Anna Croissant-Rust
Unkebunk
Anna Croissant-Rust

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Als Hertwig sich nach einem größeren Umwege wieder Holischkas Wohnung näherte, kam er gerade recht, um die ersten Damen des »Kranzes« aus dem Schiff »strömen« zu sehen. Voran die junge, lebenslustige Frau des alten, bärbeißigen Obersten von Demharter mit Resa-Rosas Mutter, dann die Frau seines Majors, eine hagere, stille und gedrückte Frau, die ein halbes Dutzend Söhne zu Haus hatte und stets den Kopf voll Sorgen, wie sie bei dem kleinen Kapital, das sie besaßen, alle standesgemäß erzogen werden sollten, die drei Damen ziemlich still, dann drängte es unter einem Schwall von Worten nach, es quoll und scholl nur so aus der Haustür über die Stufen herunter, Schirm an Schirm, und ein Gelächter, Geschrei und Geschwätz drang fortwährend unter den Schirmen hervor! Wie eine Flut wälzte es sich gegen Hertwig . . . am liebsten wäre er spornstreichs umgekehrt. Das war doch eine ausgesuchte Gemeinheit, daß er den ganzen Kaffeekranz gegen sich wüten lassen mußte! Immer die Hand an der Mütze, verbindlich und wieder verbindlich grüßend, mit brennenden Wangen – das war wieder einmal eine nette Gelegenheit, rot zu werden! der Mühe wert! – mußte er an den zwanzig Damen vorbeidefilieren. Als er die Steinstufen zur Wohnung Holischkas hinaufschritt, hatte er fast ein körperliches Empfinden, daß sich vierzig Augen in seinen Rücken bohrten, während er die Klingel zog, und daß alle da unten in einem Klumpen beisammen stehen blieben, um zu sehen, ob er in Gnaden eingelassen würde oder nicht, und deshalb sich wieder und immer wieder mit lautem Gelächter 113 und Geschrei verabschiedeten, aus dem sich nur hie und da die laute und barsche Stimme der Bergern hob.

Es dauerte sehr lange, bis sich im Haus überhaupt etwas rührte, vom oberen Flur antwortete ein langgezogenes, heiseres Bellen Karos auf das Klingeln. Ein paar Schirme lösten sich aus der schwarzen Masse und schwankten die Straße hinunter, Hertwig stand noch immer draußen und wurde zuletzt so wütend, daß er Sturm läutete, worauf sich das Kläffen Karos verstärkte, aber auch schlürfende Schritte gegen die Türe zurückten, die sich leise einen Spalt breit öffnete, daß man gerade die weiße Striffelhaube der Anathanen sah, die verneinend das über und über rote Gesicht bewegte und eben schnell wieder schließen wollte. Doch Hertwig, dem die Geduld riß, drückte mit Gewalt zur Türe herein, wobei er fast das kleine Häufchen Anathan umriß, das aus einer lila und weiß gestreiften Kattunjacke, blütenweißer, großer Schürze darüber, einer umfangreichen, ebenfalls blütenweißen Haube und einem kleinen, winzigen Gesicht mit lauernden, grünen Augen bestand. Ohne sich um das greinende, alte Weiblein weiter zu kümmern, sprang er die Stiege hinauf. Wer weiß, ob er die alte, mißtrauische Anathanen so brutal beiseite geschoben und so unglimpflich behandelt hätte, wenn ihn nicht die Weiber da unten so sehr gereizt und in Wut versetzt hätten. Ein großer Tierfreund sonst, beachtete er heute nicht einmal das freudige Winseln Karos, der ihm die Treppe hinunter entgegensprang, mit der feuchten Rute die Stufen peitschend. Vor Holischkas Zimmer war ein großer, nasser und schmutziger Fleck; da hatte Karo die ganze Zeit gelegen, die Schnauze auf den Pfoten, und hatte seinen heißen Atem und sein schmerzliches Winseln hineingeschickt. Aber nichts rührte sich drinnen. Auch als Hertwig klopfte, kam keine Antwort. Er und der Hund horchten gespannt – Karo hatte nun alles Vertrauen in den Kameraden seines Herrn 114 gesetzt, obwohl dieser ihn nicht wie sonst gestreichelt und mit ihm gesprochen hatte. Aber vielleicht war er auch naß gewesen und hatte draußen vor der Türe stehen müssen! Das billigte Karo dann selbstverständlich; er hörte nicht auf, den Schweif zu heben und zu senken, zwar immer nur ein bißchen, denn das ging so nebenbei und war gewissermaßen nur ein Ausdruck von Höflichkeit oder ein Vertrauensvotum, weil sein ganzes Wesen sich auf das Horchen konzentrierte; seine Ohren steiften sich.

Es regte sich noch immer nichts. Hertwig klopfte stärker und ungeduldiger. Als daraufhin sich wieder nichts rührte, stieß er mit aller Gewalt gegen die Tür.

»Jetzt laß die Kindereien, Holischka, zum Teufel, mach auf!« schrie er. »Ich weiß doch, daß du nicht krank bist! Laß mich herein! Ich bin's, Hertwig! Nun? . . . Wird's bald? Schäm dich! Mir kannst du doch aufmachen?«

Hertwig horchte wieder. Nichts. Oder doch? Hatte nicht ein Bett leis gekracht? Kamen nicht Schritte, ganz zag, ganz behutsam, als wollten sie es vor sich selbst nicht wahr haben, daß sie kamen? Auch Karo schien etwas zu hören. Er stellte jede Bewegung mit dem Schwanze ein und war nur Ohr. Der Zorn des jungen Offiziers verrauchte allmählich, er fühlte jetzt Mitleid, das allerdings nicht ganz frei von einer gewissen Verachtung war . . . »Assessor Kofler wollte dich vorhin auch schon sehen, hörst du? Er hat mich dringend gebeten, heute noch nach dir zu schauen . . . also . . .«

Und siehe! Unerwartet sprang die Pforte auf, und mit einem Satz war Holischka auch schon wieder weg und mit flatterndem Hemd unter die Decke. Als Karo vor Freude heulend zu ihm hineinsprang und Hertwig ans Bett trat, schmiß sich Holischka mit derselben Wucht auf die Seite, das Gesicht der Wand zugekehrt, wie es ein paar Tage früher Resa-Rosa getan hatte.

115 »Also Holischka, vor allem guten Tag und dreh dich um, habe die Güte. Ich möchte sehen, ob du wirklich krank bist.«

Keine Antwort. Holischka verharrte regungslos und zeigte seinem Kameraden in nicht ganz einwandfreier Lage nicht nur die Rückenlinie, sondern auch die Fortsetzung der Rückenlinie. Karo stutzte, wedelte, stieß mit der Schnauze unter die Decke, gab das Wedeln wieder auf, schaute Hertwig an, als wollte er sagen: »Das wird aber nachgerade unbegreiflich und bänglich!« Er begann sogar, zwar nur leise und zart, auffordernd zu winseln, und fiel fast vor Schrecken um, als Hertwig plötzlich mit dem Säbel aufstieß, daß alles im Zimmer wackelte, und schrie: »Mensch, wenn du dich jetzt nicht sofort umdrehst und mich deine schönere Hälfte sehen läßt, gehe ich augenblicklich wieder, und dann hast du mich überhaupt gesehen. Verstehst du? Sich so zu benehmen!«

Da wälzte sich Holischka langsam herum, setzte sich auf, hielt aber die Hand so vor die Augen, daß es halb wie ein Schutz vor dem Licht und halb wie Abwehr aussah.

»Na, also,« sagte Hertwig befriedigt und zog sich einen Stuhl ans Bett; Karo aber setzte sich aufrecht und wartete unverwandt, bis sein Herr den Arm von den Augen getan hatte. Hertwig nahm die Hand resolut weg.

»Ja, Iwan der Große oder der Schreckliche, wie siehst du denn aus? Deine Schönheit hat bedenklich gelitten. Ist das Krankheit, daß du so verschwollen bist?«

Da brach es bei Holischka los: »Du und Röder, du bist ja verwandt, das hätte ich dir nicht zugetraut, nie! nie! nie!«

Der kleine Holischka krähte vor Aufregung; immer höher und schriller wurde seine Stimme in dem sich steigernden »nie!«, und plötzlich hatte er wieder den Arm vor den Augen und mit einem Ruck lag er wieder an der Wand.

Noch konnte Hertwig, der als großer Hitzkopf bekannt war 116 – Franzosekopp nannten ihn die Kameraden – an sich halten, aber die Bewegung, mit der er den kleinen Offizier umdrehte, war so voll unterdrückter Aufregung, daß der schon von selbst den Arm von den Augen nahm und sich abermals aufsetzte; doch sah er Hertwig nicht an und machte ein Gesicht wie ein unglückliches, schmollendes Kind, das sich fürchtet.

»Ich will dir etwas sagen, Holischka . . . ganz im Ernst, ich bin gekommen, um mit dir über die Sache zu reden, und nicht, um mir von dir dummes Zeug sagen zu lassen. Entweder wir sprechen in Ruhe, wie zwei vernünftige Menschen, oder ich gehe bei dem ersten beleidigenden Wort.«

»Ich habe ja gemeint, du hilfst dazu, du willst mich auch zwingen, diese Verlobung aufrecht zu erhalten . . . haben sie dich denn nicht geschickt? Ich will doch nicht, ich kann doch nicht! nein! nein! nie!« Und außer sich vor hilflosem Kummer legte der kleine Holischka seinen Kopf auf die Arme, zog die Knie herauf, wie er es stets als Bub getan, wenn es Prügel gesetzt hatte, und wälzte den Kopf, aufgelöst vor hilflosem Schmerz, hin und her.

»Zuerst erzähl mir vernünftig, wie sich alles zugetragen hat. Bei den Armharts konnte ich nichts erfahren; die Dämchen waren nicht sichtbar, und die Baronin setzte sich mir gegenüber aufs hohe Roß und tat, wie wenn ich ein Baby und sie meine Urahne und ein geistiger Konnex zwischen uns ausgeschlossen sei.«

»Ach, Hertwig! Schimpf nur nicht! Ich war ja gestern dort, trotz meiner elenden Verfassung, in voller Gala segelte ich an und bat, daß man mich frei lassen solle, und bat um Entschuldigung wegen dem, was passiert war, und was doch die eigentliche Veranlassung zur Verlobung war . . . es war scheußlich!«

»Ja, rede doch deutlich, Mensch; ich hab ja meinen Magen voll von dem elenden Punsch nach Hause getragen, ich habe 117 ja nicht das geringste Anzeichen einer anrückenden Verlobung bemerkt.«

»Ja, der Punsch!« Holischka wurde feurig. »Der eben war mein Schicksal! Ich konnte doch nicht mehr entrinnen, so etwas muß in der Familie bleiben! Weißt du, ein Offizier, der sich in einem fremden Hause so weit vergißt –«

»Ja, Herrgott! Was hast du denn eigentlich getan?«

Holischka senkte den Kopf. Sein verschwollenes Gesicht wurde ganz blaß, daß die Sommersprossen von innen herausleuchteten, gewissermaßen transparent. Nein, das mochte er nicht einmal Hertwig laut sagen, er schämte sich vor ihm; so neigte er sich zu dem Freunde und flüsterte ihm das große Geheimnis ins Ohr. Hertwig stutzte einen Augenblick, wie wenn er nicht recht gehört hätte, dann sprang er auf und lachte unbändig, wobei er sich fortwährend auf die Schenkel schlug.

Karo hielt dies in seinem Hundesinn für eine Aufforderung zum Bellen, nur kam in sein Bellen kein rechter freudiger Akzent, es lag etwas wie eine Enttäuschung darin: Karo war mit Hertwig nicht zufrieden, denn die Sache wurde viel zu kompliziert durch ihn.

»Sag doch ja keinem Menschen hier etwas, du großer, schrecklicher Iwan, du bist sonst nicht nur lächerlich, auch unmöglich bist du hier. Du Esel hast im Ernst daran gedacht, eine Verlobung auf dieser humoristischen Basis aufrecht erhalten zu müssen? Wer zwingt dich dazu?«

»Wer? Natürlich die Alte. Die hat gleich die praktische Seite vorgekehrt, als ich mit meiner Bitte kam. Nichts da! So was gibt es nicht! Verlobung ist Verlobung, und der Punsch war nicht schuld, sondern der Kuß und noch etwas anderes, und sie läuft zu meinem Kommandeur und sagt's ihm und zum Gouverneur, und, was weiß ich, zu wem allem, und ihr Mann, der Baron, ist da, um die Ehre seiner Tochter zu schützen, und 118 Röder, der nun auch zur Familie gehört, wird auch wissen, was er zu tun hat, usw. usw. Sie fauchte gerade wie ein Truthahn, der den Koller hat; dann holte sie Eva und legte sie mir aufs neue an den Hals, ekelhaft. Und ich wußte nichts zu sagen und nichts zu tun, du weißt ja, wie ich bin, wenn man mich überrumpelt; ich ging noch viel verlobter weg, als ich gekommen war, schleppte mich hierher, und seitdem lieg ich hier; ich hab mich krank gemeldet, der Bursch treibt sich irgendwo herum . . .«

Hertwig lachte noch immer, wenn auch leiser, und wenn sich auch ein Ton von Mißbehagen einmischte. »Sei nur beruhigt, Hans, ich werde mein Möglichstes tun, mit der Sippe rede ich. Ob ich dich sofort werde loseisen können, weiß ich nicht, aber vorderhand setz einmal deine Duldermine ab, es ist schon so ein Verhängnis über dir hier, du läßt eben alles über dich ergehen.«

»Diese entsetzliche kleine Garnison laß ich über mich ergehen,« schrie plötzlich der kleine Holischka ganz unvermittelt und fast leidenschaftlich und fuhr mit den Beinen so rasch aus dem Bett, daß Karo einen entsetzten Sprung auf die Seite machte, »ich habe keine Widerstandskraft mehr dagegen, ich bin ihr ausgeliefert, sie bringt mich um, wie sie alle seiner Organisierten umbringt. Da ist das Bäwele . . . Und nun diese Geschichte! Zum Bäwele kann ich doch nun auch nicht mehr, und das hat mir über so viel weggeholfen! Ich wollte, ich wär mit irgendeinem lieben Mädel nach meinem Geschmack verheiratet und brauchte mich um die ganze Bande nicht mehr zu kümmern.«

»Ja, wenn du nicht Besuche machen, dich bemühen, verloben, Papiere herschaffen, dich vor den Altar und vor den Standesbeamten stellen müßtest, wenn man sie dir daher brächte, dann wäre alles in Ordnung. Wie du nur hast Offizier werden mögen!«

119 »Du paßt doch auch nicht dazu,« antwortete Holischka kläglich.

»Nein, ich passe auch nicht dazu,« meinte Hertwig ernst, und ein gequälter, finsterer Zug trat in sein frisches Gesicht, er stierte eine kurze Zeit vor sich hin, dann raffte er sich auf und spaßte: »Wenn die alte Baronin Armhart ahnte, daß du ›Iwan‹ heißt, d. h. wenn sie wüßte, daß Hans und Iwan dasselbe ist, sie würde dich nie freigeben, sag's nur nicht! Denke: Iwan Holischka für ›Unkebunk‹. Doch nun wollen wir einen guten Kaffee trinken, dir und mir zur Auffrischung, und alle Grillen vergessen. Schau, Amélie Horler wäre so eine Frau für dich, so ein liebes, gutes Ding. Sie ist ja ohnedies in dich verliebt!«

Der kleine Offizier, der nun auf seinem Bette saß und die nackten Beine baumeln ließ, machte ein geschmeicheltes und freudiges Gesicht.

»Wirklich?« fragte er halb ungläubig. Aber nun hatte ihn Hertwig, wo er wollte, und schritt rasch an die Tür. Fast hätte er wieder das kleine Häufchen Anathan umgerannt, die offenbar gehorcht hatte, sich aber nun den Anschein gab, als mache sie draußen den Schmutz weg, wobei sie fortwährend über »dem Herrn Leutnant sein Hund« und seine Besuche, die »Dreck« machten, knurrte.

»Einen Kaffee für Herrn Leutnant und mich, Madame Anathan, aber nehmen Sie ja keinen Surrogat dazu, wenn ich bitten darf!«

»Sürrogat! Sürrogat!« brummte die Alte giftig, »als wenn ich Sürrogat hätt!«

Wirklich war der Duft, der sich bald darauf durchs Haus und bis in Holischkas Zimmer zog, von unzweifelhafter Reinheit, und Holischka, dessen Stimmung plötzlich umgeschlagen war, konnte es gar nicht erwarten, bis er auf dem Tisch stand. Warum dauerte es denn so lange? Was war denn das für ein Getuschel und Getrappel und Gekicher und Gekeife und 120 Geschrei? Türen flogen zu, Treppenstufen knarrten, und plötzlich flog Nelly Horler wie ein aus dem Bogen geschnellter Pfeil in Holischkas Zimmer und direkt unter Holischkas Bett, hinter ihr atemlos keuchend und unverständliche Laute ausstoßend, die alte Anathanen. In der einen Hand hielt sie das Tablett mit Kannen und Tassen, in der andern einen Möbelklopfer, mit dem sie Nelly verfolgt hatte. Bebend stellte sie das Tablett ab, und schon lag sie am Boden und fuchtelte mit dem Möbelklopfer unter die Bettlade nach Nelly. Jetzt wurden auch ihre Reden deutlicher.

»Des frech Mädche! Des wüschd Mädche! Kummt m'r in die Küch' un schmeichelt: So schön is da, Madam Anathan, so sauber . . . un wupp hat se des Stück Kuche verwischt un laaft fort, als die Stieg enuff. Ich nooch . . . sie uff's Geländer un wupp, wuppe nunner; ich widder noch, und sie enuff, un do is se, jetz wer ich's 'r zeige!«

Damit fuhr sie in plötzlichem Affekt wieder unter das Bett, wo Nelly sich mäuschenstill verhielt, denn der strafende Arm der Alten konnte sie nicht erreichen. Das reizte die Anathanen zum äußersten. Ehe die beiden Offiziere es hindern konnten, kroch die erboste Zimmervermieterin mit Hinterlassung ihrer Striffelhaube unter das Bett und ließ drunten den Möbelklopfer kunstgerecht sausen.

Aber die Alte hatte nicht mit Nelly gerechnet und nicht damit, daß das Bett vor einer Türe stand, die um des Pfostens Breite Raum gewährte. In diese Nische flüchtete Nelly, und die Alte konnte nur mehr ihre Füße und Waden erreichen, angelte auch unermüdlich danach. Nelly zog einen Fuß nach dem andern mit schmerzhaften Grimassen hinauf, auf einmal machte sie einen Satz und sprang mit spitzem Schrei, wie ihn Schwalben ausstoßen, gerade zu Holischka ins Bett und unter die Decke, die sie fest über dem Kopf zusammenzog.

121 Die Alte wand sich wutschnaubend unter dem Bett vor und stammelte nur außer Atem: »So e Mädche! Do werd m'r stennig. Des gibt eeni!« Und als sie ein Kichern unter der Decke vernahm, machte sie Miene, sich auf den Punkt zu stürzen, wo mutmaßlich Nellys zur Züchtigung geeignetster Körperteil sich befand. Die beiden jungen Leute, die sich bei der Sache, die windsbrautähnlich angeschwollen und sich ebenso abgewickelt hatte, vor Lachen kaum hatten halten können, geboten nun doch der empörten Dame Halt, ja Hertwig nahm sie sogar am Arm und führte sie fort: »So, nun beruhigen Sie sich, Madam Anathan, und gehen Sie jetzt, damit das Kind sich heraustraut.«

»Kind! Kind! heraustraut,« äffte ihm die Alte nach, schüttelte noch die Faust nach der Richtung der Decke, wo sich Nellys Kopf abzeichnete, und murmelte: »Do kammer nix mehr sage, do hört sich alles uff, noñ wart du, kumm norre runner!« Und verschwand durch die Tür, die Hertwig weit geöffnet hielt.

»Ist das alte Ekel fort?« vorsichtig schob Nelly ihren Wuschelkopf unter der Decke vor, und als sie sah, daß die Luft rein war, war sie wie außer sich, fiel in einer sonderbaren, halb lachenden, halb glühenden Erregung, scheinbar im Spaß über Holischka her, nahm seinen Kopf in beide Hände, rieb ihre feuchten Kinderhände an seinen Backen auf und ab, biß die Zähne übereinander und küßte ihn schnell und heiß auf den Mund. Dabei kniete sie wie eine kleine Drud auf seiner Brust, daß er kaum atmen konnte, und gerade als er in einer plötzlich ansteigenden Erregung den schmächtigen Körper an sich pressen wollte, sprang sie mit einem großen Satz unter kindischem Gelächter vom Bett herunter, zeigte Holischka die Zunge und drehte sich wie ein Kreisel im Zimmer herum, dabei fortwährend schadenfroh in die Hände klatschend. Die beiden Offiziere waren eigentümlich betroffen, Holischka schämte sich, als ob sein Kamerad die 122 heiße Welle ahnen könnte, die plötzlich über ihm zusammengeschlagen war.

Hertwig wurde erregt durch das fortwährende sich im Kreise Drehen Nellys. Er packte sie bei der Hand und frug: »Was war denn eigentlich los, Nelly? Und warum bist du gekommen?« Sie sah ihn von der Seite an, so wie etwas, was für sie nicht in Betracht kam, und tat ganz damenhaft und erwachsen: »Was los war? Oh, der alte Drache hat sich wahnsinnig über mich geärgert. Das war ulkig!« Und als ob sie Holischka jetzt erst sähe, trat sie ans Bett.

»Nein, wie sehen Sie aus, Leutnant Holischka! Sind Sie krank? Da wird das Bräutchen weinen. Und warum ich da bin? . . . Sehen Sie, was ich habe! Einen Brief, einen rosa Liebesbrief, und gleich Antwort, bitte. Von wem ich den habe? Das möchten Sie wohl wissen? Nun, ich kann auch nicht so sein. Von der alten Burgissen. Die sollte daher humpeln, und ich hab doch so ein weiches Herz! . . . Alte Leute müssen geschont werden . . . ich tats ihr zu lieb und voilà!« . . .

Damit reichte sie ihm zierlich den Brief. Während er las, stand sie still, dann fuhr sie ihm blitzschnell mit der Hand über das Gesicht und sagte halblaut: »Heute sind Sie wieder nicht rasiert, so wie neulich, wo Sie mir das ganze Gesicht aufrieben . . . Wie ein Reibeisen. Pfui! Leutnant Holischka! Ho–lisch–ka!« sagte sie schmerzlich, so wie sie es in der Nacht Amélie vorgesagt, langgezogene Töne, so wie Hunde heulen.

»Bist du denn verrückt geworden?« frug Hertwig, »und wer sagt denn so?«

»Wer?« Nun war sie ganz die kleine Dame. »Des Herrn Leutnants Braut denke ich, manchmal sage auch ich so zu Amélie: Ho–lisch–ka! Ho–lisch–ka!«

Hertwig schüttelte unmerklich den Kopf. Holischka hatte ihm den kleinen Brief herübergereicht. Da das wunderliche, 123 buntschillernde, arrogante Geschöpf nicht daran dachte, zu gehen, warf er Holischka hin: »You must write your letter; you must write an answer.«

Und prompt erwiderte Nelly: »Yes, he must write an answer to his bride . . .« und von oben herab zu Hertwig: »Sie sprechen ein scheußliches Englisch.«

»Willst du vielleicht die Antwort besorgen, Nelly?« frug Holischka, der die Kleine gern angebracht hätte, weil er Hertwigs wachsendes Unbehagen sah.

»Natürlich, geben Sie mir nur, ich bringe sie sicher hin.«

»Gib den Brief doch Frau Anathan oder deinem Burschen zur Besorgung,« mahnte Hertwig.

»Nelly ist sicher,« beharrte Holischka. Hertwig zuckte nur mit den Achseln und reichte Holischka Schreibmappe, Tinte und Feder herüber.

»Einen Liebesbrief! Einen echten Liebesbrief,« jubelte Nelly, »und ich darf dabei sein, wenn ein Liebesbrief geschrieben wird!«

Da sich niemand weiter um sie kümmerte, näherte sie sich Karo, der sie die ganze Zeit mit offenbarem Mißtrauen betrachtet hatte. Da hatte sich etwas hereingeschlichen, das sich als etwas anderes gab, als es war, das man nicht dulden sollte, das aber vom Herrn unbegreiflicherweise geduldet wurde. Nelly schwänzelte und tänzelte vor Karo auf und ab, wackelte mit dem Kopf und gab ihm Schmeichelnamen. Zu berühren wagte sie ihn nicht.

»Puh, ist der dreckig,« machte sie verächtlich, ganz nach Art der Kinder, wenn sie etwas nicht kriegen, das sie wollen, und versuchte ihn auf die langen, schnurartigen Haare seiner Rute zu treten. Immer ein bißchen näher . . . immer ein bißchen näher . . .

»Wau, wau, wau, wau,« machte Karo und setzte sich auf.

»So ein Biest!« sagte Nelly und verzog sich hinter den Lehnstuhl. »Ich fürchte ihn aber gar nicht,« prahlte sie. »Wie kann 124 man einen so abscheulichen Hund haben! Ein kleines Schoßhündchen, ja . . . oder nein, gar keins, das lenkt ab,« setzte sie altklug bei, »wenn ich Ihre Braut wäre, würde ich den Hund nicht dulden!«

»Schwatz doch nicht so viel, du kannst ja unausstehlich sein, gleich wird dich der Karo wieder anschnauzen, der kann dich nämlich nicht leiden.«

»Ich ihn auch nicht,« gestand sie offen und versuchte immer wieder nach Karo zu stoßen.

»Du wirst wirklich keine Ruhe geben, bis er dich beißt,« zankte Hertwig ärgerlich.

»Beißen Sie mich nur nicht! Ich mache mir nämlich auch gar nichts aus Ihnen, daß Sie's nur wissen!«

Hertwig lachte, im Grund war er aber doch ärgerlich über das freche, kleine Geschöpf, von dem er sich kritisiert fühlte.

»Das werde ich nicht verwinden können!«

»Macht nichts! Geben Sie mir wenigstens ein Stück von dem Kuchen, der bei Ihrem Kaffee liegt, ich habe bis jetzt nichts abgekriegt,« stichelte sie.

»Gib ihr den Kuchen ganz,« bat Holischka.

»Siegle den Brief,« riet Hertwig.

»Was, siegeln? Holischka wird mir doch trauen! Das wäre noch schöner!«

Holischka lachte nur: »Also, Nelly, still! Ich setze alles Vertrauen in dein Anstandsgefühl. Nimm diesen Brief und trage ihn sofort, aber sofort, hörst du, zu Frau von Armhart.«

»Zur Baronesse Eva von Armhart,« korrigierte Nelly, riß das Kuvert an sich, den Kuchen ebenfalls, da Hertwig kein Gewicht darauf zu legen schien, daß sie ihn bekäme, machte eine ironische Verbeugung und . . . weg war sie. Kehrte aber wieder um und warf Holischka noch eine Kußhand zu, tanzte die Treppe hinunter, sah drunten einen fremden Regenschirm 125 stehen, den sie an sich nahm, tanzte über die Stufen hinunter, die Straße hinab, tanzte um die Ecke und schnupperte lüstern am Kuvert herum. Schon hatte sie ihr spitzes Zünglein an dem schlechten Verschluß hin und her gehen lassen, nun riß sie eine Haarnadel herunter, und unter einer Laterne löste sie ganz, ganz vorsichtig den Verschluß. Eine Visitenkarte nur!

»Leutnant Hans Holischka dankt sehr für Brief und Einladung, bittet tausendmal um Entschuldigung, daß er nicht erscheinen kann, da er noch immer krank zu Bett liegt. Er wird sich gestatten, in den nächsten Tagen weiteres hören zu lassen. Ergebenst d. O.«

Nellys Augen wurden spitz und immer spitzer, sie stieß einen scharfen Pfiff aus und schloß vorsichtig das Kuvert.

»Ein Liebesbrief, pff!« machte sie. »Mit Liebe scheint es Essig zu sein, das muß ich aber gleich dem Mondkälbchen sagen!«

Sofort setzte sie sich in einen vergnügten Trab und biß dabei herzhaft von ihrem Kuchen herunter. Während die beiden Offiziere über Nelly und ihre Anlagen beinahe in einen Disput kamen, läutete die kleine Botin bescheiden am Armhartschen Hause. Im Flur brannte kein Licht und die kleine Gaunerin tat, als kenne sie Eva von Armhart nicht, die ihr öffnete.

»Guten Abend! Ich habe etwas für die Baronesse Eva abzugeben. Wollen Sie sie, bitte, rufen?«

»Stell dich doch nicht so an,« sagte Eva ärgerlich, »ich bin doch Eva, du kennst mich gut, Nelly. Was hast du da?«

»Von Leutnant Holischka. Ein Brief.« Nelly tat furchtbar herablassend.

»Wie kommst du denn dazu, einen Brief von Leutnant Holischka zu bringen?«

»Ich kenne doch Leutnant Holischka nicht nur drei Tage wie Sie, ich kenn ihn schon lange und sehr genau,« trumpfte Nelly auf.

126 »Schöne Sachen,« murmelte Eva. »Was stehst du denn noch hier? Du kannst schon gehen.«

»Ich wollte nur warten, bis Sie Licht anzünden, damit ich sehe, was Sie für ein Gesicht machen . . . es gehört sich auch jetzt, es ist schon dunkel genug, und da will eben einer herein. Adieu!« Und wie ein Blitz war sie über die paar Stufen hinunter und stolperte lachend in die weit ausgebreiteten Arme Major Vierlings. Als er sie aber schmeichelnd in die Höhe heben wollte, duckte sie sich, schlüpfte ihm unter den Armen durch und schrie laut: »Gute Nacht, Herr Major! Etsch!«

Nelly hüpfte nach Hause, nein, zuletzt sprang sie, denn es war doch gewiß keine Kleinigkeit, das lange bei sich zu verschließen, was sie wußte. Die Freude an dem Geheimnis brannte sie förmlich, sie fühlte sich als eine der wichtigsten Personen im Umkreise der Festung. Wem sollte sie das große Geheimnis zuerst verraten? Und für was? Mama? . . . Bah, die haute sie allenfalls, sie war unberechenbar. Resa-Rosa? Die tat, als interessiere es sie nicht, und dann gab die nie etwas. Amélie, natürlich, die gab, was sie wollte, Taschengeld und Schokolade, die war gewiß außer sich vor Entzücken, das Schaf!

Also ward dem betrübten Mondkälbchen die frohe Kunde zuerst hinterbracht, und dann tänzelte Nelly, Schokolade kauend, vorsichtig in die Küche; bei Amélie hatte es etwas für den Magen gegeben, hier gab's was für's Gemüt. So begann es von dieser Ecke, wie eine Spinne fing der Klatsch an, sein Netz auszubreiten, hier hin, dort hin.

Auch die alte Anathan hatte es nicht im Hause gelitten, die Neuigkeiten brannten auch sie zu sehr. Sie hatte flugs ihren fledermausgrauen Schal über Kopf und Brust genommen, und grau wie eine Norne, ganz Schicksalsgöttin, schlich sie zur Bergern, denn die Mär, die sie von den zwei Offizieren und der Nelly vom Bezirksamtmann zu berichten hatte, mußte 127 besprochen, umgewendet, gehegt und gepflegt werden, ehe man sie dem Publikum weitergab. Das Besprechen, Umwenden, Hegen und Pflegen besorgten die beiden so gründlich, daß in ein paar Tagen der Same, den sie wie von einem hohen Turm aus gesät und über die Stadt hingestreut hatten, allerorten aufging und bei der gedeihlichen Wärme, mit der die Pflänzchen gehegt wurden, bald üppig ins Kraut schoß. Die ganze Stadt tuschelte, überall war von Holischka, auch von Hertwig und von Nelly die Rede, von Nelly besonders, und so manche Kassandra weissagte, daß Nelly zu einer Giftblüte erblühen werde.

Armharts und die Verlobung wurden etwas in den Hintergrund gedrängt, doch kursierte so manches, das Nelly gewispert und selbst schon vergrößert hatte, in verstellter und vergrößerter Form.

Holischka krebse, habe außerdem die Armharts wegen Erpressung verklagt, oder er habe mit dem Rechtsanwalt gedroht! Eine andere Fassung hieß, daß er Eva doch heiraten müsse, denn er habe sein Wort gegeben, und das arme adlige Mädchen überhaupt so kompromittiert, daß es niemals mehr eine Partie bekäme. Er könne ja vom Fleck weg heiraten, er habe ja viel mehr Geld als Röder, aber er ziehe es vor, ihr eine große Summe als Entschädigung anzubieten . . . usw., was eben alles noch dem phantasievollen Kopf der talentierten Nelly entsprang, mit Einfügung alles dessen, was die Dienstboten gehört und erlauscht und die Bergern herumgesprochen hatte.

Die von einer Entschädigung sprachen, hatten vielleicht so unrecht nicht, denn Holischka dachte viel über dieses Problem nach; allerdings war dies eher vorausgeahnt, denn vorderhand lag der kleine Leutnant immer noch krank gemeldet zu Bett und kriegte es mit der Angst zu tun, wenn es läutete, und gar erst, wenn er daran dachte, daß er sich wieder in die Straßen hinaus wagen mußte, die keine Winkel und Ecken, nichts Liebes, 128 Huschiges, Erbarmendes hatten, sondern schamlos offen alles zeigten, ihn offenbarten, förmlich mit Fingern auf ihn wiesen: »Hier ist er, der Holischka, der sich so und so aufgeführt und zur Strafe verlobt wurde, und der mit Nelly Horler . . .«

Oh, alles hatte die alte Anathan dem Armen zugetuschelt. Aber was half seine Angst und seine Auflehnung? Einmal mußte er doch wieder hinaus und mußte Spießruten laufen.

Es war ihm zu Zeiten, wenn Kofler und Hertwig nicht bei ihm waren, wie einem zumut, dem das Wasser immer höher hinaufsteigt. Er fühlte sich wirklich elend. In seine Träume kam die Baronin Armhart mit einer Kette in der Hand, die sie ihm ohne viel Federlesens um das Handgelenk band und ihn so mit sich fortzog zu Eva, in seinem Halbschlummer kam das Bäwele und drohte: »Verlobt, wenn du m'r kummscht!« Und er hatte eine solche Sehnsucht, sich an Bäweles Brust zu legen und sich dort auszuweinen!

Ja, die Freunde, schön, das waren Männer, die redeten immer nur von Selbstgefühl und von dem Buckelhinaufsteigen, von Überlegenheit und Ironie; wie's um seine Seele stand, darum bekümmerten sie sich nicht. Nur ein Weib hätte ihn verstehen und trösten können.

Manchmal zog's wie ein angenehmes Lüftchen an heißen Tagen an ihm vorbei: »Amélie!« Er lächelte wehmütig. Das war so fern, ach so fern, ein zartes, anmutiges Bild, ganz so, wie wenn man durch ein umgekehrtes Perspektiv schaut; er freute sich dieses Vergleichs, und schickte Amélie einen hingehauchten, resignierten, ganz und gar unverbindlichen Kuß, in Gedanken. Er war gewitzigt! Es gab Momente im jetzigen Leben des kleinen Holischka, wo er sich als Märtyrer vorkam und zu Hertwig sagte, daß er anfange, sein Schicksal mit Würde zu tragen. Hertwig lachte über die Gerüchte, die in der ganzen Stadt über ihn und Holischka herumgingen, aber wenn 129 er mit Kofler bei Holischka saß, und der Regen draußen rauschte, fühlten sie sich alle drei doch manchmal wehrlos dieser entsetzlichen Stadt gegenüber, die sich auf sie stürzte und sie begeiferte. Kofler raffte sich auf und sagte lachend: »Ach was, wir bleiben ja alle drei nicht hier, wir sehen uns in München wieder.« Das machte sie aber nur trübseliger, denn sie wußten, daß ein Wunder geschehen mußte, sollten sie länger oder gar für immer in München sein können.

Auf Koflers Drängen hin hatte Hertwig Verhandlungen zwischen Holischka und der Familie von Armhart unternommen, wahrlich keine angenehme Aufgabe. Baronin von Armhart, nee, Binchen Möller, faßte die Sache nun von der praktischen Seite an, da es ihr von der idealen nicht gelungen war. Holischka, der Träumer, hatte ihre Menschenkenntnis zuschanden gemacht, er leistete passiven Widerstand.

»Rückwärts, rückwärts, Don Holischka,« sagte sie in ätzend ironischem Ton zu Hertwig, »ich werde ihm aber folgen, bis er irgendwo festsitzt, kannst mir's glauben, Ernst.« Sie war nun ganz die hoheitsvolle »römische« Mutter, die für ihr Kind kämpft.

»Wie eine Löwin für ihr Junges werd ich für mein Kind kämpfen, Holischka ist verlobt und bleibt verlobt. Eine Verlobung ist ein Bund, ein heiliger, unzerreißbarer Bund.«

»Tante,« unterbrach sie Hertwig ungeduldig, »wo hast du denn das herausstudiert? Es klingt gräulich und stimmt auch nicht. Hoffentlich schreibst du nicht ähnlichen Unsinn in ›Unkebunk‹. Ich rate dir nur eins, treibe es mit Holischka nicht zu weit. Ihr blamiert euch ja viel mehr durch dieses zähe Festhalten als durch die Überrumpelung.«

»Was, Überrumplung?« kreischte die Baronin. »Des laß ich nit auf mir, das laß ich nicht auf der Familie Armhart, das laß ich nicht auf meinem Kinde sitzen. Wie eine Löwin ihr Junges . . .«

130 »So laß doch die alte Löwin aus dem Spiel und bleib im Bild!« schrie Hertwig und stampfte heftig auf den Boden.

»Ich bleib im Bild, denn ich werde zum Gouverneur gehen, wann's sein muß. Wie eine Löwin . . .«

»Jetzt kommt die Löwin zum dritten Male! Ein viertes Mal ertrag ich das nicht. Ich kann in diesem Stil nicht mit dir weiter reden; tu also, was du nicht lassen kannst, ich kümmere mich nicht mehr darum. Zeige dich nur weiter von deiner praktischen Seite, die ideale ist doch nur ein Mäntelchen . . . Ja, ein Mäntelchen, genau wie das, das du morgens spazieren trägst, das auch so . . . nun, auch so anders aussieht.«

Er war so erregt, daß er ohne Gruß ging. Im Dämmer des Flurs hielt ihn Eva an. Sie war sehr niedergeschlagen.

»Ich schäme mich jetzt vor Holischka,« sagte sie, »weil ich ihm immer Liebesbriefe schreiben muß, und es liegt mir doch eigentlich nichts mehr an ihm, es ist Mamas Sache. Mama redet immer von Pflichten und von Entschädigung und Abfindung . . . ist das etwa Deflorationsgeld?«

Hertwig mußte sich umwenden, sonst wäre er vor Lachen hinausgeplatzt.

»Aber ich will ja gar nichts von ihm; weißt du, Ernst, mir gefällt ein anderer viel besser« – als Hertwig schwieg – »Leutnant Schneider von der Infanterie. Er geht ja immer vorbei, macht mir Fensterparaden, ein reizender, lieber, lieber Kerl. Diese Augen! Wie Samt! Und wie er heraufsieht! Jeden und jeden Tag!«

Hertwig lachte. Diese arme Seele war also getröstet. »Sag's doch deiner Mutter,« suchte er sie anzustacheln.

»Die schnaubt ja noch viel zu viel Rache, und ist verrannt in die Idee, daß Holischka gezwungen werden muß! Wie eine Löwin ihr Junges . . .«

»Adieu, Eva,« sagte Hertwig und flüchtete vor der »Löwin ihr Junges«.

131 Holischka nahm es Hertwig übel, daß er mit seinen Verhandlungen nicht mehr zustande gebracht hatte, wie phlegmatische, eigensinnige, tatenlose Menschen oft den andern gegenüber zu tun pflegen, von denen sie viel mehr erwarten, als sie selbst geleistet hätten, und wurde merklich kühler gegen ihn. Doch als eines Morgens ein großer Brief kam, der nicht von der Baronin und Eva, sondern vom Kommandeur war, schickte er eilig seinen Burschen zu Hertwig.

Der Kommandeur hatte Holischka von Anfang an nahe gelegt, krank zu bleiben, bis die Geschichte verraucht war, und das kleine Bündel Elend, das da im Bett lag, seufzte, jammerte, schimpfte, schlief und wieder seufzte, jammerte, schimpfte und schlief, war nichts weniger als ein stolzer Krieger, und hatte sich zuletzt an den Gedanken gewöhnt, wirklich krank zu sein. Mit dem vorsichtig durch die Blume gegebenen Rat glaubte Leutnant Holischka das Eingreifen des Kommandeurs in dieser Angelegenheit für vollends abgeschlossen. Wie groß war nun sein Schrecken, als er den Brief bekam, der eigentlich gar nicht mehr durch die Blume sprach.

Die Baronin Armhart, eingedenk der Glorie des Geschlechts, auf dessen Schild kein Flecken sitzen durfte, die »wie eine Löwin ihr Junges verteidigte«, die Autorin von »Unkebunk« hatte – denn so etwas machte immer sie – den Kommandeur berannt und ihm so zuzusetzen gewußt, daß er fast einer Meinung mit der »wie eine Löwin für ihr Junges kämpfenden Mutter« wurde. Resultat: der Brief. Da hatte er also die Bescherung! Beinahe frivol war sein Vorgehen? Und nicht zartfühlend sein jetziges Benehmen? (Gerade so stand's nicht darin, aber man konnte es zwischen den Zeilen lesen.)

War der Punsch etwa nicht frivol gewesen? Und war das »baronliche« Benehmen jetzt etwa zartfühlend? Das waren viel zu feine Worte! Erpresser waren sie, und was die Alte 132 dem Kommandeur vortragiert hatte, war verstunken und verlogen! Ja, verstunken und verlogen! Das schrie er auch Hertwig in seiner ohnmächtigen Wut entgegen, denn es war ihm, als sei auch er Partei, als vertrete er seine Sache nicht energisch genug.

»Ich nehme jetzt alles selbst in die Hand, ich danke für deine Bemühungen. Ich will doch sehen, ob ich frivol bin, ich will doch zeigen, wie zartfühlend ich bin!«

Und pumps, pumps, schmiß er ein Bettkissen nach dem andern heraus, stieß den Stuhl um, der neben seinem Schmerzenslager stand – Karo verkroch sich mit eingezogenem Schwanz unter das Bett – und zuletzt schmiß er den Brief des Kommandeurs in weitem Bogen auf den Boden. Dem sprang er aber sofort wieder nach, holte ihn zurück, schon etwas abgekühlter, stieg ins Bett, nahm gleich ein Kissen mit, legte sich, den Kopf eingebohrt, kleinlaut darauf nieder, bis Hertwigs Schweigsamkeit seinen Zorn aufs neue entfachte.

»Kannst du mir die Kissen nicht aufheben? Ich bin doch krank!«

Karo streckte beobachtend den Kopf unter dem Bett vor, hielt es aber für geratener, ihn gleich wieder zurückzuziehen.

»Ich könnte sie dir schon aufheben, aber ich mag nicht, und krank bist du nicht, sondern ein ausgewachsenes Mondkalb! Gib mir den Brief, sonst demolierst du in deiner Krankheit noch das ganze Zimmer der Witwe Anathan, nur damit niemand sagen kann, du seist nicht zartfühlend.«

»Verpflichtungen hätt ich, sagt er, gerade weil die Verhältnisse dieser stolzen, adligen, aber verarmten Familie so lägen. Verpflichtungen! Die haben Verpflichtungen, meinen guten Ruf sollen sie wieder herstellen, mir meinen Glauben an die Menschheit, meinen Glauben an das Weib wiedergeben. Mein Geld haben sie gewollt! Nicht? Bin ich ein Objekt für Unkebunk? Ich soll helfen, ›Unkebunk‹, das herrliche Schloß wieder 133 aufbauen! . . . Subtil soll ich verfahren! Subtil gegen diese rote Eva, die ich wirklich wie die Urmutter Eva im Paradiese zu bekleiden hätte, da sie nur ein Fähnchen besitzt! Soll ich zartfühlend meinen Rücktritt von der Verlobung mit einem Tausendmarkschein im Kuvert erklären? Nicht benehmen soll man sich, wie ich mich benommen habe? Hab ich mich überhaupt benommen? Sie haben sich benommen! Krank haben sie mich gemacht, mißtrauisch, zynisch; keiner kann ich mehr glauben, sie lügen alle, auch das Bäwele lügt, ich kann, ich kann keiner mehr glauben!«

Nach diesem Ausbruch sank der kleine Leutnant wieder auf das Gesicht und stöhnte. Hertwig hatte ihn noch nie so zusammenhängend, bilderreich und überschwänglich reden hören, ihn, der mit zweiundzwanzig Jahren schon nicht mehr an das Weib glaubte und zynisch geworden war.

Auf einmal fiel Hertwig etwas ein: »Amélie aber,« flüsterte er ihm zu, »die wirst du doch ausnehmen?«

Da stieß Holischka einen tiefen Seufzer aus und würgte heraus: »Amélie ist ein Kind. Sie muß erst zum Weib wachgeküßt werden. Amélie ist rein, sie nehme ich aus.«

*


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