Anna Croissant-Rust
Unkebunk
Anna Croissant-Rust

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Hertwig war gegen Abend vom Dienst nach Hause gekommen und saß in seinem Zimmer in dem kleinen Hause seiner Eltern, das außerhalb der Festung lag. Er hatte zu Beginn des Frühlings nach langem Kampfe dies große Zimmer für sich erobert, dessen zwei Fenster dicht mit wildem Weinlaub verhangen waren, das nun mit roten, grünen und gelben Blättern weithin prahlte. Die andern Fenster des Eckzimmers gingen nach der Gartenseite; eine große Akazie breitete dort ihre Fliederblätter aus, und der Duft der Spätrosen und Reseden kam mit der abendlichen Kühle herein. Das Haus lag allein in Wiesen, Feldern und Gärten unter den Glacis der Festung, abseits von der großen Straße, die hier abbog und nach dem Rhein zu lief.

Der Weg, der nach dem Haus führte, war allzeit schattig und feucht, weil ihn mächtige Linden und Akazienbäume säumten. Es roch jetzt im Herbst modrig von dem abgefallenen Laub, das in der immerwährenden Nässe faulte, und nach den Altwassern, die sich hinter den Bosketts der Anlagen dehnten. Lange, rötliche Schnecken krochen über den Weg und zogen glänzende Fährten in den Kies und über das Gras. Stets war ein 200 Geruch von Teer um das Haus, von neu geteerten Kähnen und Tauen herrührend, die in der Nähe lagerten. Man hörte das gleitende, tiefe Summen des Stromes, der hinter dem ansteigenden Eisenbahndamm nach dem Regen hoch und mit trüben Wellen ging.

Folgte man der Straße unter dem Eisenbahndamm durch, so lag die große Rheinbrücke ins Badische hinüber vor einem. Schilf, Ried und Altwasser begrenzten des Flusses Lauf, Weiden und Gestrüpp und Landstraßen mit steilaufgereckten Pappelbäumen streckten sich weit hin. Am Horizont sah man wieder die wie Soldaten aufmarschierenden Pappeln nach rechts und links sowie nach vorn ausgerichtet. In der Ferne wehte eine dünne graue Fahne, der Rauch einer Fabrik, und sah man die verschwommenen Linien eines kleinen Städtchens. Im Gebüsch versteckt lagen die Vorwerke mit ihren grünen Rasenkappen, und wenn gerade ein Sonnenstrahl dahin fiel, konnte man den Helm und das Gewehr der Schildwache blitzen sehen, die dort auf- und abging. Alles dehnte sich weit hin und lag schläfrig in der grauen Luft. Von Zeit zu Zeit rauschte ein Zug über die Eisenbahnbrücke, die sich in drei eleganten Bogen über den Strom schwang.

Bog man von der großen Straße mit ihrem weiten Blicke ins ebene graue Land und in die Niederung ab und folgte dem Weg am Eisenbahndamm hin, war man bald zwischen Äckern und Wiesen und vor dem niederen Fachwerkbau, den Hertwig mit den Eltern bewohnte.

Ernst Hertwig liebte sein großes, stilles Eckzimmer und den wilden Garten. Da störte ihn nicht die grelle Stimme seiner Stiefmutter, da hörte er nichts von Kindergelärm und Kindergestreit, höchstens gackerten die Hühner unter seinem Fenster oder schnatterten die Enten und Gänse, die dem nahen, sumpfigen Teiche zustrebten. In der Nacht quakten die Frösche ihren 201 Chor, aus dem sich hie und da ein klägliches oder energisches Solo hob, in das der Chor dann wieder zögernd, immer eifriger werdend, einstimmte. Hier ganz in der Nähe war auch die große Stätte, an der einst »Unkebunk« gestanden, das »Heldenschloß der Barone von Armhart«, gestanden und versunken. Die Stelle bezeichnete heute nur ein kreisrundes, schwarzes, tiefes Wasserloch, das das »Bajasseloch« hieß, weil sich dort einmal ein armer »Bajaß« (Bajazzo) ertränkte, der auf dem Jahrmarkt mit seinen Künsten keinen Beifall gefunden, wie das manchmal zu gehen pflegt, und sich aus Gram darüber das Leben nahm. Binchen Möller Armhart aber träumte in ihren kühnsten Träumen dort wieder eine »hehre« Burg erstehen zu lassen, deren See das Bajasseloch abgeben mußte. Gelang ihr die tatsächliche Wiederherstellung nicht, so wollte sie doch ein großes, wundervoll gegliedertes Gebäude schaffen, die Geschichte der Familie. (»Ich bin an Eppes!«)

»Im fernen Land, unnahbar euren Schritten
Steht eine Burg, die Monsalvat genannt,
Ein lichter Tempel steht dort oben . . .«

Sie sah sie in der Tat vor ihrem geistigen Auge, und nie versäumte sie, wenn sie zum alten »Vetter« Hertwig kam, jenen Ort, das Bajasseloch zu besuchen, oder wenigstens ans Fenster zu treten, von wo sie das »Land der Sehnsucht« schauen konnte.

Dem alten Hertwig machte das viel Spaß, wogegen dies Getue der hochnäsigen, bettelarmen, adeligen Verwandten der jungen Frau ein Dorn im Auge war. Sie fand, daß es ein Skandal sei, daß ihr Mann und Ernst dieser verrückten Person, diesem »Schuppel« nicht den Kopf zurechtsetzten, oder doch wenigstens die Mädchen vor dem Schicksal bewahrten, den Schrullen der Mutter geopfert zu werden. Sie schämte sich vor ihrer etwas bäuerlichen Sippe der problematischen Verwandten und wünschte auch ihrer städtischen Bekannten halber 202 möglichst wenig Umgang mit der anrüchigen Familie. Sie hatte deshalb öfters Wortwechsel mit ihrem Mann und Streit mit dem Stiefsohn, der ihr darin, wie in so vielem Widerstand entgegensetzte. Von Jahr zu Jahr vermehrte sich die Spannung zwischen ihm und ihr. Längst vermied es Ernst Hertwig, am Frühstücks- und Abendtisch zu erscheinen und lebte fast immer für sich und immer hinter geschlossenen Türen.

War er nicht zu Hause, war er unsicher, ob die junge Frau nicht doch hinter seine Geheimnisse kam. Ob sie nicht jeden Brief, den er bekam, beargwöhnte und beschnüffelte, ob nicht jedes der Billette, die die Gouverneurin oder Resa-Rosa ihm geschickt, nicht einen Sturm wütender Neugierde in ihr auslöste. Es war ihr sogar die Ungeschicklichkeit passiert, den Vater aufhetzen zu wollen; doch der Alte, der den großen Sohn vergötterte, wenn er es auch nicht wahr haben wollte, fuhr sie hart an und geriet zuletzt in große Wut, da er meinte, seinen Sohn bis auf den Grund zu kennen. Er hätte darauf schwören mögen, daß ihm der Junge alles sagen würde, er hatte ja als kleiner Junge niemals gelogen. Daß die scheue Natur des Sohnes sich in vielem von ihm zurückzog, ihm vieles verbarg, ahnte er nicht. So bewandert der alte Hertwig in den Verhältnissen der andern Leute war, da viele zu ihm um Rat kamen, so wenig wußte er wirklich um seinen Sohn Bescheid. Gab es eine Zwistigkeit zwischen seiner Frau und Ernst, so frug er nicht erst lange herum, sondern fuhr mit einem weithin schallenden Donnerwetter dazwischen, daß man wohl von Spaßvögeln sagen hörte: »Heut unnerhalt sich der Hertwig mit seiner Fraa.«

Einmal war es Hertwig durch den Kopf gefahren, den Vater in Johannas Verhältnisse einzuweihen und ihn, der kein Arg gehabt hätte, zu bitten, sie für kurze Zeit aufzunehmen. Da das Geradebiegen krummer Angelegenheiten anderer seine Spezialität war, wäre es für Johanna vielleicht von Nutzen gewesen, 203 ihn zu hören. Vielleicht hätte sie auch der Vater lieb gewonnen, denn sie war eine ehrliche, gerade und einfache Natur, wenn auch durch die Verhältnisse etwas eigenwillig und herrisch geworden. Er verwarf diesen Gedanken aber sogleich wieder. Hatte er die Mutter vergessen? Und war es ihm ganz aus dem Sinn gekommen, wie wenig der Vater ihn kannte, und wie wenig er Johannas Natur verstehen würde? Und nun saß er in seinem stillen Zimmer und schrieb seit einer halben Stunde schon an Johanna. Es ging sehr langsam vorwärts, er fand den Ton nicht. Er wollte seinen Jubel nicht durchklingen lassen, daß er ihr nun helfen konnte, er wollte seine Liebe nicht verraten, und wollte sie auch seine Angst nicht merken lassen, es könne ihr etwa nicht passen. Es war wiederum schwer für ihn, ihr das Leben im Hause des Gouverneurs zu schildern, sein Verhältnis zu der jungen Frau, sie über ihre Stellung, ihre Pflichten dort aufzuklären . . . Ja, davon wußte er so viel wie nichts mehr! Aber, so sagte er sich sanguinisch vor, es würde sich alles schon selber machen, die Hauptsache war, daß sie überhaupt kam. Alles jubelte in ihm, wenn er daran dachte, daß er sie bald, daß er sie vielleicht schon in den nächsten Tagen sehen würde, und daß er sie dann immer hier hatte!

Er vergaß die enge Festung und das starre Gebundensein an den Dienst, das ihm stets widerstrebt hatte, vergaß alle, alle Hemmungen; er vergaß die öden Menschen, die öden Straßen, die öde Ebene, die ihn so oft trostlos gemacht, er vergaß, daß er im Hause seines Vaters keine rechte Heimat hatte, er vergaß, daß er Johanna wohl kaum jemals die Seine würde nennen können, er vergaß sogar zu schreiben. Er saß nur und träumte und sah durch das bunte Weinlaub in den fahlen Abendhimmel hinein, sah die Züge in rasender Eile vorüberfliegen, seiner Sehnsucht viel zu langsam . . . seine Augen strahlten, er war voll eines großen Glückes.

204 Ihm war, als müsse er schnell etwas verstecken, sonst würde es ihm verdorben und zerstört, als er Röders Stimme im Vorhaus hörte. Er erschrak auch. Eigentlich vermied es Röder, zu ihm zu kommen, besonders seit der Sache mit Holischka. Es mußte irgendetwas passiert sein, daß Röder ihn aufsuchte.

Hertwigs eindrucksfähige, spröde und dabei enthusiastische, trotz aller Schwermutsanlagen im Grunde wieder sanguinische Natur widerstrebte der rücksichtslosen, draufgängerischen, zweifelsüchtigen und pessimistischen Röders. Ihm gegenüber, der grob spöttisch sein konnte und gern den Überlegenen und Älteren herauskehrte, hielt er mit allem, was ihn bewegte, zurück. Um so mehr erstaunte er, als Röder, der seine Mütze achtlos auf den Tisch geworfen, mit heiserer Stimme sagte: »Paß auf, Hertwig, ich habe dir Wichtiges zu sagen. Von dem, was wir jetzt sprechen, darf kein Mensch etwas erfahren, ich habe dein Wort! Sind wir hier ungestört? Weißt du, ob deines Vaters Frau nicht an der Tür horcht?«

»Mein Wort hast du, meine Stiefmutter ist nicht im Hause, du kannst ruhig über alles sprechen.«

»Recht,« sagte Röder und versuchte umsonst seiner Stimme Herr zu werden und seine Aufregung zu verbergen. Immer wieder mußte er sich über die Stirne streichen, die eigentümlich weiß über dem sonnverbrannten Gesicht stand, das am ersten dem eines Landsknechts oder Anführers, eines Condottiere ähnelte.

Aber er fing nicht an mit seinem Reden, saß nur und starrte vor sich hin und sah den Lichtstreifen nach, die durch das Laub huschten und blaß über dem Boden züngelten wie erlöschende Flammen.

»Du kannst mir alles sagen, rede nur,« suchte ihn Hertwig aufzurütteln, dem dies dumpfe Brüten, das er an Röder nicht gewohnt war, unheimlich wurde. Der hatte noch stets gewußt, 205 wie er den Knoten zerhauen mußte, und jeden verlacht, der zagend stand und sich mit andern beriet oder sich besann.

Jetzt fiel's ihm selbst schwer, aber als er erst seine Uniform aufgerissen und Hertwig zugerufen hatte: »Schließ das Fenster, ich habe nur dir etwas zu sagen,« fuhr er fort: »Ich muß heiraten, verstehst du, irgendwoher muß ich die Mittel kriegen, es bleibt mir keine Wahl sonst, ich muß. Weißt du jemand in der Verwandtschaft, bei dem ich Geld, das heißt, die Kaution pumpen könnte? Meine Mutter gibt keinen Pfennig, weil sie mit den Armharts nicht einverstanden ist; . . . nun ja, weil ihr die Heirat, gerade die durch die Umstände erzwungene Heirat Krämpfe macht. Es gibt solche Frauenzimmer! Mein Väterliches habe ich ja ziemlich durchgebracht, damit kann ich nicht gut stehen, aber das Mütterliche muß ich ja einmal kriegen, das wäre dann dem Gläubiger sicher. Nur schaff ihn her, Hertwig, ich zermartere mir den Kopf. Zu dir habe ich Vertrauen, zu dir haben auch andere Vertrauen; wenn du auch ein Idealist bist, ein anständiger Kerl bist du durch und durch, dir kann man alles sagen. Nur schaff Rat, ich bin mit meiner Weisheit zu Ende.«

Seine Stirne glänzte vor Schweiß, er strich sich wieder und immer wieder darüber, er hatte schnell und gewaltsam beherrscht gesprochen, er verbarg das Peinliche und ihm gewiß Schmerzliche seiner Beichte unter einem gleichgültig gemachten, oberflächlichen Ton. Nur sprach er ununterbrochen, wie wenn er in Angst wäre, daß Hertwig ihm einen Ausruf der Verwunderung, des Tadels oder Schreckens dazwischen werfen könnte.

Hertwig ward es kalt. Daran hatte er nicht gedacht, weiß Gott nicht, daran doch nicht! Die arme Jutta fiel ihm ein, wie sie neulich so sehnsüchtig und traurig von der Niewiederkehr der Jugendzeit gesprochen . . . nur an sie mußte er zuerst denken. Hilfe? Er schüttelte den Kopf.

206 »Ich weiß niemand, Röder, der das übernehmen würde.«

»Du hast dich ja noch gar nicht besonnen, kannst dich nicht besonnen haben in der kurzen Zeit.«

»Armer Kerl!« erwiderte Hertwig, dem die schreckliche Lage Röders immer unheimlicher vorkam, »es ist fürchterlich.«

»Wir wollen lieber nicht sentimental werden,« fuhr ihm Röder dazwischen und biß die Zähne auf die Unterlippe. »Diese alte Berger hat doch Geld und ist eigentlich ein Geizhals, wie ich hörte: wenn ich der gehörig Prozente biete« . . .

»Aber Röder, ich bitte dich, das ist Wahnsinn! Wenn du der alten Bergern nur ein Wort sagst, weiß es in einer Stunde die ganze Garnison! Überhaupt gibt dir niemand Geld auf das Vermögen deiner Mutter! Sie ist eine noch junge Frau, sie kann heiraten, sie kann dich enterben . . . Die Zinsen sind doch das, wovon du leben müßtest, wie kannst du die dann dem Gläubiger geben? Dazu stehen die Armharts schlecht, das Haus ist verschuldet« . . .

»Dann werde ich die Uniform ausziehen müssen, ich, der ich mit Leib und Seele Soldat bin. Euch liegt ja nichts daran, richtige Soldaten seid ihr nicht, Soldat ist der Gouverneur, aber ihr! Doch für mich ist es das Leben!« rief Röder heiser und sprang so rasch auf, daß der Stuhl umfiel. »Einen Kaserninspektor werd' ich machen müssen, mir auf den Kopf spucken, und Jutta wird sich auf das Kleid treten lassen müssen von den Offiziersdamen. Pfui Teufel, wär das ein Leben, pfui Teufel! Lieber jag ich mir eine Kugel vor den Kopf, dann hat die Schinderei ein Ende.«

»Röder, sei doch vernünftig! Du mußt doch nicht heute oder morgen zu einem Entschluß kommen, und sage doch nicht etwa Jutta selbst solche Sachen vor. Es muß ja entsetzlich für sie sein, sie leidet doch am allermeisten darunter!«

»Glaubst du, ich nicht? Was meinst du, wie die alte 207 Armhart mit mir umgegangen ist? In diesem verdrehten, phantastischen Kopf steckt eine Brutalität und Zähigkeit, von der du keinen Begriff hast. Sie hat mich eingesperrt in dem Zimmer unten, in das sie mich heute in aller Frühe vor dem Dienst rufen ließ. Sie trieft jetzt natürlich von Moral, auf die ich als Offizier huste. Die Egoistin denkt nur an sich und das lächerliche Buch, das sie aushecken muß. Von Teilnahme und Ergriffenheit kein Spur! Sie behandelt Jutta wie eine Dirne . . . wie ich heute den Dienst gemacht habe, weiß ich nicht.«

Er stand am Fenster mit dem Rücken gegen das Zimmer und starrte in die Dämmerung hinaus, die sich mit dünnen, seidigen Nebelschleiern vom Rhein her über den Damm stahl, an den Spitzen der Pappeln hing und sachte aus den Wiesen stieg.

»Und Zeit ist nicht viel zu verlieren?« frug Hertwig, nachdem sie eine Zeitlang geschwiegen, und Hertwig verdüstert in das Zimmer gesehen, in dessen Ecken schon der Abend kauerte.

Röder fuhr herum. »Zeit? Nein, nicht mehr allzuviel. Man ist ja so feinfühlend bei uns, so überaus zart! Es ist doch eine Schande, wenn ich die Mutter des Kindes erst heirate, wenn das Kind schon da ist! Das wird perhorresziert, das ist etwas Unerhörtes für den Stand! Viel löblicher, ehrenhafter und reinlicher ist es, wenn ich sie sitzen lasse, das heißt, wenn ich ein anständiges Monatsgehalt aussetze, so daß sie nicht einmal auftauchen und mich oder etwa gar den Stand kompromittieren kann. Das ist glatt, vornehm und gerecht. Sonst kann ja passieren, was will. Nur keine Zeugen, nur keine Öffentlichkeit! Was wir dieser lieben Öffentlichkeit halber alles getan haben! Wozu ich mich schon habe verstehen müssen, wozu ich Jutta zwingen mußte! Es weiß ja bis jetzt kein Mensch von unserm Schicksal, und ich hoffe, es wird es auch weiter keiner wissen« . . . er drehte sich wieder um und dem Fenster zu.

Das Zimmer hatte nur mehr fahles Licht von den beiden 208 Fenstern, die nach Westen gingen, wo die Sonne hinter einer dünnen Nebelschicht verschwand. Vom Damm blitzten schon die rötlichen Lichter der Bahnstrecke, der Abend kam sprungweise über den Rhein und fiel plötzlich von den Bäumen ins Zimmer, das dunkler und dunkler wurde.

Röder knöpfte mechanisch seine Uniform zu, nahm die Mütze vom Boden auf, die er vorhin vom Tisch hinuntergeschleudert hatte, und trat, in der Dunkelheit noch viel größer und breitschultriger aussehend, hastig und wortlos auf Hertwig zu. Diese Hast war etwas so Ungewohntes an Röder, daß sie Hertwig weher tat, als das aufgeregte Wesen von vorhin. Das Elend des Kameraden ging auch auf ihn über, so daß er nur mit Überwindung sagen konnte: »Laß den Mut nicht sinken, Röder, irgendein Ausweg wird gefunden werden«; das »Grüße mir Jutta« blieb ihm im Halse stecken, es war ihm, als stoße er an eine Wunde. Er drückte Röder fest die Hand, es kam ihm selbst wie ein Schwur des Schweigens und der Treue vor.

»Besinne dich, aber ich hoffe nicht viel von dir,« sagte Röder rauh; dann gingen sie wortlos durch den Garten, aus dem der strenge Geruch des Buchses kam und die lauen, süßen Resedendüfte. Der Mond war etwas höher gekommen, und sein Licht, das kaum durch den Nebel dringen konnte, gab der stummen Landschaft mit ihren schwarzen Baumgruppen über dem Wall, die sich ins Ungeheuere zu strecken schienen, etwas Geisterhaftes. Und in diesem fahlen, gelbgrauen Lichte schritt Röder gebeugt mit schweren Schritten fort. Röder, der Condottiere! Hertwig hätte ihn lieber tobend, rasend gesehen, den blanken Säbel in der Hand und jeden bedrohend, der ihn und seine Ehre und die Ehre der Seinen antasten wollte, und nicht dies finstere Sichducken . . . Ach, sie kamen nicht aus den Fesseln, sie waren Gefangene und mußten die Kette nachschleppen . . .

209 Als Hertwig wieder in sein Zimmer kam, fand er die Lampe angezündet und die Läden geschlossen. Er stieß den einen wieder auf, durch das Fenster kam der graue, schleierhafte, herbstliche Nebelduft. Mit Schrecken sah Hertwig, daß sein Brief an Johanna noch offen auf dem Tische lag. Wenn seine Mutter heim- und hereingekommen war, hatte sie ihn jedenfalls gelesen. Ein Gefühl ohnmächtiger Verzweiflung, des Auflehnens gegen all diese Verhältnisse erfaßte ihn, ein Widerwille gegen das Haus, die Stadt, seinen Beruf . . . nun kam auch noch diese schreckliche Geschichte mit Röder dazu, aus der er keinen Ausweg sah. Es erschien ihm alles grau und traurig, er verstand den Jubel nicht mehr, der vor einer Stunde in ihm war, als er diesen Brief begonnen, und der, ohne daß er es wollte, zwischen den Zeilen zu lesen war . . . Er zerriß den Brief, ohne vorerst den Mut zu finden, einen neuen zu schreiben.

Bis elf Uhr saß er noch vor dem leeren Briefbogen; seine Augen liefen über das alte Biedermeierpult, das er sich vom Vater erbettelt, über das geblumte Sofa und die vielen Bücher, deren Titel er mechanisch las, und die ihm heute nichts gaben und ihm nicht halfen, über all seine Schätze, die er von München mitgebracht. Sie waren heute tot und leer und erbarmten sich seiner nicht.

Als es zwölf schlug, hatte er einen kurzen, kühlen, sachlichen Brief fertig, den er sofort verschloß und versiegelte. Sein Herz war plötzlich hart und grausam geworden, obwohl er sich kaum zu atmen traute, um das harte und grausame Herz nicht zu erwecken. Er wußte, wenn er sichs auch nicht gestand, daß mit einem mächtigen Stoß eine Blutwelle sich hineinergießen würde, die ihm alle Liebe, alles Sehnen, allen Schmerz und alle Trostlosigkeit wiederbringen würde, aber er scheute dies andere Herz, dies wache, warme, schlagende Herz. So legte er sich vorsichtig und mit verhaltenem Atem zu Bett, sah nach der Decke, die 210 zuerst schwarz auf ihn niedersah und dann allmählich grau über ihm lag und sich ins Unendliche zu dehnen schien.

*


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