Alphonse Daudet
Rosa und Ninette
Alphonse Daudet

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Siebentes Kapitel.

Der Sturmwind fegte die Straße von Sanguinaires, an der sich die schäumenden Wogen brachen und eine bewegliche breite weiße Borte längs dem Wege zogen, der schwarz wie die Nacht und noch einsamer als gewöhnlich war. Droben kein Stern. Den Aufruhr der unsichtbaren, grollenden See verriet nur das Licht des Leuchtturmes, das abwechselnd emporstieg und wieder verschwand, einem Zündhölzchen gleich, das, auf den Kamm der Wogen geworfen, sich hier wie durch ein Wunder brennend erhält.

»Bist Du es, Vater?« rief eine der Töchter Fagans beim Knirschen der Kiesel unter einem sich nähernden, eiligen Schritt.

»Ja, meine Kinder.«

Er war erstaunt, sie vor ihm auf dem Platze des Stelldicheins zu finden, und schrieb diese Eile ihrem Wunsche zu, am letzten Abend länger mit ihm zusammen zu sein; denn er reiste morgen um ein Uhr mit dem »General Sebastiani« ab.

»Welch böses Wetter Du haben wirst,« sagte Rosa fröstelnd; aber die jüngere Schwester wollte keine weiche Stimmung aufkommen lassen, »Wer weiß – bis morgen –«. Und sich an den Arm ihres Vaters hängend: »Laufen wir ein bißchen – bei diesem Wetter kann man nicht stille stehen.«

Der Sturm berauschte sie. Sie nötigte Vater und Schwester mit ihr zu laufen, gegen den Wind, und lachte über den Sprühregen, mit dem die Wellen sie bespritzten. »Laufen wir aber nicht zu weit,« rief sie, plötzlich anhaltend; »Du weißt, Rosa, wir müssen heute früh nach Hause.«

»Früh? Warum?« rief Fagan erschrocken.

»Wegen unserer Charade. Wir haben heut Generalprobe, im Kostüm. Morgen findet unsere Premiere statt.«

Der Zorn stieg in ihm auf; allein er bemeisterte sich schnell, weil er seinen Töchtern ein freundliches Andenken, ohne Beimischung, zurücklassen wollte. Er sagte daher nur ganz wehmütig: »Das ist aber nicht recht – gerade am letzten Abend –«

»Armer Vater!« sagte Rosa, und Ninette: »Höre, wir sind vor Dir hier gewesen – meine Schwester kann es bezeugen – wir haben gute zwanzig Minuten gewartet.«

Die ältere Schwester antwortete nicht, wohl fühlend, wie unwürdig und grausam dieses Feilschen um Minuten war. Alle drei blieben stumm und starr, keines fand ein Wort. Noch niemals hatte Fagan so wenig Mut zu leben, zu kämpfen, mit dieser Frau um seine Kinder zu streiten, gefühlt als in diesem Augenblick, am dunklen, sturmgepeitschten Strande. Sein Vaterherz stand eine Minute still, und es war eine furchtbare Minute, eine Minute der Todesangst, des Loslösens von allen irdischen Banden. Eine Liebkosung Rosas, die seine Empfindung zu erraten schien, und eine geschickt angebrachte Aeußerung Ninettens entrissen ihn dieser moralischen Herzstockung, aber er bewahrte die Erinnerung daran und die Furcht vor ihrer Wiederkehr.

»Ist es wahr, meine Große, was Nina sagt, oder erfindet Ihr es bloß, um unseren Abschied weniger schmerzlich zu machen?«

»Nichts ist wahrer, lieber Vater – Herr Remory hat Aussicht auf eine Substitutsstelle in Versailles. Dann findet die Hochzeit in Paris statt, und Du wirst Deine Tochter in unmittelbarer Nähe haben.«

»Und dazu kommt,« fügte Ninette bei, »daß der Cousin in kurzem zum Staatsrat ernannt werden wird, so daß wir dann alle dorthin ziehen. – Wir werden uns oft sehen – nicht wahr? Und unsere hübschen Sonntagsfrühstücke – glaubst Du nicht, daß es reizend sein wird, sie wieder aufzunehmen?«

»O ja –« seufzte Fagan; und mochte es auch eine trügerische Hoffnung sein, sie milderte doch den Schmerz des Abschieds in der dunklen Nacht, in der er seine Töchter umarmte, ohne sie zu sehen.

Rosa hatte richtig vorausgesagt. Als er sich am folgenden Tage bei einem feinen, mit dem Wasserstaub der Brandung gemischten Regen einschiffte, ging das Meer hoch, selbst in der Tiefe des Hafens, dessen Damm unter den Wogen verschwand. Die Quais wurden jeden Augenblick von den sich überstürzenden Wellen bis zu den Häusern, in denen sich die Menge laufend und lachend flüchtete, überschwemmt. Allerhand Fahrzeuge liefen ein, Segel- und Dampfschiffe, Korallenfischer, Fischerbarken, einige hatten Havarie gelitten, alle flüchteten vor dem Sturm, dem furchtbaren Kampf zwischen Wind und Wellen, dessen Kanonendonner man beständig in der Ferne hörte; und dort auf der Reede sah man einen großen, überseeischen Dampfer sich langsam nähern, der, von den aufschwellenden Wogen getragen, höher als die Dächer und wie in der Luft schwebend, erschien.

Wenn ein Paketboot dieser Größe von seinem Wege ablenkte, um im Hafen Schutz zu suchen, so dürfte der »General Sebastiani« sich nicht schämen, seine Abfahr bis zum nächsten Tage zu verschieben. Aber dann hätte er von einem anderen als dem kleinen, dürren, schwarzen Manne mit dem Profil eines Truthahns kommandiert werden müssen, der, seine Pfeife mit dem großen roten Kopfe, deren Rohr mehr Lärm als der Schiffsschornstein machte, zwischen die Zähne geklemmt, auf der Kommandobrücke wütend auf- und ablief und den zaghaften Passagieren, die sich an ihn wendeten, nur die eine Antwort gab: »Mag sich einschiffen, wer will, ich gehe mit den Pferden ab.« Er führte nämlich vierzig kleine, korsische Pferde, die gefesselt im Zwischendeck standen und schon vor Angst wieherten, nach Marseille.

Fagan, der das Meer kannte, da er oftmals die Ueberfahrt von Bourbon gemocht hatte, reizte diese Seemöwenreise, einen Flügel in der Luft, den anderen im Wellenschaum. Dazu kam seine trübe Stimmung, das Weh der Verlassenheit, das er heute mehr denn je empfand. Es waren Stunden, in denen man die Gefahr liebt und aufsucht, besonders die Gefahr der Elemente, die den Tod erhabener, gleichsam unpersönlich, wie den dunklen Schlund in der Vision der Apokalypse, erscheinen läßt. Während also die meisten der eingeschriebenen Passagiere ihre Reise aufschoben, nahm er von der besten Kajüte des ersten Platzes Besitz, und als der vom Sturm zerrissene Ton der Schiffsglocke erklang, begab er sich auf Deck.

Die von Menschen wimmelnden Quais, die alten, düstern Häuser, das weiße Türmchen des Hafendamms, alles entfloh, verkleinerte sich stoßweise, und je weiter sich der Hafen öffnete, je höher und schwerer wurden die Wogen, je näher hörte man das Donnern der Brandung. Bald erschien auf dem schwarzen Himmel der Felsen von Sanguinaires, der auf einer Spitze den Leuchtturm, auf der anderen den genuesischen Turm trägt, und dort, unter den dunklen Laubmassen von Barbicaglia, schlängelte sich wie ein Band längs der Küste der Weg, der in Fagans Herzen zärtliche Gedanken an seine Töchter und an die mit ihnen dort verlebten, so schnell entflohenen schönen Stunden wach rief.

Dachten sie an ihren Vater oder nur an ihre Kostüme des heutigen Abends? Wie reizend Rosa in ihrem venetianischen Kostüm und die hübsche Ninette im Atlasgewande einer Infantin aussehen müßten! Welch ein Jammer, daß er nicht von einem dunklen Winkel aus etwas davon erblicken konnte, und wäre es nur so viel wie der Fußgänger erblickt, der stehen bleibt, um die in Mäntel und Kapuzen gehüllten Balldamen aus ihren Equipagen steigen zu sehen und die rasch Vorüberschreitenden beim Scheine der Festfackeln zu bewundern.

Eine furchtbare Woge, welche das Deck von einem Ende zum anderen überflutete und Bänke und Laufbrücke abriß, unterbrach Fagan in seinen Träumereien und warf ihn, obschon er sich an der Brüstung anklammerte, kopfüber auf die Treppe. Ein Geistlicher und zwei Offiziere, die mit ihm die ganze Schiffsgesellschaft bildeten, halfen ihm, sich erheben und sich trocknen; und als darauf Befehl gegeben wurde, die Luken zu schließen, saßen die Vier in dem dunklen, schimmeligen Salon, auf dessen Diwans die Waschbecken umherstanden, und sahen einander an. Die Erschütterung durch die Schraube hatte aufgehört, das Fahrzeug rollte von einer Seite auf die andere, mit einer langsam wiegenden Bewegung und mit einer Stille, die beängstigend war. Ein Koch, dessen Gesicht die Farbe seiner Mütze hatte, erschien in der halbgeöffneten Tür und sagte, indem er sich an das Treppengeländer klammerte: »Die Schraube ist zerbrochen. Man wird versuchen, Segel aufzuziehen, um nach Ajaccio zurückzukehren.« Und das Tragische der Situation wurde noch dadurch erhöht, daß fast sämtliche eingeschiffte Pferde bei dem furchtbaren Wellenstoß gefallen und kahlknieig geworden waren, so daß man sie über Bord werfen mußte, wo nun die armen Tiere in dem schäumenden Kielwasser des Fahrzeuges, wiehernd mit gefesselten Hufen um sich schlagend, eine schwarze, unheimlich wühlende Masse bildeten. Es wurde bereits Nacht, als durch ein Wunder von Glück und Geschicklichkeit der »General Sebastiani«, der als Dampfer den Hafen von Ajaccio verlassen hatte, als Segelschiff daselbst wieder einlief. Eine violette, in Nebel ertränkte Dämmerung umhüllte die Stadt, die von Lichtern, Geschrei und Gesang, von Trommeln, Petarden, Trompeten und Hörnern, dem ganzen Karnevalslärm eines italienischen Faschingsabends, erfüllt war, wozu das brausende Meer einen ununterbrochenen tiefen Baß abgab. Fagan wußte nicht, was er tun sollte, ob er in dem Wirrwarr, der Nässe und den geräuschvollen Ausbesserungsarbeiten an Bord bleiben oder in einer Nacht des Masken- und Volkslärms am Lande speisen und übernachten sollte, während ihm das Herz noch schwer vom Abschied war. Eines schien ihm so wenig verlockend wie das andere. Was seinen Entschluß, das letztere zu wählen, bestimmte, war der Gedanke, sich seinen Töchtern wieder zu nähern, die Hoffnung, die erleuchteten Räume ihres Balles von weitem zu sehen, ja vielleicht durch einen glücklichen Zufall seine Kinder noch einmal umarmen zu können.

Im Schlamm der Quais watend, die noch von Zeit zu Zeit von großen, beim Schein der Straßenlaternen fahl aussehenden Wellen bespült wurden, stieß er mit einem Manne zusammen, der ein Paket unter dem Arme trug,

»Wahrhaftig Fagan! – Wo kommen Sie denn her, mein berühmter Alter? Ich glaubte Sie auf und davon.«

»Sie sehen, ich komme eben an,« und nachdem er sein Abenteuer schnell berichtet, fragte Fagan: »Aber Sie selbst, Baron, wohin so eilig, beladen wie ein Schneiderlehrling?«

In der Tat war es für einen Gentleman, der, wenn man ihn hörte, Gott weiß wie viele Wettrennen mitgemacht hatte, keineswegs »Kaviar«, dieses große, in Kattun eingeschlagene Paket zu tragen. Und um vollends die Fassung zu verlieren, erinnerte sich der Baron plötzlich, daß er seinen berühmten Alten hatte abreisen lassen, ohne eine kleine Rechnung von fünfzig bis sechzig Louis, die er ihm vom letzten Ecarts her schuldete, geregelt zu haben.

»Nun, mein lieber Fagan, da Sie Ihren Abend frei haben, kommen Sie zu mir herauf und speisen Sie bei mir. – Nach dem Diner können wir noch ein paar Stunden Karten klopfen, denn die Bande wird mich erst spät abholen kommen.« Die Bande waren acht bis zehn junge Leute seines Klubs, die verkleidet und maskiert in den Salons von Ajaccio herumziehen wollten, wie es dort in den Karnevalsnächten Sitte ist. »Ich habe mir da gerade ein Mephisto-Kostüm geholt – geben Sie auf die zwei Stufen acht, mein Bester; da sind wir bei mir angelangt.«

Während sie die Treppe eines alten Hauses emporstiegen, dessen Rampe und Mauern von Wasser trieften, fragte Fagan, der bis dahin schweigend gefolgt war, den kleinen Nouchouze lebhaft:

»Werden Sie auf Ihren nächtlichen Streifereien auch die Präfektur besuchen?«

»Die Präfektur! Na und ob. Es wird dort getanzt und Komödie gespielt.«

»Nun, liebster Baron, dann verschaffen Sie mir irgend ein beliebiges Kostüm und machen Sie mir das Vergnügen, mich mitzunehmen.«

»Nichts leichter als das,« sagte der andere, der sich durch diesen Dienst seinem Gläubiger gegenüber wieder ganz unbefangen fühlte. Die italienische Truppe des Theaters stände ganz zu seiner Verfügung, und man könnte von dem Bassisten Deotato – oder besser von dem Bariton Paganetti, der die Größe Fagans hätte, verschiedene Kostüme zur Auswahl erbitten. – »Ach, da bist Du ja, Firmin – Firmin, ein Kouvert – der Herr speist mit mir.«

Die Feuchtigkeit der Treppe schien auch die Wohnung ergriffen zu haben, deren hohe, aber spärlich und schmucklos möblierte Räume von der Witwe Limperani, der Mutter eines für mehrere Jahre abwesenden Schiffsgeistlichen, an den Baron Rouchouze vermietet worden waren. Muscheln, exotische Pflanzen, getrocknete Korallen und eine Fregatte in Miniatur schmückten den Kamin, Heiligenbilder die Wände, und überall, auf den Rückenlehnen der Sessel, auf dem gesprungenen Marmor der Konsolen, lagen gehäkelte Decken, während vor den Sitzen ausgebreitete Fußteppiche nur schlecht das abgetretene Rot des Ziegelbodens verbargen. Alles war kalt, schlecht erleuchtet, unbehaglich und erschien ärmlicher noch durch einen Geruch gebratener Zwiebeln, der von der Küche herkam. Der Gegensatz dieser Häuslichkeit zu der großsprecherischen Art des Mieters und seines majestätischen Firmin war im höchsten Grade komisch.

Diesem letzteren schien es peinlicher zu sein als seinem Herrn, einen Pariser in die Misere ihres Interieurs blicken zu lassen; um dieselbe zu verdecken, verdoppelte er die Würde und Korrektheit seiner Haltung und sprach sein: »Herr Baron, es ist aufgetragen,« mit einer Feierlichkeit, die freilich sehr überflüssig war, da man in einen Speisesaal ohne Feuer, ohne Gardinen, mit hohen schwarzen Fenstern, trat, durch welche die schwankenden Schiffslaternen im Hafen blinkten, und sich an einem Tische niederließ, auf dem eine Zwiebelsuppe zwischen einem Gericht gekochter Fische und der traditionellen dicken Milch, der bruccia, dampfte, ohne welche es kein korsisches Mittagessen gibt.

Ach ja, es war für den Herrn Baron aufgetragen, aber recht erbärmlich; indessen verhinderte ihn dies nicht, sich in die Brust zu werfen und, mit den kleinen, pfiffigen Augen zwinkernd, von seinen unzähligen Liebesabenteuern auf der Insel in allen Gesellschaftsschichten zu erzählen.

»Apropos, und Seraphine?« fragte Fagan, als sie wieder in den Salon gingen, wo der Kaffee auf dein Spieltisch zwischen den Zahlmarken und einem Spiel neuer Karten sie erwartete.

»Seraphine? O, mehr als jemals. – Ein ideales Weib, wissen Sie. – Man muß nach Korsika kommen, Poet! – Köchin, aber mit Beinen einer Diana, und alles kostet nicht so viel wie ein Rettich. – Aber warten Sie, Teuerster, Sie sollen selbst urteilen.«

Auf den Ruf ihres Herrn erschien Seraphine, eine große, kräftige Person, mit dicker Taille und starken, aber schön geformten Beinen, die sich unter ihren dünnen, engen Röcken deutlich abzeichneten.

»Nimm mal das ab,« sagte der Baron, indem er das Tuch aufhob, welches sie über ihr Haar geworfen hatte und welches ihr Gesicht, eine niedrige, von einer langen Narbe durchquerte Stirn, braune Augen, große, harte und regelmäßige Züge verbarg.

»Mein Kompliment, lieber Freund,« antwortete Fagan auf ein bedeutungsvolles »He?« seines Wirtes. »Aber woher hat sie die hübsche Schmarre über den Augenbrauen?«

Die Frau hatte verstanden und sagte stolz: »Coltello del marito

»Ja, mein Lieber, dieser brutale Maultiertreiber in einer Eifersuchtsszene – ein Messerstich – arme Alte, geh!« Der Baron klopfte ihr mit der einen Hand die Hüfte, während er mit der anderen die Karten abhob, denn er war schon ungeduldig, das Spiel zu beginnen und seine Revanche zu nehmen, um derentwillen er Fagan in seine Höhle geschleppt hatte.

Es wurde heftig geläutet. »Ohne Zweifel Ihr Kostüm,« sagte Rouchouze; aber er wurde plötzlich sehr bleich bei den schweren Schritten und dem groben, ogerhaften Lachen, welches auf dem Korridor und dann in der Küche ertönte, wo Firmin den Ankömmling hatte eintreten lassen.

»Il marito!« murmelte Seraphine, die sich beeilte, an ihren Herd zurückzukehren, während ihr der Baron heimlich zurief:

»Gib ihm tüchtig zu essen –«

»Sie scheinen beunruhigt?« fragte Regis seinen Wirt. »Ist es die Ankunft des Othello?«

»Nein – aber der Kerl verlangt jedesmal etwas, wann er kommt.«

Grobe, nägelbeschlagene Schuhe näherten sich in dem Korridor, und eine schwere Hand klopfte an die Tür. »Herein,« rief der Baron fast tonlos.

Herein trat ein bartloser Riese, mit einer Mähne bis auf die Schultern, einem rotseidenen Tuch lose um den kräftigen, runden Hals geknüpft, den die glühende Sonne des Gebirges nicht gebräunt zu haben schien, mit breiter, marmorharter Brust und ungeheuren Händen, die, schwarz wie Erde, dasjenige waren, was an seiner Person am meisten hervorstach. In diesen Händen drehte er eine alte Mütze von Affenfell.

»Was gibt's neues, Meister Palombo?«

»Nichts Gutes, Herr Baron –.« Und der Mann Seraphines erzählte ganz gelassen, daß im Monte Rodonto zwei seiner Maulesel, prächtige Tiere, von einem heftigen Gewitterregen ereilt worden, sich eine Erkältung zugezogen und ritsch, ratsch, alle beide an der Puntura gestorben seien; sie müßten sogleich ersetzt werden, oder der Handel in dieser Saison wäre zu Ende, er und seine Brüder ruiniert. Aber wo sollte er so viel Geld hernehmen, du lieber Gott! Da hätte er denn gedacht – Seraphine sagte, daß der Herr so gut zu ihr wäre –

Während der Mann sprach, fixierten seine kleinen, in Hautfalten versteckten Elefantenaugen das Kopftuch Seraphines, welches auf der Armlehne des Sessels, in welchem der Baron Rouchouze saß, liegen geblieben war. Allmählich wurde seine Stimme schärfer, sein Ton unverschämter trotz der Süßigkeit seiner Worte, und der Baron, dem seine Blicke sowie die immer schärfere Drohung seiner Rede nicht entgingen, und der durch die Gegenwart des seidenen Lappens ebenso verwirrt war, als wenn der Mann ihn mit seiner Frau auf dem Schoße überrascht hätte, verlor den Kopf, stotterte aus Furcht und wollte wissen, was er für seinen braven, seinen vortrefflichen Palombo tun könnte, um ihm sein Mauleselpaar zu ersetzen.

»Achthundert Franken, nicht einen Scudo weniger.« Hier streckte der Maultiertreiber, der seinen Haupteffekt für den großen Moment aufgespart hatte, die Hand aus und sagte in strengem Tone: »Aber, gehört das da nicht Seraphinen?«

Der Baron zeigte ein völlig entstelltes Gesicht, und zu Fagan gewendet, sagte er mit leiser Stimme: »Im Namen der Barmherzigkeit, alter Freund, leihen Sie mir vierzig Louis, Sie bewahren mich vor einer Katastrophe –«

Er nahm das blau Bankbillet, das Fagan ihm reichte, und gab es Palombo mit wieder erlangter Unbefangenheit, indem er erleichterten Herzens sagte: »Achthundert Franken für Deine Maultiere, mein Bursche, und den Rest für Deine Frau.«

Der Halunke sackte das Geld ein, bedankte sich und kehrte nach der Küche zurück, wo man lange Zeit lautes Gelächter und das Brüseln der Bratpfanne vernahm.

Nach diesem Zwischenfall wollte der Baron das Spiel fortsetzen; allein sein Partner warf die Karten hin, indem er über den Tisch seine Hand nahm und in herzlicher, fast väterlicher Weise zu ihn: sagte: »Nein, mein Lieber, lassen wir's genug sein, ich bitte Sie darum.«

»Aber mein lieber –«

»Ich weiß, Sie wollen Ihre Revanche, aber ich will Ihnen einen besseren Vorschlag machen. Das Geld, das ich Ihnen seit zehn Tagen abgenommen habe, wiegt mir schwer in der Tasche, und darum haben Sie mich eben so bereit gesehen, Ihnen zu Hülfe zu kommen. Lassen Sie mich dem noch einige Tausend hinzufügen, um Ihr hartnäckiges Pech –«

»O, Herr Fagan –« stammelte der arme Teufel mit vor Rührung verzerrten Lippen. »Welch ein Dienst, wenn Sie wüßten –«

Ohne seinen Satz zu vollenden und die Maske des Modenarren fallen lassen, fing er laut an zu weinen, das Gesicht in den Händen, wie ein großes Kind, das, er war. Plötzlich ertönte das Geklingel seiner Genossen unten den Fenstern.

»Da sind sie,« rief der Baron mit schon getrockneten Tränen, indem er aufsprang – »schnell, kleiden wir uns an.« Und die Beine in den engen Hosen Mephistos, murmelte er aus aufrichtigem Herzen, indem er die kleine Kopfbedeckung à la Dante befestigte: »Ach, dieser alte Fagan – wahrhaftig, ein guter Kerl!« Aber Fagan antwortete nicht, da er völlig mit dem Anlegen seines Narrenkostüms, das ihm der Bariton Paganetti geliehen hatte, beschäftigt war.

Im Dunkel und Nebel des Quais hatten sich die verschiedenfarbigen Masken versammelt. Alle sprachen denselben Boulevardjargon der Klubs und des Stalles wie der kleine Rouchouze, der ihr Vorbild und Lehrmeister war. In dem korsischen Accent gelispelt, machte dieser Jargon ungefähr die Wirkung, welche die Pariser Moden, von den Frauen Otaheitis getragen, machen würden.

»Mein Freund Rigoletto,« sagte der Baron, seinen Gast vorstellend.

»Auf der Suche nach seiner Tochter,« fügte Fagan hinzu, um doch etwas zu sagen, Und der andere flüsterte ihm ins Ohr: »Nach seinen Töchtern –«

»Ja, das ist wahr, daran dachte ich nicht.« Und der Vater lächelte über dieses Zusammentreffen der ihm zugeteilten Rolle mit seiner wirklichen Lage.

»Womit fangen wir an?« fragte einer der jungen Leute Fagan, dem es nicht ums Nachtschwärmen zu tun war, antwortete: »Mit der Präfektur.«

Nachdem man zwei oder drei schmale, aber trotz der Dunkelheit sehr belebte Straßen durchschritten hatte, langten die von Gassenbuben mit bunten Laternen und dem wohl hundertmal wiederholten Refrain eines lokalen Gassenhauers begleiteten Masken bei La Posterolle an, als die Charade eben zu Ende war. Ihr Eintritt in den Salon war äußerst lustig inmitten des allgemeinen Geräusches und des herzerleichternden Geschwätzes von Leuten, die, nachdem sie zwei Stunden gesessen hatten, sich erheben und in Bewegung setzen.

Ueberall Zurufe und Lachen, Geklingel der Kostüme, ein Gewirr von Farben, Agraffen und Federbüschen! Und während der Herr und die Dame des Hauses benachrichtigt wurden, überzeugte sich Fagan vor einem hohen, in die Wand eingelassenen Spiegel von der Umwandlung seiner Person, und daß er unter der Sammetmaske mit Spitzennarbe und der ungeheuren Halskrause, die ihm bis zu den Ohren hinaufging, völlig unkenntlich war. Nein, sogar seine Ex-Gattin würde ihn nicht erkennen. Er überließ sich daher mit fast knabenhafter Lust seinem Abenteuer, dem Vergnügen, seine Töchter zu überraschen bei diesem Teil ihres weltlichen Lebens, der ihm, dem Vater, verschlossen war.

Einer hinter dem anderen, den Baron an der Spitze, defilierten die Maske zunächst vor Herrn und Frau La Posterolle vorbei, alsdann in den Salons zwischen zwei Reihen Gästen hindurch. Als Regis, der letzte in der Reihe, bei der Hausfrau, so viele Jahre der seinigen, anlangte, hatte er einige Mühe, sie zu erkennen. Sie war seit ihrer letzten Begegnung stärker geworden, die Haare hätten wiederum die Farbe gewechselt und waren weiß gepudert, was einen hübschen Gegensatz zu den jung gebliebenen Schultern und Armen und dem kindlichen Ausdruck des schwammig werdenden Gesichts bildete. Indessen erkannte er sie doch bald an dem falschen Lächeln wieder, das wie ein Schlänglein vom Auge zum Munde züngelte, und dieses Lächeln verursachte ihm unwillkürlich ein Frösteln der Furcht. Sie hatte ihm so viel Böses zugefügt, sie konnte ihm noch mehr zufügen! Nachdem er sich bis zur Erde vor ihr verneigt hatte, ohne es zu wagen, sie anzusehen, ging er rasch an dem Manne mit dem dummstolzen Gesicht und dem hohl tönenden Schädel vorüber, der ihn auf dem Kissen Frau Ravauts ersetzt hatte.

»Jene Augen dort kenne ich,« dachte die Frau Präfektin, während die jungen Leute sich entfernten, und sich zu La Posterolle wendend, fragte sie: »Wer ist das?«

»Weiß nicht,« antwortete er ausweichend.

Und diese Frage: »Wer ist das? wer ist das?« hörte Fagan auf dem ganzen Wege zwischen den Spalier bildenden nackten Schultern, Blumen und Federn, schwarzen Röcken und goldgestickten Uniformen laut und leise wiederholen. Trotz ihrer Geschicklichkeit, sich zu verkleiden, und ihre Stimmen zu verstellen, hatte man alle anderen erkannt; vergebens schüttelten sie lachend die Köpfe, man nannte sie bei ihren Namen: »He, Fornoli; he Pepino – Guten abend, Baron.« Aber der große, der letzte, der sich zu sprechen hütete, und nur mit seiner Pritsche den Leuten unter der Nase herumfuchtelte, wer zum Teufel konnte das sein?

Er jedoch dachte nur an seine Töchter und war verwundert, sie nicht zu sehen. Wo waren sie? Vielleicht wechselten sie das Kostüm nach der Charade. Schon ging er mit sich zu Rat, wie er es anstellen sollte, sie zu erwarten, ohne die Neugierde noch mehr zu erregen, als beide, seine Rosa und seine Ninette, und wie entzückend! am Eingang des zweiten Salons erschienen. Noch immer van dem Zuge geführt, den er weder beschleunigen noch durchbrechen konnte, flüsterte er im Vorbeigehen der jüngeren »Guten Abend, reizende Infantin« zu mit einer Stimme, daß das junge Mädchen unter dem bebänderten Atlas ihrer langen Taille erbebte und die Wahrheit ahnend, die Augen ihres Vaters suchte, welche jedoch schon von ihr weg und nach der großen Schwester schauten.

Mit rotblonden Haaren, die bis auf ihren Rock von schwerem Damast herabfielen, sah Rosa am Arme eines hübschen Burschen mit ganz jungem Gesicht, aber vollständiger Glatze, den Maskenzug vorüberziehen; und siehe, plötzlich fühlt sie auf ihrer, von einem langen Handschuh bekleideten Hand den Kuß einer Sammetmaske, während eine befreundete Stimme, die Stimme eines, den sie abgereist, am Tage vorher zu Schiff gegangen glaubt, ihr zuflüstert: »Gute Nacht, schöne Dogaresse.« Im tiefsten ergriffen, will sie ein Wort erwidern, allein die Pritsche Rigolettos, die einen Moment dicht neben ihr erklingt und dann über den Köpfen der Menge wie wahnsinnig geschwenkt wird, ist nach der Seite des Gartens bereits verschwunden. Sie will Gewißheit haben, sucht überall Ninette und findet sie endlich in dem ersten Salon in großer Beratung mit Frau La Posterolle, die unter ihrer Schminke sehr bleich geworden ist. Mit ihrem häßlichsten Lächeln, spitz wie ein Pfeil, sagt sie ganz leise, als spräche sie zu den Federn ihres Fächers: »Ich werde mich rächen, Kinder – ich schwöre Euch, daß er mir das bezahlen soll!«

Dann stimmt die Musik einen Walzer an; es entsteht eine Bewegung, die Herren engagieren, die Paare ordnen sich, und die drei Damen, Mutter und Töchter, von den verschiedenartigsten Gefühlen bewegt, schwingen sich im Takte des Tanzes.


 << zurück weiter >>