Anna Croissant-Rust
Unkebunk
Anna Croissant-Rust

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Das Haus der Armharts war ein nüchterner roter Backsteinbau, zweistöckig, etwa zu Anfang der sechziger Jahre gebaut. Es zeichnete sich durch nichts vor den andern Häusern der Straße aus, die alle ungefähr um dieselbe Zeit der Geschmacklosigkeit entstanden sein mochten. Die Armharts hatten es mit dem wenigen, was vom Heiratsgute der Mutter 41 geblieben war, gekauft. Die jetzige Baronin von Armhart hatte als junges Mädchen den ziemlich viel älteren Baron von Armhart geheiratet, geblendet von der Offiziersuniform sowohl, wie von seinem Adel. Stets war sie anders gewesen als ihre einfache Familie, stets für alles Höhere, Phantastische schwärmend, zu keiner richtigen Arbeit auf dem bäuerlichen Gute taugend. Immer nur war sie von einem Streben nach Bildung, nach Wissen erfüllt, und strebte aus der bäuerlichen Umgebung heraus. Sie hatte harte Kämpfe zu bestehen gehabt, ehe die Eltern ihren und des Barons Wünschen nachgaben, aber schließlich war sie doch Siegerin geblieben und hatte das ganze kleine Dorf alarmiert mit ihrem Baron in Uniform. Mit dem Vermögen stand es nun allerdings nicht glänzend, da aber der Baron sich in das gesunde, frische Mädchen mit den dicken, nußbraunen Haaren heftig verliebt hatte, fiel das bei ihm nicht so sehr in die Wagschale. Er war, aus einer verarmten und heruntergekommenen Adelsfamilie stammend, zur Genügsamkeit erzogen und machte keinerlei Ansprüche. Binchen Möller, so hieß die Braut, war auch an ganz einfache Verhältnisse gewöhnt; so meinten sie mit dem von den Eltern versprochenen Zuschuß gut auskommen zu können, und später bekamen sie ja doch einmal alles, da Binchen keine Geschwister hatte. So zogen sie dann, Binchen mit allerhand romantischen Ideen, berauscht von ihrem Ehrgeiz, den sie für Liebe hielt, in die ferne Garnison, wo sie eine kleine Wohnung gemietet hatten. Binchen Baronin von Armhart sah sehr bald ein, daß hinter ihrem Baron nicht so viel sei, als sie gedacht. Er erfüllte keineswegs ihre Erwartungen, er kam ihrem Ehrgeiz, ihrem Bildungsdrang, ihren phantastischen Regungen durchaus nicht entgegen. So lange ihr fast alles an Bildung gefehlt hatte, hatte sie ihn weit überschätzt und ihn in einem Nimbus gesehen, der ihm sehr wohltat und ihm schmeichelte, vielleicht gerade 42 weil er ihn nicht verdiente. In der Garnison fing sie an, Vergleiche zu ziehen. Begabt und resolut, wie sie war, eignete sie sich mit überraschender Schnelligkeit vieles an und war sich bald darüber im klaren, daß ihr Mann zwar ein Baron und ein einigermaßen annehmbarer, wenn auch durchaus kein flotter oder gar hübscher Offizier sei, daß er aber keine höhere Bildung, keine Interessen, kein Streben besaß. Gutmütig, nachgiebig, anständig, genügsam – aber weiter nichts. Ihr fehlte jede Anlage zur Untreue, auch steckte das ehrliche, bäuerliche Element noch zu stark als Hemmschuh in ihr, sonst wäre sie dem Manne schon aus Überspanntheit nicht treu geblieben. So legte sie sich ihr Leben zurecht, so viel natürlich-nüchternen, bäuerischen Sinn hatte sie. Sie schob den Mann einfach, sachte, aber konsequent, als Faktor ihres Lebens allmählich in den Hintergrund und warf sich auf »Bildung«, las halbe Nächte lang und halbe Tage dazu, vergaß auf das Kochen und die Hauswirtschaft, schwärmte für Musik und besonders für Schauspiel und Schauspieler, die ihr allerdings nur in der Form der Schmiere bekannt waren. So hatte sie zwar nach und nach ihren Kopf mit allem möglichen vollgepfropft, aber überall gab es Lücken, und da sie keine von den Bescheidenen, sondern eher eine selbstherrliche und herrschsüchtige Natur war und sich, war sie einmal in Gesellschaft, sehr bestimmt äußerte, fing sie an, durch die zahlreichen Verstöße, die sie beging, den Geruch der Lächerlichkeit auf sich zu laden. Sie sah sehr wohl ein, daß sie an Verstand den meisten Frauen ihres Kreises überlegen war, doch hätte sie niemals zugegeben, daß es ihr an Bildung und Formen mangle und sie einen Ballast von unverdautem Wissen mit sich herumtrage. So konnte sie mit der aufdringlichen Weisheit, die sie überall zum besten zu geben sich gedrängt fühlte, auf die Dauer in ihren Kreisen nicht bestehen. Ihr Mann, der niemals einen Drang nach Höherem verspürt, 43 wohl aber ein starkes Bedürfnis nach Liebe hatte, bewunderte die Kraft, Ausdauer und Leichtigkeit sehr, mit der sie sich in alles hineinlas, zog sich aber mit seinem großen Liebesbedürfuis zu seinen drei Kindern zurück, denn die gescheite und gelehrte Frau, die sie nach und nach für ihn wurde, wurde ihm immer fremder und unverständlicher; er wurde fast scheu und befangen vor ihr, traute sich kaum mehr aus sich heraus. Nach und nach wurde das Ehepaar in Offizierskreisen ziemlich unmöglich, und es waren nur mehr ein paar Kameraden, die von der Pieke auf gedient hatten, die den Baron von Armhart hielten, jeder andere Verkehr hörte auf. Ein tüchtiger Offizier war der Baron nie gewesen, ein ehrgeiziger erst recht nicht; seinem Baron hatte er's zu verdanken, daß er es schlecht und recht bis zum Hauptmann brachte. Dann aber kam die Schwelle, über die er stolperte. Was nun tun? Es war ein hartes Jahr für die Armharts. Binchens, der Baronin Vater, war gestorben, ehe man ihrem Manne den Abschied gegeben, schlechte Weinjahre waren sich gefolgt, und die Mutter fand nicht mehr den Mut, das Gut allein weiterzuführen, sehnte sich auch, da sie ganz allein war, nach der Tochter und den Enkelkindern. So verkaufte sie alles kurzerhand und kam eines Tages in ihrem schönsten schwarzen Lüsterkleid, eine schwarze Seidenschürze vorgebunden, bei den Armharts an.

Ihre Tochter Binchen hätte vor einigen Wochen noch einen heillosen Schreck gekriegt, wenn ihr die alte Bäuerin ins Haus gefallen wäre, so ganz und gar nicht präsentabel für Offiziersdamen. Nie hatte sie es erlaubt, daß die Mutter sie besuchte, und die nüchterne, verständige alte Frau fand das in der Ordnung und begnügte sich damit, die Tochter und die Enkelkinder manchmal in den Ferien bei sich zu sehen. Nun, da man ratlos war, was man beginnen könne, kam die Großmutter gerade recht. Sie brachte Geld mit, wenn auch nicht viel, sie brachte Möbel und 44 Leinenzeug, altmodisch zwar, doch verwendbar, das war das »Betriebskapital«. Schnell entschlossen, wie Binchen Armhart-Möller einmal war, und resolut dazu, wußte sie die Mutter zu überreden, das Haus zu kaufen und einen Teil davon zum Vermieten für bessere Herren einzurichten. Die Baronin hatte einen Nebengedanken: drei Töchter, die allmählich heranwuchsen, vielleicht schlich sich doch der eine oder andere verkappte Freier mit herein; es war jedenfalls weise, das mit zu erwägen. So zog sie im Triumphe in »ihr Haus«, und die Freude über diesen Besitz ließ sie bald allen Groll und Ehrgeiz und alle Enttäuschung und ohnmächtigen Ärger vergessen. Sie war eben unverwüstlich und verstand es, alles sofort zu ihrem Vorteil zu wenden und überall etwas Gutes für sich herauszufinden. Es hatte zuerst wohl eine schlimme Szene gegeben, sie hatte ihren baronlichen Gatten schmählich behandelt, außer sich, ihm alles ins Gesicht geschrien, was sie von ihm und seinen Fähigkeiten hielt. Dann war sie aber auch gleich wieder gut, ja hatte alles vergessen und sich schon mit der neuen Situation abgefunden, während er, in einem tiefen Erschrecken, sein Leben lang nicht vergaß und nicht verwinden konnte, daß sie so wenig von ihm hielt. Er ließ jetzt alles mit sich geschehen. Er war der abgebrauchte, auf die Seite gesetzte, untaugliche Offizier, der nun dazu verdammt war, seinen alten Kameraden unter den Augen herumlaufen zu müssen, so recht wie ein verprügelter Hund. Er war die Null im Hause, von der eigenen Frau an die Wand gedrückt, ein Schemen, nichts weiter als der Träger des Namens: Baron von Armhart. Er hatte sich seit seiner Pensionierung einen schleichenden, scheuen und gedrückten Gang angewöhnt. Gebeugt, den Kopf zwischen den Schultern eingezogen, schlich er herum und machte ein Gesicht, von dem man nicht wußte, lache oder greine er, und das nahm mit dem Alter immer mehr zu. Aber auch im Hause duckte er sich, getraute 45 sich kaum über die Stiege und mied scheu die Türen seiner Mieter, die meistens Offiziere waren.

Doch ging er so oft und so gern den Weg, denn oben wohnte ja die »Alte«, die Großmutter, Katche Möller. Die Tochter hatte sie kurzweg in die Mansarde gesteckt, die freilich groß und geräumig war. Dort konnte die Alte selbständig sein und genierte auch nicht die baronliche Familie.

Unten lag das »große Zimmer«, d. h. Wohn-, Schreib-, Übungs-, Empfangs-, kurz Universalzimmer, das Schlafzimmer der Eltern und die vom Baumeister ziemlich stiefmütterlich behandelte Küche; im ersten Stock das Zimmer der Mädchen und zwei vermietete Räume, die sich im zweiten Stock wiederholten, und oben war die Großmutter ganz allein. Dort saß sie, die es ganz in der Ordnung fand, daß sie da oben hauste, und nicht unten mit der Familie, und stopfte und strickte und wusch, was in ihren Alt-Weibleins-Kräften stand, um die bürgerliche Wohlanständigkeit der Sippe zu wahren, unermüdlich, doch vergeblich; der Wust und die Unordnung unten wurden nicht geringer, auch nicht, als die Mädchen herangewachsen waren. Stets sah Großmutter Möller peinlich sauber aus, und ihr knochiges, hartes Bäuerinnengesicht war immer von einer blühweißen Haube umrahmt. In dem faltigen Gesicht fielen vor allem die starken, dunkeln, hoch hinaufgezogenen Brauen auf, die aussahen, als verwundere sie sich fortwährend über die entsetzliche Wirtschaft ringsum, als begriffe sie rein gar nichts von dem, was ihre Tochter und ihre Enkelinnen trieben. Seit die Großmutter im Haus wohnte, hatte der Baron sich angewöhnt, da er »denen unten« gern aus dem Wege ging, sich mit allem, was ihn bedrückte, zu der alten Bäuerin zu flüchten, mit seinen Schmerzen und Nöten, seinen kleinen Wünschen und, ach so kleinen Freuden, die den andern, auch den Töchtern, so unsäglich unwichtig und lächerlich erschienen. Das 46 alte Weib mit der kargen Art der Leute vom Gebirge, die nur zu Zeiten redselig werden und dann ihre Seele gründlich überlaufen lassen, die plump und hart und unduldsam scheinen, verstand jede Regung, jede Kränkung, jeden Schmerz des alten Offiziers. Sie machte nicht viel Worte und brauchte keine Erklärungen. Sie hatte schon eine Art, ihm einen Sitz auf ihrem harten Bauernsofa mit ihrer harten Hand zu bereiten, indem sie ihre Zeitung und ihre Nähereien wegschob und ein altes Straminkissen zurechtzupfte, daß er sofort ein wohliges, heimliches und heimatliches Gefühl bekam. Dann saß sie vor ihm und schaute ihn über die Brille hinweg an, erwartungsvoll, lösend . . . Und würgte es ihn in der Kehle, oder machte er gar einmal lustige Augen, so war immer ein Widerhall da, und er drückte sich mit einem Seufzer des Wohlseins in seine Ecke und stand mit einem Seufzer des Bedauerns wieder auf. Stets war ein Ausdruck von Hilflosigkeit in seinen Augen, wenn er die Großmutter verließ. Und sie sagte jedesmal dasselbe zu ihm, was sie ihm bei seiner Pensionierung gesagt, begütigend, ermunternd und tröstend: »Alla! Alla!«

Die Enkelinnen fanden nicht viel Geschmack daran, die Großmutter aufzusuchen. Abgesehen davon, daß ihnen die Atmosphäre dieser engen und abgegrenzten bäuerlichen Wohlanständigkeit nicht behagte, gefielen ihnen die plumpen Reden der Großmutter nicht und schmeckten ihnen die plumpen Gerichte nicht, die sie zubereitete. Als Kinder waren sie gern in dem großen Dachzimmer auf dem Fenstertritt gesessen und hatten »Kandlzucker« gelutscht, oder hatten die vielen wunderlichen Sachen besehen, die an den Wänden hingen und auf der Kommode und in dem Glasschränkchen standen. Bunte Teller und goldgerändete Tassen, alte Schatullen und Körbchen, verblichene Photographien und hohe, schmale Spiegel. Allmählich verblaßte dieser Reiz, der »Kandlzucker« war auch immer 47 derselbe, und die Reden blieben auch dieselben, oder vielmehr, sie wurden schärfer, genau wie ihre eigenartigen Züchtigungen. Da sie fast immer mit dem Fingerhut dasaß, strafte sie auch mit dem Fingerhut. Genau mitten auf den Kopf traf sie, auf die Fingerknöchel, und blitzschnell fielen diese kleinen, eisernen Schläge und waren stets gut gezielt und auch gut gemeint, wenn sie auch schmerzten. Als Jutta und Eva erwachsen waren, »kriegten« sie's freilich nicht mehr mit dem Fingerhut, sondern die Großmutter versetzte ihnen Wahrheiten, die ebenso weh taten wie die Schläge. »Bah!« dachten sich die Baronessen, wir sind doch nicht dazu da, uns das bißchen Leben verekeln zu lassen, und blieben aus. Es wurde ihnen bei Gott so wie so nicht leicht gemacht, dies bißchen Leben zu genießen. Das war bei ihnen nicht wie bei den andern jungen Mädchen, die im Offizierskasino verkehrten. Die Mutter machte es ihnen bald klar, daß sie ihr Heil außerhalb des Kasinos zu suchen hatten. Man war nicht in den Verhältnissen, sich die nötigen Toiletten leisten zu können. Und wie die älteren Offiziersdamen geflissentlich über die Baronin von Armhart hinwegsahen, so taten's die jungen Dämchen über die Töchter. Das war den drei Baronessen ziemlich gleich, denn sie glaubten, die Männerwelt auf ihrer Seite zu haben und legten die absichtliche Nichtachtung als Eifersucht aus, zwar am Gruß der Herren Offiziere, besonders wenn Damen vom Kasino in der Nähe waren, hätten die Mädchen, wären sie nicht so blind und phantastisch befangen gewesen, die höfliche, manchmal auch die unhöfliche Ablehnung herausfühlen können. Man grüßte ja, aber man grüßte mit achtloser, lässiger Artigkeit.

Die Baronessen lachten über die Offiziersdamen. Was brauchten sie die? Und was brauchten sie das Kasino? Erstens waren sie Baronessen und unter den jungen Dämchen war nicht einmal eine »von«! Für sie gab es auch ohne Kasino Erlebnisse 48 und Eroberungen genug. In ihren phantastischen Köpfen, Erbteil der Mutter, erlebten sie tagtäglich Romane, Liebschaften und Zerwürfnisse gerade genug! So manche Nacht schliefen sie nicht und unterhielten sich von ihren Liebhabern, baldigen Verlobten oder gar zukünftigen Eheherrn, die in dieser »ausgesprochenen« Form gar nicht existierten, denn die Erwählten ahnten manchmal kaum, daß die Wahl auf sie gefallen, vielleicht weil sie zu naiv oder nach anderer Richtung zu sehr in Anspruch genommen waren. Bekamen sie dann aber eine Ahnung – und das war nicht schwer, denn die Baronessen trieben es bunt genug – so machten sie den Ulk mit und übertrieben die Verehrung so, daß es die Dämchen doch endlich merken mußten. Es dauerte zwar lange, bis sie so weit waren, aber dann fanden sie neue Gründe, neue Beschönigungen, neue Ausflüchte, und alle drei, auch Rapunzelchen tat schon tapfer mit, reimten und phantasierten immer wieder aus Nichtigkeiten und Zufälligkeiten ein ereignisreiches Leben zusammen. Sie waren stets die Umworbenen, die Begehrten, auch wenn kein alter Hahn nach ihnen krähte, und es hatte für manche ihrer Mieter, besonders aber für ihren langjährigen, getreuen, für Major Vierling, nie an Reiz verloren, die wichtigen Liebesereignisse der drei Baronessen sowohl vom Fenster als auch von der Straße aus zu begutachten, auf seine Art zurecht zu legen, zu erweitern und glänzend auszuschmücken, worauf er seine Beobachtungen einer der drei oder allen dreien mit dumpf-geheimnisvoller Stimme vororakelte. Das machte ihm ungeheuern Spaß und lenkte etwas ab. Von ihm, von Major Vierling nämlich, und das war ihm das Wichtigste. Er fing flehende und verliebte Blicke für sie auf, er sah Wünsche und Sehnsüchte in der Luft herumfliegen und apportierte sie, um sie zu den Füßen der Baronessen niederzulegen. Die Luft der Straße war oft schwer von ungeküßten Küssen, 49 sehnendem Verlangen, und wieder von Kälte und Unnahbarkeit, von Kränkungen und Schmerzen.

So verstärkte er das Spiel, das die drei Dämchen trieben, machte es aufregender und bedeutungsvoller. Alle drei hatten sich von den Puppen weg in Studentenlieben und -affären hineingespielt, zwar nicht immer ganz so in der Entfernung, und dann weiter in die letzten Spiele mit den großen, bunten, interessanten, säbelklirrenden Puppen, ein Spiel, das zwar Vierling sehr viel Freude machte, weil es in allen möglichen Variationen auftauchte, das aber den Vetter der Baronessen, den jungen Leutnant Ernst Hertwig, der sich etwas verantwortlich für sie fühlte, stets in furchtbare Wut bringen konnte. Er besaß die lachende Überlegenheit des Majors noch nicht, fühlte sich auch selbstverständlich als Vetter viel persönlicher engagiert, und es hatte so manche Auseinandersetzung sowohl mit Major Vierling wie mit der alten Baronesse von Armhart und den drei Graziencousinen gegeben, ohne daß Hertwig auch nur den kleinsten Erfolg hätte aufweisen können. Er lief dann mit zornrotem Kopfe fort und schwur sich, in Zukunft die ganze Blase gehen zu lassen. Sollten alle noch lächerlicher und ekelhafter werden, ihm war's gleich! Und fest hatte er vor, sich nicht mehr um sie zu kümmern, es hatte ja gar keinen Zweck. Doch wie der getreue Ekart sorgte er sich doch wieder um sie, wenn er es auch nicht vor sich wahr haben wollte, und fing immer wieder unwillkürlich mit einer Hartnäckigkeit von dem alten Thema an, wenn er sie traf, oder wenn er sie wieder einmal besuchte, und meinte in seinem jugendlichen Eifer, der alles ebnen wollte, er müsse sie endlich zur Einsicht bringen. Sein Vater konnte gut lachen und die wunderliche Verwandtschaft humoristisch nehmen, er stak doch nicht mitten drin wie er! Für den Vater war diese Verwandtschaft eines schönen Tages gleichsam vom Himmel gefallen, als sich ihm die Baronin als entfernte Base vorstellte. 50 Er hatte sie stets überlegen humorvoll behandelt und war sehr gut damit gefahren. Das brachte der Sohn nicht zustande. Er war mit den Mädchen aufgewachsen, sie hatten mitsammen gespielt und getollt und gelernt, hatten sich gestritten und wieder vertragen . . . er hatte eine alte Anhänglichkeit, er konnte nicht einfach über sie lachen. Dazu hatte er auch zu viel Respekt vor der alten Bäuerin und auch vor der Intelligenz der »Tante« von Armhart, deren Mängel und lückenhafte Bildung er wohl kannte, doch wer war in dieser verdammt öden Garnison etwa so »bildungswütig« wie sie? Fast empfand er ein Verantwortlichkeitsgefühl, besonders den Kameraden gegenüber, und das bedrückte ihn, wie es ihn wieder bedrückte, daß er sich dieser Verwandtschaft schämte, daß er sie nicht anders, nicht besser machen konnte. Es waren ja so viele Ansätze da, sie waren gar nicht nach der Schablone, sie waren Originale. Was hätte man doch alles aus den Mädchen machen können!

Zuletzt ließ er die zwei Ältesten gehen und knurrte sie nur gelegentlich mal an, ganz konnte er es nicht lassen. Dafür nahm er das Rapunzelchen aufs Korn.

»Ach, was bist du langweilig!« schmollten Jutta und Eva. »Du zankst wie ein Schullehrer und denkst wie ein Schuster.« Eigentlich hätte der gute Vetter auch auf andere Gedanken kommen können. So pedantisch und vernagelt zu sein! Hätte er doch ihnen einmal den Hof gemacht! Wenn auch nur zum Spaß. Er war ein hübscher Junge, und wenn sie ihn auch mehr wie einen bärbeißigen Bruder betrachteten, der sie hüten wollte, und dem sie ein Schnippchen schlugen, wo sie konnten, einer kleinen Liebelei mit ihm wären sie gar nicht abgeneigt gewesen. Aber er merkte ja gar nichts, der »Parsifal«!

Da saß er oft so und so lang und predigte an Rapunzelchen hin, wie wenn das die Großmama nicht schon genügend besorgte! Und Rapunzelchen stand vor ihm, die Augen, die wie 51 kleine, schwarze Jetknöpfe aussahen, gesenkt, die etwas zu kurze Oberlippe nach oben gezogen, daß man das feste Zahnfleisch sah, und wartete mit Ungeduld, ob er nicht endlich aufhöre.

»So mach doch wenigstens du, daß du aus dem Sumpf kommst! Je eher, je besser, jetzt ist noch Zeit!«

»Was soll ich denn tun?« frug Rapunzel scheinheilig.

»Lernen, du hast ja Talent genug, und schauen, daß du irgendwo eine Stellung bekommst.«

Rapunzelchen hob ihre etwas kecke Stumpfnase. Lernen und eine Stellung suchen! Hier war es doch lustiger. Sie sagte ihm das nicht, sie dachte es nur, aber zu Eva meinte sie: »Was braucht er sich denn immer um Dinge zu kümmern, die ihn nichts angehen. Nelly Horler sagte auch, er spricht immer mit Resa-Rosa Dinge, die ihn nichts angehen. Und mit Horlers ist er nicht einmal verwandt! Werft ihn doch einmal hinaus, ich kann euch nicht begreifen!«

Eva lachte: »Mama scheint ja lächerlicherweise großen Wert auf ihn, seinen Charakter und seine Intelligenz zu legen. Zukünftiger Generalstäbler natürlich, unser Vetter! Lasse ihn nur gehen, Rapunzel, er ist ein Don Quichote, er kämpft gegen Windmühlen. Aber es ist immerhin dekorativer, wenn eine Uniform mehr im Haus ein- und ausgeht.«

Einmal versuchte Hertwig, seiner Tante Vorstellungen zu machen. Doch sie strich sich über den braungrauen Scheitel aus der George Sand-Zeit und erwiderte: »Ich kann dich nicht verstehen, Ernst! Du bist doch sonst kein bourgeoiser Mensch! Wir sind eben nicht schwerfällig, wir tragen das Leben wie eine heitere Last, aber eine, die uns nicht nach abwärts zieht, sondern aufwärts hebt! Wo sollte denn Rapunzel sonst dies Fluidum von Schönheit, Heiterkeit, Kunst und Wissenschaft atmen können als bei uns? Wo in der Welt basiert denn das Leben noch auf solchen Elixieren wie bei uns? Denke doch an 52 die Seichtheit der ganzen Garnison, an dies Schein- und Äußerlichkeitsleben! Du leidest ja selbst darunter! Sie tun doch alles nur zum äußeren Schein, nicht aus innerem Trieb! Wir sind doch die einzigen, Vierling vielleicht ausgenommen. . . . Was? Die Gouverneurin? Wasner? Der Gouverneur, sagst du? Mein Lieber, du bist ewe auch e Schleppeträger der hohen Dame; unter uns gesagt, die is auch nit ganz echt! Und der Gouverneur? Vielleicht. Wasner ist dünkelhaft, jawohl sag ich dir, er ist es. Und was steckt hinter'm? Er drechselt e paar Verscher un schämt sich damit. Wie wann da was dabei wär! Die schüttl' ich so aus'm Ärmel! Aber was anneres is e Mutter, die e wirkliche Dichterin is – ja das bin ich . . .«

Hertwig winkte mit der Hand ab. Jetzt kamen sie auf gefährlichen Boden. Nun gab es kein Aufhalten mehr, resigniert ließ er sich wieder auf seinen Stuhl nieder, er hatte gerade gehen wollen, denn wenn »Unkebunk« kam . . .

»Ich weiß, ich weiß«, sagte er mit einem letzten Versuch.

»Was weißt du? Nichts weißt du, sonst könntest du nicht das Blech reden wegen der Rapunzel! Du weißt, daß ich eine Mutter bin, die an der Geschichte des Hauses von Armhart schreibt, die sich ihr wunderbares Schloß draußen am Rhein, ›Unkebunk‹, in seinem Glanze vorstellen kann, und die es wieder erstehen lassen will und mit ihm das ganze erlauchte Geschlecht, alle Ahnen.«

»Und so weiter und so weiter, Tante,« sagte Hertwig und stieß mit dem Säbel ungeduldig auf den Boden.

»Jawohl, und so weiter . . . was du nicht weißt . . . ist, daß ich seit gestern einen Verleger hab. So! Bin ich jetzt die Mutter, bei der man die Töchter lassen soll oder nicht? Weil unser Bode nicht rein genug gescheuert und nicht jedes Töppche glänzt? Ich bin eine Mutter aus der klassischen Zeit, so wie die von den Grachen, ich gebe meinen Kindern geistige Güter: ›Unkebunk‹ sollen sie haben, für die ehemalige Glorie der 53 Familie, und für die kommende werde ich sorgen. Unsere Familie wird steigen durch mich und mit mir . . .«

»Steigen! Verrückt könnt ihr werden und sonst weiter nichts. Auch noch einen Verleger. Das ist das richtige. Überspannt seid ihr, weltfremd und unpraktisch, und nichts wird aus euch werden. Rede deinen Kindern nur weiter vor von Unkebunk, anstatt von vernünftigen Dingen. Nicht einmal einen Mann werdet ihr fangen, nicht einen! Trotz dem Schock von Verehrern, die in eurer Einbildung existieren!«

Keineswegs gekränkt durch diese Rede, lachte Mama Armhart gut gelaunt, denn sie war zu großartig und viel zu sehr von all ihren Talenten überzeugt. »Über ›Unkebunk‹ red ich nit weiter, das wird selbst seine Sache führen, und wegen der Männer auch nit« . . . sie sah ihn pfiffig an . . . »Du wirst nächstens gucke! . . . Und unpraktisch! Ich zahl dem Verleger gar nit viel, und was wird das alles einbringen! Und da fallt mir noch was ein. Unpraktisch! Komm doch, Lieber!« Damit zog sie den Widerstrebenden in die Tiefe des Hauses, und trotz allen Wehrens in den Keller, ihn, dem schon das Wohn-, Schreib- und Empfangsgemach ein unüberwindliches Mißtrauen einflößte, und der stets ein Kribbeln und Krabbeln am ganzen Körper zu verspüren vermeinte, und deshalb Möbel und Teppiche sehr scharf anschaute, ehe er sich niederließ. Im Keller hatte sie eine Champignonzucht angefangen.

»Mein praktische, nüchterne Anlage sin nit zu unterdrücke, es ist die Abkunft,« und sie zeigte dem jungen Offizier voll Stolz die aus alten Kisten gefertigten Lager, die Brutstätten der Champignons, zeigte, wie hoch sie Dünger hatte hineinlegen lassen, dann die Brut und dann die Erde . . .

Die Erde sah man, den Dünger roch man und Schimmel obendrein, von Champignons keine Spur. Hertwig sah sie fragend an.

»Die müssen erst komme. Alles Gute will Zeit hawwe. Was 54 die uns eintrage werden! Wir warten schon arg lang, aber verlieren die Geduld nit.«

»Und was hat der Dünger gekostet? Und was die Brut? Und was der Schreiner? Und wenn sie nicht kommen?«

»Die zwett alt Möllern! (sie sagte nie die Mutter oder die Großmutter), ihr rechnen wie die Schuster! Daß du mit mir verwandt bist! Ja, wann die Armharts deine Verwandten wären, die sind trotz des uralten Blutes spießig und kleinlich, aber ich habe es mir zur Lebensaufgabe gemacht, das uralte Geschlecht . . .« »Ja, ich weiß, komm, Tante!« Und er sprang ihr voran die klebrigen Stufen herauf.

»Ich bin gar nit bös, daß du kein Auffassung für die Champignonzucht hast, aber ich hab noch mehr Eise im Feuer.«

Nun führte sie den Mißmutigen in den Hof. Hier lag ein kleines Häuflein Kompost, auf dem ein paar dünne, weiße Ranken herumkrochen, die vereinzelt kümmerliche Früchte angesetzt hatten.

»Melone,« stellte die Baronin vor, und da Hertwig geistesabwesend auf die kleinen Kügelchen starrte, nochmal mit Nachdruck: »Melonen. Wenn wir das einmal im großen betreiben, wird das Gouvernement damit versorgt, das Kasino, die ganze Garnison! Welche Einnahmen! Wir werden nach und nach Hypotheken abbezahlen können, das Haus wird schuldenfrei, alles von dieser edlen Frucht.«

»Ja, werden sie denn hier reif?« fragte Ernst Hertwig perplex.

»Reif? Ei, darum handelt sich's nit. Das erste Jahr, der erste Versuch! Sind sie nit prachtvoll, hen? Und kein Knopf Unkosten! Unser alte Burgissen hat den Grund hergeschafft, de Dung« . . . Kunstpause . . . sie lächelte schalkhaft: »Ich. Ja, guck nur!« Und immer noch schalkhaft lächelnd, mit dem dicken Finger winkend, trabte sie schwerfällig in den Gang zurück; dort hing ein langer, grauer, unscheinbarer und sehr weiter 55 Mantel, ein »Rädche« auf gut pfälzisch. Dieses »Rädche« drehte sie herum und zeigte bedeutsam die Innenseite: Tasche an Tasche, von unten bis oben, lauter große, prachtvolle, praktisch aufgesetzt, einige mit Wachstuch abgefüttert. Die zeigte sie besonders und blinzelte ulkig: »Die Garnison hat so viel Gäul,« sagte sie übermütig, »die versorge mich un die Melone.«

Hertwig fand in diesem Augenblick durchaus nicht den Humor der Sache. War das wirklich möglich? Die alte Baronesse Armhart? Und wenn sie zehnmal Binche Möller war und blieb. Pfui Teufel! Er schämte sich für sie, sein ganzer Stolz empörte sich.

Er hatte wohl zu Hause in spaßhafter Weise von dem Universalmantel reden hören, hatte auch die »Tante« mit ihm bekleidet am frühen Morgen »vor Tau und Tag« lustwandeln sehen, anzusehen wie eine Tonne. Er schob die etwas übertriebenen Formen auf das weite Rädche, und war viel zu naiv, den mit allem möglichen gefüllten Taschen die Schuld an der Monstrosität der Formen zuzuschieben. Vor ihm hing als lebender Beweis des verlästerten praktischen Sinnes der Baronin von Armhart, née Binche Möller, das Universalrädche, vorgeführt von der Besitzerin.

»Pfui Teufel! Roßäpfel!« sagte er noch einmal in ehrlichem Ekel und spuckte aus. Im Armhartschen Gang kam's ja nicht darauf an.

»Ja, Roßäppel un annere Äppel,« sagte Binche Möller-Armhart pikiert. »Warum dann nit? Ich nehm alles, was ich kriege kann. Do kenn ich keen dumme Stolz. Traube un Grumbeere un Holz, un was es halt gibt!«

Hertwig kriegte einen roten Kopf. »Ja, ist das möglich, schämst du dich nicht? Du, die Baronin von Armhart? Dabei hast du bessere Zimmerherrn und spekulierst auf einen Offizier für deine Töchter? Wenn dich einer sieht!«

56 »Und? – Mich sieht ja doch kein Mensch. Und wenn mich einer sieht, merkt er's nit. Hast du was gemerkt? Gell nit? Noñ siehschde?« trumpfte sie auf. »Du merkst freilich überhaupt nix, was um dich vorgeht, sonst hättst du bei uns auch was merken müssen. Bist du wirklich so ein Parsifal?« Sie zwinkerte ihm listig zu: »Du hast doch auch ein Mädche, wie ich mir von deiner Mutter hab sage lasse – geh, Ernst, und stell dich nit so!«

Ernst Hertwig war blutrot geworden. Sein junges, rundliches, noch nicht vom Leben ausgearbeitetes Gesicht glühte. Wie eine Ohrfeige war das gewesen. »Ein Mädche!« Er sollte ein »Mädche« haben! Die ganze Art der Baronin erschien ihm frivol. Wie konnte sie so sprechen! Es verletzte ihn tief, und er rief voller Empörung: »Schweig, Tante, und sprich nie mehr in diesem Tone von dieser Sache, es empört mich zu sehr. Ich weiß nicht, was dir . . . nun, was dir die Frau meines Vaters gesagt hat, aber sie hat kein Recht so zu sprechen.« Seine Lippen zitterten, und er ging, noch immer mit blutrotem Kopf, vom Hause Armhart weg. Auf der Straße überfiel's ihn plötzlich siedend heiß: er liebte Johanna, jetzt waren alle Schleier gefallen, er hatte sie schon in München geliebt und es nur nicht gewußt. So tief war er in der Rolle des treuen Freundes stecken geblieben. Es fiel ihm jetzt nicht ein, daran zu denken, ob sie ihn auch liebe, denn sein Gefühl hatte ihn so unvermutet überfallen, daß er wie benommen heimwärts stolperte. Immer noch glühte sein Gesicht, sein Herz hämmerte, da packte ihn plötzlich der Ingrimm. Was hatte diese Frau veranlaßt, der Tante zu sagen, er hätte ein Mädchen? Woher konnte sie etwas wissen? Sie sah Briefe kommen, ja – aber sie wußte doch nicht um den Inhalt der Briefe. Und wenn sie ihn gewußt hätte . . . mußte denn alles so gedeutet werden? Sie hatte in seinen Sachen gewühlt, gewiß, sie wühlte immer in seinen Sachen! Die alte Bitterkeit quoll in ihm auf, wenn 57 er nur an diese Frau dachte, dies derbe, gesunde, robuste, listige und neugierige Geschöpf, das sich der Vater zur zweiten Frau erwählt. Alles hatte sich damals – er war ein fünfzehnjähriger Junge – in ihm gegen diese Wahl empört, und alles empörte sich jetzt noch gegen sie. Gut, sie war eine tüchtige Schafferin, fleißig und sparsam, aber mit ihr und ihren Kindern wollte er nichts gemein haben, er verachtete sie und konnte diese Verachtung schwer verbergen. Sie rächte sich dadurch, daß sie ihm deutlich zeigte, wie lächerlich sie sein Tun und sein Wesen fand; sie bespöttelte seine etwas unbeholfene und grüblerische Art und war doch geladen mit Neugierde, um hinter das zu kommen, was ihr an dem Stiefsohn unverständlich und geheimnisvoll schien. Sie spionierte ihn aus, und es beschäftigte sie fortwährend fieberhaft, daß sie trotzdem nicht hinter seine eigentliche Natur kam.

Hertwig stammte mütterlicherseits von einer sehr alten adligen Familie ab, die sich seit Generationen am Rhein niedergelassen hatte. Einzelne Mitglieder waren, der Notwendigkeit gehorchend, mit der Zeit Gewerbetreibende geworden und hatten ihren Adel abgelegt. Väterlicherseits war er in einen mehr derben, polternden Schlag hineingeraten, so nach der Rasse der Möllers hin, mit denen ihn eine sehr weitläufige Verwandtschaft verband. Diese etwas langsamen, lauten und polternden Hertwigs konnte man, oberflächlich besehen, für Pfälzer »Krischer« halten, weil sie sich, schon aus Gerechtigkeitsgefühl, in alles mengten, auch in Dinge, die sie nicht direkt angingen, und ihre Urteile recht gewichtig abgaben. Diese oft auch sehr ablehnenden, sogar groben und eigensinnigen Hertwigs hatten im Grund ein weiches Herz, das sie sorgsam versteckt hielten, weil sie sich dessen schämten. So war zwischen den Eltern sowohl als zwischen Vater und Sohn nie Zutraulichkeit aufgekommen; sie scheuten sich, einander warme Gefühle zu zeigen, 58 eher war ein kurzer und kühler Ton üblich. Die Mutter aber, von ganz anderer Rasse, scheu aus Zartheit und stets kränkelnd, hatte sich nie in die rauhe Art des Mannes finden können, die sie immer wieder verletzte und mit hartnäckiger Sanftmut vergebens bekämpfte. Sie war sehr zum Unglück für den Jungen, den sie eher zu schätzen und zu nehmen wußte als der Vater, in seinem vierzehnten Jahr gestorben. Die engen Verhältnisse zu Hause, – der Vater war ein kleiner Beamter – der Zwang auf den Pfennig sehen und darum immer hinter den Kameraden zurückstehen zu müssen, dazu etwas ungelenk durch die derbe Erziehung, die alles Zärtere und Sensiblere scheinbar verlachte und verachtete, hatten es Ernst Hertwig schon auf dem Gymnasium schwer gemacht, sich gesellschaftliche Leichtigkeit anzueignen. Er war scheu und schnell verlegen, deshalb auch leicht verletzt, sogar noch jetzt als Offizier. Stets quälte ihn, daß die andern das vor ihm voraus hatten, ihnen von zu Hause ganz selbstverständlich das mitgegeben war, worum er sich plagen mußte. Durch die endlosen Zwistigkeiten mit dem Vater, der ihm immer wieder dasselbe vorwarf, seinen Mangel an Sparsamkeitssinn – überall eingeengt in seinen Neigungen, zu Hause nicht verstanden, war eine Erbitterung in ihm hochgekommen, die nicht seiner Jugend entsprach, und ein Wehren gegen seinen Beruf, der so viele Opfer von ihm forderte, ohne ihm die Befriedigung zu bringen, in die er sich eine Zeitlang hineingelogen und dabei die stolze Hoffnung genährt hatte, Kriegsakademiker, vielleicht gar Generalstäbler zu werden.

Diese Gedanken waren wieder über ihn hereingebrochen, als er durch das hallende Tor schritt, die breite Straße, entlang den Wällen, seiner Wohnung zu.

Wie er sich überhaupt in diesen Beruf hatte hineintreiben lassen, verstand er erst heute. Auf Wunsch seiner Mutter, an der er leidenschaftlich hing, und die damals schon immer 59 kränkelte, hatte er sich schon als Junge in den Gedanken, Soldat zu werden, hineingelebt. Denn er war ihr ganz ergeben und steigerte seine Zuneigung immer mehr, weil er sah, daß auch sie unter dem Vater litt, gerade wie er. Beide verband der gemeinsame Plan für seine Zukunft nur noch inniger. Es gab da irgendwo in der guten Stube ein Bild eines Onkels in strahlender Uniform und herrischer Stellung. Dieser Onkel hatte verklärend über seiner Jugend geschwebt, hatte in den Erzählungen seiner Mutter einen immer größeren Raum eingenommen, wie auch die Erzählungen von dem Kriege, den sie hier nahe an der Grenze durchlebt, mächtig auf seine Phantasie gewirkt hatten. Dazu kam noch, daß der Vater sich zu keinerlei Unterstützung bei der Wahl eines wissenschaftlichen Berufes herbeigelassen hätte, daß auch bei ihm die militärische Umgebung eine Überschätzung des Offiziersberufs hervorgebracht hatte, und die etwa zwölf Jahre zurückliegenden Kriegsereignisse noch äußerst lebendig in ihm waren. Gewiß wäre auch dies Metier wahrscheinlich nach seinem Sinn gewesen, jedenfalls viel mehr als der wissenschaftliche Beruf, zu dem es den Sohn noch am ehesten gezogen hätte. Als Hertwig vier Jahre nach dem Tode der Mutter sein Abgangszeugnis in der Tasche und die ersten Wochen des Soldatentums hinter sich hatte, war er noch ganz unreif und unerweckt und ließ sich einfach treiben. Das Jahr Kriegsschule kam ihm gerade recht, der neuen Mutter aus dem Wege gehen zu können. Seine Neigungen waren auch noch so vielseitige, daß sie sich nicht zu einem starken Wunsche nach einem bestimmten Berufe vereinigen wollten. So war er das erste Jahr ziemlich zufrieden, besonders da er sich eine technische Waffe hatte wählen können und dabei eine rege Hoffnung auf Kommandos an die Hochschule hatte. Natürlich hielt er sich damals auch für befähigt, die Prüfung in die Kriegsakademie zu machen. Wie er jetzt 60 einsah, oder wie ihn die Erfahrung gelehrt hatte, schlossen sich technische Waffe und Akademie fast aus. Und dann, es fehlte ihm ja alles zu einem Kriegsakademiker oder Generalstäbler. Unmittelbarkeit des Handelns, rasches Übersehen einer Sachlage, rasche Entschlußfähigkeit, bestimmtes Taxieren des Nebenmenschen – also all die Eigenschaften, auf Grund deren die Wissenschaft um das Kriegswesen erst praktische Erfolge verspricht. Ja, jene glückliche Vereinigung von Frontoffizier und Wissenschaftler ging ihm gänzlich ab. Vor dem bloßen Frontdienst hätte es ihm gegraut, wohl weil er gar nicht für ihn taugte, und die frische, fröhliche und unbekümmerte Reiterherrlichkeit lag nicht in seinem Blute, noch weniger in seinen Finanzen. So hatte er sich ein paar Jahre durchgeschleppt, leidlich schlecht und recht, trotz eines immer stärker werdenden Widerstrebens gegen den Zwang und gegen gewisse Äußerlichkeiten seines Standes. Wenn er in München sein konnte, wohin ihn Offiziersschulen führten, tauten all seine Sinne auf. Da durfte er sich verlieren und wiederfinden, da konnte er all dem nachgehen, wozu es ihn im Grunde trieb. Sein eigentlicher Umgang waren dort nicht die Kameraden, sondern ein paar Studenten, Freunde aus der Gymnasialzeit, die die gleichen Neigungen hatten wie er, ein paar junge Gelehrte, Schriftsteller, Maler und Malerinnen, und auch sie gehörte zu diesem Kreise, von der er immer Briefe empfing, und die Frau von Armhart soeben sein »Mädche« genannt hatte. Johanna Welser war wie er immer glücklich gewesen, engen und drückenden Verhältnissen auf kurze Zeit entschlüpfen zu dürfen und in einer Atmosphäre leben zu können, die ihre eigentliche war. So kamen sie sich näher, vertrauten sich schnell, fanden sich auch außerhalb des Kreises zu gemeinsamen Spaziergängen. Als er scheiden mußte, waren sie treue Freunde geworden, die immer in Verbindung bleiben und sich alles offen sagen wollten, was 61 sie an innerem und äußerem Glück und innerem und äußerem Leid durchmachten.

Die Briefe, die ihm Johanna schrieb, waren außer dem Verkehr im Hause des Gouverneurs das einzige, was ihn vor Verbitterung und manchmal vor Verzweiflung bewahrte. Denn immer mehr kamen die düsteren Stunden über ihn, wo er sich bekennen mußte, daß er durchaus nicht zum Offizier tauge, daß er vieles mit Widerwillen und vieles mit Gleichgültigkeit hinnahm, was ihm hätte am Herzen liegen sollen, daß ihn aber das immer mehr und mehr lockte, was er in jenen Tagen in München im Kreise der Wissenschaftler und Künstler als sein eigentliches Lebenselement erkannt. Kam dann noch wie heute eine seelische Erschütterung dazu, so fühlte er sich mit Ekel und Abscheu erfüllt gegen die ganze Atmosphäre der Stadt, gegen seinen Beruf, gegen seine Mutter und ihre Machenschaften, daß er hilflos wie ein Kind hätte heulen und brüllen können, oder fortlaufen immerzu, besinnungslos, nur um dem zu entgehen, dem er nicht Herr werden konnte. Wäre ihm diesen Nachmittag seine Mutter in die Quere gekommen, hätte es wieder eine jener fürchterlichen Szenen gegeben, in der sein lange zurückgehaltener Groll im Jähzorn sich ausgetobt hätte. So aber fand er die Wohnung leer, und der Diener brachte ihm nur eine Karte von Röder, der eben dagewesen.

Hertwig, noch immer in seinen Gedanken befangen, fand sich zuerst schwer zurecht. Röder? Was wollte denn Röder von ihm, daß er schrieb: Ich war hier, dich in einer wichtigen Angelegenheit zu sprechen. Komm so bald als möglich zu mir. Sonderbar. Was konnte das sein? Er war immer ganz gut mit Röder gestanden, doch nie so, daß sie sich wichtige Dinge anvertraut oder sich in schwierigen Lebenslagen etwa gar Rat gegeben hätten. Resa-Rosa? Er wußte so manches und hatte so manches mit ihr durchgesprochen. Doch lag da kaum irgend 62 etwas vor, daß Röder ihn gebraucht hätte. Auf einmal fielen ihm die Worte der Tante ein: »Du merkst gar viel nicht um dich« und »du wirst in den nächsten Tagen ›gucke‹!« Sollten die Armharts den Versuch gemacht haben, Röder zu kapern, und wollte er ihm, quasi als Verwandten, die Verantwortung mit aufladen? Aber Röder war doch kein Mensch, der sich festlegen ließ, und zudem Resa-Rosa! Ach, war das alles ekelhaft! Er hatte sich auf seinen Divan werfen wollen, um nur ein bißchen Ruhe zu haben; er fühlte sich todmüde von all dem unausgelösten Ärger . . . man kam nicht einmal dazu, sich in eine Ecke zu verkriechen, um ein paar Augenblicke zu schlafen und alles zu vergessen. Mißmutig nahm er seine Mütze wieder auf, die er vorhin auf den Tisch gelegt hatte, und ging denselben Weg wieder zurück, fast mit denselben Gedanken wie vorhin. Von Resa-Rosa und Röder kam er auf die Armharts und immer wieder auf die Worte der alten Baronin: »Dein Mädche«, und immer tiefer fühlte er, wie es ihn mit innerer Glut überschüttete, wenn er an Johanna dachte, und wie sich sein Schmerz noch mehr steigerte, daß er ohnmächtig in diesen Verhältnissen verharren mußte, wo er Johanna liebte und sie hätte an sich reißen mögen. Fast verstört, so sehr war er von seiner inneren Unruhe hingenommen, kam er in der Dämmerung vor Röders Wohnung an und fühlte schon wieder die Abneigung, in das Haus zu treten, das er vor einer halben Stunde verlassen. Röder trat eben aus dem Tore, reichte ihm schweigend die Hand, und Hertwig schloß sich ihm an. Röder ging mit gesenktem Kopf neben ihm her und schwieg wie der andere. Jeder war mit sich beschäftigt. Planlos, ziellos durchliefen sie Straßen und Plätze, traten aus dem Festungstor in die Dunkelheit der mächtigen Akazienbäume, die die Festung umsäumten, überschritten die hallende Brücke des Festungsgrabens, gerieten auf die breite Straße und verfolgten sie mechanisch 63 weiter. Schon kam die kühle Luft vom Rhein her, brachte den Geruch von Teer und faulendem Laub, schon hörte man das Murmeln des Wassers, sah ein paar trübe Lichter drüben am andern Ufer blinzeln. Riesengroß hob sich zur Rechten das feine Gegitter der Eisenbahnbrücke, im Dunkel verhuschend. Da sagte Hertwig endlich: »Was ist es denn eigentlich, Röder, mit was kann ich dir helfen?« Röder antwortete nicht gleich, dann machte er eine Handbewegung, als werfe er etwas von sich in den Strom, über dem sie nun standen, lehnte sich an das Geländer und sagte, von Hertwig abgewendet: »Es ist nicht mehr nötig; ich wollte eigentlich noch vorher mit dir reden, es ist zu spät . . . ich habe mich mit Jutta verlobt. Vorhin.«

Hertwig schwieg. Ihn schwindelte einen Augenblick . . . Jutta . . . Resa-Rosa . . . Johanna . . . Johanna . . . Jutta . . . Resa-Rosa . . . Er hatte die Hand gehoben, um Röders Hand glückwünschend zu drücken, doch er ließ es. So standen sie ein paar Sekunden stumm, hoch über dem schwarzen Strom, dann kehrten sie um, beide wie durchtränkt von Gefühlen, die sie einander nicht preisgaben. Endlich fing Röder an, von Resa-Rosa zu reden. Wie er sie zum erstenmal gesehen, kennen gelernt, wie ihn zuerst ihr hochmütiges Wesen abgestoßen . . . und wie ihn dann ganz unvermutet die Leidenschaft übermannt . . . »Und du?« fragte er Hertwig.

»Ich? Ich habe sie nie geliebt, das weißt du doch?«

»Nein? Hat sie dich auch abgestoßen?«

»Niemals.«

»Und hast du sie wirklich, auch nicht für Augenblicke begehrt?«

»Ich fand sie gescheiter und interessanter als die andern, mit denen ich nichts anzufangen weiß, weiter nichts.«

»Und sie?«

Hertwig schwankte kurze Zeit, dann sagte er fest: »Sie hat mich manchmal um Rat gefragt.«

64 »Weiter nichts? Um Rat? Ja wozu?«

»Ach Röder, laß das doch! Was würde Jutta . . .«

Röder machte eine ungeduldige Handbewegung: »Reden wir von Resa-Rosa,« und er fuhr fort, zu erzählen und über sie zu sprechen, bis sie wieder vor dem Armhartschen Hause standen.

»Und Jutta?« frug Hertwig, der nicht einmal alles gehört hatte, was der andere gesprochen.

»Ich habe Jutta auch geliebt . . . Ja . . . und noch . . . Das ist alles so unglaublich . . .«

Ernst Hertwig glaubte einen Augenblick, Röder wolle noch etwas sagen, er drehte sich aber erst unter der Haustüre noch einmal um und rief Hertwig, der schon im Gehen war, zu: »Also morgen feiern wir Verlobung, du mußt natürlich kommen, eine Einladung wird zu Hause liegen.«

Seltsam rauh und verändert hatte Röders Stimme geklungen, dachte Hertwig und ging, tief in Gedanken versunken, langsam seiner Wohnung zu.

*


 << zurück weiter >>