Alphonse Daudet
Port Tarascon - Letzte Abenteuer des berühmten Tartarin
Alphonse Daudet

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Vorrede

Es war ein Septembertag vor fünf oder sechs Jahren, ein Septembertag der Provence, und die Winzer kehrten von der Weinlese heim.

Von dem großen, mit zwei Camarguern bespannten Break aus, in dem wir, der Dichter Mistral, der älteste meiner Söhne und ich, in raschem Trabe auf den Expreßzug nach Tarascon fuhren, erschien uns dieser Abend göttlich schön, der in seiner blassen Glut mit seinem matten, fahlen, fieberhaften, leidenschaftlichen Licht an ein schönes Frauenangesicht aus der Provence erinnerte.

Kein Lüftchen rührt sich trotz unsrer raschen Fahrt. Der Straße entlang steht starr und steif das spanische Rohr mit seinen flachen, bandförmigen Blättern, und auf all diesen Feldwegen in ihrem schneeigen, fast gespenstischen Weiß, deren unbeweglicher Staub unter den Rädern knirscht, ziehen mit schwarzen – lauter schwarzen – Trauben beladene, zweiräderige Karren daher; – stumm und ernst schreiten die Burschen und Mädchen hinterdrein; alle groß, kräftig und schlank, mit langen Beinen und schwarzen Augen.

Schwarze Augen und schwarze Weinbeeren überall; man sah nichts andres in den Kufen und Bütten, unter den umgekrempelten Filzhüten der Winzer und unter den Kopftüchern, deren Zipfel die Mädchen mit den Zähnen festhielten.

Hier und dort erhebt sich am Wegrand ein Kreuz gegen den hellen Himmel, das an jedem seiner Arme eine schwere, schwarze, als Weihegeschenk aufgehängte Traube trägt.

»Sieh!« warf Mistral hin und wies gerührt, mit beinahe mütterlich stolzem Lächeln auf diese naiv heidnischen Kundgebungen seines provençalischen Volkes; dann nahm er seine Erzählung wieder auf, eines jener duftigen, goldschimmernden Märchen vom Ufer der Rhone, wie sie der Goethe der Provence ausstreut mit immer offenen Händen, deren eine voll Poesie, und deren andre voll Wirklichkeit ist.

O, der Zauber der Rede, o, die magische Uebereinstimmung der Stunde, der Umgebung und der stolzen, ländlichen Sage, die der Dichter vor uns entfaltete während der langen Fahrt auf dem schmalen, zwischen Olivenfeldern und Weinbergen dahinführenden Weg! Wie wohl war es mir zu Mute, wie hell und leicht schien mir das Leben!

Plötzlich umschleierten sich meine Augen, ein Angstgefühl schnürte mir das Herz zusammen. »Vater, wie blaß du bist!« sagte mein Sohn zu mir, und ich fand kaum noch die Kraft, auf das Schloß König Renés zu deuten, dessen vier Türme mir aus dem Hintergrund der Ebene entgegensahen, und zu flüstern: »Das ist Tarascon!«

Denn wir hatten eine furchtbare Rechnung miteinander auszugleichen, die Tarasconer und ich. Ich wußte, daß sie sehr zornig waren und einen bitteren Groll gegen mich nährten wegen meiner Spässe über ihre Stadt und deren großen Mann, den berühmten, den köstlichen Tartarin. Anonyme Briefe und Drohungen hatten mich oft gewarnt.

»Wenn du jemals nach Tarascon kommst, so hüte dich!« Andre bedrohten mein Haupt mit der Rache des Helden.

»Zittere! Noch hat der alte Löwe Schnabel und Krallen!«

Ein Löwe mit Schnabel – den Teufel auch!

Und noch Schlimmeres: Von einem Gendarmerieobersten des Bezirkes hatte ich erfahren, daß ein Pariser Geschäftsreisender, der sich, sei es aus einfacher Prahlhanserei, oder weil er verhängnisvollerweise ein Namensvetter von mir war, als »Alphonse Daudet« ins Fremdenbuch eingeschrieben hatte, unter der Thür eines Kaffeehauses aufs rohste überfallen und mit einem Bad in der Rhone bedroht worden war, ganz im Sinn der lokalen Ueberlieferung:

Dé brin 'o dé bran
  Cabussaran
Dou fenestroun
  De Tarascoun
Dedins lou Rose.Aus freiem Willen
Oder gezwungen
Müssen sie wagen
Ohne zu klagen
Den Sprung vom Balkon
  Zu Tarascon
  Hinab in die Rhon'!
Anm. d. Uebers.

Es ist dies ein altes Couplet aus dem Jahr 93, das in dieser Gegend noch immer gesungen wird und seine bedeutsame Erklärung in manchem düsteren Drama findet, dessen Zeugen König Renés Türme damals waren.

Da ich nun durchaus nicht danach verlangte, von den Turmzinnen Tarascons herab kopfüber ins Wasser zu stürzen, hatte ich es bisher auf meinen Reisen in den Süden immer vermieden, diese gute Stadt zu berühren. Und nun hatte mich diesmal ein böses Geschick, der Wunsch, meinen lieben Mistral zu umarmen, und die Unmöglichkeit, den Eilzug anderswo zu erreichen, in den Rachen des Löwen »mit dem Schnabel« geführt.

Wenn ich es schließlich nur mit Tartarin allein zu thun gehabt hätte! Ein Zweikampf Mann gegen Mann, ein Duell auf vergiftete Pfeile unter den Bäumen der »Promenade« hätten mir weiter keine Angst eingeflößt. Aber der Zorn eines ganzen Volkes und die Rhone, diese unermeßliche Rhone! . . .

Ach, das Dasein eines Romandichters ist nicht immer rosig. . . .

Seltsam. Je mehr wir uns der Stadt näherten, desto leerer wurden die Wege, desto seltner die Winzerkarren. Bald lag nur noch die leere, weiße Landstraße vor uns und über der weiten Landschaft ringsum die Totenstille der Wüste.

»Das ist sonderbar,« sagte Mistral ganz leise und etwas bedrückt, »man könnte glauben, es sei Sonntag.«

»Wenn es Sonntag wäre, würden wir die Glocken läuten hören,« entgegnete mein Sohn ebenso leise; denn die Stille, die über der Stadt und deren Umkreis lag, hatte etwas Beängstigendes. Nichts, nicht der Ton einer Glocke, nicht ein Schrei, nicht einmal das Geräusch einer Stellmacherei, das in der vibrierenden Luft des Südens so hell erklingt, war zu vernehmen.

Und doch standen hier am Ende der Landstraße die ersten Häuser der Vorstadt: eine Oelmühle und das frisch verputzte Octroihäuschen.

Unser Staunen war groß, als wir bei der Einfahrt in diese lange, steinige Straße diese ganz verlassen fanden: Thüren und Fenster verschlossen, weder Hund noch Katze, keine Kinder und keine Hühner, niemand, gar niemand! Die rauchgeschwärzte Thüre des Hufschmiedes war der beiden Räder beraubt, die sonst zu ihren Seiten aufgepflanzt waren; die großen Drellvorhänge, mit denen für gewöhnlich die tarasconischen Hauseingänge vor den Fliegen geschützt wurden, eingezogen, verschwunden wie diese Fliegen selbst und wie der köstliche Qualm von Knoblauchsuppe, der zu dieser Stunde allen Küchen hätte entströmen sollen.

Tarascon, das nicht nach Knoblauch roch – kann man sich so was vorstellen! Mistral und ich sahen einander erschrocken an und hatten wahrhaftig Grund genug dazu. Auf das Gebrüll einer wahnwitzigen Volksmenge gefaßt sein, und dann plötzlich von der Totenstille eines Pompeji empfangen werden!

In der Stadt, in der unsren Augen seit unsrer frühesten Jugend jedes Haus, jeder Laden vertraut war, mußte diese Verlassenheit noch viel packender wirken. Geschlossen die Bezuquetsche Apotheke auf der Placette, geschlossen auch der Costecaldesche Waffenladen und der um seiner Karamelen willen berühmte Rébuffatsche Zuckerbäckerladen. Verschwunden die Tafel am Hause des Notars Cambalalette und das auf Leinwand gemalte Schild des Marie Joseph Spiridion Excourbaniès, der Arleser Würste fabrizierte; denn die Arleser Würste werden in Tarascon verfertigt, auf welche große historische Ungerechtigkeit ich im Vorübergehen aufmerksam machen möchte.

Aber was nur aus den Tarasconern geworden war? Unser Break rollte den Korso entlang in dem linden Schatten der Platanen, deren glatte, weiße Stämme in regelmäßigen Abständen gen Himmel strebten; hier sang keine Cikade mehr, auch die Cikaden waren fortgeflogen! Und vor dem Hause Tartarins, das mit verschlossenen Fensterläden so blind und stumm dalag wie seine Nachbarn, da stand an der niedern Mauer des berühmten Gärtchens keine Wichseschachtel und kein kleiner Schuhputzer mehr, der rief: »Wichsen gefällig, Herr?«

Einer von uns sagte: »Vielleicht ist die Cholera hier.«

Wenn nämlich in Tarascon eine Epidemie ausbricht, so ziehen die Einwohner aus und kampieren in beträchtlicher Entfernung von der Stadt unter Zelten, bis die Gefahr der Ansteckung vorüber ist.

Bei dem Wort Cholera, bei dem alle Provençalen von einer unbändigen Angst erfüllt werden, trieb der Kutscher die Pferde kräftig an, und wenige Minuten später hielten wir an der Treppe zum Bahnhof, der oben in gleicher Höhe mit dem großen, die Stadt beherrschenden Viadukte steht.

Hier trafen wir wieder Leben, menschliche Stimmen und Gesichter. Auf den sich kreuzenden Schienengeleisen fuhren fortwährend Züge nach beiden Richtungen, hielten an, während Thüren klappten und die üblichen Rufe ertönten: »Tarascon, fünf Minuten Aufenthalt . . . Wagenwechsel nach Nimes, Montpellier, Cette. . . .«

Sofort eilte Mistral auf den Aufsichtsbeamten zu, einen alten Staatsdiener, der seinen Bahnhof seit fünfunddreißig Jahren nicht verlassen hat.

»Nun, Freund Picard . . . was ist denn das mit den Tarasconern? Wo sind sie? Was habt ihr denn mit ihnen angefangen?«

Der andre, ganz überrascht von unsrem Staunen, entgegnete: »Wie! . . . Sie wissen es nicht? . . . Aber wo kommen Sie denn her? . . . Lesen Sie denn gar nichts? . . . Sie haben sie doch genügend angepriesen, ihre Insel Port Tarascon. Nun ja, mein Bester . . . fort sind sie, die Tarasconer . . . fort, um eine Kolonie zu gründen, – den berühmten Tartarin an der Spitze. . . . Und alles haben sie mitgenommen, haben sie fortgeschafft, selbst die »Tarasque«.Ein Wahrzeichen der Stadt in Form eines Drachens, der in Tarascon bei gewissen Festen umhergefahren wird. Anm. d. Uebers.

Er unterbrach sich um einige Befehle zu geben, und eilte dem Geleise entlang, während wir zu unsren Füßen die großen und kleinen Schloß- und Kirchtürme der verlassenen Stadt, von der untergehenden Sonne beleuchtet, emporragen sahen und die alten Wälle betrachteten, denen die Sonne eine prächtige Butterteigfarbe lieh, so daß man nicht umhin konnte, an eine knusperige Schnepfenpastete zu denken, von der nur noch die Kruste übrig geblieben ist.

»Nun sagen Sie aber einmal, Herr Picard, wann ist denn diese Auswanderung erfolgt?« fragte Mistral den Beamten, der mit seinem freundlichen Lächeln auf uns zukam und sich über die fortgezogenen Tarasconer weiter keine Sorge zu machen schien.

»Vor einem halben Jahr.«

»Und hat man keine Nachricht von ihnen?«

»Gar keine.«

O weh! Bald nachher erhielten wir so viele genaue, ausführliche Nachrichten, daß ich mir gestatten darf, den Auszug dieses tapfren kleinen Volkes unter der Führung seines Helden und die Mißgeschicke, von denen es heimgesucht wurde, zu erzählen.

Pascal hat gesagt: »Man braucht das Angenehme und die Wirklichkeit, aber auch das Angenehme muß wahr sein.« Ich habe mich bemüht, in der Geschichte von Port Tarascon seiner Vorschrift nachzukommen.

Meine Erzählung beruht auf Wahrheit und ist aus den Briefen der Auswanderer, den »Erinnerungen« des jugendlichen Sekretärs Tartarins und den der Gazette des Tribunaux entnommenen Zeugenaussagen zusammengestellt.

Sollte man auch hier oder dort einer etwas allzutollen Tarasconnade begegnen, so soll mich gleich das Mäusle beißen, wenn ich sie erfunden habe!Siehe die Zeitungen von vor zwölf Jahren über den Prozeß des »Neuen Frankreich« und der Kolonie Port Breton, sowie das interessante von Doktor Baudouin, dem Arzt der Expedition, bei Dreyfuß herausgegebene Buch. Der Verfasser

Erstes Buch.


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