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Eilftes Kapitel.

Schlaf' sanft, Du warst Großvater mir und zeugtest
Den Vater auch, aus dir entsproß
Der Brüder – zwei und eine Mutter.
Cymbeline.          

Die kurze Abenddämmerung war schon vorüber, als der alte Marcus Heathcote das Abendgebet schloß. Die seltsame Beschaffenheit, der verschiedenartige, gemischte Charakter der merkwürdigen Begebenheiten jenes Tags hatte einem Gefühl seine Entstehung gegeben, welches nicht anders Befriedigung und Erleichterung finden konnte, als in jenem Trost, wie er aus den gewöhnlichen, eifrigen, vertrauensvollen und aufgeregten, schwärmerischen Ergießungen des Geistes in brünstigem Gebet auf die Andächtigen herabfloß. Bei der gegenwärtigen Gelegenheit hatte man selbst seine Zuflucht zu einem außerordentlichen, und wie ein weniger Andächtiger zu glauben hätte geneigt sein mögen, überflüssigen, überverdienstlichen Abendopfer und Darbringen von Dank, Lob und Preis seine Zuflucht genommen. Nachdem der Hausvater die von ihm Abhängigen entlassen, hatte er sich, auf den Arm seines Sohnes gestützt, in ein inneres Zimmer zurückgezogen, und 237 dort, nur von denen umgeben, welche den nächsten Anspruch auf seine Liebe und Sorgfalt hatten, nochmals seine Stimme erhoben, das Wesen zu loben und zu preisen, welches mitten in so allgemeiner Noth und Bedrängniß sein eignes Haus und Geschlecht gewürdigt hatte, und auf dasselbe herabgesehen mit Augen der Erinnerung und Gnade. Er sprach namentlich von der wiedererlangten Enkelin, und ließ sich weitläuftig aus über die ganze Geschichte ihrer Gegenwart unter den Heiden, und über ihre Wiederbringung und Darstellung vor den Fuß des Altars, und alles dies sprach er mit dem Feuer, der Wärme eines Mannes, welcher die weisen Rathschlüsse der Vorsehung in diesem Ereigniß durchschaute, und mit einer Zartheit und Begeisterung, welche das Alter noch gar nicht geschwächt und ausgerottet hatte. Gerade beim Schluß dieser besondern, eigenthümlichen Andachtsübung ist es, wo wir den Leser in den Kreis dieser Familie wieder einführen.

Der Geist der Reform und Kirchenverbesserung hatte Die, welche so mächtig den Einfluß derselben fühlten und sich ihm so sehr hingaben, zu vielen Gebräuchen und Anordnungen verleitet, welche, um uns keines härteren Ausdrucks zu bedienen, ganz eben so ungefällig und reizlos für die Einbildungskraft waren, als die Gewohnheiten, die sie abgöttisch nannten, tadelhaft gewesen, und den Angriffen ihrer eigenen, unduldsamen, unnachgebenden Lehren manche Blöße hinstellten. Die ersten Protestanten hatten so viel von dem Dienst des Altars abgeschafft und weggeräumt, daß den Puritanern nur noch wenig zum Zerstören übrig blieb, ohne sich dadurch der Gefahr auszusetzen, ihn und ihren ganzen Gottesdienst nackt hinzustellen, und alles dessen zu berauben, was er Liebliches hatte, und Rührendes für Herz und Gemüth.

238 Durch eine seltsame Verwechselung der Spitzfindigkeit mit der Demuth hielt man es für pharisäisch, öffentlich das Knie zu beugen, damit nicht das große, wesentlichste Erforderniß der Verehrung im Geist und in der Wahrheit durch das leichter zu erreichende Verdienst der Formel und Ceremonie ersetzt und verdrängt werde; und während strenge, rohe Mienen und vorgeschriebene Haltungen einer ganz neuen Art mit all dem Eifer von Neubekehrten beobachtet und gewahrt wurden, sahen sich alte und selbst naturgemäße Uebungen, besonders deßwegen verworfen und verurtheilt, weil man, wie wir glauben, Neuerungen und Veränderung Noth hatte, welche unvermeidliche Begleiter aller Pläne von Verbesserung zu sein scheinen, mögen diese nun durchgeführt werden oder ohne Erfolg bleiben und mißglücken. Aber wenn auch die Puritaner sich weigerten, ihre störrigen Gliedmaßen zu beugen, wenn die Augen der Menschen auf sie fielen, selbst während sie um Segnungen und Pfänder der göttlichen Liebe baten, welche ihren hohen, vergeistigten Ansichten und Meinungen angemessen waren, so erlaubten sie doch, im Geheimen eine Stellung anzunehmen, von der man glaubte, sie sei einem so großen Mißbrauche ausgesetzt, in so fern als sie den Anschein religiösen Versunkenseins gäbe, und gleichsam Ansprüche auf ein abgeschiedenes Leben in Gott machen könnte, während doch in Wahrheit die Seele nur schlummern möchte in der Sicherheit bloßen moralischen Scheins und Stolzes.

Bei der gegenwärtigen Gelegenheit hatten die im Geheimen Betenden die Lage der gebeugtesten, demuthsvollsten Andacht angenommen. Als Ruth Heathcote sich von ihren Knieen erhob, lag die Hand ihres Kindes noch fest in der ihrigen, denn was der Greis in seiner feurigen Begeisterung gesprochen, 239 war ganz geeignet, sie glauben zu machen, der Zustand, aus dem ihr Liebling erlöst worden, sei weit finsterer und dunkler gewesen, als selbst das Grab. Sie hatte sogar eine gewisse zarte, nöthigende Gewalt anwenden müssen, um das verwunderte, staunende Wesen neben sich zu zwingen, so weit, als das Aeußere ging, an dem Gebet Theil zu nehmen; und jetzt, da es geendet war, suchte sie das Antlitz ihrer Tochter auf, darin den Eindruck zu lesen, den dieser Auftritt in ihr hervorgebracht hatte. Sie that dies mit aller Sorgfalt und ängstlichen Aufmerksamkeit der Christin, die noch erhöht wurden durch die zarteste mütterliche Liebe.

Narra-Mattah, – wie wir fort fahren werden, sie zu nennen, – glich im Aeußern, in Stellung und Ausdruck einem Menschen, der in der Täuschung irgend eines aufregenden Traumes ein phantastisches, seltsames Dasein durchlebte. Ihr Ohr erinnerte sich noch der Töne, welche so oft in der Kindheit ihr wiederholt worden waren, und ihr Gedächtniß rief sich unbestimmte, verworrene Bilder von den meisten der Gegenstände und Gebräuche zurück, die ihr jetzt so plötzlich wieder vor Augen gestellt worden; aber die Ersteren überlieferten ihren Sinn und Bedeutung einem Gemüth, das unter einem sehr verschiedenen theologischen System erstarkt war, und gebildet worden, und die Letztern kamen zu spät, Gebräuche und Gewohnheiten zu verdrängen, die in ihren Neigungen vermittelst aller jener wilden, verführerischen Sitten Wurzel geschlagen, die, wie man weiß, in denen unausrottbar bleiben, welche lange ihrem Einfluß unterworfen gewesen. Sie stand demzufolge in der Mitte der ernsten, selbstbeherrschten Gruppe ihrer nächsten Verwandten, gleich einem ihrem Blut Entfremdeten, und hatte einige Aehnlichkeit mit einem furchtsamen, halbgezähmten 240 Bewohner der Lüfte, den menschliche Kunst und Arglist an's Haus zu gewöhnen sich bemühte, indem es ihn in die Gesellschaft der mehr ruhigen und vertrauenden Inhaber des Vogelbauers brachte.

Trotz der Stärke ihrer Gefühle und ihrer Hinneigung zu ihrer Tochter, trotz ihrer aufopfernden Hingebung gegen all die natürlichen Verpflichtungen ihres Standes und der besondern Lage, worin sie sich befand, brauchte doch Ruth Heathcote nicht jetzt erst zu lernen, wie sie jeden gewaltsamen Ausbruch in der Darlegung dieser Empfindungen und in der Erfüllung ihrer Pflichten zu unterdrücken und zu vermeiden hatte. Das erste Ueberlassen, die ersten Ausbrüche ihrer Freude und Dankbarkeit waren jetzt vorüber, und an ihrer Stelle erschien die nie ermüdende, wachsame, stets steigende aber geregelte Aufmerksamkeit, welche die stattgefundenen Ereignisse natürlicher Weise mit sich brachten, und in ihr erregen mußten. Die Zweifel, bösen Ahnungen und selbst die schreckhaften Besorgnisse waren jetzt in einen Anschein von Zufriedenheit und Ruhe gemildert; alle Furcht, die sie früher besessen, war gewichen, und etwas wie das Glimmen und Wideraufglühen von Glück konnte man wieder auf ihrer Stirn hinspielen sehen, die so lange umwölkt worden von einer zwar nicht sehr in die Augen fallenden, aber doch nagenden, zerstörenden Sorge und einem geheimen Grame.

»Und Du erinnerst Dich Deiner Kindheit wieder, meine Ruth?« fragte die Mutter, nachdem die ehrfurchtsvolle Pause des Nachdenkens und der Stille vorübergegangen, welche immer in dieser Familie auf's Gebet folgte; »Deine Gedanken sind uns nicht gänzlich entfremdet worden, und die Natur hat in Deinem Herzen ihre Stelle behauptet? Erzähle uns, 241 Kind, von Deinen Wanderungen in den Wäldern, von den Leiden und Entsagungen, denen ein so zartes Wesen wie Du unterworfen gewesen sein mußte, unter einem so wilden, rohen Volke. Nun wir wissen, daß das Unglück seine Endschaft erreicht hat, ist es eine Genugthuung auf Alle, zu lauschen, was Du gesehen und empfunden hast.«

Sie sprach zu einem Ohr, das für eine Sprache wie diese taub und verschlossen war. Narra-Mattah verstand offenbar ihre Worte; aber der Sinn, die Bedeutung derselben war in ein Dunkel gehüllt, das sie weder wünschte noch fähig war zu begreifen. Sie behielt einen Blick bei, worin Lust und Verwunderung mächtig sich mischte; mit ihm beantwortete sie jenen sanften Strahl der Liebe und Zärtlichkeit, welcher aus ihrer Mutter Auge auf sie fiel; alsdann griff sie eilig unter die Falten ihres Gewandes, zog einen Gürtel hervor, der in dem sinnreichsten, besten Geschmack ihres angenommenen Volkes bunt verziert worden und in den schillerndsten Farben prangte, näherte sich ihrer halb erfreuten, halb betrübten Mutter, und wand ihn mit Händen, die vor Furchtsamkeit und Lust zitterten, um die Hüften der erstaunten Frau, auf eine Weise, daß dadurch in ihrem vollen Glanze und im hellsten Lichte die ganze Vortrefflichkeit des Putzes zur Schau gestellt ward. Erfreut über ihr Werk, suchte das arglose Wesen eifrig nach Billigung und Wohlgefallen in Augen, die wenig mehr verriethen, als Gram und Leid. Bestürzt über einen Ausdruck in den geliebten Zügen, den sie sich nicht zu erklären und zu deuten vermochte, schweifte Narra-Mattah's Blick umher, als wenn er nach Hülfe gegen eine Empfindung suchte, die ihr ganz fremd geblieben.

Whittal Ring hatte sich in das Zimmer gestohlen, und 242 da sie die gewohnte Beschaffenheit und Bilder ihrer eigenen geliebten Heimath vermißte, ruhten die Blicke des erstaunten, beunruhigten Wesens auf dem Antlitz des blödsinnigen Herumstreichers. Sie deutete eifrig auf das Werk ihrer Hände, und schien sich durch eine beredte, ungekünstelte Geberde auf den Geschmack des Andern zu berufen, der doch wohl wissen mußte, ob sie recht gethan.

»Schön, schön,« entgegnete Whittal, und näherte sich etwas mehr dem Gegenstand seiner Verwunderung; »das ist ein herrlicher Gürtel, und Niemand als das Weib eines Sachems konnte ein so prächtiges Geschenk machen!«

Das Mädchen faltete die Hände leicht auf ihren Busen und schien nochmals zufrieden mit sich selbst, zufrieden mit der ganzen übrigen Welt.

»Hier ist die Hand Dessen unverkennbar, der alles Unheil, alle Verderbniß wirkt und schafft,« sagte der Puritaner. »Das Herz zu verderben mit den Eitelkeiten der Welt, die Neigungen zu mißleiten, indem er sie lockt und verstrickt in den Tand dieser Erde, das ist die Arglist, woran er Gefallen hat und sich ergötzt. Ein gefallener Zustand leiht ihm nur zu sehr Hülfe und Beistand. Wir müssen mit dem Kinde mit Eifer und wachender Sorgfalt verfahren, sonst wär's besser, daß ihre Gebeine ruhten an der Seite jener Kleinen aus Deiner Nachkommenschaft, die schon Erben geworden des ewigen Heils und der segnungsvollen Verheißungen des Vaters.«

Ehrfurcht machte Ruth stumm, aber während sie Leid trug über die Unwissenheit und Verblendung ihres Kindes, war doch die natürliche Liebe und Zärtlichkeit für dasselbe in ihrem Herzen noch lebendig und stark. Mit dem feinen 243 Takte einer Frau und der zarten Umsicht einer Mutter, sah und fühlte sie, daß Strenge und Ernst nicht die Mittel seien, die gewünschten Zwecke und Umwandlungen zu erreichen. Indem sie sich selbst auf einen Sitz niederließ, zog sie ihr Kind an sich, und nachdem sie erst von allen denen um sie durch einen sanften Blick Schweigen und Stille erfleht hatte, schickte sie sich selbst an, die Tiefe des Gemüths ihrer Tochter auf eine Weise zu ergründen und zu erforschen, wie es ihr der geheimnißvolle Einfluß der Natur eingab.

»Komm näher, Narra-Mattah,« sagte sie und bediente sich des Namens, auf den die Andere nur allein antworten wollte. »Du bist noch in Deiner ersten Jugend, mein Kind, aber es hat Dem gefallen, dessen Wille Gesetz ist, Dich zum Zeugen zu machen von vielen Veränderungen in diesem wechselvollen Leben. Sage mir, ob Du Dir noch zurückrufst die Tage der Kindheit, ob Deine Gedanken je zurückkehrten zu Deines Vaters Haus, während Du jene langen, trauererfüllten Jahre durchlebtest, da von unserm Antlitz Du fern gehalten wurdest?«

Ruth gebrauchte sanft nöthigende Gewalt, um ihre Tochter, während sie sprach, näher zu sich hinzuziehen, und diese sank in jene Stellung zurück, aus der sie sich eben erhoben hatte; sie kniete, wie sie oft in ihrer Kindheit gethan, an ihrer Mutter Seite. Diese Haltung war zu voll zarter Rückerinnerungen, um nicht reizend und voll Anmuth zu sein; so ließ man denn das halberschreckte Wesen des Waldes während des größten Theils der nun folgenden Unterredung dieselbe Stellung beibehalten. Indeß während sie so gehorsam und unterthänig ihrer Haltung nach schien, zeigte doch Narra-Mattah durch die Leere oder vielmehr Verwunderung eines 244 Auges, das so beredt war, alle die Bewegungen und all ihr Wissen auszudrücken, über das sie zu gebieten hatte, klar und deutlich, daß wenig mehr als nur das Gewinnende und Liebevolle von ihrer Mutter Worten und Weise ihr verständlich und begreiflich war. Ruth sah den Grund, den Sinn ihres Zauderns ein, bewältigte das Bangen, das dadurch in ihr selbst erregt ward und bemühte sich, ihre Sprache den Gewohnheiten eines so arglosen Wesens mehr anzupassen.

»Selbst die grauen Häupter Deines Volkes waren einst jung,« begann sie wieder, »und doch erinnern sie sich der Wohnungen ihrer Väter; dachte meine Tochter jeder Zeit, wo sie unter den Kindern der Blaßgesichter spielte?«

Das aufmerksame Wesen an Ruths Knieen lauschte eifrig und begierig. Die Kenntniß der Sprache ihrer Kindheit war vor ihrer Gefangenschaft ihr hinlänglich eingeprägt worden, sie hatte sich ihrer zu oft bei der Unterredung mit den Weißen bedient, sie hatte sie ganz besonders zu oft mit Whittal Ring gesprochen, um nur irgend im Zweifel über die Bedeutung dessen zu bleiben, was sie jetzt vernahm. Sie warf einen verstohlenen, furchtsamen Blick über die Schulter, um das Antlitz der Martha aufzusuchen, und ihre Züge fast eine Minute lang mit eifrigem, festen Blick zu erforschen, dann lachte sie laut, lachte mit der ansteckenden Fröhlichkeit eines indianischen Mädchens.

»Du hast uns nicht vergessen, Du gedachtest unser,« fuhr Ruth fort, »jener Blick auf die, welche die Gefährtin war Deiner Kindheit, beweist es mir, und bald werden wir unsere Ruth wieder besitzen, werden uns ihrer Liebe und 245 Anhänglichkeit wieder erfreuen, wie wir jetzt ihren Körper nur unter uns haben. Ich will zu Dir von jener furchtbaren Nacht nicht sprechen, wo die Gewalt der Wilden uns Deiner Gegenwart beraubte, ich will des bittern Leids nicht erwähnen, das uns befiel bei Deinem Verlust! Aber Einer ist, den Du kennen mußt, Einer ist, den Du nicht vergessen haben kannst! Mein Kind, Der, welcher thront über den Wolken, welcher die Erde hält in der Höhlung seiner Hand, welcher voll Gnade blickt auf Alle, die auf dem Pfade wandeln, den sein Finger andeutet und bezeichnet! Hat er noch Raum, besitzt er noch ein Plätzchen in Deinen Gedanken? Du erinnerst Dich seines heiligen Namens, Du gedenkst noch seiner Macht und Herrlichkeit?«

Die Lauschende beugte ihr Haupt zur Seite, gleichsam um aufzunehmen den vollen Sinn alles dessen, was sie hörte; die Schatten tiefer Ehrfurcht zogen sich über ein Antlitz, das eben noch ausdruckslos gewesen war und gelächelt hatte. Nach einer Pause murmelte sie vernehmlich das Wort:

»Manittu.«

»Manittu oder Jehova; Gott oder König der Könige, Herr der Heerschaaren oder Geist aller Geister! Es liegt wenig daran, welchen Namen wir gebrauchen, seine Macht und Größe auszudrücken! Du kennst ihn, denn Du hast nie aufgehört, seinen heiligen Namen anzurufen!«

»Narra-Mattah ist ein Weib. Sie fürchtet sich laut zu sprechen zu ihrem Manittu! Er kennt die Stimme der Häuptlinge, und öffnet das Ohr, wenn Hülfe von ihm sie verlangen!«

Der Puritaner seufzte laut; aber Ruth gelang es, ihre eigene Angst, ihr Bangen zu bewältigen und zu unterdrücken, 246 damit sie nicht das wiederauflebende Vertrauen ihrer Tochter störe und ersticke.

»Dies mag der Manittu eines Indianers sein,« sagte sie; »aber es ist nicht der Gott der Christen! Du stammst von einem Geschlecht, welches auf andere Weise anbetet, und es schickt sich nicht, daß Du einen andern Namen anrufest, als den Namen des Gottes Deiner Väter! Selbst der Narragansett lehrt Dich diese Wahrheit! Deine Haut ist weiß, und Deine Ohren sollten hören auf die Ueberlieferungen der Leute Deines Geschlechts und Bluts!«

Das Haupt der Tochter fiel bei dieser Hinweisung auf ihre Farbe ihr auf die Brust herab, gleich als wünsche sie die beschämende, kränkende Wahrheit vor jedem Auge zu bergen; aber sie hatte nicht Zeit zu antworten, Whittal Ring kam ihr zuvor, er trat vor sie hin, und sagte, auf die brennende Farbe ihrer Wangen deutend, die mit tiefem Roth überzogen waren, wovon eben so sehr die Scham, als die Hitze einer amerikanischen Sonne die Ursache war, – er sagte:

»Das Weib des Sachems hat angefangen, ihre Farbe zu ändern. Sie wird bald dem Nipset gleich sein, ganz roth, – seht!« fuhr er fort, und legte einen Finger auf einen Theil seines eignen Arms, wo die Sonne und die Winde noch nicht die ursprüngliche Farbe seiner Haut verwischt und zerstört hatten; »der böse Geist goß Wasser auch in sein Blut, aber es wird bald wieder heraus sein! So bald er so dunkel und schwarz sein wird, daß der böse Geist ihn nicht wieder erkennen kann, wird auch er den Kriegspfad betreten; und dann mögen die lügenhaften Blaßgesichter die Gebeine ihrer Väter ausgraben, und sich nach Sonnenaufgang 247 wenden, oder er wird seine Wohnung schmücken und ausfüttern mit Haupthaaren blond wie das Fell und Fließ des Waldes!«

»Und Du meine Tochter, kannst Du diese Drohung gegen das Volk Deiner Abkunft, Deines Blutes, Deines Gottes, kannst Du sie hören ohne Entsetzen und Schauder?«

Narra-Mattah's Auge schien in Zweifel. Noch betrachtete es Whitthal mit seinem gewohnten Blick der Güte. Der unschuldige Blödsinnige, voll seines eingebildeten Ruhmes, erhob in Entzücken seine Hand und zeigte durch Geberden, die nicht leicht mißverstanden werden konnten, die Weise an, wie er seinen Opfern das gewöhnte Siegeszeichen, die Schädelhaut abzunehmen gedachte. Während der junge Mann diese abscheuliche, aber ausdrucksvolle Pantomime darstellte, beobachtete Ruth das Antlitz ihres Kindes in fast athemlosem Erwarten und Seelenkampfe. Sie würde sich durch einen einzigen Blick der Mißbilligung und des Abscheu's getröstet und erleichtert gefunden haben; eine einzige Bewegung einer wiederstrebenden, sich empörenden Muskel, das geringste Zeichen, das die zarte Gemüthesbeschaffenheit eines einst so liebenswürdigen und holden Wesens vor einem so unzweideutigen Beispiel der barbarischen, wilden Sitten und Gewohnheiten ihres gewähnten Volkes zurückbebte, hätte der Mutter Fassung und Ruhe wiedergegeben; – aber jene Kaiserin von Rom hätte mit größerer Gleichgültigkeit dem Todeskampfe des besiegten Gladiators mit ansehen, die Gemahlin eines Fürsten neuerer Zeit die blutige Liste der Opfer von ihres Gemahls Triumph mit weniger Rührung lesen, oder eine verlobte Schöne auf die mörderischen Thaten dessen, den ihre Einbildungskraft ihr als einen Helden 248 hinmalte, mit weniger Rücksicht für die menschlichen Leiden hören mögen, als dies jetzt der Fall war, wo das Weib des Sachems der Narragansetts die mimische Darstellung jener Thaten mit ansah, welche ihrem Gatten einen so hochgepriesenen Ruhm, ein so hohes Ansehen unter seinem Volke verschafft und erkauft hatten. Es war nur zu augenscheinlich, die Darstellung, die Bewegungen Whittal's roh und wild, wie sie waren, lieferten ihrer Seele nichts als Bilder und Gemälde, wie sie die erwählte Gefährtin eines Kriegers erfreuen und ergötzen mußten. Die wechselvollen, leicht veränderten Züge, das den Gefühlen des Andern ganz entsprechende Auge verkündeten zu deutlich das Mitgefühl eines Wesens, das gelehrt und erzogen worden, über den Erfolg, den Sieg des Streitenden zu frohlocken; und als Whittal, aufgemuntert und erregt durch seine eignen Anstrengungen und mimischen Versuche, in eine Darstellung noch roherer, grausamerer Gewaltthätigkeiten, als die gewöhnlichen waren, ausbrach, ward er offen und ohne Scheu durch ein zweites Lachen von ihr belohnt. Die sanften außerordentlich weiblichen Töne dieses unwillkührlichen Ausbruchs der Lust klangen in Ruth's Ohren wie ein Todtengeläut, unter dem die moralische Schönheit und Anmuth ihres Kindes zu Grabe getragen wurde und auf immer verloren ging. Doch beherrschte, bewältigte sie noch ihre Gefühle; sie fuhr gedankenvoll und trauernd mit einer Hand sich über die blassen Züge und sorgende Stirn, und schien lange zu sinnen und zu brüten über das gänzliche Verderbniß, über das unwiderbringliche Verlorensein eines Gemüthes, das einst versprach, so rein und lauter zu werden.

Die Colonisten hatten bis jetzt noch nicht alle Bande 249 losgetrennt, welche so natürlich an die östliche Halbkugel sie knüpften. Ihre Ueberlieferungen, ihr Stolz und in vielen Fällen auch ihre Rückerinnerungen, ihr Angedenken, alles trug dazu bei, ein Gefühl der Freundschaft, und man mochte mit Recht noch hinzufügen, ein Gefühl der Einigkeit des Glaubens zu Gunsten des Landes ihrer Väter in ihnen wach und lebendig zu erhalten. Bei einigen ihrer Nachkommen ist selbst noch bis auf die gegenwärtige Stunde das Musterbild aller Schönheit, was auf menschliche Vollkommenheiten und irdische Glückseligkeit Beziehung hat, eng mit den Vorbildern jenes Landes verbunden, von dem sie herstammen. Die Entfernung wirft, wie bekannt, einen sänftigenden Nebel eben so sehr über die moralische als physische Perspective. Der blaue Umriß der Berge, wie er in seinem erglühenden Hintergrund, den ihm der Himmel bildet, leise verschmilzt und sich verliert, ist nicht gefälliger für's Auge und anmuthsreicher, als die Gemälde, welche die Phantasie oft von weniger materiellen Dingen entwirft; aber so wie er sich nähert, findet der getäuschte, in seinen Hoffnungen betrogene Wanderer nur zu oft Nacktheit und Mißgestaltung, wo er so freundlich und erwartungsvoll sich gedacht hatte, nur Schönheit und Reiz anzutreffen. Kein Wunder daher, daß die Bewohner der einfachen, schlichten Provinzen New-Englands Rückerinnerungen aus dem Lande, welches sie immer noch ihre Heimath nannten, mit dem größten Theil ihrer poetischen Bilder und Phantasien vom Leben vermengten und verwechselten. Hatten sie ja doch die Sprache, die Bücher, und die meisten Sitten und Gewohnheiten von Alt-England beibehalten. Aber verschiedene Umstände, getheilte Interessen und besondere Ansichten und 250 Meinungen begannen allmählich jene Breschen zu eröffnen, welche die Zeit seitdem erweitert und vergrößert hat, und welche die Aussicht geben, bald nur noch wenig Gemeinsames zwischen den beiden Völkern übrig zu lassen, mit Ausnahme etwa der Redeformen und des Ursprungs. Möchte dabei immer noch die Hoffnung übrig bleiben, es werde sich einige Anhänglichkeit und Liebe mit diesen Banden vereinigen und mischen!

Die seltsam eingezogenen, selbstbeherrschten Sitten und Gebräuche der Religionsverwandten auf der ganzen Strecke der brittischen Provinzen hin standen in grellem, schroffen Gegensatz mit den bloßen Verschönerungen und Ergötzlichkeiten des Lebens. Künste und Gewerbe wurden nur zugelassen, in so weit als sie zu den nothwendigsten und nächstgelegenen Bedürfnissen und Zwecken desselben beitrugen und ihnen dienten. Bei ihnen war Musik nur auf den Gottesdienst beschränkt; und für eine lange Zeit, welche auf die ursprünglichen Ansiedelungen und Einrichtungen in ihnen folgte, hatte man nie erfahren, daß der Gesang das Gemüth von dem abgelenkt, was man für den einzigen großen Endzweck des menschlichen Daseins hielt. Kein Vers ward gesungen, der nicht einen heiligen Gedanken mit dem Angenehmen der Melodie verknüpfte und nie vernahm man innerhalb des weiten Gebiets der Ansiedler die Töne des Zechens und nächtlicher Völlerei. Doch waren schon Wörter, wie sie ihrer besondern Lage, und ihren eigenthümlichen Verhältnissen angemessen waren, bei ihnen in Gebrauch gekommen, und obwohl Dichtkunst nie ein allgemeines und glänzendes Eigenthum des Geistes unter einem, in ascetische Uebung eingelerntem Volke war, so zeigte sie doch frühzeitig ihre Macht 251 und Größe in niedlichen Versificationen, die indeß immer, obgleich mit einem Erfolg, den zu bezweifeln wenigstens verzeihlich ist, darauf berechnet waren, zum Ruhm der Gottheit beizutragen, und mit ihrer Verherrlichung ausschließlich sich zu befassen. Es war eine ganz natürliche Erweiterung und Ausdehnung dieses frommen Gebrauchs, als man einige jener geistlichen Gesänge zu Wiegenliedern benutzte.

Als Ruth Heathcote gedankenvoll mit der Hand sich über die Stirne fuhr, geschah dies mit der peinlichen Ueberzeugung, daß ihre Herrschaft über das Gemüth ihres Kindes auf eine traurige Weise geschwächt, wenn nicht für immer verloren sei. Indeß die Antriebe mütterlicher Liebe werden nicht leicht zurückgewiesen und zum Aufgeben ihres Zweckes genöthigt. Ein Gedanke tauchte in ihrem Verstande auf und sie beeilte sich, die Wirksamkeit des Versuchs, den er ihr eingab, zu erproben. Die Natur hatte sie mit einer melodischen Stimme begabt; dabei hatte sie ein Ohr, das sie lehrte, die Töne auf eine Weise zu regeln und umzumodeln, welche selten verfehlte, die Herzen Aller zu rühren und zu ergreifen. Sie besaß den Genius der Musik, welcher nichts weiter als die Melodie ist, aber ungeschwächt durch jenes übertriebene Affectiren, womit er oft durch die sogenannte Kunst und Wissenschaft überladen wird.

Sie zog ihre Tochter näher an ihr Knie hin, und begann einen jener Gesänge, wie sie damals häufig bei den Müttern der Colonie im Gebrauch waren; doch erhob sich ihre Stimme anfangs kaum über das Flüstern eines Abendlüftchens, aber dann gewann sie allmählich, wie sie fortfuhr, die ganze Fülle, den ganzen, reichen Umfang, welchen ein so einfaches Lied erheischte und nothwendig machte.

252 Gleich bei den ersten, leise hingeathmeten Tönen dieses, so zu sagen, Ammenliedes, ward Narra-Mattah regungslos und ruhig, es war, als sähe man die gerundete, zwanglose Gestalt eines Marmorbildes dasitzen. Nur das Auge lebte, die Freude erglänzte darin mehr und mehr mit jedem Tone, und ehe noch die zweite Strophe geendet hatte, ward ihr Blick, ihre Stellung, jede Muskel ihrer sprechenden, klugen Züge beredt im Ausdruck des höchsten Entzückens. Ruth hatte den Versuch nicht gewagt, ohne für seinen Erfolg zu zittern. Diese Erregung theilte sich ihrem Gesange mit und verlieh ihm etwas Seelenvolles, und als zum dritten Male im Verlauf ihres Gesanges sie sich gegen ihr Kind wandte, sah sie die sanften, blauen Augen, wie sie, in Thränen schwimmend, voll Aufmerksamkeit und Neugier auf ihr Antlitz hinstarrten. Ermuthigt durch dies unzweideutige Zeichen ihres Erfolges, ward das natürliche Gefühl in ihr noch weit mächtiger in seinen Anstrengungen und Antrieben, und der letzte Vers, die Schlußstrophe wurde einem Ohr vorgesungen, daß sich fest an ihr Herz lehnte wie Narra-Mattah in den Jahren ihrer Kindheit oft that, wenn sie dieser schwermüthig süßen Melodie lauschte.

Contentius war ein stiller aber ängstlich aufmerksamer Zeuge von diesem rührenden Zeichen eines wieder auflebenden Erkennens und Verständnisses zwischen seinem Weibe und dem Kinde. Er begriff am besten den Blick, der in den Augen der Ersteren strahlte, während ihre Arme mit der äußersten Vorsicht um das Kind geschlungen waren, das immer noch an ihrem Busen hinlag, und sie gleichsam zu besorgen schien, es möge das so furchtsame Wesen aus seiner Sicherheit und Hingebung durch irgend eine plötzliche, 253 ungewohnte, unvorhergesehene Unterbrechung aufgeschreckt werden. Ein Augenblick verging in der tiefsten Stille; selbst Whittal Ring war in Ruhe eingelullt, und lange, kummervolle Jahre waren ihr hingeschwunden, seit Ruth so entzückte Augenblicke der reinsten, ungetrübtesten Glückseligkeit nicht genossen hatte. Die Stille ward durch einen schweren Schritt im Außenzimmer unterbrochen; eine Thür wurde mit einer mehr als gewöhnlich gewaltsamen Hand aufgerissen, und der junge Marcus erschien, sein Antlitz erhitzt von Erregung und Anstrengung, seine Stirn gleichsam noch beibehaltend den Zorn der Schlacht, sein Tritt eine Gemüthsbeschaffenheit verrathend, die durch irgend eine stolze, ihn drückende Leidenschaft angetrieben und beherrscht ward. Conanchet's Bündel befand sich unter seinem Arm; er legte es auf einen Tisch, deutete dann darauf hin in einer Weise, die Aufmerksamkeit ertrotzen zu wollen schien, wandte um und verließ das Zimmer eben so plötzlich und barsch, als er es betreten hatte.

Kaum erblickte Narra-Mattah die muschelbesetzten Schnüre am Bündel, so brach ein lauter Schrei der Freude und des Entzückens aus ihrer Brust. Ruth's Arme ließen voll Staunen ihren Halt los, und ehe noch Verwunderung Zeit hatte, mehr zusammenhängenden Ideen Platz zu machen, war das wilde Wesen aus ihren Armen nach dem Tische geflogen, wieder zurückgekommen, hatte sie ihre frühere Stellung wieder eingenommen, die Windungen und Falten des Tuches abgelöst, und hielt dem verwirrten Blick ihrer Mutter das geduldige Antlitz eines neugeborenen, indianischen Knaben entgegen.

Es würde die Kräfte der anspruchlosen Feder übersteigen, welche wir führen, wenn wir dem Leser eine genaue, richtige 254 Idee von den verschiedenartigen, gemischten Gefühlen und Erregungen geben sollten, welche in Ruth's Antlitz sich um die Oberherrschaft stritten. Die angeborenen, nie ersterbenden Gefühle der Mutterfreude wurden von all jenen Empfindungen des Stolzes bekämpft, welchen Vorurtheil nicht ermangeln konnte, selbst dem Busen eines so sanften, liebevollen Wesens einzupflanzen. Ihr brauchte man nicht erst die Geschichte der Herkunft und Verwandtschaft des kleinen, bewußtlosen Bittstellers zu erzählen, der ihr jetzt schon mit jener besondern ausgezeichneten Ruhe in's Antlitz sah, die sein ganzes Volk so merkwürdig macht. Selbst das Matte und Unbestimmte der Kindheit verhinderte nicht das dunkel-blitzende Auge Conanchet's wieder zu erkennen. Auch war in seinem Antlitze die zurücktretende Stirn zu bemerken, die zusammengedrückten Lippen des Vaters: aber alle diese Anzeichen seiner Abkunft wurden durch Züge jener Schönheit gesänftigt und gemäßigt, welche die Kindheit der Mutter selbst so sehr ausgezeichnet und charakterisirt hatten.

»Sieh!« sagte Narra-Mattah, und erhob das Kind noch näher nach dem eingewurzelten, gleichsam versteinerten Blick der Ruth hin; »dies ist ein Sachem der rothen Leute, der kleine Adler hat sein Nest zu bald verlassen.«

Ruth konnte dem Aufruf ihrer geliebten Tochter nicht widerstehen. Sie neigte ihr Haupt nieder, so nieder, daß sie dadurch ihr eigenes erröthendes Gesicht gänzlich verbarg, und drückte einen Kuß auf die Stirn des indianischen Knaben. Aber das eifersüchtige, scharfe Auge der jungen Mutter war nicht zu täuschen. Narra-Mattah entdeckte leicht den Unterschied zwischen dem kalten Gruße und jenen feurigen, zärtlichen Umarmungen, die sie selbst empfangen, und so brachte 255 diese Täuschung ihrer gehegten Erwartungen eine Kälte in ihrem eigenen Herzen hervor. Sie legte die Tücher mit ruhiger, ernster Würde wieder über das Kind hin, erhob sich von ihren Knieen, und ging trauernd und niedergeschlagen nach einem fernen Winkel der Stube. Dort ließ sie sich auf einen Sitz nieder, und stimmte mit einem Blick, den man fast vorwurfsvoll hätte nennen mögen, leise ein indianisches Lied für ihren Knaben an.

»Die Weisheit der Vorsehung ist in diesen wie in allen ihren Fügungen zu sehen,« flüsterte Contentius seiner halb bewußtlosen Gattin zu, indem er sich über ihre Schultern hinbeugte. »Hätten wir sie so wieder erhalten, wie wir sie verloren, dann konnte wohl die Gnade unser Verdienst übersteigen. Unsere Tochter ist betrübt und gekränkt, daß Du ein kaltes, unempfindliches Auge auf ihren Knaben geworfen.«

Diese Anrede war für eine Frau hinreichend, deren Gefühle und Neigungen eher bloß verwundet und unangenehm berührt, als gänzlich gleichgültig und kalt geworden. Die Worte ihres Mannes riefen sie zu ihrem Bewußtsein zurück, und dienten mit einem Male die Schatten des Grams und der Unlust zu zerstreuen, welche, sich selbst bewußt, sie sich auf ihrer Stirn hatte sammeln lassen. Der Unwille, oder wie mit mehr Wahrheit gesagt werden sollte, der Kummer wich bald aus dem Herzen der jungen Mutter. Ein Lächeln auf ihr Kind hin, brachte das Blut wieder aus ihre Wangen und trieb es in schnellem, wildem Laufe durch ihre Adern. Ruth selbst vergaß schnell, daß sie irgend Grund zur Betrübniß hatte, als sie das unschuldige Entzücken mitansah, womit ihre Tochter sich beeilte, die körperlichen 256 Vollkommenheiten des Knaben darzulegen und im hellsten Lichte vor Aller Augen hinzustellen. Von diesem Auftritt voll der Gefühle der reinsten, lautersten Natur wurde Contentius zu schnell durch die Nachricht abgerufen, Jemand draußen erwarte seine Gegenwart, um über eine Angelegenheit von der äußersten Wichtigkeit für die Wohlfahrt der Ansiedelung mit ihm zu besprechen. 257

 


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