Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Siebentes Kapitel.

Volksbelustigungen.

Es war am Nachmittag eines ersten Maisonntags. Ein prächtiger, heller Tag, ein Tag, der der Jahreszeit um ganze vier Wochen vorausgerückt war, ein Tag so warm, daß man den Landauer herunter gekippt hatte, in welchem die Königin Friederike, der kleine Prinz und sein Erzieher im Walde von Saint-Mandé spazieren fuhren.

Dieses durch die jungen Zweige dringende erste Frühjahrskosen hatte der Königin das Herz gewärmt, wie es auch ihr Antlitz unter der blauen gespannten Seide ihres Schirms fröhlich aufhellte. Sie fühlte sich glücklich, ohne Ursache hierzu zu haben, und vergaß auf ein paar Stunden inmitten der Milde und Liebe, die das ganze All durchflutete, die Härte und Bitternis ihrer ganzen Lebenstage. In eine Ecke des wuchtigen Wagens geduckt, ihr Kind gegen sich gepreßt, überließ sie sich ganz ungezwungen einem traulichen Gespräche, dessen Sicherheit hier durch nichts gestört wurde, mit dem ihr und ihrem Kinde gegenüber sitzenden Elysée Méraut.

»Es ist merkwürdig,« sagte sie zu ihm, »mir ist's ganz so, als wenn wir uns schon früher einmal gesehen hätten, ehe wir uns kennen lernten. Ihre Stimme, ihre Gestalt haben in mir sogleich den Eindruck einer Rückerinnerung geweckt. Wo können wir uns wohl zum ersten male begegnet haben?«

Der kleine Zara erinnerte sich jenes ersten Males recht gut. Es war dort unten in dem Kloster gewesen, in jener Kirche tief unter der Erde, wo ihm Herr Elysée eine so starke Furcht eingejagt hatte. Und in dem schüchternen und weichen Blicke, den das Kind auf seinen Lehrer richtete, fühlte man noch immer einen geringen Grad von dieser abergläubischen Furcht . . . Aber nicht doch! schon vor jenem Weihnachtsabende, war die Königin überzeugt, müßten sie einander gesehen haben!

Elysée ließ ein Lachen vernehmen.

»In der That! Eure Majestät irren sich nicht. Sie hatten mich gesehen, nicht in einem andern Leben, sondern in Paris am selben Tage, als sie hier ankamen. Ich hatte meinen Standort gegenüber dem Pyramiden-Hotel, oben auf der Untermauerung des Tuilerieen-Gitters.«

»Und Sie haben gerufen: ›Es lebe der König!‹ . . . Jetzt besinne ich mich . . . Also Sie sind das gewesen! O, wie gern ich das höre! Sie haben uns das erste Willkommen hier geboten! O, wüßten Sie, wie wohl mir Ihr Ruf gethan hat . . . .«

»Und mir doch auch!« versetzte Méraut. »So lange Zeit hindurch hatte ich keine Gelegenheit gehabt, ihn auszustoßen, diesen sieghaften Ruf: ›Es lebe der König!‹ . . . So lange Zeit hindurch summte er mir auf dem Rande der Lippen! Es ist ein Haus-, ein Familienwort, das gepaart ist mit allen Freuden meiner Kinder, meiner Jünglingszeit – ein Ruf, in welchem wir daheim unsere Empfindungen, unseren Glauben zusammen faßten. Dieser Ruf leiht mir – vorübergehend – den südländischen Accent, die Gebärde und die Stimme meines Vaters wieder: es drängt mir die nämliche Rührung, die nämliche Wehmut in die Augen, die ich so viele male bei ihm gesehen habe . . . Armer Mann! es war ihm eingeboren! Ein Glaubensbekenntnis, das Ausdruck erhielt in einem einzigen Worte . . . Eines Tages, damals als er aus der Heimfahrt von einer Reise nach Frohsdorff durch Paris kam, ging der Vater Méraut gerade über den Platz des Karussels, als Louis-Philippe's Ausgang erwartet wurde. Es warteten Leute dicht am Gitter, Leute mit gleichgültigen, fast feindseligen Gesichtern – ein Volk, wie es auszusehen pflegt, wenn eine Regierung sich ihrem Ende zuneigt. Mein Vater, als er hörte, daß der König vorbeikommen werde, drängt sich vor, stößt alles auf die Seite und stellt sich in der ersten Reihe auf, um diesen Räuber, diesen Bettler von Louis-Philippe, der dem legitimen Hause den Thron gestohlen, mit Augen zu sehen, mit seinem Blicke zu messen, mit seiner Verachtung zu überschütten. Plötzlich erscheint der König, schreitet über den öden Hof, inmitten einer Grabesstille, einer wuchtigen, den ganzen Palast in Trümmer legenden Stille – eine Stille als hörte man deutlich die Flinten der Empörung sich wappnen und die Stützen des Throns krachen.. Louis-Philippe war schon alt, ein mächtiger Philister, und kam mit kurzen, watschelnden Schritten, den Regenschirm in der Hand nach der Einfriedigung zu. Nichts vom Souverän! keine Spur vom Herrscher! Aber mein Vater sah ihn nicht in solchem Lichte; und der Gedanke, daß in dem großen Königspalaste von Frankreich, der mit glorreichen Erinnerungen gepflastert ist, der Repräsentant der Monarchie von Gottes Gnaden seinen Weg nahm durch diese erschreckende Einsamkeit, welche der Volkshaß den Fürsten bereitet, da regte sich etwas in ihm, empörte sich etwas in ihm – und er vergaß all seinen Groll, ging plötzlich instinktiv aus sich heraus, zeigte wer er sei, und schrie oder schluchzte vielmehr ein »Es lebe der König!« – einen Ruf – so zitternd und bebend, so überzeugungstreu und wahr, daß der greise Herrscher erbebte und mit einem langen Blicke, der Rührung und Ergriffenheit voll, meinem Vater dankte.

»So hätte ich Ihnen danken müssen!« sagte Friederike, und ihre Augen hafteten sich auf Méraut mit einer rührenden, zärtlichen Dankbarkeit, daß der arme Bursche fühlte, wie blaß er wurde. Fast ebenso schnell nahm sie wieder, ganz bei der Erzählung, die sie eben vernommen, das Wort:

»Ihr Vater war aber doch kein Mann aus dem Adelsstande?«

»O nein, Majestät! . . der bescheidenste, niedrigste Mensch, der sich denken läßt . . nur ein Weber-Tagelöhner –«

»Das ist seltsam!« sagte sie träumerisch.

Und da er hierauf die Antwort nicht schuldig blieb, nahm ihr ewiger Wortstreit über diesen Punkt wieder seinen Anfang. Die Königin liebte das Volk nicht, verstand das Volk nicht, hatte eine Art physischen Grausens vor ihm. Sie fand es grob und rüde, abschreckend in seinen Belustigungen, wie in seinen Vergeltungen. Sogar bei den Festlichkeiten ihrer Krönung, während der Flitterwochen ihrer Regierung, hatte sie Furcht vor ihm, vor seinen tausenden von Händen, die sich nach ihr erhoben, sie zu begrüßen, und von denen sie sich festgehalten, gefangen fühlte. Niemals hatte sie sich mit dem Volke, hatte das Volk sich mit ihr verstehen können; Gnade, Gunst, Almosen waren von ihr zu ihm hernieder gegangen, gleich jenen mit Fluch beladenen Ernten, die nicht zum Keimen gelangen können, ohne daß man indes der Härte des Erdreichs oder der Unfruchtbarkeit des Samens unbedingt die Schuld daran geben könnte.

Unter den Ammenmärchen, mit denen Madame von Silvis den Geist des jungen Prinzen umnebelte, befand sich auch die Geschichte eines jungen Mädchens aus Syrien, das einem Löwen vermählt war und vor ihrem wilden Manne, seinem Brüllen, seiner gewaltigen Weise seine Mähne zu schütteln, eine grausige Furcht empfand. Und doch war er voll der Aufmerksamkeiten, der liebreichen Zärtlichkeiten, dieser arme Löwe! er trug seinem kindlichen Frauchen seltenes Wild herbei und Honigscheiben, wachte über sie, dieweil sie schlummerte, legte dem Meere, den Wäldern, den Tieren Schweigen auf. Es half alles nichts! Sie behielt ihren abstoßenden Widerwillen, ihre verletzende, kränkende Furcht, bis zuletzt der Tag sich nahte, an welchem der Löwe ergrimmte, ihr ein fürchterliches »Hebe dich von mir!« zubrüllte, mit weitaufgerissenem Rachen und flammender Mähne, als hätte er ebensoviel Lust gehabt sie zu verschlingen, als sie laufen zu lassen. Es war das halb und halb die Geschichte von Friederiken und ihrem Volk; und seitdem Elysée an ihrer Seite lebte, strebte er vergeblich darnach, ihr für die verborgene Güte, die ritterliche Ergebenheit, die grimmen Empfänglichkeiten dieses großen Löwen Verständnis zu eröffnen, der soviel mal brüllt, um zu necken, zu scherzen, ehe er in seinen gewaltigen Zorn gerät. Ach! wenn die Könige doch nur gewollt hätten! wenn sie sich minder mißtrauisch gezeigt hätten! . . . Und als Friederike ihren Schirm mit ungläubiger Miene bewegte, da redete er weiter:

»Ja doch, ich weiß es ja! Das Volk hat Ihnen Furcht bereitet! Sie lieben es nicht, oder vielmehr, Sie kennen es nicht! Möchte doch Ihre Majestät um sich blicken in diesen Alleen, unter diesen Bäumen . . . Es ist doch der schrecklichste Vorort von Paris, der sich hier ergeht und erlustigt, jener Vorort, aus welchem die Revolutionen durch die aufgerissenen Straßen herniedersteigen! Möchte doch Ihre Majestät sehen, wie schlicht und gut, wie natürlich und harmlos die Miene von all diesem Volke ist! wie es sich labt und weidet an dem Genusse eines Ruhetages, einer sonnigen Jahreszeit!«

Aus der großen Allee, in welcher der Landauer im Schritt entlang fuhr, sah man wirklich unter den noch dürren, von den ersten wilden Hyazinten in Blau gekleideten Dickichten Frühstückstafeln zu ebener Erde hergerichtet, deren weiße Teller dort wie große Flecken erschienen neben den aufgeklappten Korbdeckeln und den dicken Gläsern aus den Schenken von Weinhändlern, die in dem frischgesproßten Grün wie große Klatschrosen eingesetzt standen, und zwischen Umschlagetüchern und Blusen, die über Zweige gehängt waren; während die Frauen im Leibchen, die Männer in Hemdsärmeln dasaßen. Es wurde gelesen; es wurden Mittagsruhen gehalten; mühsame Näharbeiten waren über Baumstümpfe gehängt oder auf lustige Lichtungen gebreitet, wo nun Fähnchen aus billigem Stoffe flatterten beim Federball- oder Blinde-Kuh-Spiel, bei einer erstbesten Quadrille, die nach den Klängen eines unsichtbaren, vom Winde stoßweise herübergetragenen Musik-Orchesters getanzt wurde. Und Kinder, ganze Scharen von Kindern tollten sich hier, bildeten zwischen den Tischen und Spielplätzen die verbindenden Glieder, liefen zusammen von einer Familie zur anderen, mit lustigen Sprüngen und fröhlichem Geschrei, erfüllten den ganzen Wald mit einem unermeßlichen Schwalben-Gezwitscher von einem Flecke zum andern mit ihrem kein Ende findenden Kommen und Gehen, das in dem hellen Zweigicht dem flinken, neckischen Fluge, dem schwarzen Geschwirr der behenden Vögelchen recht ähnlich war. Im Gegensatze zu dem sorgsam gepflegten, geharkten, von seinen kleinen bäurischen Hecken geschützten Boulogner Walde schien dieser Wald von Vincennes mit seinen nach allen Seiten hin freien Grenzen und Bahnen, mit seinen grünen, zertretenen Rasenflächen, seinen gebogenen und widerstrebenden Bäumen so recht geeignet und bereitet zu sein für die ausgelassene Fröhlichkeit, die ungebundene Lustigkeit eines seinen Feiertag haltenden Volkes, wie wenn die Natur sich hier gütiger, lebenskräftiger gestaltete.

Da plötzlich, an einer Biegung, welche die Allee machte. wehte von dem, mit seinen rasenbestandenen Ufern den Wald nach allen Seiten hin zurückdrängenden See ein Frühlingshauch so jäh ihnen entgegen, trat ihnen das helle Licht der silberklaren Wasserfläche so jäh vor die Augen, daß dem königlichen Kinde ein Ausruf des Entzückens, der Begeisterung entlockt wurde. Es war ein Anblick, so prächtig, so erhaben, wie er das Auge des Wanderers labt, der das Wirrsal der Schottersteine eines Bretagner Dorfes mit Beschwerden und Mühen durchschritten hat, und dessen Blicken sich plötzlich das Meer aufthut, das seine Wellen bis an den Fuß der letzten Gasse heranflutet. Beflaggte Barken, mit Ruderern in hellem Blau und grellem Rock, durchkreuzten den See in allen Richtungen mit den Silberfurchen, die ihre Ruder zogen, mit dem weißen Schaum der kleinen Wellen, die sie schlugen. Und Scharen von Enten schwammen schnatternd auf der blinkenden Flut; Schwäne in leichtem, vom Hauche des Windes geblähtem Gefieder zogen mit stolzerem Gebahren an dem weiten Umkreise des Gestades ihre Bahn, während ganz im Hintergrunde, hinter den grünen Vorhang einer Insel gruppiert, die Musik dem ganzen Walde rhythmische Weisen sandte, denen die Wasserfläche des Sees als Sprungbrett diente, das die Töne weiter schnellte. Über all dies hin und rings überall flutete fröhliches Gewirr, strich der Wind und strich die Welle, wehten und klatschten die Wimpel, riefen die Kahnfahrer – dazu der Ring, der auf den Hängen am See durch sitzende Gruppen gezogen, durch Kinder geschlossen wurde, die aus zwei kleinen, fast mitten in das Wasser hineingebauten Cafés, die mit ihren durchbrochenen Wandungen den Eindruck eines Badeboots und Dampfboots zugleich erweckten, über die sonor wie eine Brücke hallenden Dielen hin und her, und her und her liefen. Am Gestade des Sees wenige Wagen! Von Zeit zu Zeit ein Kremser, der die nachfeiernden Gäste einer vorstädtischen Hochzeit, kenntlich am neuen Tuche der Röcke und an den schillernden Arabesken der Umschlagetücher, entlang trug; oder auch Kastenwagen aus der Geschäfts- und Handelswelt, die ihr Schild mit goldener Aufschrift spazieren fuhren und mit dicken Damen in blumigen Hüten beladen waren, die auf die im Sande stampfenden Fußgänger mit Blicken des Bedauerns und Mitleids hernieder sahen.

Was aber dem Beschauer vor allem andern in die Augen fiel, das waren jene Kinderwägelchen, der erste Luxus, den sich der Arbeiter im Ehestande gestattet – jene laufenden, rollenden Wiegen, in denen sich kleine, von Spitzenhäubchen umrahmte Köpfchen glückselig schaukeln und, die Augen zu dem Netze erhoben, das die Äste und Zweige über das Himmelsblau flechten, des Schlummers warten.

Zwischen allen diesen Spazierfahrten von kleinem Volk fuhr die mit dem Wappen Illyriens geschmückte Karosse, mit ihrem Gespann und ihrer Livree, nicht hindurch, ohne ein gewisses Erstaunen wachzurufen; denn Friederike war nie anders hierher, als an Wochentagen gekommen. Man stieß sich mit dem Ellbogen an; die Scharen von Arbeiterfamilien, die sich in dem beklemmenden Zwange des Sonntagskleids und der Sonntagsfeier still und schweigsam verhielten, traten nach hüben und drüben, wenn sie das Knarren der Räder hörten, drehten sich nachher um und geizten nicht mit Ausdrücken ihrer Begeisterung über die erhabene Schönheit der Königin an der Seite der aristokratischen Kindlichkeit Zara's. Und manchmal drang auch ein kleines freches Frätzchen aus dem Dickicht am Waldesrande vor, um den Ruf auszustoßen: »Guten Tag, gnädige Frau Königin!« Waren es Elysée's Worte? war's der Glanz der Witterung? oder die bis nach jenen Tiefen am Horizonte hin, deren heitere Ruhe und echt ländlicher Charakter von den über Sonntag außer Betrieb gesetzten Fabriken nicht gestört oder beeinträchtigt wurde, sich ergießende Lust und Fröhlichkeit? oder die Herzlichkeit dieser Begrüßungen, dieser Willkommenrufe? Friederike fühlte eine Art von Teilnahme, von Interesse für diesen Arbeitersonntag, der sich fast allerorten mit zu Herzen gehender Nettigkeit und Sauberkeit geschmückt hatte, die um so rührender wirkten, wenn die schwere Arbeit der Wochentage und die Spärlichkeit der Ruhetage in Betracht gezogen wurde. Zara, der kleine Prinz, saß nicht einen einzigen Augenblick auf einem und demselben Fleck, sondern zappelte, zitterte in dem Wagen hin und her – für sein Leben gern wäre er ausgestiegen, hätte sich mit den andern Kindern auf den Rasenplätzen gewälzt, wäre mit ihnen in die Kähne und Barken gestiegen.

Jetzt kam der Landauer in Alleen, wo es minder laut und geräuschvoll war, wo Leute auf den Bänken lasen und schliefen, wo eng aneinander geschmiegte Pärchen an den dichten Gebüschen entlang wandelten. Hier hütete der Schatten ein wenig Geheimnis, eine Quellfrische, echte und rechte Waldesdüfte. Vögel zwitscherten in dem Zweigicht. Je weiter man sich aber von dem See entfernte, der alles Lärmen in sich aufsaugte, desto deutlicher schallte das Echo eines anderen Festes herüber, auf welchem mit Flinten geschossen, mit Pauken und Trommeln gerührt, mit Trompeten geschmettert, mit Glocken geklingelt wurde, von wo sich ein großes Geschrei und Getöse erhob, das sich plötzlich wie eine Rauchwolke über die Sonne lagerte. Man hätte meinen können, daß eine Stadt gebrandschatzt und geplündert würde.

»Was ist denn das? was läßt sich denn dorten vernehmen?« fragte der kleine Prinz.

»Das ist die Pfefferkuchen-Messe, Königliche Hoheit,« sagte der alte Kutscher, sich auf seinem Sitze herumwendend. Und da die Königin darein willigte, daß der Wagen sich dem Feste näherte, lenkte derselbe nun aus dem Parke hinaus und rollte durch eine Menge von kleinen Gäßchen, von halbgebauten Wegen, wo neue sechsstöckige Häuser sich emporreckten neben armseligen Schlupfstätten, zwischen einer aus einem Stalle fließenden Gosse und dem Garten eines Gemüsehändlers. Ein Ausschank neben dem andern mit Fäßchen, Tischchen und Schenkvorrichtungen, alles bemalt mit dem gleichen häßlichen Grün. Das wimmelte von Menschen; der Soldaten waren in Menge da, Tschakos von Artilleristen und weiße Handschuhe. Des Lärmens wenig! Man hörte den wandernden Harfen- oder Geigenspieler, der, wenn ihm Erlaubnis gegeben wurde zwischen den Tischen zu spielen, ein Lied aus der »Favoritin« oder aus dem »Troubadour« herunterhaspelte; denn dies Pariser Volk mit dem großen Munde betet die sentimentale Musik an und teilt Almosen mit verschwenderischer Hand aus, sobald es sich freut und erlustigt.

Plötzlich hält der Landauer an. Die Wagen dürfen nicht weiter fahren, als bis zum Eingange jener breiten Vincenner Landstraße, längs deren die Jahrmarktsbuden aufgestellt sind bis hin zu den beiden, in einer staubigen Weichbild-Atmospäre emporsteigenden Säulen der Barriere du Trône, welche nach Paris zu die Grenze des Jahrmarktes bilden. Was man von dem Platze aus sah, wo der Landauer fuhr, war ein Ameisengewimmel von freier Menschheit inmitten einer richtigen Straße aus ungeheuren Baracken, und entflammte in den Augen des kleinen Zara einen so starken Reiz, eine so kindliche Neugierde, daß die Königin vorschlug, aus dem Wagen zu steigen. Es war etwas so Außergewöhnliches, dieser Wunsch der stolzen Friederike, sich zu Fuß in den Staub eines Sonntags hinein zu begeben, und Elysée war hierüber dermaßen erstaunt und verwundert, daß er zögerte . . .

»Ist denn Gefahr zu befürchten?«

»O! nicht die geringste, Königliche Hoheit! Bloß wird es, wenn wir auf den Jahrmarkt gehen, besser sein, daß uns niemand begleite. Die Livree wird uns zu sehr kenntlich machen.«

Auf einen Befehl der Königin nahm der lange Lakei, der sich schon anschickte, ihnen zu folgen, seinen Platz auf dem Sitze ein, und man kam überein, daß der Wagen da, wo er hielt, ihrer warten sollte. Sie rechneten ja ganz sicher darauf, nicht den ganzen Jahrmarkt sich anzusehen, sondern dachten bloß ein paar Schritte bis vor die ersten Buden hin zu machen.

Es standen am Eingange kleine fliegende Zelte, ein mit weißem Tuche gedeckter Tisch, Schießbuden, Drehscheiben. Die Leute gingen vorüber, ohne stehen zu bleiben, mit geringschätzigen Blicken. Dann Buden, in denen im Freien gebacken und gebraten wurde, die von einem scharfen Geruch nach verbranntem Fett umlagert waren, und aus denen große hellrosige Flammen in das Tageslicht hinein züngelten, während weißgekleidete Bäckerjungen hinter Bergen von überzuckerten Pfannenkuchen standen. Und der Lederzucker-Sieder, der den weißen, nach Mandeln riechenden Teig zu riesigen Ringeln zieht und dreht! . . . Der kleine Prinz sah mit Verwunderung und Staunen zu. Es war dies etwas so Neues für ihn, der wie ein Vöglein im Käfig gehalten, in den hohen Gemächern eines Schlosses, hinter den vergoldeten Thoren eines Parkes erzogen und mitten unter Schrecknissen, unter Mißtrauen und Groll aufgewachsen war – der niemals anders als in Begleitung ausgegangen war, niemals einen Blick ins Volk gethan hatte, als von einem Balkon herunter oder aus einem von Gardisten umrittenen Wagen heraus. Zuerst war er schüchtern und ängstlich und ging dicht an seine Mutter geschmiegt, die ihn kräftig an der Hand hielt. Nach und nach aber berauschte er sich an dem festlichen Lärm und dem festlichen Dufte. Die Lieder und Weisen der Drehorgeln regten ihn an. Es lag eine tolle Lust darin, so zu laufen, daß er Friederiken mit fortzog, in dieser Lust, die von dem Drange, immer vorwärts, immer weiter zu eilen dort hinunter, wo der Lärm größer, wo die Menge dichter war, bekämpft wurde.

Auf diese Weise entfernten sie sich, ohne es gewahr zu werden, von ihrem Ausgangspunkte unter dem Einflusse eines ähnlichen Mangels an Empfindung, wie er bei dem Schwimmer vorhanden ist, den das Wasser in den offenen Strom hinausträgt. Und um so leichter entfernten sie sich weiter und weiter, als niemand sie bemerkte, als unter den anfallenden Kleidern, die hier getragen wurden, das glatte, schlichte Kostüm der Königin aus mehreren mattgelben Farben, Robe, Mantel, Kopfputz in entsprechender Wahl, ebenso unbemerkt vorbeiglitt, wie die bescheidene Vornehmheit Zara's, dessen steif gestärkter großer Kragen, nackte Waden, kurze Jacke einigen gutmütigen Weibern bloß den Ausruf: »Das ist ein Engländer!« entlockten. Er ging zwischen seiner Mutter und Elysée einher, die über die Freude des Kindes ein Lächeln austauschten. »O! Mama! sieh doch nur! Ach, Herr Elysée! was macht man denn dort unten? Laß es uns doch ansehen, Mama!« Und von einer Seite der Straße zur anderen, im wunderlichen Zickzack, geriet man immer tiefer hinein in die sich drängende Menge dadurch, daß man ihrer flutenden Bewegung folgte.

»Ob wir zurückgingen?« schlägt Elysée vor. Aber das Kind ist wie trunken. Es bittet, zieht die Mutter an der Hand fort – und sie! sie ist so glücklich, daß sie ihr müdes, verschlafenes Kind aus seinem Stumpfsinne, aus seiner Trägheit gerissen sieht; sie ist selbst so überreizt von diesem gärenden Leben und Weben des niederen Volks, daß man noch immer weiter geht und weiter . . .

Der Tag wird wärmer, als wenn die Sonne in ihrem Niedergange mit ihren Strahlenspitzen einen Gewitter-Regen zusammenzöge. Und in dem Maße, wie der Himmel sich verändert, nimmt das Fest mit seinen tausenden von Farben einen feenhaften Anblick. Es ist die Stunde der Schaustellungen. Das ganze Personal der Cirkusse und Baracken ist draußen unter den kleinen Zeltdächern, die vor dem Budeneingange aufgeschlagen sind, vor jenen als Schilder bemalten Leinwanden, die, wenn der Wind sich in sie setzt und sie aufbläht, den gewaltigen Tieren, den Reck- und Turnkünstlern, den Herkulessen, mit denen sie bemalt sind, Leben und Bewegung zu leihen scheinen. Hier ist die Schaustellung des großen Soldatenstückes, eine Entfaltung von Kostümen und Uniformen aus den Zeiten des neunten Karl und des fünfzehnten Ludwig, von Hakenbüchsen und Flinten, von Perrücken zusammen mit Federstutzen; dazu die Marseillaise, gespielt von der Blechmusik des Orchesters, während drüben auf der andern Seite die jungen Rosse eines Cirkus, an weißen Zügeln, wie für Braut oder Hochzeitskutschen geschirrt, auf der Estrade gelehrte Gangarten ausführen, mit dem Hufe Exempel rechnen, mit dem Brustriemen Komplimente schneiden; während nebenan die richtige Gaukler- und Seiltänzer-Bude ihren Bajazzo in der großkarrierten Jacke, ihre »wilden Männer« von kleiner Figur, in den enganliegenden Trikot gepreßt, zur Schau stellt und eine lange Dirne mit sonnengebräuntem Kopfe, ganz in rosa Ballerinen-Kostüm gekleidet, mit goldenen und silbernen Kugeln wirft, mit Flaschen und Messern, mit blitzenden, klirrenden Klingen aus Zinn jongliert, die sich über ihrer mit bunten Glasnadeln hoch aufgesteckten Haarfrisur kreuzen und schneiden.

Der kleine Prinz verliert sich in dem Anschauen dieser schönen Person und findet des Bewunderns und Staunens kein Ende, als eine Königin, eine richtige Königin aus der Märchen- und Feenwelt, mit strahlendem Diadem und kurzen Röckchen aus silberdurchwirkter Gaze, an der Rampe lehnend mit übereinander geschlagenen Beinen, sich seinen Blicken zeigt. Er würde nicht müde werden sie zu betrachten; aber das Orchester schafft ihm Zerstreuung; ein Orchester von außergewöhnlicher Art, zusammengesetzt nicht aus französischen Garde-Soldaten, auch nicht aus Herkulessen in Rosa-Trikot, sondern aus richtigen vornehmen Herrschaften: ein Herr mit kurzem Backenbart, schimmernder Glatze und in Jagdstiefeln geruht das Klapphorn zu blasen, während eine Dame, eine richtige vornehme Dame, die eine Wenigkeit von dem feierlichen Wesen der Frau von Silvis an sich hat, in seidener Mantille, den Hut mit zitternden Blumen geschmückt, die große Trommel schlägt, dabei zerstreuten Wesens die Blicke nach rechts und nach links wirft und Schwenkungen mit den Armen macht, welche die Chenille-Fransen ihrer Mantille bis zu den Rosen ihres Hutes hinauf erschüttern. Wer weiß? Wohl am Ende auch eine in Not und Unglück gestürzte Königs-Familie? . . . Aber die Jahrmarktswiese bot anderer erstaunlicher Dinge noch viele.

In einem endlosen und ununterbrochen wechselnden Panorama tanzten Bären am Ende ihrer Ketten, Neger im Linnenschurze, Teufel und Teufelinnen mit prall um den Kopf geschnürter Purpurbinde; gestikulierten Faust- und Ringkämpfer von großem Namen, mit in die Hüfte gestemmter Faust, in der andern das dem Dilettanten, der sich zum Kampfe stellen will, bestimmte Unterbeinkleid über der Menge schwenkend; neben ihnen eine Fechtmeisterin im gepanzerten Leibchen, mit roten, goldgezwickelten Strümpfen, die Maske über das Gesicht und über die Hand den ledernen Fechthandschuh gezogen; dann ein in schwarzen Samt gekleideter Mensch, der Ähnlichkeit mit einem, magische Kreise mit seiner diamantenbeknopften Reitpeitsche beschreibenden Columbus oder Copernicus hat; während man hinter der Estrade in einem welken Haar- und Stallgeruche die wilden Tiere der Garel'schen Tierbude brüllen hörte. Alle diese lebendigen Merkwürdigkeiten verquickten sich mit jenen anderen, die bloß im Bilde dargestellt waren: Riesendamen in Ball-Tournüre mit nackten Schultern, mit Armen in rosigem Flaum von dem kurzen Ärmel an im eng zusammen geknöpften Handschuh; Schattenrisse von Somnambulen, welche mit verbundenen Augen die Zukunft lasen und zur Seite eines schwarzbärtigen Doktors saßen; Ungeheuer, Mißgeburten, Naturspiele, sämtliche Verschrobenheiten und Absonderlichkeiten, manchmal überschattet bloß von zwei großen, mittels eines Strickes gehaltenen Tüchern, neben einem Sessel, auf welchem die Büchse für die laufenden Tageseinnahmen steht.

Und überall, auf Schritt und Tritt, der König des Festes, der Pfefferkuchen unter allen Gesichtspunkten, allen Gestalten und Formen, in feinen, rot ausgeschlagenen, mit Gold ausgefransten Verkaufsbuden, gewickelt in Glanzpapier mit bunten Bildern, verziert mit Zuckerwerk und mit gebrannten Mandeln – der Pfefferkuchen in Gestalt von Männchen und Weibchen flachen, grotesken Gliederbaus, die alle Pariser Berühmtheiten vorstellen: den Liebhaber von Amanda, den Prinzen ›Hühnersterz‹ mit dem von ihm unzertrennlichen ›Sumpfhuhn‹. Der andre Pfefferkuchen wieder, der in Körben, auf fliegenden Gestellen getragen wird und einen lieblichen Duft nach Honig und gesottenen Früchten durch die langsam dahinflutende, eng zusammengedrängte Menschenmenge verbreitet, in welcher die Bewegung recht schwierig zu werden anfängt.

Unmöglich, ganz unmöglich, jetzt die Schritte zurück zu lenken! Man kann nicht anders, als diesem herrischen Strome folgen, vorwärts schreiten, zurück weichen, unbewußt geschoben und gedrängt nach dieser, dann nach jener Bude; denn diese lebendige Flut, die sich inmitten des Festes drängt, sucht und strebt an den Ufern auszutreten, ohne daß es ihr möglich wird einen Ausweg zu finden. Und Gelächter erschallt, Witze werden gerissen in diesem fortwährenden und aufgezwungenen Gedränge und Geschiebe. Niemals hat die Königin das Volk in so dichter Nähe gesehen. Fast durch seinen Atem und durch die rauhe Berührung mit seinen rauhen, derben Schultern gestreift, gerät sie in Verwunderung darüber, daß sie weder Abscheu noch Schrecken empfindet, bewegt sich gemeinsam mit den andern vorwärts, in jenem zögernden Schritte vielköpfiger Mengen, welcher sich anzuhören scheint wie das flüsternde leise Auftreten bei feierlichen Märschen und sich auch im Falle der Abwesenheit von Wagen, eine Art feierlichen Charakters bewahrt. Die frohe Laune von allen diesen Leuten leiht ihr Stärkung und Ruhe, nicht minder auch die überströmende Lustigkeit ihres Sohnes und diese Menge von kleinen Kinderwägelchen, die nicht aufhören sich im dichtesten Gedränge zu bewegen. »Stoßt doch nicht, drängt doch nicht . . . Ihr seht doch, daß hier ein Kind getragen wird!« Nicht ein Kind, sondern zehn Kinder, zwanzig Kinder, hunderte von Kindern, die von den Müttern an der Brust, von den Vätern auf dem Rücken getragen werden. Und über Friederikes Antlitz huscht ein liebenswürdiges Lächeln, wenn sie bemerkt, daß sich das Alter ihres Sohnes mit einem dieser kleinen Volkskinder-Köpfe deckt. Elysée fängt selbst an unruhig zu werden. Er weiß, was für ein bedeutsames Ding eine Menschenmenge ist, so ruhig sie auch ihrem Aussehen nach scheint; er kennt die Gefahren, die ihre Flut und Ebbe in sich schließt. Es soll nur eine von den schweren Wolken über ihren Häuptern bersten und ihre Regenmassen niedersenden, welch ein Durcheinander dann! welch eine Panik dann! Und seine ewig im Brodeln befindliche Einbildungskraft zeigt ihm die Scene, das grausige Ersticken Leib an Leib, jenes Zermalmen und Zerquetschen auf dem Platze Ludwigs des fünfzehnten, jene unheimliche Häufung und Schichtung eines ganzen Volks inmitten von einem zu großen Paris, zwei Schritte entfernt nur von unermeßlichen, leeren, aber unerreichbaren Straßen . . .

Zwischen seiner Mutter und seinem Lehrer, die ihn stützen und beschützen, ist's dem kleinen Prinzen ganz warm. Er beklagt sich, daß er jetzt nichts mehr sieht. Da macht es Elysée den Arbeitern nach, die um ihn her sind, und hebt den kleinen Zara auf die Schultern; und nun folgt ein neuer Ausbruch der Freude, des Jubels; denn von so hohem Standpunkte aus ist der Blick, den das Auge über den Festplatz hat, großartig, prächtig. Aus einem von Lichtblitzen und großen wallenden Schatten zerrissenen Abendhimmel, im Bereiche der langen Perspektive, die zwischen den beiden Säulen der Barriere sich eröffnet, wehen zitternd Flaggen und Fähnlein, schlägt klatschend die Leinwand an die Dächer und Giebelstangen der Buden. Die leichten Räder von riesigen Schaukeln führen einen nach dem andern von ihren kleinen, mit Menschen gefüllten Wagen empor in die Luft; ein gewaltiges Karussel von drei Stock Höhe, lackiert und bunt bemalt wie ein Kinder-Spielzeug, dreht sich mechanisch mit seinen Löwen, Leoparden, gespenstischen Drachenfiguren, auf denen die Kinder stocksteif sitzen wie Hampelmännchen oder Drahtpuppen. In größerer Nähe von ihnen steigen rote Ballons auf in Reihen und Scharen; unzählige Windmühlen aus gelbem Papier, die Ähnlichkeit haben mit künstlichen Sonnen, drehen sich und schwirren, und Unmengen von kleinen, kerzengerade gehaltenen Köpfchen mit Haaren von aschblonder Färbung, wie Zara's, ragen über die Menge herauf.

Die Strahlen der zur Rüste gehenden Sonne, deren Glanz um ein weniges verblaßt ist, treffen auf den Wolken Reflexe von leuchtenden Flächen, welche die Gegenstände bald aufhellen, bald in Dunkelheit hüllen; und dieser Umstand erhöht noch die Wirkung jener Perspektive. Hier treffen sie auf einen Hanswurst und eine Colombine, ein paar weiße Flecke bildend, die sich, er hüben und sie drüben, abzappeln, eine Pantomime in Kreidemanier auf dem schwarzen Hintergrunde der Gauklerbühne. Dort unten wieder steht ein langer, sich biegender, schmiegender Hanswurst, den spitzigen Hut eines griechischen Schafhirten auf dem Kopfe, und macht mit den Händen die Bewegung, als schöbe er, stieße er die in schwarzer Flut über die Treppe strömende Menge wie Brotlaibe in den Backofen. Er hat den großen Mund weit aufgerissen, dieser Hanswurst, denn er muß schreien, brüllen; aber man hört ihn nicht, hört auch die Glocke nicht, die wütend im Winkel einer Schaubühne geläutet wird, hört auch die Schüsse aus Hakenbüchsen nicht, während man doch sieht, wie sie geladen werden, und den Pulverdampf sieht, den der Schuß aus ihnen hinterläßt. Es verliert sich aber alles in dem Tosen des Jahrmarktes, einem elementaren Tosen, das sich zusammensetzt aus einem unharmonischen und universellen »Tutti« von Schnarren und Flöten, von Pauken und Trommeln, von Sprachrohren, von Brüllstimmen wilder Tiere, von Drehorgel-Geleier und Dampfpfeifen-Signalen. Es läßt sich keiner vom andern überbieten in dem Bemühen, die Menge anzulocken; jeder weiß daß, wie's beim Bienenschwarm nicht anders geht, auch beim Menschenschwarm derjenige die meisten davon zu sich heranlockt, der die unverwüstlichsten, lärmendsten Werkzeuge hierzu in Gang setzt. Dazwischen tönt schrilles Geschrei aus den Schaukeln heraus und von den Karussels herüber, während alle zehn Minuten die Züge der Gürtelbahn, auf gleicher Höhe mit der Jahrmarktswiese, vorbei und mit ihrem Pfeifen und Zischen durch diesen tollen Lärm, ihn noch übertönend, hindurchsausen. Plötzlich üben aber die Anstrengung und der erstickende Dunst, den diese Menschenflut ausströmt, die Blendung einer schräg und heiß herniedersengenden Fünf-Uhr-Nachmittagssonne, in deren Bereich der tanzenden, leuchtenden Dinge so viele sich drehen und wirbeln, eine betäubende, Schwindel verursachende Wirkung auf die Königin, so daß sie gezwungen ist, stehen zu bleiben. Es bleibt ihr kaum soviel Zeit noch, daß sie Elysée's Arm ergreift, um nicht zu fallen; und während sie sich stützt, sich an ihn klammernd, aufrecht und bleich, kann sie gerade noch die Worte lallen: »Nichts . . . es ist nichts« – aber ihr Kopf, dessen Nerven schmerzhaft schlagen, ihr ganzer Körper, der der Empfindung des Seins verlustig geht, überläßt sich ihm eine Minute . . . eine einzige . . . o! nimmer, nimmer wird er ihrer vergessen, dieser einzigen Minute! . . .

Es ist vorüber. Jetzt ist Friederike im Besitze ihrer Kraft, ihrer Stärke. Ein Hauch von Frische hat ihre Stirn getroffen, hat ihr rasch wieder Leben eingehaucht. Indes läßt sie den schützenden Arm nicht los, und dieser Königinnen-Schritt, der sich dem seinigen anpaßt, dieser Handschuh, der sich mit lauer Wärme an ihn lehnt, verursachen Elysée ein unaussprechlich verwirrendes, berauschendes Gefühl . . . Die Gefahr, die Menge, Paris, das Fest – alles ist vergessen – an nichts mehr denkt er. Er weilt in dem unmöglichen Lande, wo sich die Träume verwirklichen mit allem ihrem Zauberwerk, mit all ihren Wunderlichkeiten der Traumwelt. In dieses Volksgewühl eingepfercht, schreitet er, ohne dasselbe zu hören, zu sehen, getragen von einer Wolke, die ihn umhüllt bis hinauf zu den Augen, die ihn drängt und stößt, ihn stützt und hält, die ihn unmerklich hinausführt aus der Allee . . . Und dort erst faßt er wieder Boden, dort erst gelangt er wieder zur Kenntnis seiner selbst . . Der Wagen der Königin ist weit. Jede Möglichkeit, wieder zu ihm zu gelangen, ist abgeschlossen. Es bleibt nichts übrig, als zu Fuße nach der Rue Herbillon zurückzugehen, in dem niedersinkenden Dämmerlicht breiten Alleen zu folgen, durch Straßen zu schreiten, die hüben und drüben mit Kneipen und Schänken bestanden sind, in denen es von fidelen Ausflüglern und Spaziergängern wimmelt. Es ist so recht ein loser, ein mutwilliger Streich, den sie da ausgeführt haben; aber weder er noch sie machen sich ernstlich Gedanken über die Seltsamkeit dieser Heimkehr. Der kleine Zara schwatzt, schwatzt in einem fort, wie es nach einem Feste die Kinder alle thun, die es drängt, alles was sie von Bildern, Gedanken, Ereignissen mit den Augen in sich aufgenommen haben, durch einen kleinen Mund zu verdolmetschen. Elysée und die Königin verhalten sich schweigsam. Er zittert und bebt noch am ganzen Leibe, sucht sich die köstliche und eindringliche, rührende Minute, die ihm das Geheimnis, das traurige Geheimnis seines Lebens enthüllt hat, jetzt in die Erinnerung zurück zu rufen; jetzt wieder sucht er, es aus seinem Sinne zu bannen, ihm zu entfliehen. Friederike überdenkt alles, was sie eben von unbekannten, ihr neuen Dingen gesehen. Zum ersten male hat sie den Schlag des Volks-Herzens gefühlt, hat ihr Haupt auf die Schulter des Löwen gelegt. Es ist ihr eine mächtige und süße Empfindung hiervon verblieben – eine Empfindung, wie die einer Umschlingung durch eine zärtliche, beschützende Seele.


 << zurück weiter >>