Alphonse Daudet
Numa Roumestan
Alphonse Daudet

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Fünfzehntes Kapitel.

Im Skatingring.

Wo war sie? . . . Wohin ging sie? . . . Der Fiaker war schon lange, lange unterwegs, Audiberte saß an ihrer Seite, Hand in Hand mit ihr, beruhigte sie und sprach mit ihr in fieberhaftem Eifer. . . . Hortense sah nichts, hörte nichts, und das Schnarren dieser dünnen kreischenden Stimme, die unter dem Gerassel der Räder an ihr Ohr schlug, hatte keinen Sinn für sie, ebenso wie die Straßen, Boulevards und Gebäude nicht mehr den ihr bekannten Anblick boten, sondern infolge ihrer großen innern Aufregung ihr fremd und fahl erschienen, als ob sie dieselben von einem Trauer- oder Hochzeitswagen aus erblickte . . . Endlich hielt der Wagen mit einem Ruck vor einem breiten, von blendend weißem Licht übergossenen Trottoir, von welchem sich die dort angesammelte Menge als ein Gewimmel schwarzer Schatten abhob. Am Eingang eines geräumigen Korridors ein Billetschalter, dann eine mit rotem Samt beschlagene Klapptüre, die unmittelbar in den Skatingsaal führte, einen ungeheuren Saal, der sie mit seinem Schiffe, seinen Seitengängen und der Stuckaturarbeit seiner hohen Wände an eine anglikanische Kirche erinnerte, die sie einmal aus Anlaß einer Trauung 79 besucht hatte. Nur waren hier die Wände mit Plakaten und Annoncen in allen Farben bedeckt. Hier wurden Korkhüte, da Hemden nach Maß für 4 Frcs. 50 C. angeboten; dort sah man die Reklame der Kleidermagazine mit dem Bilde des Troubadours abwechseln, dessen Biographie von den schrillen Stimmen der Programmverkäufer inmitten eines betäubenden Lärms ausgerufen wurde, in welchem das Summen der ringsum sich drängenden Menge, das Brummen der Kreisel auf dem Tuche der englischen Billards, die Rufe nach Speisen und Getränken, Tonwellen, die, unterbrochen von patriotischen Gewehrsalven, stoßweise aus dem Hintergrunde des Saales kamen, noch durch das unaufhörliche Geräusch der Rollschuhe übertönt wurden, die auf einem großen, asphaltierten und mit Geländern umgebenen Raum zwischen auf- und abwogenden Zylindern und Hüten à la directoire hin- und herglitten.

Aengstlich und verwirrt, unter ihrem Schleier bald errötend und bald erblassend, ging Hortense hinter der Provençalin her und folgte ihr mit Mühe durch das Wirrsal kleiner, runder, ringsherum aufgestellter Tische, an denen je zwei Frauenzimmer saßen, welche mit aufgestützten Ellenbogen, übereindergeschlagenen Knieen, eine Cigarette zwischen den Lippen, mit gelangweilter Miene zechten. An den Wänden standen hin und wider reich besetzte Schenktische und hinter jedem derselben eine Dirne mit schwarz umränderten Augen, blutrot geschminkten Lippen und blitzendem Stahlschmuck in einer roten oder schwarzen, auf der Stirn ausgefranzten Perrücke. Und diese weiße oder schwarze Schminke, dieses Lächeln der rot bemalten Lippen fand man bei allen gleich einer Livree, welche sie als bleiche Nachtgestalten tragen mußten. Unheimlich war auch das langsame Umherschlendern der Männer, die, den Rauch ihrer dicken Cigarren nach rechts und links blasend, sich frech und roh zwischen die Tische drängten, um die ausgestellte Ware in der Nähe zu betrachten und in empörender Weise um sie zu feilschen. Und was dem Ganzen am meisten das Aussehen eines Jahrmarktes gab, war das kosmopolitische und kauderwelschende Publikum, ein echtes Hotelpublikum, das tags zuvor angekommen, noch 80 im Reiseanzug war. Schottische Mützen, gestreifte Jacketts und leichte Ueberzieher, die noch vom Nebel des Kanals feucht waren, moskowitische Pelze, die sich sehnten aufzuthauen, lange schwarze Bärte vom Ufer der Wolga, die hinter hochmütigen Mienen ihr faunisches Grinsen und ihre Tartarengelüste verbargen, türkische Fez über Röcken ohne Kragen, Neger, glänzend wie ihre Seidenhüte, im Galaanzug, kleine, gelbe Japanesen in europäischer Kleidung, geschniegelt und gebügelt, alle waren hier vertreten.

»Bou Diou! Wie häßlich der ist . . .« rief plötzlich Audiverte angesichts eines sehr gravitätischen Chinesen, dessen langer Zopf über einen blauen Rock herabfiel, oder sie blieb stehen, stieß ihre Gefährtin mit dem Ellenbogen und zeigte ihr mit den Worten: »Vé, vé, schaut die Neuvermählte . . .« eine Person, ganz in Weiß, mit offener Taille, entfalteter Schleppe und einem kurzen, mit Orangenblüten befestigten Schleier im Haare, die auf zwei Stühlen ausgestreckt lag, auf deren einem ihre weißen Atlasstiefelchen mit silbernen Absätzen ruhten. Dann aber plötzlich durch einige Worte empört, die sie über diese zufälligen Orangenblüten eines andern belehrten, fügte die Provençalin geheimnisvoll hinzu: »Ein liederliches Mensch, Sie wissen schon . . .« Rasch zog sie Hortense, um sie dem bösen Beispiel zu entziehen, nach dem Mittelpunkt des Lokals, wo ganz im Hintergrunde, an der Stelle, welche der Chor in der Kirche einnimmt, die Bühne sich erhob; erleuchtet von intermittierenden elektrischen Flammen, die, gleich den lichtausstrahlenden Augen des Herrgotts auf biblischen Gemälden, ihre Strahlen durch zwei kugelrunde Lücken im Deckenfries herabsandten.

Hier erholte man sich von dem lärmenden Skandal des vordern Spazierplatzes. In den Sperrsitzen sah man Familien aus dem Kleinbürgertum, Geschäftsleute des Stadtviertels. Man hätte glauben können, im Zuschauerraum irgend eines Theaters zu sein, wäre nicht ringsum der schreckliche Lärm gewesen, der von dem beharrlichen, regelmäßigen Geräusch des Rollens der Schlittschuhläufer auf dem Asphalt stets noch übertäubt wurde. Dieses Geräusch der Rollbahn, welches selbst die Blasinstrumente und Pauken des Orchesters nicht zum Gehör 81 kommen ließ, verwies naturgemäß auf die lautlose Mimik der lebenden Bilder.

Der Vorhang senkte sich soeben über einer patriotischen Scene, die den »Löwen von Belfort« aus Pappdeckeln von riesigen Dimensionen darstellte, umgeben von Soldaten, die mit den Käppis auf den Bajonetten in triumphierender Haltung auf den eingestürzten Wällen standen und sich nach dem Takte einer unhörbaren Marseillaise bewegten. Diese stürmische Begeisterung erregte die Provençalin, ihre Augen funkelten, und während sie Hortense ihren Platz anwies, sagte sie: »Nicht wahr, es ist schön hier? Aber heben Sie doch Ihren Schleier auf! . . . Zittern Sie doch nicht! . . . Sie zittern . . . in meiner Gesellschaft haben Sie nichts zu fürchten.«

Das junge Mädchen antwortete ihr nicht; sie fühlte sich noch zu sehr gepeinigt durch den schimpflichen, langsamen Gang zwischen all diesen bleichen, bemalten Gesichtern, unter die sie sich gemengt hatte. Und jetzt eben traten ihr jene entsetzlichen Masken mit den blutroten Lippen wieder in zwei gliederverrenkenden Clowns in Trikot gegenüber, die, in jeder Hand ein Glockenspiel haltend, während ihrer tollsten Sprünge eine Arie aus »Martha« spielten, eine wahre Gnomenmusik, ohne Ausdruck, ein verzerrtes Ableiern, das aber in der Ton- und Sprachverwirrung des Skatingringes ganz an seinem Platze war. Dann fiel der Vorhang aufs neue, und die Bäuerin, die sich zehnmal erhoben und wieder gesetzt, sich unruhig auf ihrem Sitze hin und her bewegt und ihre Haube zurecht gerückt hatte, rief plötzlich, nachdem sie einen Blick auf das Programm geworfen: ». . . Der Mont de Cordoue . . . Die Zikaden . . . Farandole . . . Jetzt fängt's an . . . vé, vé! . . .«

Abermals ging der Vorhang in die Höhe und ließ im Hintergrunde einen lila Hügel sehen, auf dem weißes Mauerwerk von seltsamer Bauart, halb Schloß, halb Moschee, in Minarets und Terrassen, Spitzbogen, Zinnen und maurischen Gitterschirmen, mit Palmbäumen und Aloesträuchen von Zink am Fuß der ungelenken Türme, unter einem grell indigoblauen Himmel emporstieg. In der Umgebung von Paris, unter den Villen reich gewordener Kaufleute sieht man Bauwerke solch komischer Art. Trotz all' dem aber, trotz der 82 schreienden Farben der mit blühendem Thymian bedeckten Bergabhänge, trotz der exotischen Pflanzen, die sich des Wortes »Cordoue« wegen hieher verirrt hatten, empfand Hortense eine verlegene Rührung angesichts dieser Landschaft, aus der sie ihre liebsten Erinnerungen anlachten, und dies maurische Fürstenschloß auf dem rosenroten Porphyrfelsen, dieses wieder aufgebaute Schloß erschien ihr als Verwirklichung ihres Traumes, aber ins Groteske, Uebertriebene verzerrt, wie wenn ein Traum den beängstigenden Charakter eines Alpdrucks annimmt.

Auf ein Zeichen des Orchesters und ein Aufblitzen des elektrischen Lichtes stürzten schlanke Libellen hervor, von Mädchen dargestellt, die nur mit smaragdgrünem, eng anliegendem Seidentrikot bekleidet waren und Knarren schwingend, mit langen glänzenden Flügeln umherflatterten.

»Das sollen Zikaden sein? . . . Nicht die Spur!« rief empört die Provençalin.

Aber schon hatten sie sich im Halbkreis aufgestellt, gleich einem Halbmond aus Aquamarinsteinen, fortwährend ihre Knarren schwingend, die man jetzt sehr gut vernahm, da der Lärm der Rollschuhe sich etwas mäßigte und das Summen ringsum eine Minute aufhörte, weil ein Gewimmel dichtgedrängter Köpfe, unter allen möglichen Arten von Bedeckung sich reckend und neigend, neugierig zur Bühne aufschaute. Die Traurigkeit, die Hortense bedrückte, steigerte sich noch, als sie das dumpfe Wirbeln des Tambourins hörte, das zuerst in der Ferne, dann immer näher und lauter erscholl.

Sie hätte fliehen mögen, um nicht zu sehen, was jetzt erscheinen würde. Auch die Flöte ließ jetzt ihre schwache Stimme in einzelnen Noten hören, und den Staub unter den rhythmischen Schritten von dem erdfarbenen Teppich aufwirbelnd, entrollte sich die Farandole mit phantastischen Kostümen. Kurze Röcke von schreienden Farben, rote Strümpfe mit goldnen Zwickeln, mit Goldflitter benähte Mieder, Diademe aus Goldmünzen, seidene Tücher, auf italienische, bretonische und nordfranzösische Art um den Kopf geschlungen, all das nach echter Pariser Sitte der Wirklichkeit möglichst 83 Hohn sprechend. Hinterdrein folgte gemessenen Schrittes ein mit Goldpapier beklebtes Tambourin im Ausschreiten mit dem Knie zurückstoßend, der große Troubadour der Straßenplakate, in enganliegender, zweifarbig geteilter Kleidung: das eine Bein gelb mit blauem Schuh, das andere blau mit gelbem Schuh, ein Atlaswams mit Troddeln, ein ausgezacktes Samtbarett über einem trotz der Schminke braungebliebenen Gesicht, von dem man fast nichts sah, als einen mit ungarischer Pomade gewichsten Schnurrbart.

»Ah!« rief Audiberte entzückt.

Als sich die Farandole zu beiden Seiten der Bühne vor den Zikaden mit den großen Fittichen aufgestellt hatte, grüßte der Troubadour, zuversichtlich und mit der Miene eines Siegers allein in der Mitte stehend, unter dem Blicke der beiden Herrgottsaugen, die sein Wams mit leuchtendem Reif bepuderten. Das Ständchen begann, idyllisch und schwach, kaum über die Rampe hinaus hörbar, loderte dann ein wenig auf, drang einen Augenblick mühsam bis zu den Fahnen an der Saaldecke und zu den ungeheuren Pfeilern empor, um schließlich unter Schweigen und Langeweile zu verhallen. Das Publikum gaffte, ohne etwas zu verstehen. Valmajour fing ein andres Stück an, das gleich bei den ersten Takten mit Lachen, Gemurmel und spöttischen Zurufen aufgenommen wurde. Audiberte ergriff Hortenses Hand: »Das ist die Kabale . . . geben Sie acht!«

Die Kabale beschränkte sich hier auf einige »Pst! . . . Lauter! . . .« und auf schlechte Witze, wie z. B. denjenigen, den eine heisere Frauenstimme mit Beziehung auf Valmajours verzwicktes Mienenspiel zum besten gab: »Bist bald zu Ende, dressiertes Karnickel?«

Dann nahm der Skatingring sein Schlittschuhrollen, das Surren der englischen Billards wieder auf, und sein stampfender Verkehr übertönte Flöte und Tambourin, die der Musikant hartnäckig bis zu Ende des Ständchens bearbeitete. Hierauf grüßte er aufs neue und trat zur Rampe vor, immer vom Schimmer des geheimnisvoll verborgenen Lichtes begleitet, das ihn nicht verlassen zu wollen schien. Man sah, wie sich seine Lippen bewegten, um einige Worte zu stammeln: »Das ist mir 84 in der Nacht gekommen . . . ein Loch . . .drei Löcher . . . der kleine Gottesvogel . . .«

Seine Geberde der Verzweiflung, vom Orchester richtig verstanden, wurde das Signal zu einem Ballett, wo die Zikaden sich mit den Houris aus der Normandie zu plastischen Stellungen und lüsternen Tänzen umschlangen, umleuchtet von bengalischem Feuer, das regenbogenfarbig schimmernd bis zu den Schnabelschuhen des Troubadours erglänzte, der, umgeben von einer Strahlenglorie, seine Tambourinschlägermimik vor dem Schlosse seiner Ahnen fortsetzte.

Das war Hortenses Roman! Das hatte Paris daraus gemacht.

* * *

. . . Als der helle Schlag der alten Wanduhr, die in ihrem Zimmer hing, ein Uhr nach Mitternacht schlug, erhob sich Hortense von dem kleinen Diwan, auf den sie bei ihrem Eintreten wie vernichtet gesunken war, und schaute sich beim matten Schimmer einer schlaftrunkenen Nachtlampe verwundert um in ihrem vom erlöschenden Feuer traulich durchwärmten, weichen, jungfräulichen Nest.

»Was thu' ich denn hier? Warum bin ich nicht zu Bett gegangen?«

Sie erinnerte sich an nichts mehr, sie fühlte sich nur durchweg schmerzlich gelähmt und in ihrem Kopfe sauste und hämmerte es entsetzlich. Sie machte ein paar Schritte, bemerkte, daß sie Hut und Mantel noch nicht abgelegt hatte, und alles fiel ihr nun ein: das Fortgehen von dort nach dem Fallen des Vorhangs, ihre Rückkehr durch den abscheulichen, beim Nahen des Schlusses leidenschaftlich erregten Markt, die betrunkenen Bookmakers, die sich vor einem Büffett herumschlugen, cynische Stimmen, die ihr im Vorübergehen eine Ziffer zuflüsterten, dann die Scene, die ihr Audiberte beim Herausgehen machte, wie sie von ihr verlangte, sie solle ihren Bruder beglückwünschen, der Zornesausbruch derselben im Wagen, die Beleidigungen, die ihr diese Kreatur ins Gesicht schleuderte, um gleich darauf wieder 85 vor ihr zu kriechen und ihr, um Entschuldigung bittend, die Hände zu küssen. Und alles das im tollen Durcheinander mit Clownsprüngen, den Mißtönen der Glockenspiele, Zimbeln und Knarren in ihren Gedanken umherwirbelnd, bis zu den bunten Flammen, die den lächerlichen Troubadour umstrahlten, dem sie ihr Herz geschenkt hatte. Ein Grausen schüttelte sie bei diesem Gedanken.

»Nein, nein, niemals . . . viel lieber möchte ich sterben!«

Plötzlich bemerkte sie im Spiegel ihr gegenüber ein Gespenst mit hohlen Wangen und schmalen, frostig zusammenschauernden Schultern. Es ähnelte ihr ein wenig, aber weit mehr jener Fürstin von Anhalt, deren traurige Krankheitssymptome sie in Arvillard mit teilnehmender Neugier genau verfolgt hatte und die beim Eintritt des Winters ihren Leiden erlegen war.

»Schau . . . schau! . . .«

Sie neigte sich, trat dem Spiegel noch näher, erinnerte sich der unerklärlichen Güte, die ihr jedermann in Arvillard bewiesen, der Besorgnis und des Schreckens der Mutter, der Rührung des alten Bouchereau bei ihrer Abreise und sie verstand alles. . . . Da war ja endlich die Lösung gefunden . . . sie bot sich ganz von selbst. . . . Sie hatte lange genug danach gesucht.

 


 


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