Alphonse Daudet
Numa Roumestan
Alphonse Daudet

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Drittes Kapitel.

Die Kehrseite eines großen Mannes.

Fortsetzung

Wenn es je zwei Wesen gab, die schlecht füreinander paßten, so waren es diese beiden. Ihre Neigungen, ihre Erziehung, ihre Gemütsart waren eben so verschieden, wie ihre Abstammung und ihre Ansichten, es war Norden und Süden, die sich in ihnen unversöhnlich und ohne Hoffnung, sich je auszugleichen, gegenüberstanden. Die Leidenschaft lebt von diesen Gegensätzen und lacht im Bewußtsein ihrer Ueberlegenheit, wenn man sie auf dieselben aufmerksam macht; aber im Laufe des alltäglichen Daseins, bei der einförmigen Wiederkehr der Tage und Nächte unter demselben Dache zerstreut sich der Nebel jener Trunkenheit, in welcher die Liebe besteht, und man beginnt sich zu betrachten, man beurteilt sich.

Das Erwachen stellte sich in der neuen Haushaltung nicht unmittelbar ein, wenigstens nicht für Rosalie. Scharfsichtig und verständig in jeder andern Hinsicht, blieb sie Numa gegenüber lange verblendet, ohne zu begreifen, wie sehr sie ihm überlegen war, während er bald wieder zur Besinnung kam. Das Feuer des Südens verfliegt um so rascher, je heftiger es aufflackert. Zudem ist der Südländer so sehr von dem geringeren Wert der Frau überzeugt, daß er alsbald nach seiner Verheiratung, seines Glückes sicher, als Herr, als Pascha auftritt, die Liebe wie eine Huldigung entgegennimmt, und das schon mehr als genügend findet. Denn schließlich nimmt es Zeit, geliebt zu werden, und Numa war infolge der neuen Lebensweise, die ihm seine Heirat, sein großes Vermögen und die hohe Stellung auferlegte, welche er als Schwiegersohn Le Quesnois im Justizpalaste einnahm, sehr in Anspruch genommen.

Die hunderttausend Franken der Tante Portal hatten dazu gedient, Malmus sowie die Einrichtung seiner Junggesellenwohnung zu bezahlen und den Schleier der 36 Vergessenheit über die qualvolle, nie endenwollende Zeit seines Junggesellenlebens zu werfen. Und wie süß erschien ihm nicht der Uebergang von dem bescheidenen Mahle auf der abgenützten Samtbank neben dem asthmatischen Cafétier in den Speisesaal der Rue Scribe, wo er bei den üppigen Diners, die er zu Ehren der Spitzen der Advokaten- und Sängerzunft veranstaltete, seiner vornehmen kleinen Pariserin gegenüber den Vorsitz führte. Unser Provençale war ein Freund von großartigem Leben, von Tafelgenüssen und äußrem Prunk, besonders aber im eignen Hause, mit der Würze jener Unmittelbarkeit und Ungebundenheit, welche das Rauchen und eine prickelnde Unterhaltung zuläßt. Rosalie schickte sich in alles, sie bequemte sich dazu, immer offenes Haus und gedeckten Tisch zu halten, zehn, fünfzehn Gäste jeden Abend zu haben, und zwar nichts als Männer, schwarze Röcke, unter denen ihr helles Kleid seltsam abstach, bis zu dem Augenblicke, wo der Kaffee aufgetragen, die Kistchen mit Havannacigarren geöffnet wurden, und sie vor den politischen Gesprächen und der ungezügelten Lachlust, welche den Schluß eines Junggesellendiners zu bilden pflegen, das Feld räumte.

Nur eine Hausfrau weiß, was ein derartiger täglicher Aufwand für heimliche Mühe und verwickelte Schwierigkeiten verursacht. Rosalie unterzog sich diesen Qualen ohne eine Klage, sie war nach Kräften bestrebt, Ordnung in dieses zügellose Leben zu bringen, und ergab sich in das aufregende Treiben ihres schrecklichen großen Mannes, der sie im Wirbelwind seines eignen Ungestüms mit fortriß, zuweilen aber doch, selbst in der Hitze des Gefechtes ein freundliches Wort für seine niedliche Frau fand. Sie bedauerte nur eins, nämlich, daß sie ihn zu wenig für sich allein besaß. Selbst beim Frühstück, bei jenem zeitigen Gabelfrühstück der Advokaten, welchem die Gerichtsverhandlung auf den Fersen folgt saß stets ein Dritter zwischen ihnen, jener Begleiter, dessen der Mann des Südens sich nie entschlagen konnte, jener Unentbehrliche, der für seine Gedankensprünge stets die nötige Antwort hatte, der Arm, auf den er sich selbstgefällig stützte und dem er seine zu schwere Mappe anvertraute, wenn er nach dem Justizpalaste ging.

37 Ach, wie gerne hätte sie ihn über die Seinebrücke hinüberbegleitet, wie glücklich wäre sie gewesen, an regnerischen Tagen ihn in ihrem kleinen zweisitzigen Wagen zu erwarten und bei dem zitternden Tageslicht, das durch die angelaufenen Fensterscheiben fiel, dicht aneinander gedrängt, mit ihm nach Hause zu fahren. Aber sie wagte gar nicht mehr, ihn darum zu bitten, denn sie wußte nur zu gut, daß er einen Vorwand fand, sich ihr zu entziehen – ein Stelldichein in der Wartehalle des Justizpalastes, mit einem jener dreihundert Vertrauten, von denen der Südländer zu sagen pflegte: »Er vergöttert mich . . . er geht für mich durchs Feuer . . .« Und das war es, was er unter Freundschaft verstand. Im übrigen zeigte er sich nichts weniger als wählerisch in betreff seines persönlichen Umgangs. Sein leichter Sinn, die Lebhaftigkeit und Unbeständigkeit seiner Neigungen warfen ihn dem ersten Besten in die Arme und zogen ihn ebenso schnell wieder von demselben ab. Alle acht Tage eine leidenschaftliche Laune, ein Name, der in allen Redewendungen wiederkehrte und den Rosalie sorgfältig zu jeder Mahlzeit auf die kleine hübsch verzierte Speisekarte schrieb, der aber dann plötzlich wieder verschwand, als wäre die Persönlichkeit des Betreffenden ebenso hinfällig, ebenso leicht verwischbar befunden worden, wie die Malerei der kleinen Karte.

Unter all diesen Freunden hielt nur ein einziger stand, weniger ein Freund, als ein Jugendgespiele, denn Roumestan und Bompard waren in derselben Straße geboren. Derselbe gehörte sozusagen mit zum Hause, und die junge Frau fand ihn sofort bei ihrer Verheiratung wie ein Familienmöbel am Ehrenplatze installiert. Nie fehlte diese hagere Gestalt mit dem Palikarenkopf und der großen Adlernase, mit Augen, die wie Achatkugeln in der gelben, in kleine Fältchen gepreßten Haut seines Gesichtes saßen, einer Art Cordovaleder von jenen Runzeln durchfurcht, denen man bei alten Gecken, bei Clowns, kurz, bei all den Gesichtern begegnet, die zu beständigen Verzerrungen genötigt sind. Und doch war Bompard nie Schauspieler gewesen. Nur kurze Zeit hatte er als Chorist im Théâtre des Italiens gesungen, und dort war ihm Numa wieder begegnet. Von dieser Thatsache abgesehen, ließ sich 38 durchaus nichts Näheres über diese verschwommene Existenz angeben. Er hatte alles gesehen, hatte sich in allen Berufsarten versucht und war überall gewesen. Man konnte vor ihm von keinem berühmten Manne, von keinem außerordentlichen Ereignisse sprechen, ohne daß er versicherte: »Das ist ein Freund von mir« . . . oder: »Ich bin dabei gewesen, . . . ich komme eben davon her.« Und zum Beweise folgte dann sogleich eine Geschichte.

Wenn man seine Erzählungen aneinander reihte, kam man zu ganz erstaunlichen Ergebnissen: Bompard hatte in einem und demselben Jahre eine Compagnie polnischer und tscherkessischer Deserteure bei der Belagerung von Sebastopol befehligt, die Kapelle des Königs von Holland dirigiert und mit der Schwester des letzteren auf sehr gutem Fuß gestanden, was ihm sechs Monate Festung im Haag einbrachte, ihn aber nicht verhinderte, in derselben Zeit inmitten der afrikanischen Wüste von Laghouat bis Gadamès vorzudringen. All das wurde mit einem stark südländischen Accent in feierlichem Tone, mit sehr wenig Gebärden, aber einem gewohnheitsmäßigen Mienenspiel vorgetragen, dessen Anblick so ermüdend war, wie das Farbenspiel der Glasstückchen in einem Kaleidoskop.

Die gegenwärtigen Verhältnisse Bompards waren nicht weniger dunkel und mysteriös als seine Vergangenheit. Wo und wovon lebte er? Bald sprach er von großen Asphaltunternehmungen, von einem Stück Paris, das er nach einem billigen System zu asphaltieren habe; dann war er wieder plötzlich ganz mit seiner Entdeckung eines unfehlbaren Mittels gegen die Phylloxera beschäftigt und erwartete nur einen Brief vom Ministerium, um die Prämie von hunderttausend Franken zu erheben und seine Rechnung in der kleinen Speisewirtschaft zu berichtigen, in welcher er Stammgast war und deren Besitzer er mit seinen wahnwitzigen Luftschlössern und phantastischen Hoffnungen halb verrückt gemacht hatte.

Dieser faselnde Südländer war die Freude Roumestans, er führte ihn stets mit sich und machte ihn zur Zielscheibe seines Witzes, indem er ihn antrieb und anfeuerte, bis seine Narrheit in Fluß gebracht war. Wenn Numa auf dem 39 Boulevard stehen blieb, um mit jemand zu sprechen, so ging Bompard gravitätischen Schrittes beiseite, als wolle er seine Cigarre anzünden. Bei Leichenbegängnissen, bei der Aufführung neuer Stücke sah man ihn stets zugegen, und ganz geschäftig fragte er dann: »Haben Sie Roumestan gesehen?« Schließlich wurde er ebenso bekannt wie jener. In Paris ist diese Art von Geleitsmännern stark vertreten; jede namhafte Persönlichkeit hat einen Bompard hinter sich, der ihr wie ein Schatten folgt und sich dabei zu einer Art von selbständiger Größe emporarbeitet. Zufälligerweise war diejenige des Roumestanschen Bompard eine ganz eigentümliche. Aber Rosalie konnte diesen unvermeidlichen Zeugen ihres Glückes nicht leiden, der sich stets zwischen sie und ihren Mann drängte und sogar die seltenen Augenblicke für sich in Anspruch nahm, in denen sie hätten allein sein können. Dazu sprachen die beiden Freunde im provençalischen Dialekt, welcher sie von der Unterhaltung ausschloß, und lachten zusammen über lokale Witze, für die es keine Uebersetzung gab. Was sie ihm am meisten zum Vorwurf machte, das war sein Bedürfnis zu lügen, diese Erfindungen, an die sie anfangs selbst geglaubt hatte, so fremd war jede absichtliche Täuschung dieser geraden, offenherzigen Natur, deren größter Reiz in der harmonischen Uebereinstimmung ihrer Worte und Gedanken bestand, einer Harmonie, die in dem Wohlklang und der Sicherheit ihrer silberhellen Stimme zum Ausdruck kam.

»Ich mag ihn nicht . . . er ist ein Lügner!« sagte sie im Tone tiefer Entrüstung. Roumestan amüsierte sich darüber und bemerkte, um seinen Freund zu verteidigen: »Nicht doch, er ist kein Lügner . . . er hat nur eine lebhafte Einbildungskraft, er träumt mit offenen Augen und plaudert seine Träume aus. . . . Meine Heimat ist voll von Leuten dieses Schlages . . . das bringt das Klima und die Sprache mit sich. . . . Sieh nur meine Tante Portal an . . . und ich selbst könnte jeden Augenblick, wenn ich mich nicht zusammennähme . . .«

Eine kleine Hand schloß ihm den Mund: »Schweig, schweig. . . . Ich würde dich nicht mehr lieben, wenn du zu den Südländern dieser Art gehörtest.«

40 Und doch gehörte er zu ihnen, und ungeachtet seiner Pariser Manieren und des weltmännischen Anstrichs, der ihm Zwang auferlegte, sollte sie ihn zum Vorschein kommen sehen, diesen schrecklichen, schablonenhaften, rohen und unlogischen Südländer. Das erste Mal geschah dies bezüglich der Religion; Roumestan folgte in dieser, wie in jeder andern Hinsicht den Traditionen seiner Provinz. Er war der katholische Provençale, der nur nach der Kirche geht, um seine Frau am Schluß der Messe abzuholen, und dann mit der überlegenen Miene eines Papas, welcher einem Schattenspiele von ferne zusieht, im Hintergrunde beim Weihkessel stehen bleibt; der nur zur Beichte geht, wenn die Cholera grassiert, sich aber dennoch für diesen nicht empfundenen Glauben, der weder seine Leidenschaften noch seine Laster irgendwie in Schranken hält, köpfen oder martern ließe.

Als er sich verheiratete, wußte er, daß seine Frau desselben Glaubens war, wie er und daß der Pfarrer von St. Paul ihnen im Verhältnis zu dem Aufwand von Kerzen, Teppichen und Blumen, wie er bei einer Trauung erster Klasse üblich ist, sein Lob gespendet hatte. Nach weiterem fragte er nicht. Alle Frauen, die er kannte, seine Mutter, seine Cousinen, die Tante Portal, die Herzogin von San Donnino waren eifrige Katholikinnen. So war er denn sehr überrascht, als er einige Monate nach seiner Verheiratung die Wahrnehmung machte, daß Rosalie die Kirche nicht besuchte, und bemerkte deshalb in vorwurfsvollem Tone: »Du gehst also nie zur Beichte?«

»Nein, mein Freund,« entgegnete sie ganz ruhig, »und du auch nicht, so viel ich weiß.«

»Ah, ich, das ist etwas andres.«

»Warum etwas andres?«

Dabei sah sie ihn mit so aufrichtig erstaunten, leuchtenden Augen an und schien von ihrem geringeren Werte als Frau so wenig eine Ahnung zu haben, daß er keine Antwort fand und wartete, bis sie sich erklärte. O sie war durchaus keine Freidenkerin, kein Freigeist. In einem ausgezeichneten Pariser Pensionat erzogen, hatte sie bis zu ihrem Austritt aus demselben, d. h. bis zu ihrem siebzehnten Jahre, 41 einen Priester der St. Laurent-Kirche zum Beichtvater gehabt, und selbst vom väterlichen Hause aus hatte sie einige Monate hindurch die Kirchgänge an der Seite ihrer Mutter, der bigotten Südländerin, fortgesetzt: eines Tages aber schien in ihrem Innern eine Wandlung vor sich gegangen zu sein und sie hatte ihren Eltern ihren unüberwindlichen Widerwillen gegen die Beichte erklärt. Die Mutter wollte versuchen, das, was sie für eine bloße Laune ansah, in ihr zu bekämpfen, aber Herr Le Quesnoi schlug sich ins Mittel, indem er sagte: »Laß sie nur . . . mir ist es ebenso gegangen wie ihr, im gleichen Alter.«

Und von da ab hatte sie nur noch von ihrem jugendlichen Gewissen Rat und Richtung anzunehmen. Im übrigen verabscheute sie als Pariserin und als Frau von Bildung die Ungebundenheit schlechter Art, und würde daher, wenn Numa daran läge, zur Kirche zu gehen, ihn begleiten, wie sie es bei ihrer Mutter ja so lange gethan hatte, ohne indes ihre Gesinnung zu verleugnen und eine Strenggläubigkeit zu heucheln, die sie nicht mehr besaß.

Er hörte sie betroffen an, entsetzt, eine derartige Selbständigkeit bei ihr zu entdecken und mit einer Entschiedenheit und einer moralischen Zuversicht verteidigen zu sehen, die all seine Ansichten von der Abhängigkeit des Weibes über den Haufen warf.

»Du glaubst also nicht an Gott?« fragte er mit seinem schönsten Advokaten-Pathos, indem er den Finger feierlich emporhob.

»Nicht an Gott glauben? Ist das überhaupt möglich?« rief sie so plötzlich und mit so aufrichtiger Ueberzeugung aus, daß es einem Glaubensbekenntnis gleichkam. Nun begann er von der Gesellschaft und den Rücksichten, welche man ihr gegenüber zu nehmen hatte, zu sprechen, sowie von dem engen Zusammenhang des religiösen und monarchischen Geistes. Alle Damen der großen Welt, die Herzogin, Madame von Escarbès gingen beichten und empfingen ihren Seelsorger bei sich zu Tisch und in ihren Abendgesellschaften. Es würde einen sehr schlechten Eindruck machen, wenn man wüßte . . . Er hielt inne, denn er fühlte, daß er sich verwirrte, und das Gespräch wurde nicht wieder aufgenommen. Zwei oder drei 42 Sonntage nacheinander legte er großes Gewicht darauf, seine Frau nach der Messe zu führen, was Rosalie das unerwartete Glück verschaffte, einen Spaziergang am Arme ihres Mannes zu machen. Aber bald wurde er dessen wieder überdrüssig, schützte Geschäfte vor und ließ künftig alle katholischen Kundgebungen beiseite.

Dieses erste Mißverständnis störte den häuslichen Frieden in keiner Weise. Als hätte sie sich Verzeihung erwirken wollen, verdoppelte die junge Frau ihre Aufmerksamkeiten, ihre zartfühlende Hingebung und ihre Freundlichkeit. Vielleicht war sie schon weniger blind, als in den ersten Tagen ihrer Verbindung und hatte bereits das dunkle Vorgefühl dessen, was sie sich nicht eingestehen mochte. Trotz allem aber war sie glücklich, weil sie es sein wollte, weil sie noch in jener ahnungsvollen Seligkeit, in jenen Träumen, jener Ungewißheit befangen war, in welche junge Frauen sich durch die Veränderung ihrer Lebensverhältnisse und die Offenbarung ihrer weiblichen Bestimmung versetzt fühlen und die den weißen Tüllfetzen des Hochzeitskleides gleichen. Das Erwachen konnte nicht lange ausbleiben. Es war für sie ein schreckliches und ganz unvorbereitetes.

Eines Sommertages – sie verbrachten die schöne Jahreszeit in Orsay, auf dem Gute ihrer Familie – bemerkte Rosalie, während ihr Vater und ihr Gatte wie jeden Morgen sich nach Paris begeben hatten, daß ihr ein kleines Muster von der Kinderausstattung, an der sie arbeitete, abhanden gekommen war. Ja, eine Kinderausstattung! Man kann sie freilich in prächtigster Auswahl fertig kaufen; aber die wahren Mütter, die, in welchen das Mutterherz schon im voraus erwacht, lieben alles selbst zuzuschneiden und zu nähen und in dem Maße, als der Karton sich mit dem Kinderputze füllt, fühlen sie, daß jeder Stich sie der ersehnten Geburt näher bringt. Um keinen Preis der Welt hätte sich Rosalie diese Freude nehmen lassen oder zugegeben, daß eine andre Hand an das große Werk lege, das sie seit fünf Monaten, seitdem sie ihres Glückes sicher war, unternommen hatte. Und so sah man denn in Orsay, da unten auf der Bank, wo sie im Schatten einer großen Catalpa arbeitete, eine 43 ganze Ausstellung von kleinen Häubchen, die auf der Faust anprobiert wurden, von Flanellkleidchen und Jäckchen, die mit ihren geraden Aermeln das Leben und die steifen Bewegungen der allerersten Kindheit darstellten. Und gerade das Modell eines solchen Jäckchens war es, das fehlte!

»Schicke deine Kammerfrau . . .« sagte die Mutter . . . »Die Kammerfrau, warum nicht gar? Wie sollte sie es zu finden wissen? . . . Nein, nein, ich gehe selbst. . . . Ich mache noch vormittags meine Einkäufe und werde dann Numa überraschen und ihm die Hälfte seines Frühstücks wegessen.«

Der Gedanke an diese Junggesellenmahlzeit mit ihrem Mann in der zur Hälfte verschlossenen Wohnung der Rue Scribe, ohne Fenstervorhänge und mit überzogenen Möbeln amüsierte sie wie ein Jugendstreich. Sie lachte vor sich hin, als sie nach Beendigung ihrer Geschäftsgänge die Treppe des Pariser Hauses hinaufstieg, und sagte sich, während sie den Schlüssel leise in das Schloß steckte, um ihn zu überraschen: »Ich komme etwas spät . . . er wird schon gefrühstückt haben.«

Es war in der That im Speisesaal nichts mehr zu sehen als die Ueberreste einer kleinen, leckeren Schmauserei mit zwei Gedecken, und der Kammerdiener, der in karrierter Jacke an der Tafel stand, war eben im Begriff, Flaschen und Teller zu leeren. Im ersten Augenblicke sah sie nur, daß sie sich durch eigne Schuld den Spaß verdorben hatte. Ach, hätte sie sich doch nur nicht so lange in diesem Laden bei den hübschen kleinen Stickereien und Spitzenwaren aufgehalten!

»Ist der Herr ausgegangen?«

Auch das lange Besinnen des Dieners, bevor er antwortete, die plötzliche Blässe dieses breiten, unverschämten Gesichtes, das sich zwischen dem langen Backenbart ausbreitete, fiel ihr noch nicht auf. Sie sah darin nichts, als den Schrecken des Dieners, der sich bei seinem Diebstahl und seiner Nascherei ertappt sah. Schließlich mußte er nun doch sagen, daß der Herr noch da sei . . . und zwar in Geschäften, die ihn lange in Anspruch nehmen würden. Aber wie langsam das alles herausgestammelt wurde und wie diesem 44 Menschen die Hände zitterten, während er den Tisch abräumte und für seine Herrin ein frisches Gedeck auftrug.

»Hat er allein gefrühstückt?«

»Ja, gnädige Frau . . . das heißt . . . mit Herrn Bompard.«

Sie blickte auf ein schwarzes Spitzentuch, das nachlässig auf einen Stuhl hingeworfen war. Der Bursche sah es ebenfalls, und da sich beider Augen auf demselben Gegenstand begegneten, zuckte es plötzlich wie ein Blitz durch ihr Gehirn. Rasch, ohne ein Wort zu sagen, verließ sie den Saal, durchschritt den kleinen Wartesalon, ging direkt auf die Thür des Konsultationszimmers zu, öffnete sie weit und – stürzte wie tot zu Boden. Sie hatten sich nicht einmal eingeschlossen. – – –

Und dazu diese Frau! Eine abgelebte Blondine, deren vierzig Jahre aus einem kupferfinnigen Gesicht mit dünnen Lippen und Augenlidern, die so welk wie abgenutztes Handschuhleder waren, eingegraben standen; unter den Augen zeigten blaue Ringe die Spuren eines an sinnlichen Genüssen reichen Lebens, ihre Schultern waren eckig; ihre Stimme gemein. Dafür war sie aber von Adel . . . die Marquise von Escarbès! . . . und für den Mann des Südens wog das alles andre auf. Das Wappen machte ihn blind für die Frau. Von ihrem Manne infolge eines skandalösen Prozesses getrennt, mit ihrer Familie und der aristokratischen Welt des Faubourgs zerfallen, hatte sich Madame von Escarbès der Partei des Kaiserreiches angeschlossen und einen Salon eröffnet, wo neben der Politik und Diplomatie auch ein wenig Spionage betrieben wurde und in welchem die vornehmsten Männer von damals – ohne ihre Frauen – verkehrten; dann, als sie nach zweijährigem Ränkeschmieden sich Anhang und Einfluß geschaffen, dachte sie daran, ihren Prozeß wieder aufzunehmen und zu appellieren. Roumestan, der sie in erster Instanz verteidigt hatte, konnte ihr auch jetzt seinen Beistand nicht wohl versagen. Dennoch zögerte er aus Furcht vor der öffentlichen Meinung. Aber die Marquise drang so sehr in ihn und verstand so gut, der Eitelkeit des Advokaten zu schmeicheln, daß er schließlich 45 jeden Widerstand fallen ließ. Und jetzt, wo der Appellationstermin näher rückte, sahen sie sich täglich, bald in seiner, bald in ihrer Wohnung und betrieben die Sache in zweifacher Richtung auf die lebhafteste Art.

Rosalie wäre dieser schrecklichen Entdeckung beinahe zum Opfer gefallen. Der Schlag traf sie zu plötzlich in ihrer schmerzlich erregten Empfindsamkeit als Frau und noch dazu in dem Augenblick, da sie im Begriff stand, Mutter zu werden, da sie zwei Herzen, zwei Brennpunkte des Leidens in sich trug. Das Kind war getötet, die Mutter blieb am Leben. Aber als sie nach drei Tagen äußerster Entkräftung zum vollen Bewußtsein ihres Leidens kam, da brach sie in einen Strom von Thränen aus, von bitteren Thränen, die nichts aufzuhalten, nichts zu trocknen vermochte. Und als sie aufgehört hatte, über den Verrat des Freundes, des Gatten zu weinen, blieb sie ohne einen Schrei des Schmerzes, ohne ein Wort der Klage; aber ihre Thränen verdoppelten sich beim Anblick der leeren Wiege, unter deren durchsichtigen blauen Vorhängen die Schätze ihrer Arbeit allein und verlassen ruhten. Der arme Numa war beinahe ebenso verzweifelt. Die große Hoffnung auf einen kleinen Roumestan, auf den »Erstgebornen«, der in provençalischen Familien immer mit einem gewissen Nimbus umgeben wird, – zerstört, vernichtet durch sein eignes Verschulden, dies blasse Frauenantlitz mit dem Ausdruck stummer Entsagung, diese schmerzlich zusammengepreßten Lippen und das unterdrückte Schluchzen, das in so grellem Widerspruch zu seinen eignen Kundgebungen, zu der lauten, oberflächlichen Teilnahme stand, welche er zeigte, wenn er mit verweinten Augen und bebenden Lippen am Bette seines Opfers saß, – alles dies schnitt ihm in die Seele. »Rosalie . . . so komm doch, so laß doch gut sein . . .« Mehr vermochte er nicht hervorzubringen, aber wie vieles lag nicht in diesem »so komm doch . . . so laß doch gut sein . . .« und in dem südländischen, so leicht gerührten Accente, mit welchem er es aussprach! Es war, als wolle er damit sagen: »So gräme dich doch nicht, mein armes Tierchen! . . . Ist's denn der Mühe wert? Hindert mich das vielleicht, dich zu lieben?«

46 Und er liebte sie in der That so sehr, als eine dauernde Zuneigung mit seinem leichten Sinn überhaupt vereinbar war. Er wünschte sich keine bessere Frau als sie zur Leitung seines Hausstandes, zu seiner Pflege und zu seiner Verhätschelung. Er, der so unverhohlen sagte: »Ich brauche Liebe und Aufopferung an meiner Seite!« – er wußte nur zu wohl, daß keine vollkommnere, keine liebenswürdigere Hingebung zu denken war, als diejenige, welche Rosalie ihm erzeigte, und der Gedanke, daß er sie verlieren könnte, erschreckte ihn. War das etwa keine Liebe?

Rosalie freilich hatte ganz andre Empfindungen! Ihr Leben war vernichtet, ihr Ideal zertrümmert, ihr Vertrauen auf immer dahin. Und dennoch verzieh sie. Sie verzieh ihm aus Mitleid, wie eine Mutter dem weinenden, reuevollen Kinde, und auch um der Würde ihres Namens, um des Namens ihres Vaters willen, den der Skandal eines Trennungsprozesses befleckt haben würde, und weil sie den Ihrigen, welche sie glücklich wähnten, diesen Wahn nicht rauben konnte. Nur gab sie ihm, nachdem sie so edelmütig verziehen hatte, zu verstehen, daß er im Wiederholungsfalle auf keine Verzeihung mehr zu rechnen haben würde. Nie wieder eine solche Schmach, oder – rücksichtslose, vollständige Trennung vor aller Welt! . . . Und dies wurde ihm in einem Tone und mit einem Blicke bedeutet, in welchem der Stolz der Frau allen gesellschaftlichen Rücksichten, allen Hindernissen zum Trotz seine Rache nahm.

Numa verstand sie und schwur aufrichtige Besserung. Er schauderte jetzt bei dem Gedanken, daß er sein ganzes Glück und seine Ruhe, die ihm so sehr am Herzen lag, für einen Genuß aufs Spiel gesetzt hatte, der in Wirklichkeit nur seiner Eitelkeit Genugthuung gewähren konnte. Und das angenehme Bewußtsein, seiner großen Dame ledig zu sein, dieser grobknochigen Marquise, die – von ihrem Adelswappen abgesehen – auf seine Sinne nicht den geringsten Reiz ausübte . . . die Erleichterung, keine Briefe mehr schreiben, keine Stelldicheins mehr verabreden zu müssen, die Beseitigung dieses ganzen sentimentalen, künstlich zusammengefügten Plunders, der sich so wenig mit seiner 47 Ungebundenheit vertrug, that ihm fast ebensosehr wohl, wie die milde Nachsicht seiner Frau und der wiedergewonnene innere Frieden.

Er war glücklich, wie er es zuvor gewesen, und in dem äußern Schein ihres Lebens trat keine Aenderung ein. Immer dasselbe offene Haus, in dem immer neue Freunde empfangen, immer neue gesellige Vergnügungen veranstaltet wurden, bei welchen Roumestan sang, deklamierte und sich brüstete, ohne zu ahnen, daß neben ihm zwei schöne, nun völlig geöffnete Augen wachten und ihm durch Thränen hindurch auf den Grund der Seele schauten. Jetzt sah sie ihn so, wie er war, ihren großen Mann, ganz in Gebärden und Worten lebend, leicht guten und edelmütigen Regungen folgend, aber nur vorübergehend, indem seine Güte mehr auf Launenhaftigkeit, Prahlerei und Gefallsucht hinauslief. Sie kannte jetzt die Gehaltlosigkeit dieser in ihrer Ueberzeugung wie in ihren Neigungen schwankenden Natur. Am meisten fürchtete sie für sich und für ihn von jener Schwäche, die sich unter seinen großen Worten und lärmenden Reden verbarg, – eine Schwäche, die sie zwar mit Entrüstung erfüllte, sie aber gleichzeitig durch das Bedürfnis der Frau, ihren mütterlichen Schutz zu gewähren und auf ihn ihre Hingebung zu begründen, wenn die Liebe verschwunden ist, aufs neue an ihn fesselte. Und immer, trotz seiner Untreue, zur Hingebung, zur Aufopferung bereit, hegte sie im stillen nur eine Furcht: »Wenn er mir nur den Mut nicht raubt.«

Mit dem ihr eignen Scharfblick bemerkte Rosalie bald die Aenderung, die sich in den Ansichten ihres Gatten vollzog. Seine Beziehungen zu dem legitimistischen Faubourg wurden kälter. Die Nankingweste des alten Sagnier, die Lilie auf seiner Busennadel erfüllten ihn nicht mehr mit derselben Verehrung wie bisher; er fand, daß dieser große Geist an Kraft abnahm. Das war nur noch sein Schatten, der in der Kammer seinen Sitz einnahm, ein träger, schlaftrunkener Schatten, den man sehr wohl der Partei des legitimen Königs in ihrer schon totenähnlichen Erstarrung vergleichen konnte . . . . So schwankte Numa ganz sachte zur andern Seite hinüber und begann sein Haus den 48 hervorragenden Persönlichkeiten des Kaiserreichs zu öffnen, welchen er im Salon der Frau von Escarbès, deren Einfluß diese Wandlung in ihm vorbereitet hatte, begegnet war. »Gib acht auf deinen großen Mann . . . ich glaube, er schlägt um . . .« sagte der Rat eines Tages zu seiner Tochter, als der Advokat in dem Schwung seiner spottsüchtigen Laune sich bei Tisch über die Partei von Frohsdorf lustig gemacht und dieselbe mit Don Quixotes hölzernem Flügelpferd verglichen hatte, das unbeweglich und festgenagelt an Ort und Stelle verblieb, während sein Reiter mit verbundenen Augen einen langen Ritt in das Reich der Lüfte zu machen wähnte.

Sie brauchte ihn nicht lange auszufragen; denn so sehr er sich auch verstellen konnte, seine Lügen, welche durch besondre Kunst oder Schlauheit aufrecht zu erhalten er verschmähte, waren so naiver Art, daß man sie sofort als solche erkannte. Als sie eines Morgens in sein Arbeitszimmer eintrat, fand sie ihn ganz vertieft in die Abfassung eines Briefes, weshalb sie sich zu ihm niederbeugte und ihn fragte: »An wen schreibst du?«

Er stammelte, suchte nach Worten, und überwältigt von ihrem Blicke, der ihm wie ein Gewissen in die Seele drang, trieb es ihn gewaltsam, die Wahrheit zu gestehen. Es war ein in inhaltsleeren, schön klingenden Worten, in jenem weitausholenden Verteidigerstile geschriebener Brief an den Kaiser, worin er eine Stelle als Staatsrat annahm. Der Anfang des Schreibens lautete folgendermaßen: Aus der südlichen Vendée gebürtig, in der unerschütterlichen Treue gegen die Monarchie und in der Verehrung des geschichtlich Ueberlieferten erzogen, glaube ich weder meiner Ehre noch meinem Gewissen etwas zu vergeben . . .

»Das wirst du nicht absenden! . . .« sagte sie lebhaft.

Anfangs ereiferte er sich in lauten, groben Worten, wie ein echter Bürger von Aps, der seine Herrschaft im Hause geltend machen will. Was ging es sie denn schließlich an? Was verstand sie davon? Quälte er etwa sie bezüglich der Form ihrer Hüte oder wegen des Schnittes ihrer neuen Kleider? So donnerte er los, als spräche er vor Gericht, 49 während Rosalie in stummer, beinahe verächtlicher Ruhe all diese heftigen Ausbrüche wie die Ueberreste eines unwiderruflich im voraus gebrochenen Willens an sich vorüberziehen ließ. Diese leidenschaftlichen Ausbrüche, durch die sie ermüdet und entwaffnet werden, bedeuten die Niederlage der heißblütigen Naturen.

»Du wirst diesen Brief nicht absenden,« wiederholte sie . . . »das hieße deinem ganzen bisherigen Leben, deinen eingegangenen Verpflichtungen Hohn sprechen . . .«

»Verpflichtungen? Und gegen wen?«

»Gegen mich. . . . Erinnere dich, wie wir uns kennen lernten, wie du mit deiner Empörung, mit deiner moralischen Entrüstung der kaiserlichen Maskerade gegenüber mein Herz erobertest. Und es waren nicht einmal so sehr deine Ansichten, als das entschiedene und offene Parteiergreifen und die männliche Entschlossenheit, die ich in dir bewunderte . . .«

Er verteidigte sich. Sollte er etwa sein ganzes Leben an eine sozusagen eingefrorene, in Schnee begrabene, jedes Feuers und jeder Schwungkraft entbehrende Partei wegwerfen? Uebrigens war es ja nicht er, der das Kaiserreich aufsuchte, sondern man kam zu ihm; und der Kaiser war ein ausgezeichneter Mensch voll Geist und seiner Umgebung weit überlegen. . . . So bot er alles zur Beschönigung seines Gesinnungswechsels auf. Rosalie aber ließ keinen seiner Gründe gelten, sondern zeigte ihm vielmehr nicht nur die Treulosigkeit, sondern auch die Ungeschicklichkeit seiner Schwenkung. »Siehst du denn nicht,« sagte sie, »wie die Unruhe all diese Leute quält, wie sie selbst fühlen, daß der Boden unter ihren Füßen ringsumher hohl und untergraben ist? Der geringste Stoß, ein Steinchen, das sich loslöst, genügt, daß alles zusammenstürzt . . . und in welchen Abgrund! . . .«

Sie ging genau auf Einzelnheiten ein und faßte all das zusammen, was eine schweigsame und überlegende Zuhörerin sich aus den Reden nach Tische zurechtlegt, wenn die Männer sich zusammensetzen und ihre Frauen, mögen sie Geist besitzen oder nicht, dazu verdammen, ihre Zeit mit jenem gewöhnlichen Geplauder zu verbringen, zu dessen Belebung das Thema der Toilette und der Alltagsklatsch nicht immer 50 ausreichen. Roumestan war ganz überrascht: »Sonderbare kleine Frau!« Wo hatte sie das nur alles her? Er vermochte es gar nicht zu fassen, daß sie so bewandert war, und einer jener plötzlichen Anwandlungen folgend, welche den Reiz solcher übertriebener Charaktere bilden, erfaßte er mit beiden Händen dieses kluge und dabei in so reizender Jugend prangende Köpfchen und rief, indem er es über und über mit zärtlichen Küssen bedeckte, aus: »Ja, du hast recht, hundertmal recht . . . gerade das Gegenteil ist es, was ich schreiben muß.«

Darauf wollte er sogleich seinen ersten Entwurf zerreißen, fand aber, daß er die einleitenden Worte, welche ihm gefielen, mit einer kleinen Aenderung beibehalten könne, etwa so: »Aus der südlichen Vendée gebürtig, in der unerschütterlichen Treue gegen die Monarchie. sowie in der Verehrung des geschichtlich Ueberlieferten erzogen, würde ich meiner Ehre und meinem Gewissen etwas zu vergeben glauben, wenn ich das Amt annähme, das mir Ew. Majestät . . .«

Diese ebenso höfliche wie entschiedene Ablehnung, welche in den legitimistischen Journalen veröffentlicht wurde, gab Roumestan eine völlig neue Stellung und trug seinem Namen den Ruf unbestechlicher Gesinnungstreue ein. »Unzerreißbar!« lautete die Unterschrift unter einer gelungenen Karikatur im »Charivari«, welche darstellte, wie sämtliche Parteien sich um den großen Advokaten stritten, während seine Toga gewaltsam von ihnen hin und her gerissen wurde. Kurz darauf erfolgte der Sturz des Kaiserreichs, und als die Nationalversammlung in Bordeaux zusammentrat, hatte Numa Roumestan die Wahl zwischen drei Departements des Südens, von denen er zum Abgeordneten gewählt worden war, und zwar einzig und allein auf Grund seines bekannten Ablehnungsschreibens an den Kaiser. Seine ersten, etwas schwülstigen Reden hatten aus ihm bald den Führer der vereinigten Rechten gemacht. Was er zum besten gab, waren nur die Schlagwörter des alten Sagnier; aber in dieser Zeit der Mittelmäßigkeiten sind die Vollblutcharaktere selten, und der 51 neue Parteiführer triumphierte auf den Bänken der Kammer ebenso leicht, wie früher auf den Kanapees des Papa Malmus.

Generalrat seines Departements, der Abgott des ganzen Südens, in seinem Glanze noch erhöht durch die bedeutende Stellung seines seit dem Sturze des Kaiserreichs zum ersten Präsidenten des Kassationsgerichtshofes beförderten Schwiegervaters, war Numa offenbar dazu bestimmt, über kurz oder lang Minister zu werden. Inzwischen trug er, der große Mann für alle, nur nicht für seine Frau, seinen jungen Ruhm bald in Paris, bald in Versailles, bald in der Provence zur Schau und war stets der liebenswürdige, vertrauliche, gutmütige Mensch, der zwar seinen Glorienschein mit auf die Reise genommen, ihn aber gern wie einen Sonntagsstaat in seiner Hutschachtel liegen gelassen hätte.

 


 


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