Alphonse Daudet
Numa Roumestan
Alphonse Daudet

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Achtzehntes Kapitel.

Der Neujahrstag.

»Die Herren von der ›Central-Verwaltung!‹ . . .«

»Die Herren von der ›Direktion der schönen Künste!‹ . . .«

»Die Herren von der ›medizinischen Fakultät!‹ . . .«

In dem gleichen Tempo, in dem der Thürsteher in Gala, in Kniehosen, den Degen an der Seite, mit seiner in dem feierlichen Empfangssalon dumpf tönenden Stimme die Deputationen anmeldete, durchschritten ganze Reihen schwarz gekleideter Gestalten den ungeheuren rotgoldnen Salon und stellten sich im Halbkreis vor dem Minister auf, der am Kamin lehnte. Ihm zur Seite befand sich sein Staatssekretär Herr von La Calmette, sein Kabinettschef, seine rührigen Attachés und einige Ministerialdirektoren, wie Dansaert, Béchut u. a. Jede, durch ihren Präsidenten oder Dienstältesten vorgestellte Behörde wurde von Seiner Excellenz bezüglich der Orden und akademischen Palmen beglückwünscht, die einigen ihrer Mitglieder verliehen worden waren; dann wandte sich die betreffende Abteilung seitwärts, zog sich zurück und machte andern Platz, die sich mit großen Schritten durch die Thüren des Salons drängten, denn es war spät, ein Uhr vorüber, und jeder dachte an das Familienfrühstück, das zu Hause auf ihn wartete.

Im Konzertsaal, der zur Garderobe eingerichtet worden war, hielten sich einzelne Gruppen auf, die ungeduldig nach der Uhr sahen, ihre Handschuhe zuknöpften, die weißen Krawatten unter ihren mißmutigen Gesichtern zurechtrückten und vor Langweile, vor schlechter Laune und vor Hunger gähnten. Und auch Roumestan fühlte sich durch die Strapazen dieses großen Tages abgespannt. Das hinreißende Feuer der Begeisterung, das ihn im vorigen Jahre bei dem gleichen Anlaß noch belebt hatte, sein Glaube an die Zukunft und an die Reformen war ihm abhanden gekommen, seine Ansprachen klangen matt, denn er fühlte sich, trotz der Luftheizung und des gewaltigen, flammenden Holzstoßes im Kamin bis ins 113 Mark erkältet und das leichte Schneegestöber, das vor den Fensterscheiben wirbelte und leise auf den Rasen des Gartens niederrieselte, fiel ebenso eisig auf sein Herz und ließ es erstarren.

»Die Herren von der ›Comédie Française!‹ . . .«

Glatt rasiert, feierlich und mit der tiefen Verbeugung, wie sie im »großen« Jahrhundert Mode gewesen, gruppierten sie sich um ihren Aeltesten, der mit dumpfer Stimme die »Gesellschaft« vorstellte und von den Bemühungen, den Wünschen der »Gesellschaft« sprach, der »Gesellschaft« kurzweg, ohne weiteres Beiwort, geradeso wie man von »Gott« oder »der Bibel« spricht, als ob es keine andre Gesellschaft auf Gottes Erdboden gäbe, als die der Comédie Française, und der arme Roumestan mußte in der That sehr niedergedrückt sein, wenn selbst diese Gesellschaft, zu der er mit seinem bläulichen Kinn, seinen herabhängenden Wangen und seinem gemacht-vornehmen Wesen selbst zu gehören schien, seine Beredsamkeit nicht zu großen theatralischen Phrasen zu entflammen vermochte!

Seit acht Tagen, seit Rosalie ihn verlassen hatte, war er wie ein Spieler, dem sein Talisman abhanden gekommen ist. Er war ängstlich, fühlte sich plötzlich seiner hohen Stellung nicht gewachsen und glaubte sich nahe daran, von derselben erdrückt zu werden. Die Mittelmäßigen, welche das Glück begünstigt hat, sind öfters solchen Beängstigungen und Schwindelanfällen ausgesetzt, die bei ihm durch die Furcht vor dem entsetzlichen Skandal gesteigert wurden, den der Ehescheidungsprozeß, auf welchen die junge Frau, ungeachtet seiner Briefe, seiner Besänftigungsversuche, seiner kläglichen Bitten und Schwüre, bestand, notwendig hervorrufen mußte. Des Scheines halber gab man im Ministerium vor, Madame Roumestan sei der bevorstehenden Abreise Madame Le Quesnois und Hortenses wegen zu ihrem Vater gezogen; aber niemand täuschte sich über den wahren Sachverhalt, und auf all diesen Gesichtern, die an ihm vorüberzogen, an gewissen eigentümlich lächelnden Mienen, an allzu teilnahmsvollen Händedrücken bemerkte der Bedauernswerte, daß sein ehelicher Zwist in Gestalt des Mitleids, der Neugierde und 114 der Ironie ihm gegenübertrat. Selbst unter den untergeordnetsten Subalternbeamten, die im gewöhnlichen Rocke zur Gratulation gekommen waren, befand sich keiner, der nicht von der Sache unterrichtet gewesen wäre; es cirkulierten in den Büreaux Couplets, in denen sich Chambéry auf Bachellery reimte, welche dieser oder jener mit seiner Neujahrsgratifikation unzufriedene Expedient innerlich trällerte, während er sich demütig vor seinem höchsten Vorgesetzten verbeugte.

Es war zwei Uhr und noch immer kamen neue Behörden und der Schnee häufte sich, während der Audienzdiener dieselben in bunter Reihe, ohne Beachtung von Rang und Würden, einführte: »Die Herren von der juristischen Fakultät! . . .«

»Die Herren vom Konservatorium für Musik! . . .«

»Die Herren Direktoren der subventionierten Theater! . . .«

Cardaillac befand sich an der Spitze, gemäß dem Altersvorrang seiner drei Bankrotte; und Roumestan fühlte sich weit mehr versucht, mit Faustschlägen über diesen cynischen »Vorführer« herzufallen, dessen Ernennung ihm so große Verlegenheiten bereitet hatte, als seine schöne, durch den grimmigen Hohn seines Blickes Lügen gestrafte Ansprache anzuhören und ihm mit einem unumgänglichen Komplimente zu antworten, das übrigens zur Hälfte in den Falten seiner Krawatte stecken blieb: »Sehr lebhaft gerührt, meine Herren . . . mn mn mn . . . Fortschritt der Kunst . . . mn mn mn werden uns noch weiter vervollkommnen. . . .«

Und der »Vorführer« bemerkte im Fortgehen: »Unser armer Numa ist flügellahm. . . .«

Nachdem diese letzten Gratulanten sich entfernt hatten, vereinigten sich der Minister und seine Assessoren, wie gewöhnlich an diesem Tage, zu einem gemeinsamen Mahle; aber dieses Frühstück, bei welchem im vorigen Jahre eine so heitere und gemütliche Stimmung geherrscht hatte, litt diesmal sehr unter der Niedergeschlagenheit des Chefs und unter der schlechten Laune seiner Beamten, die ihm alle wegen ihrer unsicher gewordenen Stellung ein wenig grollten. Dieser 115 skandalöse Prozeß, der gerade mit der Debatte über die Affaire Cardaillac zusammenfiel, drohte Roumestans Verbleiben im Ministerium unmöglich zu machen; schon an diesem Morgen beim Empfang im Elysée hatte der Marschall in seiner derben, lakonischen Beredsamkeit eines alten Soldaten zwei Worte darüber fallen lassen: »Eine schmutzige Geschichte, mein lieber Minister, eine schmutzige Geschichte. . . .« Und wenn sie auch dieses erhabene Wort nicht gehört hatten, da es dem Minister in einer Fensternische ins Ohr geflüstert wurde, so wußten diese Herren doch, daß ihre Ungnade im Gefolge derjenigen ihres Chefs unvermeidlich war.

»O Weiber, Weiber!« brummte der gelehrte Béchut in seinen Teller. Herr von La Calmette mit seinen dreißig Dienstjahren versank in Schwermut bei dem Gedanken an seine Versetzung in den Ruhestand; und der große Lappara machte sich ganz leise das Vergnügen, Rochemaure in Bestürzung zu versetzen: »Vicomte, wir müssen uns vorsehen. . . . Ehe acht Tage vergehen, werden wir an die Luft gesetzt.«

Nach einem Toast des Ministers auf das neue Jahr und auf seine werten Mitarbeiter, den er mit bewegter Stimme und mit Thränen in den Augen ausbrachte, trennte man sich. Méjean, der einzige, der noch zurückgeblieben war, ging mit seinem Freunde zwei- oder dreimal auf und ab, ohne daß einer von beiden den Mut gefunden hätte, ein Wort zu sprechen; dann zog auch er sich zurück. Wie sehr auch Numa gewünscht hätte, an diesem Tage den biedern Mann bei sich zu behalten, der ihn einschüchterte, wie die Stimme seines Gewissens, ihn aber auch stützte und beruhigte, so konnte er Méjean doch nicht abhalten, seine Besuche zu machen und seine Neujahrswünsche und Geschenke auszuteilen, so wenig er seinem Thürsteher verbieten konnte, seine Familie wieder aufzusuchen und seinen Säbel und seine Galahose abzulegen.

Wie öde und einsam war es in diesem Ministerium, wie Sonntags in einer Fabrik, wenn die Feuer erloschen sind und die Maschinen still stehen. Und in allen Gemächern, oben und unten, in seinem Kabinett, wo er vergebens zu 116 schreiben versuchte, in seinem Privatzimmer, wo er in krampfhaftes Schluchzen ausbrach, überall dieser dünnflockige Januarschnee, der vor den breiten Fenstern wirbelte, den Horizont verschleierte und an die Einsamkeit und das Schweigen der Steppen gemahnte.

O Elend der Größe und des Glanzes! . . .

Eine Wanduhr schlug vier Uhr, eine andre antwortete ihr, und noch andre ertönten in der Einsamkeit des riesigen Palastes, in dem nichts mehr lebendig schien als der Stundenschlag der Zeit. Der Gedanke, hier bis zum Abend mit seinem Kummer allein zu bleiben, erschreckte ihn. Er hätte sich so gern an ein wenig Freundschaft, ein wenig Zärtlichkeit erwärmt. All diese Heizkörper, Kamine und die brennenden Holzstöße in den Oefen machten noch keinen häuslichen Herd. Einen Augenblick dachte er an die Rue de Londres. . . . Aber er hatte seinem Advokaten geschworen – die Sache war schon in den Händen der Advokaten – sich bis zur Erledigung des Prozesses ruhig zu verhalten. Plötzlich fiel ihm ein Name ein: »und Bompard?« Warum war er nicht gekommen? . . . Er war sonst immer der erste, der an einem Festtage erschien, beladen mit Bouquets und Bonbondüten für Rosalie, Hortense und Madame Le Quesnoi, auf den Lippen das charakteristische Lächeln eines Neujahrsgeschenke spendenden Großpapas. Roumestan bestritt selbstverständlich die Kosten dieser Ueberraschungen, aber Freund Bompard hatte Phantasie genug, dies zu vergessen, und trotz ihrer Abneigung gegen ihn, konnte Rosalie sich der Rührung nicht erwehren, wenn sie der Entbehrungen gedachte, die sich der arme Teufel auferlegen mußte, um so großmütig sein zu können.

»Wie wäre es, wenn ich ihn holte, wir würden zusammen dinieren.«

So weit war es mit ihm gekommen. Er klingelte, entledigte sich seines schwarzen Empfangsanzugs, seiner Dekorationen und Orden und ging zu Fuß durch die Rue Bellechasse.

Die Kais und die Brücken waren ganz weiß, aber jenseits des Carousselplatzes im Innern der Stadt war keine 117 Spur mehr von Schnee zu entdecken, weder auf dem Boden, noch in der Luft. Er verschwand unter den Rädern der zahllosen Fuhrwerke und in dem Gewimmel der Menge, die sich auf den Trottoirs, vor den Schaufenstern und um die Omnibusstationen drängte. Dieses lärmende Getriebe eines Festtagsabends, das Geschrei der Kutscher, die Angebote der Straßenverkäufer, die blendende Beleuchtung der Geschäftslokale, die violetten Jablochkofflaternen, welche das gelbliche Flimmern des Gases und die Reste des schwindenden Tageslichtes überstrahlten, dies alles brachte den Kummer Roumestans zum Schweigen und ließ ihn in dem lebhaften Getriebe der Straße allmählich verschwinden, während er sich dem Boulevard Poissonnière näherte, wo der alte Tscherkesse, der wie alle Leute von Phantasie an der Scholle klebte, schon seit zwanzig Jahren, d. h. seit seiner Ankunft in Paris, seinen Wohnsitz hatte.

Niemand kannte Bompards Häuslichkeit, von welcher er übrigens häufig sprach, wie er auch von seinem Garten und seinem kunstvollen Mobiliar erzählte, wegen dessen Vervollständigung er allen Auktionen im Hotel Drouot beiwohnte.

»Kommen Sie doch dieser Tage einmal, und essen Sie eine Kotelette mit mir! . . .« Das war seine ständige Einladungsformel, mit der er sehr freigebig war; wer sie aber ernst nahm, fand niemand zu Hause, wurde vom Portier nicht vorgelassen, oder machte die Entdeckung, daß die Klingel mit Papier verstopft oder ihrer Schnur beraubt war. Ein ganzes Jahr hindurch hatten sich Lappara und Rochemaure vergeblich alle erdenkliche Mühe gegeben, um bei Bompard einzudringen und die wunderbaren Erfindungen des Provençalen zu Schanden zu machen, mit denen er das Geheimnis seiner Häuslichkeit umgab. Dieser trieb dies so weit, daß er eines Tages die Mauersteine am Eingang seines Zimmers loslöste, um den Eingeladenen über die Barrikade hinweg sagen zu können: »Bin trostlos, meine Lieben. . . . Eine Gasexplosion. . . . Alles ist heute nacht in die Luft geflogen.«

Nachdem Roumestan unzählige Etagen hinaufgestiegen, in langen Gängen umhergeirrt, über unsichtbare Stufen 118 gestrauchelt war und verschiedene in hexensabbatartiger Unordnung befindliche Dienstmädchenzimmer aus Versehen geöffnet hatte, stieß er, atemlos durch diese Himmelfahrt, an welche die erlauchten Beine des gemachten Mannes nicht mehr gewöhnt waren, plötzlich auf ein großes Waschbecken, das an der Wand hing.

»Wer da?« schnarrte ihm jemand mit bekanntem Accente entgegen.

Die Thür drehte sich langsam in ihren Angeln, da sie durch das Gewicht eines Kleiderrechens beschwert war, an welchem die ganze Winter- und Sommergarderobe des Mieters hing, denn das Zimmer war klein, und Bompard war, um keinen Millimeter davon zu verlieren, genötigt, seinen Toilettentisch im Korridor unterzubringen. Numa fand seinen Freund auf einer eisernen Bettstelle liegend, mit einem scharlachroten Kopfputze über der Stirne, einer Art Dantehaube, die sich angesichts des vornehmen Besuchers vor Erstaunen emporsträubte: »Nicht möglich.«

»Bist du krank?« fragte Roumestan.

»Krank? . . . Niemals.«

»Was machst du dann hier?«

»Du siehst, ich sammle mich. . . .« Zur näheren Erläuterung fügte er hinzu: »Ich habe so viele Projekte, so viele Erfindungen im Kopfe. Manchmal verirre und verliere ich mich da . . . und dann komme ich erst im Bett wieder zu mir selber.«

Roumestan suchte einen Stuhl; aber es war nur einer vorhanden, und dieser diente als Nachttisch und war mit Büchern und Zeitungen beladen, auf denen ein wacklicher Handleuchter stand. Er setzte sich daher auf den Rand des Bettes.

»Warum läßt du dich nicht mehr sehen?«

»Du treibst wohl Spaß mit mir? . . . Nach dem, was vorgefallen ist, konnte ich mich vor deiner Frau nicht mehr sehen lassen. Bedenke doch! Ich stand dort vor ihr mit der Brandade in der Hand. . . . Es gehörte ein gut Teil Kaltblütigkeit dazu, um nicht alles fallen zu lassen.«

»Rosalie wohnt nicht mehr im Ministerium . . .« sagte Numa verwirrt.

119 »Die Sache ist also nicht beigelegt worden? . . . Du setzest mich in Erstaunen.«

Es schien ihm unglaublich, daß Madame Roumestan eine so verständige Frau. . . . Denn was war denn im Grunde genommen die ganze Geschichte? »Eine Lappalie, allons!«

Der andre unterbrach ihn: »Du kennst sie nicht. . . . Das ist eine unversöhnliche Frau . . . ganz das Ebenbild ihres Vaters. . . . Nordische Rasse, mein Lieber. Die sind nicht wie wir, bei denen der heftigste Zorn sich in Gebärden und Drohungen austobt und dann im Handumdrehen verflogen ist. Sie aber behalten alles bei sich, das ist schrecklich.«

Daß sie ihm schon einmal verziehen hatte, verschwieg er. Dann sagte er, um sich dieser traurigen Gedanken zu entschlagen: »Kleide dich an. . . . Wir wollen zusammen dinieren.«

Während Bompard auf dem Flur seine Toilette begann, sah sich der Minister in der durch ein kleines Dachfenster, von dem der schmelzende Schnee herabfloß, erhellten Mansarde um. Mitleid ergriff ihn beim Anblick dieses Mangels, dieser feuchten Wände mit den verblaßten Tapeten, dieses kleinen, verrosteten Ofens, der trotz der kalten Jahreszeit nicht geheizt war, und an die luxuriöse Bequemlichkeit seines Palastes gewöhnt, fragte er sich, wie es möglich sei, hier zu leben.

»Hast du den Garten gesehen?« rief Bompard fröhlich aus seinem Waschbecken heraus.

Der Garten bestand aus den entlaubten Wipfeln dreier Platanen, die man nur zu Gesicht bekommen konnte, wenn man auf den einzigen Stuhl kletterte, der sich in der Mansarde befand.

»Und mein kleines Museum?«

So nannte er einige mit Etiketten versehene alte Gegenstände, die auf einem Brette lagen: ein Ziegelstein, eine Tabakspfeife von hartem Holze, eine verrostete Klinge, ein Straußenei. Aber der Ziegelstein kam von der Alhambra, das Messer hatte als Werkzeug der Blutrache in der Hand eines berüchtigten korsischen Banditen gedient, die Pfeife 120 trug die Inschrift: »Pfeife eines marokkanischen Galeerensträflings«, das verhärtete Straußenei endlich war das Andenken an das Scheitern eines schönen Traumes, war alles, was – nebst einigen in einem Winkel aufgehäuften Latten und Eisenstücken – von der Bompardschen Brutmaschine und der künstlichen Straußenzucht übrig geblieben war. O, jetzt hatte er etwas Bessres vor als das, – eine wundervolle Idee, die Millionen einbringen werde, von der er aber noch nichts sagen könne.

»Was schaust du dir da an? . . . Das da? . . . Das ist mein Majoralsdiplom. . . . Nun ja, Majoral der ›Aïoli‹.«

Dieser »Aïoli«- oder Knoblauchklub hatte den Zweck, alle in Paris wohnenden Südländer jeden Monat einmal zu einem Knoblauchessen zu vereinigen, um sie nicht den Duft und Accent der Heimat vergessen zu lassen. Die Organisation des Klubs war eine furchtbar schwerfällige: ein Ehrenpräsident, Präsidenten, Vicepräsidenten, Majorals, Quästoren, Censoren, Schatzmeister, die alle mit einem Diplome auf silberstreifigem, mit einer zierlichen Knoblauchblüte geschmücktem Rosapapier versehen waren. Dieses wertvolle Dokument prangte an der Wand neben Annoncenzetteln von allen Farben, Ankündigungen von Häuserverkäufen, Eisenbahnfahrplänen u. dergl., die Bompard immer vor Augen zu haben wünschte, »um sich etwas in den Kopf zu setzen,« wie er naiv sagte. Man las da: »Schloß zu verkaufen, hundertundfünfzig Hektar Wiesen- und Jagdterrain, Fluß, Fischteich. . . . Hübsches kleines Grundstück in der Touraine, Weinberg, Kleeacker, Mühle am Cize-Fluß. . . . Rundreise in die Schweiz, Italien, an den Lago Maggiore, nach den Borromäischen Inseln. . . .« Das erregte ihn, als hätte er die schönsten Landschaften vor sich an der Wand. Er glaubte dort zu sein, er war dort.

»Teufelskerl! . . .« sagte Roumestan mit einem Anflug von Neid, den ihm dieser arme Phantast einflößte, welcher sich unter seinen Fetzen und Scherben so glücklich fühlte. . . . »Du hast eine kühne Einbildungskraft. . . . Bist 121 du bereit? . . . Mache, daß wir hinunterkommen . . . . Es ist greulich kalt bei dir . . .«

Nachdem sie eine kurze Strecke in dem fröhlichen Gedränge der hell beleuchteten Boulevards zurückgelegt hatten, ließen sich die beiden Freunde im blendend erleuchteten, überheizten Kabinett eines feinen Restaurants vor geöffneten Austern und einer sorgfältig entkorkten Flasche Château Yquem nieder.

»Auf deine Gesundheit, Kamerad. . . . Ich wünsche dir ein gutes und glückliches Neujahr.«

», s' ist wahr,« sagte Bompard, »wir haben uns noch nicht umarmt.«

Sie umschlangen sich über den Tisch hinweg, und ihre Augen wurden feucht; so lohfarbig auch die Haut des Tscherkessen war, Roumestan fühlte sich doch wie neugestärkt. Seit heute morgen sehnte er sich, jemand zu umarmen. Und dann kannten sie sich schon lange; dreißig gemeinsam verlebte Jahre lagen vor ihnen! Und beim Dufte der feinen Gerichte, beim goldigen Flimmern der seltenen Weine beschworen sie die Tage der Jugend herauf, erinnerten sich brüderlich ihrer gemeinsamen Streifereien und Ausflüge, sahen sich wieder als wilde Buben und dabei vermengten sie ihre Herzensergießungen mit Patoisausdrücken, die sie einander noch näher brachten: »T'en souvénès, digo? . . . Weißt du noch? Sag!«

In einem Salon nebenan hörte man helles, perlendes Lachen und leise Schreie.

»Zum Teufel mit den Weibern!« sagte Roumestan, »es geht nichts über die Freundschaft!«

Und sie stießen abermals mit den Gläsern an. Trotzdem nahm das Gespräch eine andre Wendung.

»Und die Kleine?« fragte Bompard, indem er mit den Augen blinzelte. . . . »Wie geht's ihr?«

»O, ich habe sie nicht wiedergesehen, du begreifst.«

»Versteht sich . . . versteht sich . . .«, bemerkte der andre plötzlich mit einem sehr ernsten, den Umständen angepaßten Gesichte.

Hinter der Tapetenwand spielte man jetzt auf einem 122 Piano Bruchstücke von modernen Walzern, Quadrillen und Operettenmelodieen, bald ausgelassen und fröhlich, bald schwermütig und schmachtend. Sie schwiegen, um zuzuhören, während sie welke Weinbeeren naschten, und Numa, dessen Empfindungen in fortwährendem Umschwung begriffen schienen, so daß bald die eine, bald die andre Seite derselben an die Oberfläche kam, begann an seine Frau, sein Kind und an sein verlornes Glück zu denken. Er stützte die Ellenbogen auf den Tisch und hing ganz laut seinen Gedanken nach: »Elf Jahre innigen, traulichen und zärtlichen Zusammenlebens . . . alles in einer Minute verloren und verschwunden. . . . Ist es denn möglich? . . . O Rosalie, Rosalie! . . .«

Niemand könne je ermessen, was sie ihm gewesen sei, und er selbst begreife es erst ganz, seit sie von ihm gegangen. Welch redlicher Charakter, welch edles Herz! . . . Und was für Schultern, was für Arme! . . . Keine Sägmehlpuppe, wie die Kleine! Etwas Volles, Duftiges, Zartes.

»Und dann siehst du, Kamerad – es läßt sich nicht bestreiten –, wenn man jung ist, bedarf man der Ueberraschungen, verlangt man Abenteuer. . . . Die flüchtigen Rendezvous, gewürzt durch die Furcht, ertappt zu werden, die Flucht die Treppen hinab, vier Stufen auf einmal, mit seinen Kleidern auf dem Arm, das alles gehört zur Liebe. Aber in unserm Alter begehrt man vor allem Frieden und Ruhe, das was die Philosophen die Ungetrübtheit des Genusses nennen, und das gewährt bloß die Ehe.«

Er schnellte von seinem Stuhle empor und warf die Serviette weg: »Rasch, laß uns gehen, té!«

»Wohin gehen wir?« fragte Bompard gleichgültig.

»Unter ihrem Fenster vorüber wie vor zwölf Jahren. . . . Dahin, mein Lieber, ist es mit dem Großmeister der Universität Frankreichs gekommen. . . .«

Unter den Arkaden der Place Royale, deren schneebedeckter Garten ein von Gittern begrenztes weißes Viereck bildete, gingen die beiden Freunde lange auf und ab und schauten unter dem Zackenwerk der Dächer, Schornsteine und Balkone aus der Zeit Ludwig XIII. suchend nach den hohen Fenstern des Le Quesnoischen Hauses.

123 »Zu wissen, daß sie dort ist,« seufzte Roumestan, »mir so nahe, und sie nicht sehen können.«

Bompard stand vor Kälte zitternd im Straßenkote und hatte kein rechtes Verständnis für diesen sentimentalen Ausflug. Um der Sache ein Ende zu machen, nahm er seine Zuflucht zu einer List. Er wußte, daß sein Freund sehr weichlich war und sich vor dem geringsten Unwohlsein fürchtete, und so sagte er heimtückischer Weise zu ihm: »Du wirst dir einen Schnupfen holen, Numa.«

Der Südländer fuhr erschrocken zusammen, und sie bestiegen wieder den Wagen.

Sie war dort in dem Salon, wo er sie zum erstenmal gesehen hatte und dessen Möbel noch dieselben waren und noch an den gleichen Stellen standen, wie damals, denn sie hatten das Alter erreicht, in dem die Möbel ebensowenig mehr gewechselt werden, wie der Charakter. Man bemerkte kaum einige verblichene Falten in den fahlroten Behängen, kaum einen feuchten Fleck auf den Spiegeln, die trübe geworden waren, wie verlassene Weiher, deren Ruhe durch nichts gestört wird. Auch die Gesichter der bejahrten Eltern, die mit ihrem gewöhnlichen Partner beim Lichte zweiarmiger Spielleuchter über die Karten gebeugt saßen, sahen etwas verfallener aus. Die Züge Madame Le Quesnois waren aufgedunsen und schlaff, wie aller Spannkraft beraubt, der Präsident war noch blässer geworden und die stolze Empörung, die aus dem herben Blau seiner Augen sprach, kam noch mehr als früher zum Ausdruck. Neben einem großen Lehnstuhl mit etwas niedergedrückten Polstern saß Rosalie und las leise weiter in dem Buche, aus welchem sie ihrer Schwester – die sich zur Ruhe begeben – unter dem nur von halben Worten und Ausrufen der Spieler unterbrochenen Schweigen der Whistpartie laut vorgelesen hatte.

Sie las ein Buch aus ihrer Jugend, einen jener Naturdichter, die sie von ihrem Vater lieben gelernt hatte, und aus diesen Strophen sah sie ihre ganze Mädchenzeit wieder vor sich auftauchen und empfand aufs neue den frischen und tiefen Eindruck, den sie beim ersten Lesen derselben empfangen hatte: 124

Das Mägdelein gar frisch und froh
Könnt' Erdbeer'n essen anderswo,
Mit einem fröhlichen Schnitter.
An seiner Brust in guter Ruh
Läg sie, das Brünnlein rauscht dazu –
Ihr Los wär' nicht so bitter.

Das Buch glitt ihr aus den Händen in den Schoß. Die letzten Verse fanden in ihrem innersten Wesen einen elegischen Widerhall, da sie dadurch an ihr, für einen Augenblick vergessenes Unglück erinnert wurde. Das ist die Grausamkeit der Dichter: sie wiegen uns ein, beruhigen uns, dann reißen sie mit einem Worte die Wunde auf, die sie zu heilen im Begriff waren.

Sie erinnerte sich, wie sie vor zwölf Jahren an demselben Platze gesessen hatte, als ihr Numa den Hof machte, ihr große Bouquets brachte, und wie sie selbst im Schmuck ihrer zwanzig Jahre, noch verschönt durch den Wunsch, für ihn schön zu sein, von diesem Fenster aus sein Nahen erspähte, wie man seinem Schicksal entgegensieht. Aus allen Ecken schien sie noch das Echo seiner gefühlvollen, zärtlichen Stimme zu hören, die so rasch zur Lüge bereit war. Wenn man unter den auf dem Piano aufgestapelten Musikalien nachgesucht hätte, so würde man die Duette wiedergefunden haben, die sie zusammen gesungen, und so schien ihr alles, was sie umgab, mitschuldig zu sein an dem Unglück ihres verfehlten Lebens. Sie dachte daran, wie sich dieses Leben an der Seite eines rechtschaffenen Mannes, eines treuen Lebensgefährten hätte gestalten können, es wäre kein glanz- und ruhmvolles, aber ein schlichtes, verborgenes Dasein gewesen, in dem man zu zweien mutig Kummer und Leid bis zum Tode getragen hätte.

»Ihr Loos wär' nicht so bitter. . . .«

Sie hatte sich so tief in ihren Traum versenkt, daß nach beendigtem Whistspiel die Freunde des Hauses fortgegangen waren, ohne daß sie es recht beachtet hatte. Mechanisch hatte sie den freundschaftlichen und mitleidsvollen Gruß eines jeden erwidert und nicht bemerkt, daß der Präsident, anstatt seine Freunde zu begleiten, wie er es jeden 125 Abend, bei jedem Wetter und jeder Jahreszeit zu thun pflegte, mit großen Schritten im Salon auf und ab schritt, bis er endlich vor ihr stehen blieb, um sie mit einer Stimme, vor der sie plötzlich erbebte, zu fragen: »Nun, mein Kind, wie steht es mit dir? Was hast du beschlossen?«

»Immer das Gleiche, mein Vater.«

Er setzte sich neben sie, ergriff ihre Hand und versuchte ihr zuzureden.

»Ich habe mit deinem Mann gesprochen. . . . Er gibt seine Zustimmung zu allem, . . . du wirst hier bei mir leben, so lange deine Mutter und deine Schwester abwesend sein werden, sogar noch länger, wenn dein Groll noch fortdauert. . . . Aber ich wiederhole dir, dieser Prozeß ist unmöglich. Ich will hoffen, daß du davon abstehst.«

Rosalie schüttelte den Kopf.

»Sie kennen diesen Mann nicht, Vater. . . . Er wird alle seine Kunstgriffe aufbieten, um mich wieder zu umgarnen, mich wieder zurückzubekommen und mich aufs neue zu betrügen, und zwar mit meiner eignen Zustimmung, wenn ich ein solch verächtliches, würdeloses Dasein ruhig annähme. . . . Ihre Tochter gehört nicht zu den Frauen dieser Art. . . . Ich will einen völligen, nicht wieder gut zu machenden Bruch, der aller Welt verkündet werden soll.«

Von dem Tisch aus, an welchem sie Karten und Würfel ordnete, legte sich Madame Le Quesnoi sanft ins Mittel und sagte, ohne sich umzuwenden: »Vergib, mein Kind, vergib.«

»Ja, das ist leicht zu sagen, wenn man einen treuen und rechtlichen Mann hat, wie der deinige, wenn man nicht weiß, wie es ist, wenn man von dem erstickenden Netze der Lüge und des Verrates umsponnen wird. . . . Ich sage euch, er ist ein Heuchler. Er hat eine Moral für Chambéry und eine andre für die Rue de Londres. . . . Die Worte und die Thaten sind bei ihm stets in Widerstreit. . . . Zweierlei Worte hat er und zweierlei Gesichter. . . . Die ganze Katzenfreundlichkeit und Verführungskunst seiner Rasse ist ihm eigen. . . . Mit einem Worte, er ist der richtige Mann des Südens.«

»Uebrigens,« fuhr sie fort, indem sie sich von ihrem Zorne hinreißen ließ, – »übrigens habe ich ihm schon 126 einmal verziehen . . . Ja, zwei Jahre nach meiner Verheiratung. . . . Ich habe weder euch, noch sonst jemand etwas davon gesagt. . . . Und wie unglücklich bin ich gewesen! . . . Damals vermochte ein Schwur noch uns zusammenzuhalten. . . . Aber er lebt ja nur von Meineiden. . . . Jetzt bin ich mit ihm zu Ende, zu Ende für immer.«

Der Präsident drang nicht weiter in sie, erhob sich langsam und näherte sich seiner Frau. Sie flüsterten mit einander, es klang fast, als ob sie sich stritten, was zwischen dem herrischen Mann und der unterwürfigen, willenlosen Frau sehr auffallend war: »Sie muß es erfahren . . . Ja, ja, . . . ich will, daß du es ihr sagst . . .«

Ohne ein Wort hinzuzufügen, verließ Herr Le Quesnoi das Zimmer und sein laut schallender, regelmäßiger Schritt tönte, wie jeden Abend aus den menschenleeren Arkaden herauf in die feierliche Stille des großen Salons.

»Komm hierher! . . .« sagte die Mutter zu ihrer Tochter mit zärtlicher Gebärde. . . . »Näher, noch näher! . . .« Sie hätte nie gewagt, es ganz laut zu sagen, und selbst in dieser Nähe, Herz an Herzen, zögerte sie noch: »Höre, er will es. . . . Er will, ich soll dir sagen, daß dein Schicksal das aller Frauen, und daß auch deine Mutter demselben nicht entgangen ist.«

Rosalie erschrak über diese vertrauliche Mitteilung, deren Inhalt sie schon beim ersten Worte erriet, während eine liebe, alte, von Thränen erstickte Stimme eine traurige, sehr traurige, in allen Punkten ihrer eignen ähnliche Geschichte stammelte, die Geschichte von dem Ehebruch ihres Mannes gleich in der ersten Zeit der Ehe! Als ob die Losung dieser armen zusammengekoppelten Wesen wäre »betrüge mich, oder ich betrüge dich«, hatte der Mann sich beeilt, den Anfang zu machen, um seinen Rang zu behaupten.

»O, genug, genug, Mama, du thust mir weh . . .«

Ihr Vater, den sie so sehr bewunderte, den sie so hoch über alle andern Männer stellte, der lautre und unerschütterliche Justizbeamte! . . . Aber was waren denn die Männer für Geschöpfe? Im Norden wie im Süden waren sie alle gleich, alle Verräter und Meineidige. . . . Sie, die über den 127 Verrat ihres Mannes nicht geweint hatte, fühlte einen Strom heißer Thränen bei dieser Erniedrigung ihres Vaters über ihre Wangen stürzen. . . . Und darauf rechnete man, um sie zu erweichen?! . . . Nein, hundertmal nein, sie werde nicht verzeihen. Ha! Das also war die Ehe? . . . Nun denn, Schimpf und Schande über die Ehe! Was liege an dem Skandal und an dem, was die Welt für schicklich hält, wenn es doch nur darauf ankomme, wer der Schicklichkeit am besten Hohn zu sprechen verstehe!

Ihre Mutter hielt sie umfaßt, drückte sie fest an ihr Herz und versuchte mit sanften Liebkosungen die Empörung dieses jungen, in seinem Vertrauen, in seiner heiligsten Ueberzeugung verletzten Gewissens zu besänftigen, wie man ein Kind beruhigt und in Schlaf wiegt.

»Ja, du wirst verzeihen. . . . Du wirst es machen, wie ich es gemacht habe. . . . Das ist nun einmal unser Los, siehst du. . . . O, im ersten Augenblick habe auch ich großen Kummer empfunden und hatte nicht übel Lust, mich aus dem Fenster zu stürzen. . . . Aber ich habe an mein Kind gedacht, an meinen armen kleinen André, welcher dem Leben entgegenreifte, und der dann in Liebe und Achtung für all die Seinigen herangewachsen und gestorben ist. . . . Du wirst ebenso verzeihen, damit dein Kind der wohlthuenden Ruhe teilhaftig werde, die ich euch durch meine Selbstverleugnung gesichert habe, damit es nicht eins jener Halbverwaisten werde, in welche die Eltern sich teilen, und die sie einer zum Hasse und zur Verachtung des andern erziehen. . . . Du wirst auch bedenken, daß dein Vater und deine Mutter schon genug gelitten haben und von weiterm großem Unheil bedroht sind. . . .«

Von ihren Gefühlen übermannt, vermochte sie nicht weiter zu sprechen. Dann fügte sie feierlich hinzu: »Meine Tochter, jeder Kummer wird durch die Zeit gelindert, alle Wunden können heilen; nur ein Unglück gibt es, das sich nicht wieder gut machen läßt: der Tod unsrer Lieben. . . .«

Erschöpft schwieg sie und in dem gerührten Schweigen, das ihren letzten Worten folgte, sah Rosalie die Gestalt ihrer Mutter um soviel an Größe gewinnen, als ihr Vater 128 in ihren Augen an Erhabenheit verlor. Sie zürnte sich, daß sie, getäuscht durch die scheinbare Schwäche, die das Ergebnis schwerer Schicksalsschläge, erhabener und ergebener Selbstverleugnung war, die Mutter so lange verkannt hatte. Auch war es um ihretwillen und nur um ihretwillen, daß sie in sanften, fast um Verzeihung bittenden Worten auf ihren Racheprozeß verzichtete. »Nur fordere nicht, daß ich sogleich zu ihm zurückkehre. . . . Ich würde mich zu sehr schämen. . . . Ich werde meine Schwester nach dem Süden begleiten. . . . Nachher, später, werden wir sehen.«

Der Präsident kam zurück. Er sah, wie die alte Mutter stürmisch ihre Arme um den Hals der Tochter schlang, und begriff, daß sie ihre Sache gewonnen hatten.

»Ich danke, meine Tochter . . .«, flüsterte er gerührt. Er stand einen Augenblick unschlüssig, dann näherte er sich Rosalie, um ihr in üblicher Weise »Gute Nacht« zu wünschen. Aber die gewöhnlich so liebevoll dargebotene Stirne wandte sich ab, so daß sein Kuß auf die Haare glitt.

»Gute Nacht, Vater!«

Er sagte nichts und ging gebeugten Hauptes und unter einem konvulsivischen Zusammenschaudern seiner hohen Schultern von dannen. Er, der in seinem Leben so viel angeklagt, so viele verurteilt und verdammt hatte, er, der erste Richter Frankreichs, hatte jetzt ebenfalls seinen Richter gefunden.

 


 


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