Alphonse Daudet
Port Tarascon - Letzte Abenteuer des berühmten Tartarin
Alphonse Daudet

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Fünftes Kapitel

Die wahrhafte Legende vom Antichrist, erzählt vom hochwürdigen Bruder Bataillet auf dem Deck des Tutu-panpan.

»Wieder führe ich euch ins Paradies, meine Kinder, in das riesige, königsblaue Vorzimmer, in dem der große, heilige Petrus mit seinem Schlüsselbund im Gürtel ständig bereit ist, den Seelen der Erwählten zu öffnen, falls sich solche einfinden sollten.

»Aber leider ist seit vielen, vielen Jahren die Menschheit so schlecht geworden, daß selbst die besten Menschen nach ihrem Tod im Fegfeuer verweilen, ohne höher hinauf zu kommen, so daß der gute heilige Petrus gar nichts mehr zu thun hat, als seine rostigen Schlüssel mit Glaspapier zu putzen und die Spinnweben wegzufegen, die sich wie Gerichtssiegel über seine Thüre spannen. Manchmal gibt er sich der Täuschung hin, es habe einer geklopft, dann sagt er zu sich selbst: ›Endlich . . . da ist einer, 's ist wahrhaftig nicht mehr zu früh. . . .‹ Wenn er aber dann das kleine, ins große Himmelsthor eingelassene Pförtchen öffnet, so sieht er da wohl die Unendlichkeit, das ewige Schweigen und die Sterne, die entweder unbeweglich still stehen oder sich im Weltenraum bewegen mit einem Ton, ähnlich dem leisen Geräusch, mit dem sich eine reife Orange von ihrem Zweige löst – aber nicht die Spur eines Erwählten.

»Denkt nur, welche Demütigung für den guten Heiligen, der uns so lieb hat, und der sich Tag und Nacht grämt und jene glühenden, ätzenden Thränen vergießt, die auf seinen beiden Wangen schließlich tiefe, tiefe Furchen gegraben haben, ähnlich den Geleisen, die die Steinfuhren auf dem Wege zwischen Tarascon und Montmajour gezogen haben.

»Nun war einmal der heilige Joseph gekommen, um ihm Gesellschaft zu leisten, denn auf die Länge war es dem armen Schlüsselträger doch recht langweilig, so allein in seinem Vorzimmer –, also der heilige Joseph sagte, um ihn zu trösten: ›Aber was kann es dir denn schließlich ausmachen, wenn die Leute von da drunten sich nicht mehr an deinem Pförtchen zeigen? . . . Befindest du dich etwa nicht wohl hier, wo dich die lieblichste Musik und die süßesten Düfte umschmeicheln? . . .‹

»Und während er so sprach, trug aus den sieben, in langer Flucht ineinandergehenden Himmeln ein linder, mit Wohlgerüchen geschwängerter Wind liebliche Töne herüber. Von diesen Wohlgerüchen des Himmels kann euch, meine lieben Freunde, nichts einen Begriff geben, nicht einmal dieser Duft von Zitronenkraut und frischen Himbeeren, den der Hauch des Meeres seit einem Augenblick von diesem großen Kranze von Roseninseln zu uns herüberträgt.

»›Ach!‹ sagte der gute, heilige Petrus, ›mir geht's nur allzu gut in diesem gesegneten Paradies, aber ich möchte all diese armen Kinder bei mir haben. . . .‹

»Und von plötzlicher Entrüstung ergriffen: ›Ha, das Gesindel, ha, die Schafsköpfe! . . . Nein, Joseph, der Herr ist viel zu gut gegen das Pack! . . . Ich weiß, was ich an seiner Stelle thäte!‹

»›Was würdest du denn thun, tapferer Petrus?‹

»›Bei Gott, einen gewaltigen Fußtritt würd' ich dem Ameisenhaufen versetzen und die Menschheit zum Teufel schicken!‹

»Der heilige Joseph schüttelte seinen grauen Bart. . . .

»›Das müßte immerhin ein ganz furchtbar starker Fußtritt sein, der die Erde zertrümmern würde. . . . Für die Türken, die Ungläubigen, die asiatischen Völker, die der Fäulnis anheimfallen, mag es noch gehen, aber die christliche Welt, die ist fest eingerammt und solid gebaut vom Sohn. . . .‹

»›Ganz recht‹, unterbrach ihn der heilige Petrus . . . ›aber was Christus erbaut hat, kann Christus auch ebenso gut zerstören. Ich würde ihnen meinen Gottessohn noch einmal schicken, diesen Galioten da drunten, und der als Antichrist verkleidete Christus hätte sie gleich zu Mus zerstampft!‹

»Der gute Heilige sprach im Zorn, ohne sich recht zu überlegen, was er sagte, und hauptsächlich ohne daran zu denken, seine Worte könnten seinem göttlichen Meister wieder hinterbracht werden. Ihr könnt euch vorstellen, wie groß seine Ueberraschung war, als plötzlich der Menschensohn vor ihm stand, einen Wanderstab über der Schulter, an dessen Spitze ein kleines Bündel hing, und mit seiner festen, sanften Stimme befahl: ›Petrus, komm . . . ich nehme dich mit!‹

»Aus der Blässe des Heilandes, aus der fieberhaften Glut seiner großen, tiefumränderten Augen, die selbst seinen Glorienschein überstrahlten, merkte Petrus sofort, wie die Sache stand, und bereute, zu viel gesagt zu haben. Was hätte er nicht darum gegeben, daß diese zweite Sendung des Menschensohnes auf die Erde unterblieben wäre, und hauptsächlich daß er nicht selbst von der Partie hätte sein müssen. So aufgeregt und bestürzt, daß ihm die Hände zitterten, stammelte er: ›O du lieber Gott! . . . O du lieber Gott! . . . Und meine Schlüssel, was soll ich denn mit meinen Schlüsseln anfangen?‹

»Es ist wahr, daß sein schwerer Schlüsselbund auf einer so weiten Reise nicht sehr bequem gewesen wäre. – ›Und meine Thüre, wer wird meine Thüre hüten?‹

»Darauf lächelte Jesus, denn er las auf dem Grund seiner Seele und sprach: ›Laß die Schlüssel ruhig im Schloß stecken, Petrus! . . . Es hat keine Gefahr, daß jemals einer zu uns herein will, das weißt du wohl.‹

»Er sprach sanft, aber man merkte trotzdem etwas Unbeugsames in seinem Lächeln und in seiner Stimme.«

* * *

»Wie es in der heiligen Schrift geschrieben steht, verkündeten allerlei Zeichen am Himmel das Kommen des Menschensohnes, allein seit langer Zeit sah das am Staube klebende Menschenvolk den Himmel nicht mehr an, und durch seine Leidenschaften abgelenkt, verriet ihm nichts die Anwesenheit des Herrn und des alten Dieners, der ihn begleitete, um so weniger, als diese mit Garderobe versehen waren und sich verkleiden konnten, wie sie wollten.

»In der ersten Stadt nun, die sie erreichten, sollte gerade am folgenden Tag die Hinrichtung eines berüchtigten Banditen, Namens Sanguinarias, des Urhebers schrecklicher Verbrechen, stattfinden. Die Arbeiter, die das Schafott aufzurichten hatten, waren nicht wenig erstaunt, als sie beim Fackelschein zwei Gefährten mitarbeiten sahen, die gekommen waren, man wußte nicht woher, und von denen der eine geschmeidig und stolz, mit seinem geteilten Backenbart und seinen wie Edelsteine strahlenden Augen aussah wie der Sprößling eines Prinzen, der andere, schon gebeugt, mit dämlich gutmütigem Aeußeren zwei tiefgefurchte Narben auf seinen runzligen Wangen trug. Als dann bei Tagesanbruch das Schafott errichtet war und sich das Volk und die Behörden zur Hinrichtung darum versammelt hatten, waren die beiden Fremden verschwunden, hatten aber den ganzen Mechanismus so seltsam verhext, daß, als der Verurteilte auf das Brett geschnallt war, das wohlgeschliffene, aus gutem Stahl gemachte Beil zwanzigmal nacheinander herabfiel, ohne ihm auch nur die Haut zu ritzen.

»Ihr könnt euch das Bild vorstellen: die Richter außer sich, die Menge schaudernd, empört, der Henker seine Knechte schüttelnd, sich die schweißtriefenden Haare raufend, und Sanguinarias selbst – er war natürlich aus Beaucaire, dieser Strauchdieb, und vereinte mit seinen sonstigen schlechten Trieben auch noch eine teuflische Eigenliebe – Sanguinarias seinen schwarzen Stiernacken ganz zornig in der Halsöffnung drehend und windend, ruft: ›Na nu! . . . Was ist denn los? . . . Bin ich denn nicht gemacht wie andre Menschenkinder, daß man mit mir nicht fertig werden kann? . . .‹

»Und schließlich mußten ihn die Gendarmen gewaltsam in sein Gefängnis zurückbringen, während der brüllende Pöbel um das zertrümmerte Schafott herumtanzte, das knisternd gen Himmel lohte, wie ein Johannisfeuer.

»Von da an schien in dieser Stadt und in allen zivilisierten Ländern ein Fluch auf den Urteilen der Halsgerichte zu liegen. Das Schwert der Gerechtigkeit war stumpf geworden, und da der Tod das einzige ist, was die Mörder scheuen, so ergoß sich gar bald eine Flut von Verbrechen über die Welt: die in Angst gejagten, ehrlichen Leute waren auf Wegen und Stegen nicht mehr sicher, während sich die Strauchdiebe in den bis unter die Dächer vollgestopften Zuchthäusern mit kräftigen Fleischbrühen mästeten, ihren Wärtern das Gesicht mit ihren Holzschuhen zerschlugen, ihnen mit dem Daumen die Augen ausdrückten oder sich auch damit vergnügten, ihnen aus bloßer Neugierde, nur um zu sehen, was darin ist, den Kopf zu spalten.

»Beim Anblick dieser allein durch die Entwaffnung der Gerechtigkeit verursachten Verderbnis der Menschheit fand der wackere heilige Petrus, daß es genug sei, und das Herz voll Mitleid, sagte er mit einem guten breiten Höflingslachen: ›Die Lektion ist gelungen, Meister, und ich glaube, sie werden sie nicht so schnell vergessen. . . . Auch nicht, wenn wir jetzt wieder hinaufstiegen. Ich habe nämlich, um die Wahrheit zu sagen, Angst, ich sei da droben nötig.‹

»Der Menschensohn zeigte sein bleiches Lächeln: ›Denke daran‹, sagte er mit aufgehobenem Finger. . . . ›Was Christus aufgebaut hat, kann Christus allein nur zerstören!‹

»Und Petrus ließ den Kopf hängen und dachte: ›Ich habe zu viel geschwatzt, arme Kinder, ich habe zu viel geschwatzt!‹«

* * *

»In jenem Augenblick befanden sie sich auf fruchtbaren Höhen, zu deren Füßen eine reiche Kaiserstadt ihre Kuppeln, ihre Söller, ihre zierlichen Glockentürme, die Spitzen und Türme ihrer Kathedralen, deren mannigfach geformte Gold- und Marmorkreuze im friedlichen Abendsonnenschein erglänzten, unabsehbar weit ausbreitete.

»›Ich hoffe, daß sie hier Klöster und Kirchen haben,‹ erwiderte der gute Greis und versuchte, auf diese Weise den Zorn des Herrn abzulenken, ›das sieht man doch wenigstens noch mit Vergnügen!‹

»Ihr aber wißt ja, daß Jesus nichts so widerwärtig ist, als der heuchlerische, prunkende Gottesdienst der Pharisäer, wo man bloß der Mode halber zur Messe geht, und als jene Klöster, die sich in Magenelixir- und Schokoladefabriken verwandelt haben. Er beschleunigte deshalb seine Schritte, ohne zu antworten, und da das Getreide sehr hoch stand, sah man während des Niedersteigens von dem furchtbaren Zerstörer der Menschheit nichts als ein Bündel mit Kleidern, das an der Spitze seines Wanderstabes über den Aehren hin und her baumelte. . . . In jener Stadt, in die sie einzogen, lebte ein alter, alter Kaiser, der nicht nur der älteste, sondern auch der mächtigste und gerechteste aller europäischen Fürsten war. Er hielt den Krieg an die Achsen seiner Kanonen gefesselt und verhinderte, sei es durch seine Macht, sei es durch Ueberredung die Völker daran, sich gegenseitig zu vernichten.

»Solange er lebte, war es wie ein stillschweigendes Uebereinkommen zwischen Hund und Wolf, daß die Schäfchen im Frieden werden könnten! später aber hieß es: aufgepaßt! Darum war auch jedermann so besorgt um das Leben des guten Kaisers, nicht eine Mutter hätte gezögert, sich die Adern zu öffnen, um ihm röteres, gesünderes Blut einzuflößen.

»Da, plötzlich verwandelte sich diese Liebe in Haß, eine teuflische Losung wurde ausgegeben: ›Wir müssen ihn umbringen . . . er ist ein guter Tyrann, der fluchwürdigste von allen, denn er raubt uns sogar das Recht zur Empörung!‹

»Und nun überlasse ich es euch zu erraten, wer der geheimnisvolle Genosse war mit den strahlenden Augen, der unter dem unterminierten Kaiserpalast, in der Nacht des Gewölbes, in dem die Verschworenen bis zum Gürtel im Wasser standen, das Werk des Todes leitete, wer alle Herzen gegen Furcht und Mitleid verschloß, und wer, als der Dynamitschlag losging, das letzte Hurra ausstieß. . . .

»Ach, der arme Kaiser! Man fand nicht mehr viel von ihm unter den Trümmern! Ein Büschel geröteten Barthaares, eine der gerechten Hände, von der Flamme gekrümmt! Und plötzlich tobte der entfesselte Krieg, der Himmel wurde verdunkelt durch die Scharen von Raben, die sich an den Grenzen versammelten: ein großes Schlachten begann und wollte nicht mehr enden.«

* * *

»Während sich die Völker mit Hilfe der schrecklichsten Maschinen gegenseitig mordeten, während allenthalben die eroberten Städte wie Fackeln aufflammten, zog Jesus leichten Schrittes, noch immer den Stock auf der Schulter und den guten, alten Heiligen, der ihn vergeblich zu erweichen suchte, hinter sich, fürbaß auf den von zersprengten Viehherden und herrenlosen Fuhrwerken überfüllten Wegen, er schritt an den brachliegenden Feldern und den blutgeröteten Flüssen entlang an den unbarmherzig vernichteten Weingärten und Feldern vorüber, nach einem weit entfernten Land, in dem ein berühmter Doktor, Mauve genannt, seine Kunst ausübte.

»Mauve verstand es Menschen und Tiere zu heilen; er lenkte alle Kräfte der Natur nach seinem Willen und hatte ein Mittel zur Verlängerung des menschlichen Lebens entdeckt; es war ihm beinahe gelungen, nur wenig fehlte noch daran; – da blieben durch die Ungeschicklichkeit eines neuen Laboratoriumsgehilfen, eines sehr schönen, sehr bleichen Jünglings, den man danach niemals wieder sah, eines Nachts mehrere Glasflaschen mit scharfen, schnell wirkenden Giften offen stehen, und als Mauve am Morgen die Thür öffnete, fiel er um und war tot.

»Nun wurde das menschliche Leben nicht verlängert, ganz im Gegenteil, denn der Gelehrte hatte zu seinen Studien eine Menge alter Landplagen, seltene Aussatzarten Aegyptens und des Mittelalters gesammelt, deren Keime nun aus den Retorten entwichen, sich über die ganze Welt verbreiteten und diese verheerten. Wie zur Zeit der Juden in Aegypten regnete es giftige, gemeine Kröten, dann kamen alle Arten bösartiger Fieber, gelbes Fieber, Sumpf- und Wechselfieber, Pestilenz, Typhus; eine Unmenge ausgestorbener Krankheiten pfropften sich ganz neuen auf, andere kannte man noch gar nicht einmal, und der Volksmund nannte dies alles ›das Uebel des Doktor Mauve‹.

»Gott behüte euch vor dieser entsetzlichen Krankheit, meine Kinder!

»Die Knochen schmolzen wie Glas, die Muskeln schwanden; die Schmerzen waren so groß, daß man nicht mehr schreien konnte. Noch ehe sie starben, zerfielen die Kranken in Stücke und brachen auf den Straßen wie Pappe zusammen, so daß die Wegepolizei nicht Spaten und nicht Karren genug hatte, um sie wegschaffen zu lassen.

»›Donnerwetter, das haben wir gut gemacht!‹ . . . sagte Sankt Peter mit einer scheinbar heiteren Stimme, aus der aber die Thränen herausklangen. . . . ›Und wie wär's, Meister, wenn wir jetzt endlich heimgingen? Ich kriege nach und nach Heimweh.‹

»Jesus wußte wohl, daß sich hinter diesem sogenannten Heimweh nur ein unendliches Mitleid mit den Sterblichen verbarg, die er, der Heiland, der doch sonst so gut war, geschworen hatte, auszurotten bis auf den letzten Mann. Allerdings muß man aber auch sagen, daß sie's ihm danach gemacht hatten, und schließlich reißt doch jedem die Geduld.

»Alsdann ging der Herr, der seinen Weg fortsetzte, ohne zu antworten, mit seinem alten Diener über Feld. Es war gar früh an einem frischen, rosigen Morgen, da drang durch das Krähen der Hähne und all das tierische Geschrei, das den neuen Tag begrüßt, ein menschlicher Ton an ihre Ohren: es war der Schrei einer Frau, der sich, von den Wehen erpreßt, in mächtigen Schallwellen himmelstürmend emporrang und dann sich in ein langes, leise klagendes Wimmern verlor, über das jeder, der es einmal gehört hat, sich nicht mehr täuschen kann.

»Mit dem werdenden Tag kam ein neues Geschöpf zur Welt. Nachdenklich blieb Christus stehen. Was nützte es denn, sie zu vernichten, wenn immer neue geboren werden! . . . Und gegen die Hütte gewendet, aus der der Schrei gekommen war, erhob er drohend seine weiße Hand.

»›Barmherzigkeit! . . . Meister, Barmherzigkeit für die ganz Kleinen!‹ schluchzte der wackere heilige Petrus.

»Der Herr beruhigte ihn mit einem Wort.

»Diesem Säugling, sowie allen andern, die künftig auf der Erde geboren würden, hatte er ein Willkommsgeschenk gemacht. Petrus wagte nicht zu fragen, was es sei, aber ich kann es euch sagen, meine Freunde. Jesus hatte ihnen die Erfahrung geschenkt, diesen armen Lämmlein, und die war fürchterlich.

»Bis dahin verschwanden, wenn ein Mensch starb, seine Erfahrungen mit ihm. Aber nun, nach der Gabe Christi, sammelten sich die Erfahrungen an auf Erden. Alt, traurig, entmutigt wurden die Kinder geboren; kaum hatten sich ihre Augen geöffnet, so entdeckten sie auch schon das Ende aller Dinge und man sah etwas Abscheuliches: Kinderselbstmorde! Schon ganz kleine Kinder suchten sich mit ihren verzweifelten Patschhändchen selbst zu vernichten.

»Und doch war dies alles noch nicht genug: das verfluchte Geschlecht wollte nicht erlöschen und lebte trotz alledem halsstarrigerweise fort.

»Nun entzog Christus, um schneller damit zu Ende zu kommen, den Männern und den Frauen den Trieb zur Liebe, den Sinn für die Schönheit. Es gab keinerlei Freude mehr auf der Welt, keinen Herzenserguß weder im Gebet noch in der Liebeslust. Man suchte nur das Vergessen, man lechzte nur nach dem Schlaf. . . . O, schlafen . . . nicht mehr denken, nicht mehr leben!

»Wie ihr seht, befand sich die arme Menschheit in einem schlimmen Zustand und konnte es jedenfalls nicht mehr lange treiben, denn der unermüdliche Vertilger beschleunigte sein Werk je mehr und mehr. Als unsteter Wanderer, das Bündel am Stock, den sehr müden, sehr gebeugten Gefährten hinter sich, durcheilte er die Welt, und die beiden Thränenfurchen gruben sich stets tiefer und tiefer in die Wangen des Alten, je mehr der Meister auf seinem Weg Vulkane, Wirbelstürme und Erdbeben entfesselte.

»Also wandelte Jesus an einem schönen Himmelfahrtsmorgen über das Meer und glitt auf den Wellen dahin, wie es uns durch die heilige Schrift berichtet wird, und gelangte zu den australischen Inseln in dem nämlichen Fahrwasser des Stillen Oceans, in dem wir uns jetzt befinden.

»Von einem grünenden Inselkranz trug der laue Seewind Frauen- und Kinderstimmen, die provençalische Loblieder sangen, bis zu ihm herüber.

»›Da!‹ rief Sankt Peter. ›Man möchte behaupten, das seien tarasconische Melodieen!‹

»Jesus wandte sich halb nach ihm um: ›Schlechte Christen, glaube ich, diese Tarasconer?‹

»›O, Meister, sie haben sich seither sehr gebessert,‹ beeilte sich der gute Heilige zu antworten, denn er fürchtete, auf einen Wink der göttlichen Hand werde die Insel, der sie sich näherten, plötzlich von den Wogen des Meeres verschlungen werden.

»Diese Insel war, wie ihr wohl erraten werdet, keine andere als Port Tarascon, deren Bewohner zu Ehren des Himmelfahrtsfestes eine feierliche Prozession veranstaltet hatten.

»Und was für eine Prozession, meine Kinder!

»Zuerst die Büßerorden, die blauen, die weißen, die grauen, die Büßermönche aller Farben, denen ihre wie Krystall und Silber zusammenklingenden Glöckchen vorgetragen wurden. Nach den Büßermönchen die Schwesterschaften, alle in weißen Gewändern und wie die lieben Heiligen im Paradies in lange Schleier gehüllt. Dann kamen die alten Kirchenfahnen, so hoch droben, daß die Heiligen mit dem in die seidenen Stoffe eingewirkten goldigen Glorienschein vom Himmel zur Erde herabzusteigen schienen.

»Nun folgte ganz langsam und schwerfällig das Allerheiligste unter seinem rotsamtnen, von großen Federbüschen überragten Baldachin, und nebenher trugen die Chorknaben an langen, vergoldeten Stäben große, grüne Laternen, in denen kleine Flammen brannten. Und singend und betend, so lange der Atem reichte, zog das ganze Volk, jung und alt, hinterdrein.

»Die Prozession entfaltete sich rings um die ganze Insel, bald war sie am Strand, bald auf den Abhängen der Hügel, bald auf deren Gipfel, wo aus den großen, leicht geschwungenen Weihrauchfässern dünne, blaue Wölkchen zur Sonne emporstiegen.

»Ganz geblendet murmelte Sankt Peter nur: ›Wie schön das ist! . . .‹ Nicht ein Wort weiter, denn er verzweifelte nach so vielen vergeblichen Versuchen daran, seinen Gefährten erweichen zu können: aber da täuschte er sich gewaltig.

»Von dieser kindlichen Kundgebung des Glaubens bis ins Herz ergriffen, sah der Menschensohn die Banner von Port Tarascon flattern und blieb regungslos sinnend auf dem Kamm der Wogen stehen – zum erstenmal beklagte er seine todbringende Sendung.

»Plötzlich erhob er sein bleiches, sanftes Antlitz, und in der Stille des beschwichtigten Meeres rief er mit einer Stimme, die das ganze Weltall erfüllte, die Worte gen Himmel: ›Vater, Vater, gib Aufschub! . . .‹

»Und ohne ein Wort weiter verständigten sie sich, der Vater und der Sohn, durch den lichten Weltenraum hindurch.«

* * *

So weit war der Vater Bataillet mit seiner Erzählung gekommen. Sehr ergriffen, ohne sich zu rühren, verharrten die Zuhörer noch auf ihren Plätzen, da rief plötzlich Kapitän Scrapouchinat von der Kommandobrücke des Tutu-panpan herab: »Insel Port Tarascon in Sicht, Herr Gouverneur. In einer kleinen Stunde liegen wir auf der Reede!«

Darauf hin sprang alles auf, und es erhob sich ein großes Freudengeschrei.


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