Alphonse Daudet
Rosa und Ninette
Alphonse Daudet

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Achtes Kapitel.

Bei seiner Rückkehr nach Paris erfuhr Regis von Fagan eine grausame Enttäuschung, indem er alle Jalousien des Erdgeschosses dicht verschlossen und den Garten leer fand.

Pauline Hulin war abgereist mit ihrem ganzen Hausstand, ohne daß Anthyme, der doch Zeuge dieser Abreise gewesen war, ihm die geringste Auskunft geben konnte. Annette, die Kammerfrau, hatte zu ihm gesagt: »Wir machen uns davon.« – »Wohin denn?« – »Nach Havre.« Und das war alles.

Fagan vermochte es nicht zu glauben. Nach Havre! Was sollte sie nach Havre führen, da ihr Mann dort lebte? »Aber er ist wieder hier gewesen, ihr Mann,« sagte Anthyme, »und Annette glaubte sogar, daß er gekommen sei, um den Kleinen mit sich zu nehmen – dann ist er aber allein fort und Madame zwei Tage nach ihm.«

Was sollte er glauben, was mutmaßen?

In seiner Angst verbrachte er die ersten Tage ohne auszugehen, in der Erwartung eines Briefes oder in der unbestimmten Hoffnung, daß er eines Morgens beim Oeffnen seiner Fenster den kleinen Moriz im Garten spielen sehen würde, die Augen nach dem Zimmer seines Freundes erhoben. Aber nein, der von Kinderspielen verlassene Rasenplatz erschien ihm jeden Morgen größer, und in der ringsum führenden Allee, die er mit seiner geliebten Pauline so oft in endlosen süßen Gesprächen gewandelt, sproßte Gras zwischen dem Kies, als Zeichen der Oede und Verlassenheit.

Einmal jedoch, als sein Diener plötzlich und hastig ins Zimmer trat, schlug Regis das Herz hoch auf. Er glaubte, daß Anthyme ihm Nachrichten brächte.

»Nein, Monsieur, aber da ist etwas viel Seltsameres – die heutigen Morgenzeitungen erzählen, daß Monsieur verrückt geworden sei.«

Indem der Diener dies in jenem besonderen Ton übler Laune sagte, in welchem er von den nicht beifällig aufgenommenen Stücken Fagans sprach, öffnete er weit die Fenstervorhänge und reichte seinem Herrn die Notiz, welche die beiden am meisten gelesenen Pariser Blätter abgedruckt hatten. Dieselbe enthielt in fast gleichlautenden Ausdrücken die Mitteilung, daß infolge des Sumpffiebers, welches den berühmten dramatischen Schriftsteller Regis von Fagan auf Korsika ergriffen, derselbe geisteskrank geworden sei; auf einem Ball in Ajaccio hätten sich die ersten Anzeichen kundgegeben.

»Ah, die Schändliche!« schrie Regis. Er hatte Erfindung und Stil seiner Frau wiedererkannt; und als er darauf, ganz außer sich, Anthyme eine Reihe einander widersprechender Befehle in einem so brüsken Ton erteilte, wie er ihm sonst nicht eigen war, überraschte ihn in dem erschreckten Gesicht des armen Burschen ganz deutlich der Gedanke: »Sollte der Herr wirklich verrückt geworden sein?« Dieser Blick des Dieners war eine schnelle Lehre für ihn, die seine Haltung in der Oeffentlichkeit bestimmte.

Hätte er seiner heftigen Natur nachgegeben, so wäre er auf die Redaktionen gegangen und hätte wütend und mit lauter Stimme eine Richtigstellung verlangt, wodurch er die durch den Druck verbreitete Schändlichkeit nur bekräftigt hätte.

Andererseits durfte er die Ruhe und Gleichgültigkeit nicht übertreiben, da man nicht verfehlen würde, daraus einen Zustand von Lethargie zu folgern.

Bei seinem Erscheinen in den beiden Redaktionen machte man ihm platte Entschuldigungen; die Nachricht wäre ihnen per Kabel aus Ajaccio selbst zugegangen. Eine Richtigstellung würde morgen sofort erscheinen und, sofern er es wünschte, ließe sich leicht eine Nachforschung anstellen. – Eine Nachforschung, wozu? Das hieße einem Bubenstreich, einer Mystifikation, zu viel Wichtigkeit beilegen. Und in den Redaktionen wiederholte man diese Worte: Bubenstreich, Mystifikation, indem man ihm forschend in die Augen blickte und seine Rede und seine Geberden einer scharfen Beobachtung unterwarf. Ah, das elende Weib verstand es, ihre Leute zu vergiften. Gegen jede andere Verleumdung konnte man sich verteidigen, Beweise beibringen, aber diese! –

Den ganzen Tag über zeigte sich Fagan auf dem Boulevard und erregte neugieriges Erstaunen darüber, daß er frei umherging, daß er draußen war in der Sonne der Freien und Lebenden. Er hatte also entwischen können! – In seinem Klub empfing man ihn zu herzlich, zu entgegenkommend, wie einen Freund, den man beinahe nicht mehr zu sehen gehofft hatte. Er dinierte, plauderte geistreich, versprach ein Stück für das nächste Jahresfest, und nachdem er den Abend in zwei oder drei Theaterfoyers zugebracht hatte, kehrte er wieder in den Klub zurück, um die Stunde, zu welcher die jungen Zierbengel, die Nacheiferer des Barons Rouchouze, hier zur Fütterung kamen, und saß bis zum Morgen am Spieltisch, um zu beweisen, daß er nicht irrsinnig war.

In seine Behausung zurückgekehrt, öffnete er das Fenster nach dem Garten. Der Tag brach an. In der Krone der großen Ulmengruppe, die kaum sichtbar war, sang eine Meise im Morgennebel, in den die Spitze ihres schlanken Schnabels die Arabesken ihres Gesanges zu zeichnen schien. Von Traurigkeit und Mutlosigkeit erfüllt, versank Fagan in ein langes Nachdenken. Wie einsam fühlte er sich in diesem Paris, dessen Pflaster er nun den ganzen Tag getreten hatte! So viel männliche und weibliche Gesichter, und nicht ein Wesen darunter, das ihm gehörte! War es diese unendliche Mutlosigkeit oder der Morgennebel, der das feine Tuch seines Anzuges durchdrang? Ihn fröstelte, er schloß das Fenster, ergriffen von einem unerklärlichen Unbehagen, welches, weit entfernt, ihm ein Bedürfnis nach Ruhe und Schlaf zu bringen, sein Gehirn übermäßig erregte, und ihn einen langen Brief an seine älteste Tochter beginnen ließ, die einzige Seele, in die er sich rückhaltlos ergießen und so wieder Geschmack am Leben gewinnen konnte.

»Ich will Dich, meine geliebte Rosa, nicht einen Tag länger in dem Glauben an die schreckliche Nachricht lassen, welche die Zeitungen Euch gebracht haben müssen. Nein, Gott sei Dank! weder wahnsinnig noch vom Wahnsinn bedroht! Dein Vater ist der, den Du immer gekannt hast, freien Geistes, klaren Auges, an einem Stück arbeitend, ein anderes bereits im Kopfe. Einen Tag und eine Nacht habe ich daran geben müssen, um mich überall und zu allen Stunden in Paris zu zeigen und mein geistiges Gleichgewicht zu beweisen. Heute morgen bringen die Zeitungen die Richtigstellung, und morgen spricht kein Mensch mehr davon. Diejenigen, die mich durch diese Perfidie zu vernichten suchten, haben den großen Irrtum begangen, zu glauben, daß es in unserer Zeit möglich wäre, einer so bekannten Persönlichkeit wie der meinigen das Schicksal des unglücklichen Sandou zu bereiten, jenes Advokaten, den man unter dem zweiten Kaiserreich für wahnsinnig ausgab und zehn Jahre in einem Irrenhaus eingesperrt hielt. Ah, wenn ich mich rächen, Nachforschung nach den Urhebern anstellen lassen wollte, wie man es mir vorschlug, welche Falle für diese Schlechten und Dummen! Allein der Haß nimmt mir zu viel Zeit. – Ich habe mein ganzes Leben der Arbeit gewidmet, und das ist ein Glück, siehst Du. Ich bin so allein, ich habe nicht einmal mehr jene Nachbarschaft, die mir bisher das Wehgefühl des leeren Hauses ersparte. Frau Hulin ist verreist, mit ihrem Kind, wahrscheinlich, um dem Vollzug des unbilligen Gesetzes zu entgehen, durch welches es dem Vater überantwortet werden soll. Dieser Rechtsanwalt Malville ist doch sonst ein vernünftiger Mann. Wie hat ihm und seinen Assessoren denn nur bei dem Urteilsspruch der Trennung die Idee kommen können, die schreckliche Klausel hinzuzufügen, daß der Knabe von seinem zehnten Jahre bis zur Beendigung der Studien unter der väterlichen Leitung stehen soll? Welche Aussicht für die arme Mutter! Wenn man nun den kleinen, schwächlichen Pensionär in ein entferntes Lyzeum brächte und besonders strenge Maßregeln träfe, um ihn der Ueberwachung und den Zärtlichkeiten der Mutter zu entziehen – wer weiß, ob man nicht gar schlechte Instinkte und einen Geist der Widersetzlichkeit in ihm entdeckt, die es nötig machen, ihn in Mettray einzusperren, in diesem Gefängnis, das man Familienhaus nennt, oder ihn auf ein Schulschiff zu schicken, und dann die Abfahrt, das Exil. – Arme Frau Hulin, wie sehr verstehe ich, daß sie ihr Kind entführt hat, um es in irgend einem Winkel zu verbergen!

»Während dessen bin ich nun aber einer zarten Frauenfreundschaft beraubt, die mir jeden Tag teurer wurde, und auch des kleinen Moriz, dessen vertrauliches Geplauder mich belustigte. Mit seiner drolligen Frühreife, wie sie kranken Kindern eigen zu sein pflegt, seinen Schmeicheleien und seiner mädchenhaften Grazie erinnerte er mich an Dich in jenem Alter, insbesondere an den Tagen, an denen Du ein wenig hustetest und das Haus hüten mußtest und an meinen Schreibtisch lesen kamst. Wie stolz Du dann warst, mir die großen, schweren Bücher zu bringen und mir arbeiten zu helfen, indem Du mir einen Bleistift, einen Federkasten reichtest.

»Und Ninette, erinnerst Du Dich, wie sie auf dem Teppich saß, nicht höher als ein Kohlkopf, und Papas Bibliothek ordnete, wobei sie die Bücher in die Quere stellte, die Titel nach unten, die Autoren durcheinander, kurz einen Wirrwarr anrichtete, den Anthyme mir aber respektieren mußte. – Und von diesen göttlichen Albernheiten, diesen Erinnerungen, die ich in einem Winkel meines Herzens bewahre, war die Stimme des kleinen Moriz mir wie ein Echo; ich hätte nie geglaubt, daß er mir so fehlen würde.

»Zeichen des Alters, mein Liebling. Ja, ja, des Alters. Ich gehe in das fünfundvierzigste Jahr, das Alter, wo der physische Mensch nicht mehr von seinen Renten lebt und sein Kapital der Tage und Gesundheit anzugreifen beginnt. Die Kräfte erneuern sich nicht mehr; jeder Kummer gräbt eine Runzel, jede Erregung stumpft die Nerven ab und erschlafft sie. Es ist traurig, meine liebe Kleine, aber der beste Teil des Lebens liegt hinter mir, meine größten Erfolge sind errungen; von jetzt an ist es nur ein allmähliches Abnehmen des Muts und der Chancen, und auf seinen Fersen fühlt man eine wild vorstürmende, ruhmgierige Jugend.

»Ach, man wird in unserer Zeit bald ein alter Gaul, und als alter Gaul weder Herd noch Familie zu haben, ist hart.

»Wenn Du wüßtest, wie traurig mir mein Heim in dieser Stunde, in der ich Dir schreibe, erscheint, während ich von meiner Nacht im Klub ganz gebrochen bin und der Garten beim Morgengrauen in Nebel gehüllt ist! – Und wie schön wäre es, wenn im Nebenzimmer geliebte Wesen schlummerten, Frau und Kinder, die man durch zu lautes Auftreten zu wecken fürchtete. Aber nichts, niemand; nicht einmal unter mir.

»Du wirst sagen, daß ich das alles gehabt habe, einen Herd, eine Familie, sie aber nicht zu bewahren verstanden hätte.

»Aber wer trägt die Schuld? Ich habe mich nie beklagt, niemals etwas zu Dir gegen Deine Mutter geäußert, die sich nicht derselben Zurückhaltung befleißigt hat. Ich möchte aber doch, daß Du wüßtest, wie ich mich geopfert habe, und daß es unbillig ist, was das Tribunal auch darüber gedacht haben mag, daß ich allein bleibe, immer allein, während Deine Mutter –

»Aber mein Gott, ich spreche zu Dir, meine große Rosa, von Juristen in einem seltsamen Ton – zu Dir, die bald einen solchen heiraten wird und einen von sehr guter Figur, so viel mir schien in der Faschingsnacht in Euren offiziellen Salons. Auch der Vater, der mir vorgestern Visite machte, hat mir sehr gut gefallen: ein starker Mann, nicht zu majestätisch für einen Präsidenten, geistreich, kluge Augen, langer weißer Bart, der dem Palais großes Aergernis gibt, und von demokratischer Gesinnung, der er sein merkwürdig schnelles Avancement verdankt. Aber keinen Heller Vermögen. Es ist gut, daß ich schon lange an die Mitgift meiner großen Rosa gedacht habe; ohne mich auf geschäftliche Einzelheiten einzulassen, kann ich Dir sagen, daß ich Dir die Tantiemen meiner beiden erfolgreichsten Stücke, »Die verzauberten Gärten« der Komischen Oper und »Herr und Frau Dacier« der Comédie Française überlasse, das heißt, wenigstens zwanzigtausend Franken jährlich. Der Vater Deines Gaston schien befriedigt. Ich zeigte ihm das Album, in dem sich Deine und Deiner Schwester Porträts im verschiedenen Alter befinden; er war davon entzückt und sprach schon von Ninetten als für seinen Jüngsten, der sich in Saint-Cyr vorbereitet.

Ueberlasse Dich also, meine liebe Tochter, ganz Deinem Glück, die Sache ist abgeschlossen, man müßte denn durch Herrn von Malville, mit dem ich eine Zusammenkunft habe, erfahren, daß Herr Remory, der Vater, von Noumea entflohen und für außerordentliche Dienste zum Präsidenten befördert worden sei. Ich hätte damit anfangen müssen, Erkundigungen einzuziehen, aber dieser Malville, der einzige vom Pariser Gerichtshof, den ich kenne, arrangiert in Lille ein großes Wagnerfest, von dem er erst in einigen Tagen zurückkehren wird. Und dann, wenn alles stimmt, meine Kinder sobald als möglich verheiratet sind, dann werde ich Euch von einem Plan, einem Traum sprechen, der mich verfolgt. – Aber warum sollte ich es Dir nicht gleich sagen, unter der Bedingung, daß die Sache unter uns bleibt, wenn sie Dir nicht ausführbar erscheint.

»Was würdest Du davon denken, wenn wir zusammen in Versailles wohnten? Bei der Ernennung Gaston Remorys handelt sichs wahrscheinlich nur um Wochen, gerade die Zeit, um sich zu verheiraten und nicht weit vom Park ein reizendes Haus, zwei Etagen zwischen Hof und Garten, zu mieten. Ich richte mich in der zweiten ein, Ihr in der ersten, jeder für sich, Küche apart, doch so, daß man in dem großen, unteren Saal zusammen speisen kann. Siehst Du nicht, welch glückliches Leben das für mich sein würde?

»Meine Tochter ganz nahe zu haben, ihren Schritt, ihr Lachen zu hören, würde viele böse Tage ausgleichen, die ich fern von ihr verleben mußte.

»Und für Euch wie bequem!

»Der arme Vater wird Euch nicht genieren. Wollt Ihr ihn haben, klopft Ihr an die Decke; fühlt er sich übrig, flugs geht er hinauf. Und wenn ein Baby kommt, wie angenehm an den Abenden, wann Ihr ausgehen wollt. Wer behütet, überwacht das Haus, das Kind, die Leute? Der Großvater. – Und inzwischen arbeitet der Glückliche, fern von störenden Besuchern, von Leuten, die ein Darlehen wollen, Schauspielern, die um eine Rolle bitten, Direktoren, die zur Vollendung des Stückes unter seiner Feder drängen, in der Stille und Zurückgezogenheit für die Mitgift Ninettens.

»Nein, nie in meinem Leben hätte ich so viel Freuden gehabt, und da ich Dein braves Tochterherz kenne, glaube ich, daß Du Dich hierdurch wiederum beglückt fühlen würdest.«

Auf diesen Brief ihres Vaters antwortete Rosa von Fagan umgehend:

»Wir haben uns sehr gefreut, zu vernehmen, lieber Vater, daß die Zeitungen einen Irrtum begangen haben, und Du keineswegs geisteskrank gewesen bist. Aber lasse Dich von Deiner großen Tochter ein wenig schelten und gestehe, daß, wenn Dein Verstand intakt ist, Deine Handlungen nicht immer die eines ernsten Mannes sind. Deine Erscheinung in der Präfektur in der Faschingsnacht mit den jungen Leuten war, wie Du selbst einsehen wirst, gegen jede Schicklichkeit, und Mama und der Cousin, die Du in eine so peinliche Lage versetztest, haben gerechten Grund, Dir deshalb zu grollen. Verzeihe mir, daß ich es sage, aber in Deinem Alter ist das Leben, das Du führst, doch etwas zu sehr nach dem Zuschnitt eines Vaudevilles. Das Wort stammt von Gaston, der Dich jedoch von ganzem Herzen liebt und Deine Stücke bewundert.

»Aber in den Gassen als Maske mit dem kleinen Rouchouze herumlaufen, in ein Haus dringen, das Dir aus so vielen Gründen verschlossen ist, wahrlich, Väterchen –. Und dann, man hat Herrn La Posterolle gesagt, daß Du seine Heirat und Deine Scheidung zum Gegenstand einer Komödie machen willst. Wäre das möglich?

»Nach dieser wohlverdienten Schelte wollen wir von freundlicheren Dingen sprechen. Deine Absichten in bezug auf meine Mitgift haben mich tief gerührt. Die Einkünfte Gastons hinzugenommen, werden wir ein wahres Herrenleben führen können. Aber wie schade, daß Deine Idee des gemeinschaftlichen Lebens nicht ausführbar ist! Es wäre entzückend bei der Liebe, die wir für einander haben; indessen stellen sich tausend Dinge, an die Du nicht gedacht hast, dieser Gemeinschaft entgegen. Ach, wie viel Entbehrungen und Widerwärtigkeiten legt uns doch das Leben auf! Wenn Du immer unter uns wärst, wie sollte Mama es machen, um mich zu sehen, ohne sich beständig einer Begegnung mit Dir auszusetzen? Und diese Begegnungen würden Dir ebenso wenig angenehm sein, als sie in den Augen der Welt, selbst der Domestiken, schicklich wären. Auch der Cousin müßte sich jedes Besuches enthalten, wenn er Dich nicht nötigen wollte, sofort zu verschwinden, wenn er erscheint; und ohne von meinen Gefühlen zu sprechen, ist Gaston gezwungen, Herrn La Posterolle viel bei sich zu sehen. Ihm haben wir das Avancement, die Heirat zu verdanken.

»Wenn er Staatsrat geworden ist und Mama und er mit Ninette in Paris wohnen, werden wir beständig bei einem oder dem anderen zusammen sein. Dein Traum, mein lieber Vater, war also ein Traum, verscheuche ihn und denke nicht mehr daran und tröste Dich, indem Du Dir sagst, daß Deine Töchter Dich trotzdem oft besuchen werden, nicht allein an den beiden Sonntagen, wie das Gesetz angeordnet.

»Gaston weiß übrigens nichts von Deinem Plan. Es wäre ihm, der so dankbar für alle Deine Güte gewesen ist, zu schmerzlich gewesen, nein zu sagen. Er beauftragt mich beiläufig, Dich um einen kleinen Dienst zu bitten. Es handelt sich darum, den Preis der Perlen für den Brautschmuck zu erfahren. Ich möchte drei Schnüre mit einem Rubin geschlossen. Tue Dich um, lieber Vater, erkundige Dich. Du findest am Schlusse dieses Briefes eine Liste von verschiedenen anderen kleinen Kommissionen, und ich brauche mich kaum zu entschuldigen, verwöhnt wie ich bin durch den besten, zärtlichsten Papa.«

Die letzten Zeilen las er nur undeutlich durch die Tränen, welche ihm die Augen füllten. Armes Kind, dieser herzlose Brief voll moralischer Sentenzen war nicht von ihr. Man hatte ihn ihr diktiert, ihr die Hand geführt, und er sah hinter Rosa, wie sie vor ihrer blauseidenen Schreibmappe saß, die verräterisch lächelnde Miene von Frau La Posterolle, er hörte ihre trockene Stimme verbessern und den Sätzen die boshaftesten Wendungen geben.

Ja, bei Gott, aus ihrer Geschichte ließe sich ein schönes Stück herstellen! – Ein Stück, in dem alle Väter weinen würden, vielleicht auch einige Mütter, und das den Titel führen müßte: »Vater Goriots Scheidung.«


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