal, von Feigen und Wassermelonen nährten. Rosalie war daran schon gewöhnt; dieses fromme Fasten zweimal in der Woche gehörte zu ihrem jährlichen Frondienst, wie die Sonne, der Staub, der Nordwestwind, die Moskitos, die Erzählungen der Tante und der Sonntagsgottesdienst in Sainte-Perpétue. Aber Hortense fing an, sich mit allen Kräften ihres jugendlichen Magens dagegen aufzulehnen, und es bedurfte der Autorität ihrer älteren Schwester, um ihr den Mund zu schließen, wenn sie als verwöhntes Kind aufbrausen wollte und sämtliche Ansichten der Madame Portal über Mädchenerziehung und jungfräuliches gutes Benehmen umzuwerfen drohte. Heute begnügte sich das junge Mädchen, das karge Mahl mit komischem Augenverdrehen hinunterzuwürgen und verliebt nach Roumestans Kotelette hinüberzublinzeln, indem sie den Duft des gebratenen Fleisches einsog und ihrer Schwester leise zuflüsterte: »Wie schlecht sich das trifft! . . . Gerade heute habe ich einen Spazierritt gemacht und mir einen gewaltigen Hunger geholt.«

Sie war noch im Reitkleide, das zu ihrer schlanken, geschmeidigen Taille ebenso gut paßte, wie der kleine Stehkragen zu ihrem schnippischen, unregelmäßigen, von dem Ritt noch ganz erregten Gesichte. Und da ihre Morgenpromenade sie in etwas unternehmende Laune versetzt hatte, fragte sie: »A propos, Numa . . . wie ist es denn mit Valmajour, wann werden wir ihn besuchen?«

»Wen, Valmajour?« entgegnete Roumestan, aus dessen flüchtigem Gedächtnis der Tambourinschläger schon wieder entschwunden war. . . . »Ach ja, richtig, Valmajour . . . ich dachte gar nicht mehr an ihn. . . . Welch ein Künstler!«

59 Und plötzlich tauchte alles wieder in seinem Gedächtnis auf; er sah die Bogenwölbungen der Arena mit den tanzenden Gruppen sich bei den dumpfen Klängen des Tambourins im Reigen der Farandole drehen, er fühlte sich aufs neue davon aufgeregt und hörte die Melodie in seinen Ohren summen.

»Tante Portal, leihen Sie uns Ihren Wagen,« sagte er rasch entschlossen, »wir wollen nach dem Frühstück ausfahren.«

Die Tante aber runzelte ihre Brauen über zwei großen, flammenden Augen wie ein japanischer Oelgötze.

»Den Wagen . . . Avaï! . . . Und was soll damit geschehen? . . . Du wirst doch hoffentlich deine Damen nicht zu dem ›tutu-panpan‹, diesem Dudelsackpfeifer führen!«

Dies »tutu-panpan« war eine so treffende Bezeichnung für das doppelte Instrument der Pfeife und des Tambourins, daß Roumestan zu lachen begann. Aber Hortense übernahm mit großer Lebhaftigkeit die Verteidigung des alten provençalischen Tambourins. Von allem, was sie im Süden gesehen, hatte nichts einen so tiefen Eindruck auf sie gemacht; außerdem aber wäre es wenig ehrenvoll, diesem braven Burschen gegenüber sein Versprechen nicht zu halten. »Er ist ein großer Künstler, Numa; du hast es selbst gesagt!«

»Ja, ja, du hast recht, Schwesterchen . . . wir müssen hingehen.«

Tante Portal, welche vor Wut fast erstickte, begriff nicht, daß ein Mann, wie ihr Neffe, ein Abgeordneter, sich für gemeine Bauern, für so gewöhnliche Menschen interessieren konnte, – für Leute, die vom Vater auf den Sohn bei den Dorffestlichkeiten die Flöte spielten. Und ganz vertieft in diese Vorstellung streckte sie verächtlich ihre dicke Unterlippe vor und ahmte die Gebärden des Musikanten nach, indem sie mit den gespreizten Fingern der einen Hand auf einer eingebildeten Flöte spielte, mit der andern auf dem Tische die Trommel schlug. »Nette Leute das, um sie jungen Damen vorzustellen! . . . Nein, das kann doch nur einem Numa einfallen . . . zu den Valmajours zu gehen, 60 o du gütige, heilige Engelsmutter! . . .« Und indem sie sich mehr und mehr ereiferte, fing sie an, der Familie des Musikers alle möglichen Schandthaten anzuhängen, sie zu wahren Ungeheuern zu stempeln, die so verrufen und blutig wie die Trestaillons seien, als sie an der andern Seite des Tisches Ménicle erblickte, der aus dem Heimatsort der Valmajours gebürtig war und Mund und Augen vor Erstaunen über ihre Schauergeschichten aufriß. Alsbald befahl sie ihm in fürchterlichem Tone, sich schleunigst umzukleiden und den Wagen für drei Viertel auf Zwei bereit zu halten. In solcher Weise endeten alle Zornesausbrüche der Tante.

Hortense warf ihre Serviette beiseite, sprang auf und küßte die dicke Frau auf beide Wangen, indem sie vor Freude lachte und hüpfte: »Rosalie, sputen wir uns! . . .«

Tante Portal wandte sich ihrer Nichte zu: »Nun, Rosalie, ich hoffe doch, daß du nicht daran denkst, dich mit diesen Kindern auf der Straße herumzutreiben!«

»Nein, nein, Tante . . . ich bleibe bei dir,« antwortete die junge Frau, innerlich über die Großmutterwürde lächelnd, welche ihre unermüdliche Dienstfertigkeit und ihre liebenswürdige Selbstverleugnung ihr eingetragen hatten.

Zur festgesetzten Stunde war Ménicle bereit; aber man hieß ihn bis zur Arena vorausfahren und Roumestan verließ das Haus zu Fuß mit seiner Schwägerin, die begierig und stolz darauf war, am Arme des großen Mannes Aps und das Haus, wo er geboren war, zu sehen und auf den Straßen mit ihm den Spuren seiner ersten Kindheit und Jugend nachzugehen.

Es war die Stunde der Mittagsruhe. Die Stadt lag im Schlaf, verlassen und schweigsam, von dem Nordwestwind gewiegt, der in gewaltigen Fächerstößen erfrischend und belebend daherschnaubte, aber das Gehen erschwerte, besonders die Allee entlang, wo ihn nichts hemmte, wo er im Kreise umhersausen und mit wütendem Gebrüll wie ein losgelassener Stier um die ganze kleine Stadt herumjagen konnte. Hortense hielt sich mit beiden Händen an ihrem Begleiter fest und ging gesenkten Hauptes, geblendet und nach Atem ringend, dahin, aber dennoch selig, sich von diesen gleich Meereswogen 61 anprallenden, tobenden, klagenden und wirbelnden Windstößen fortgerissen und getragen zu fühlen. Durch die Windhose, in welcher Platanenrinden und Samen umherflogen, und die dadurch entstandene Einsamkeit gewann die gleichsam erweiterte Allee ein wüstes Aussehen, zumal noch die Ueberreste des letzten Marktes, wie Melonenschalen, Streu, leere Körbe überall umherlagen, gerade als ob im Süden dem Sturmwind allein das Straßenfegen obläge. Roumestan wollte schnell nach dem Wagen gehen, aber Hortense bestand auf ihrem Spaziergang, und schweratmend und ganz verwirrt von diesem Wind, der ihr den blauen Schleier dreifach um den Hut wickelte und ihr blaues Reisekleid fest an den Leib schmiegte, sagte sie: »Wie die Naturen doch verschieden sind! . . . Rosalie ist der Sturm zuwider. Sie sagt, derselbe verwirre ihr den Kopf und verhindere sie, zu denken. Ich dagegen fühle mich wie berauscht und förmlich begeistert . . .«

»Das ist gerade wie bei mir! . . .« rief Numa, während die Augen ihm übergingen und er seinen Hut festhielt, der ihm zu entfliehen drohte. Und bei einer Biegung der Straße angelangt, rief er plötzlich aus: »Da ist meine Straße . . . hier bin ich geboren . . .«

Der Sturm legte sich oder wurde wenigstens minder empfindlich, da er nur noch von ferne rauschte und sich anhörte wie die Brandung des Meeres, die man vom Innern eines Seehafens aus vernimmt. Das graue, unansehnliche Häuschen lag an einer ziemlich breiten, mit spitzen Kieselsteinen gepflasterten Straße ohne Trottoir, zwischen einem von großen Platanen beschatteten Ursulinerinnenkloster und einem großen alten Gebäude von herrschaftlichem Ansehen mit in Stein gehauenem Wappen und der Inschrift: »Hotel de Rochemaure«, während gegenüber ein sehr altes öffentliches Gebäude ohne bestimmt ausgeprägtem Charakter stand, an dessen Seite sich verwitterte Säulen und Bruchstücke von Statuen und Leichensteinen, die mit römischen Zahlen besäet waren, hinzogen, und über dessen grünem Portale die Aufschrift »Akademie« in verblichenen Goldlettern zu lesen war. Dort hatte der berühmte Redner am 15. Juli 1832 das Licht der 62 Welt erblickt, und man hätte in mehr als einer Hinsicht Vergleiche anstellen können zwischen seinem spärlichen Duodeztalente, den katholisch-legitimistischen Vorurteilen, die ihm eingeimpft waren, und diesem kleinen, dürftigen Bürgerhause mit einem Kloster und einem Herrenhause zu beiden Seiten und einer Provinzialakademie davor.

Roumestan war gerührt, wie immer, wenn das Leben ihn seiner eignen Persönlichkeit gegenüberstellte. Seit vielen Jahren war er nicht dagewesen, und jetzt hatte es der Laune dieses Mädchens bedurft, ihn herzuführen . . . . Die Unveränderlichkeit der Dinge überraschte ihn. Er erkannte an den Mauern noch die Spur eines Fensterladenriegels, den er als Kind im Vorbeigehen jeden Morgen umzudrehen pflegte. Die Säulenschäfte, die kostbaren Marmorblöcke der Akademie warfen ihre klassischen Schatten noch immer auf die gleichen Stellen; die Rosenlorbeeren des Herrenhauses verbreiteten noch immer denselben bittern Geruch, und hier war noch dasselbe schmale Fenster, von dem aus Mutter Roumestan ihm winkte, wenn er aus der Klosterschule kam, und ihm zurief: »Komm schnell herauf, der Vater ist schon da.« Und der Vater war kein Freund vom Warten.

»Wie, Numa, ist es wahr?« fragte Hortense, »du bist in der Klosterschule erzogen worden?«

»Ja, Schwesterchen, bis zum zwölften Jahre . . . . Dann brachte mich Tante Portal in das Marienpensionat, das feinste der Stadt . . . aber bei den Ignorantiner Mönchen der Klosterschule, da unten in der großen Bude mit den gelben Fensterladen, habe ich lesen gelernt.«

Und schaudernd erinnerte er sich des unter dem Katheder stehenden mit Salzwasser gefüllten Eimers, in welchen die Ruten eingetaucht wurden, um die Hiebe mit denselben möglichst empfindlich zu machen, an den ungeheuren mit Steinplatten belegten Lehrsaal, wo man das Auswendiggelernte auf den Knieen hersagen und für die geringste Strafe sich, die Hand bald ausstreckend, bald zurückziehend, zu dem Klosterbruder hinschleppen mußte, der stramm und streng in seiner schwarzen, faltigen Soutane dastand, welche infolge jenes Hiebausteilens unter dem Arme in die Höhe gezogen 63 war . . . zum Bruder Küchentopf, wie man ihn nannte, weil er sich auch mit der Küche befaßte . . . an das »Hopp!« womit der liebenswürdige Klosterbruder seine Schläge begleitete, an das Brennen in den mit Tinte befleckten Fingerspitzen, in welchen es wie von tausend Nadelstichen prickelte. Und als Hortense sich über die Roheiten dieser Züchtigungen entrüstet zeigte, berichtete Roumestan von andern, die noch grausamer waren, und deren eine darin bestand, daß die armen Sünder den frisch begossenen Fußboden samt seinem zu Schmutz und Kot gewordenen Staube ablecken mußten, bis ihr zarter Gaumen wund war.

»Aber das ist ja entsetzlich! . . . Und diese Leute verteidigst du! . . . Und sprichst für sie in der Kammer!«

»Ah, mein Kind, das ist Politik,« bemerkte Roumestan, ohne aus der Fassung zu kommen.

Während des Sprechens setzten sie ihren Marsch durch ein Labyrinth von düstern kleinen Gassen von orientalischem Charakter fort, in denen alte Frauen auf den Steinschwellen ihrer Hausthüren schliefen; dann gelangten sie in größere, weniger finstere Straßen, die aber in ihrer ganzen Breite mit großen Streifen weißen Kattuns überspannt waren, an denen gedruckte Inschriften hin und her schaukelten, wie: Kurzwaren, Tuchwaren, Schuhgeschäft &c. So gelangten sie auf den sogenannten »Kleinen Platz« von Aps, ein enges Viereck, dessen Asphaltpflaster unter den Strahlen der Sonne halb zerschmolzen war, und um welches ringsherum Geschäftslokale standen, die um diese Stunde geschlossen und lautlos ruhten, und in deren Nähe, im kurzen Schatten der Mauern, Stiefelputzer, mit dem Kopfe auf ihrem Wichskasten liegend, schnarchten, die Glieder gleich Ertrunkenen lang ausgestreckt, als hätte sie der Sturm, der eben wütete, ans Land geworfen. Ein unvollendetes Denkmal stand zur Zierde im Mittelpunkt des »Kleinen Platzes«. Als Hortense wissen wollte, worauf dieser weiße, einsame Marmor warte, lächelte Roumestan ein wenig verlegen.

»Das ist eine ganze Geschichte!« sagte er, seinen Schritt beschleunigend.

Der Stadtrat von Aps hatte nämlich beschlossen, dem 64 großen Mann ein Denkmal zu setzen, aber die Liberalen von der »Avantgarde«Name einer Zeitung erhoben gegen diese Vergötterung eines Lebenden so starken Widerspruch, daß seine Freunde nicht wagten, sich darüber hinwegzusetzen. Die Statue war fix und fertig, und man wartete wahrscheinlich nur auf seinen Tod, um sie aufzustellen. Sicherlich ist es ein ruhmvolles Bewußtsein, zu wissen, daß man sofort nach seinem Leichenbegängnis eine bürgerliche Auferstehung haben wird und bloß in die Gruft zu sinken hat, um sich in Marmor oder Bronze wieder zu erheben; aber dieses leere, von der Sonne jetzt blendend erleuchtete Piedestal machte auf Roumestan den Eindruck einer majestätischen Familiengruft, und es bedurfte des Anblicks der Arena, um seine düstern Gedanken zu verscheuchen. Das alte Amphitheater, welches ohne das lärmende Getriebe vom Sonntag wieder sein gewöhnliches, feierliches Aussehen einer friedlichen, großartigen Ruine hatte, ließ zwischen seinen dichten Gittern hindurch in die geräumigen feuchten und kalten Gänge blicken, wo der Boden sich stellenweise vertiefte und die Steine sich unter dem Tritte der Jahrhunderte gelockert hatten.

»Wie traurig das aussieht!« sagte Hortense, indem sie Valmajours Tambourin zurückwünschte: für Numa aber war es nicht traurig. Er hatte hier die schönsten Stunden seiner Kindheit mit all ihren Freuden, all ihren Wünschen verlebt. Oh, wenn er nur an die Sonntage mit den Stiergefechten dachte, an denen er mit andern Kindern, die so arm waren wie er selbst und keine zehn Sous hatten, ein Billet zu kaufen, um die Gitter herumschlenderte! In der glühenden Nachmittagssonne spähten sie, da der Reiz des Vergnügens selbst ihnen verwehrt war, nach dem Wenigen, was sie zwischen den schweren Mauern hindurch erblicken konnten: eine Ecke vom Cirkus, die mit blendend weißen Strümpfen bekleideten Beine der Stierfechter, das wütende Stampfen der Tiere, den Staub, den der Kampf aufwirbelte und der mit dem Geschrei, dem Gelächter, den Bravos, dem Gebrüll und dem ganzen Getöse, das sich aus dem vollen Gebäude 65 erhob, in den Lüften verschwand. Die Verlockung zum Eintritt war allzustark; und so lauerten die Verwegensten auf den Augenblick, wo der Wächter sich vom Eingang entfernte, um sich dann mit einiger Anstrengung zwischen den Stangen hindurchzuzwängen.

»Ich bin immer durchgekommen,« sagte Roumestan mit aufgeräumter Miene, und seine ganze Lebensgeschichte ließ sich in der That in diese wenigen Worte zusammenfassen: war es Glück oder Geschicklichkeit, so eng auch ein Gitter sein mochte, der Mann des Südens kam immer durch.

»Freilich,« fügte er seufzend hinzu, »war ich auch magerer als heute.« Und dabei schweifte sein Blick mit einem Ausdruck komischen Bedauerns von dem dichten Gitterwerk der Bogenwölbungen auf die breite, weiße Weste, unter der seine vollen vierzig Jahre anfingen sich bemerklich zu machen.

Hinter dem riesigen Bau wartete, vor Wind und Sonne geschützt, der Wagen. Ménicle, der in seinem langen, schweren, königsblauen Sackrock auf dem Bock zwischen zwei Vorratskörben eingeschlafen war, mußte geweckt werden. Vor dem Einsteigen zeigte Roumestan seiner Schwägerin noch von weitem eine alte Herberge, die den Namen führte »Au Petit-Saint-Jean, messageries et roulages« (Zum Kleinen Heiligen Johann, Personen- und Güter-Beförderung) und deren weißes Mauerwerk mit den weit geöffneten Schuppen einen ganzen Teil des Platzes einnahm, auf welchem ausgespannte, alte, bestaubte Kutschen und zweirädrige, nach hinten gestülpte Karren mit den Deichseln in der Luft unter ihren grauen Schirmdächern umherstanden.

»Sieh dorthin, Schwesterchen,« sagte er in bewegtem Tone . . . »Da ist es, wo ich mich vor einundzwanzig Jahren auf die Reise nach Paris begab . . . . Wir hatten noch keine Eisenbahn. Man nahm den Postwagen bis Montélimart, dann ging es auf der Rhone weiter . . . . O wie glücklich war ich damals, und wie fürchtete ich mich vor eurem großen Paris! Es war des Nachts, ich erinnere mich noch ganz genau . . .«

Er sprach schnell und durcheinander, da immer neue Erinnerungen in ihm auftauchten: 66

». . . Nachts zehn Uhr im November . . . der Mond schien hell . . . . Der Kondukteur hieß Foque und spielte keine kleine Rolle! . . . Während er anspannte, gingen wir auf und ab, Bompard und ich . . . Bompard, du kennst ihn ja . . . wir waren damals schon gute Freunde. Er war Studiosus der Pharmacie, oder bildete sich wenigstens ein, es zu sein, und hoffte, mir bald nachzukommen. Wir schmiedeten Pläne, träumten von einem Zusammenleben und wollten uns gegenseitig unterstützen, um rascher zum Ziele zu gelangen. Inzwischen sprach er mir Mut zu und gab mir Ratschläge, da er der ältere war. . . . Am meisten fürchtete ich mich davor, lächerlich zu erscheinen . . . Tante Portal hatte mir für die Reise einen großen Mantel, einen sogenannten Raglan, anfertigen lassen, zu dem mir das rechte Vertrauen fehlte. . . . Da ließ mich Bompard vor sich hergehen . . . noch sehe ich meinen Schatten mir zur Seite. . . . Und feierlichen Tones mit der gewissen Miene, die er sich zu geben weiß, sagte er zu mir: ›Du kannst so gehen, mein Lieber, du bist nicht lächerlich . . .‹ O die Jugend, die Jugend! . . .«

Hortense, die nunmehr fürchtete, gar nicht mehr aus dieser Stadt hinauszukommen, wo der große Mann in jedem Stein einen beredten Grund zur Säumnis fand, drängte ihn jetzt sanft nach dem Wagen hin: »Wie wäre es, wenn wir einstiegen, Numa,« sagte sie, »wir könnten ebensogut unterwegs plaudern . . .«

 


 


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