Michael Georg Conrad
Majestät
Michael Georg Conrad

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Davon war nichts abzumarkten, kein Märtyrer, kein Glaubensstreiter hat je für sein Bekenntnis mehr gelitten, als der moderne Mensch für seine Religion der Kunst leiden muß. Das war des Königs Überzeugung: wer die Schönheit anbetet, kann nur durch Leiden zur Seligkeit gelangen – dafür gewinnt er aber auch das Recht, in dem rohen eisernen Zeitalter nicht der weichmütige Narr für die Empfindlichkeiten der anderen zu sein, die nicht seines Glaubens sind und voll frecher Unduldsamkeit gegen sein Bekenntnis der Schönheit sich als Feinde stellen. Nur der Herrschende, nur die Herrennatur kann der Kunst recht dienen. Wer nicht die Kraft hat, sich und anderen zu befehlen und für seine Befehle Gehorsam zu erzwingen, der ist auch als schöpferischer Kunstmensch unnütz. Der Schönheit ist mit Geringem nicht gedient. Sie will die ganze Seele, die ganze Persönlichkeit. Sie will den vollbewußten Gegensatz zur gegenwärtigen Zeit, zum Zeitalter des Industrialismus und Maschinismus, welches die Häßlichkeit auf den Thron erhoben und die rohe Massenwirtschaft als Lebensprinzip seiner Herrschaft verkündigt hat. Dieses Zeitalter hat die Freude zerstört und durch seine unerhörte Profitgier das Dasein arm gemacht an allen edleren Werten. Selbstverständlich heuchelt dieses zerstörerische und räuberische Zeitalter demokratische Bestrebungen, um die Ausgeplünderten zu beruhigen. Es nimmt die Maske der Volksfreundlichkeit vor, kokettiert mit Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, um alle vornehmen Überlieferungen in den Boden zu walzen. Alles Edle erhöht, alles Hohe isoliert, alle Einsamkeit streitet wider die Instinkte der Masse. Darum will die Zeit, daß alles Edle gemein werde, während der Edle will, daß die Besten Gelegenheit finden, sich aus der Masse zu erheben und ihr eigenes schöpferisches Leben in Schönheit zu leben.

Diese Ideen erfüllten den König mit solcher Stärke, daß er sich nie mehr der gemeinen Wirklichkeit unterwerfen, nie sein Knie vor Baal beugen wollte. Und auch der Schmerz über die Heimsuchungen, die seine Verwandtenkreise verdüsterten, sollte seinen Stolz und Unternehmungsgeist nicht entwaffnen.

»Gut, daß ich mich so konzentriert habe, daß ich wie in einem eisernen Panzer dastehe!« rief er, sich selber Mut machend. »Alle ihre Pfeile werden von dem Harnisch meiner Seele abprallen. Überhaupt – man komme mir nur!«

Endlich stand ein Plan fest, der an Großartigkeit und Pracht alle vorausgegangenen Bauten überbieten und der konventionellen Kunst- und Kritikmacherei einen Faustschlag versetzen sollte. Die Deutschen, die sich jetzt als Chauvinisten auftrumpfen, ärger als die Franzosen unter ihrem verkrachten Kaisertum, sollten auf deutschem Boden ein Bauwerk erstehen sehen, das ihnen gehörig zum Stein des Anstoßes werden mochte. Keine Rücksicht mehr auf den pseudopatriotischen Hokuspokus! Keine Rücksicht mehr auf die rohen Brüllkonzerte gegen den welschen Erbfeind!

»Wer war der letzte große König in Europa, der in der Fülle unantastbarer Majestät wahrhaft in herrschender Schönheit erstrahlte?« fragte er seinen Adjutanten beim Abendspaziergang.

Als der Gefragte zögerte, fuhr der König fort: »Lieber Graf, strengen Sie einmal Ihren Kopf an, aber vor allem: Fälschung der Geschichte ausgeschlossen! Wir lesen die Geschichte nicht mehr in patriotisch appretierten Schulfibeln, wir neuen Europäer!«

»Le roi soleil!« antwortete der Adjutant mit militärischer Kürze.

Dieselbe Frage richtete der König an seinen Kammerherrn. Nach einiger höfischer Flausenmacherei kam schließlich doch die gleiche Antwort: »Le roi soleil!«

Dieselbe Frage richtete der König an seinen Lakaien. Die Bedientenseele kam in böse Not. »Wes Brot ich ess', des Lied ich sing',« dachte die Schlauheit in der Hoflivree und antwortete endlich: »Der erste König von Bayern, Majestät!«

Der König betrachtete sich den Antworter mit großer Gemütsruhe: Der Mensch war wirklich der geborene Lakai, er verzog keine Miene, er war tadellos in seinem Ausdruck, er hätte die strengste Probe im spanischen Zeremoniell bestanden.

»Kennst du den ersten König von Bayern?«

»Er sitzt aus dem Max-Joseph-Platz vor dem königlichen Hoftheater, die rechte Hand breitet er zum Segnen aus, in der linken hält er das Zepter, daran wird alle Jahre an seinem Geburtstage ein großer Lorbeerkranz aufgehängt.«

Dieselbe Frage richtete der König an einen Berufsdichter, der für die königlichen Separatvorstellungen historische Theaterstücke nach genauer Angabe des Königs lieferte. Er antwortete, da er den Geschmack des Monarchen genügend zu kennen glaubte, mit Poetenfreimut: »Der Sonnenkönig von Frankreich, der glanzvolle Louis XIV. in Versailles«

Dem König machte diese Abstimmung Vergnügen. Bis auf den Lakaien hatte er die gebildete Welt für sich – nur der Gemütsmensch opponierte. Seiner Majestät allergetreueste Opposition, der Lakai, wurde mit einem Geschenk für den Schmerz der Notlüge belohnt. Der König erinnerte sich eines anderen Gemütsmenschen, eines Leibarztes seines Großvaters, der seinem königlichen Herrn versprach, aus reinster Liebe ihm alle Zähne fein langsam auszuziehen und so zu ersetzen, daß er sie förmlich wachsen hören sollte, ohne Schmerz zu empfinden. Wieviel unverwüstliche Geschäftsgüte!

Die anderen Gemütsmenschen aber, die, durch keine höfische Rücksicht gebunden, ihr Gemüt im Maule und im Portemonnaie tragen, nein, die sollten nicht geschont werden.

Das unzerstörbare Dokument aus Stein, das der viel verlästerte große Louis XIV. hinterlassen und worin alle Ruhmestaten seiner starken Schönheitsseele fortleben, unbekümmert um das Gekläff der steifleinenen Tugendsamlichkeit: sein Schloß in Versailles mit den Wundern der Spiegelgalerie, der Prunkmuseen, der Park- und Wasserkünste – das soll jetzt in Europa zum zweitenmal erstehen, noch größer und prächtiger als das Urbild, ein Kunstschaustück königlicher Macht und Herrlichkeit, ein Kunstprotest monumentalster Art wider den plebejischen Geist des Jahrhunderts. Und zwar sollte dieses Schloß erstehen, gebaut von Ludwig II. von Bayern, auf einer Insel des bayerischen Meeres, im Chiemsee.

Der König hatte vor Jahren diese Insel, Herrenwörth, erworben, um der Zerstörung ihres herrlichen Waldes Einhalt zu tun. Eine Spekulantengruppe hatte Insel und Wald an sich gebracht, um alles, bis auf den letzten Stamm, zu zerstören und zu Geld zu machen. Den Krallen dieser unersättlichen Profitmenschen, denen jede Schönheit der Natur nur noch ein Spekulationsobjekt ist wie ein beliebiger Fetzen Börsenpapier, entriß der König das poesievolle Eiland mit seinem Urwaldheiligtum, von dem schon große Stücke hingemordet waren. Dieser Boden war wie zum Baugrunde geweiht für das Monument souveräner Schönheit, die alle fremden Zwecke und Fragen ablehnt.

In einer Besprechung mit dem Architekten sagte der König: »Ich will dieser kleinen perfiden Krämerwelt ein Versailles vor die Nase setzen, daß sie endlich merkt, was Majestät bedeutet. Und dem großen Ludwig von Frankreich und seinen Paladinen soll es ein Gruß in die Ewigkeit sein, ein edler, deutscher Gruß. So huldigen sich die Könige der Schönheit!«

Der Architekt nickte beifällig, wie sich's geziemte.

»Sie begreifen nun,« fuhr der König fort, »daß es sich nicht um ein Werk moderner Imitationskunst bei dem neuen Baue handelt. Uns gilt nicht der Grundsatz der Dutzendwaren-Industrie: billig und schlecht. Sie verstehen mich.«

Der Architekt verstärkte sein beifälliges Nicken.

Als der König endlich auch seinem Kabinettsrat einen Blick in den neuen Plan gestattete, war der hohe Beamte im Dienste seines Monarchen geschult und gewitzigt genug, um keinerlei Einwände zu erheben. Ja, er fand noch eine treffende Beschwichtigungsformel, als der Monarch selbst ihm mit einem Bedenken auf den Leib rückte: »Die aufrichtigen Deutschen werden mir zürnen. Es widerstrebe unserer gesunden Reichsentwickelung, werden sie sagen, auf deutschem Boden jetzt ein französisches Königsschloß zu bauen. Ein deutscher Fürst dürfe so etwas schon aus vaterländischem Empfinden nicht tun.«

»Jawohl, Majestät,« erwiderte scharfsinnig der Kabinettsrat, »die aufrichtigen Deutschen hätten unwiderleglich recht, wenn sich's um ein beliebiges französisches Schloß handelte. Aber mit dem Schloß von Versailles hätten sie durchaus unrecht. Dieses Schloß gehört in die deutsche Reichsgeschichte wie irgendein Schloß am Rhein, am Neckar oder an der Spree. Das Schloß von Versailles war der Schauplatz der deutschen Kaiserproklamation – alle Welt kennt doch das Bild von dem preußischen Hofmaler Anton von Werner! Das Schloß von Versailles ist sozusagen die Wiege des preußisch-deutschen Kaisertums und als solche ein heiliges ideales Besitztum unserer vaterländischen Geschichte.«

»Sehr gut!« rief der König.

Der geheime Kabinettsrat: »Was wollen die aufrichtigen Deutschen, die das neue Kaisertum und seine Geschichte lieben, dagegen sagen? Gar nichts können sie dagegen sagen. Das Argument ist unangreifbar.«

»Sehr gut!« wiederholte der König. »Unsere Deutschen können aber darin ein Haar finden, daß gerade ich dieses ideale Besitztum deutscher Reichsgeschichte den Deutschen in ein wirkliches durch meinen Bau verwandle, denn die Leute finden ein Haar in allen meinen Bauten. Wie argumentieren Sie nun da, mein lieber Geheimrat?«

»Als Eurer Majestät getreuster Handlanger –«

»Um Gottes willen, nicht dieses Wort!«

»Als Eurer Majestät ergebenster Diener –«

»Meinetwegen, obschon ich Diener wie Knecht unter freien deutschen Bürgern nicht gern hören mag – Mitarbeiter ziehe ich vor.«

»Mir, als Eurer Majestät bescheidenem Mitarbeiter, wird mein weiteres Argument nicht als blöde Schmeichelei ausgelegt werden: Niemand ist so berechtigt wie König Ludwig II. von Bayern, um dieses ideale Dokument in ein reales zu verwandeln. Der Initiative des Bayernkönigs verdankt der Preußenkönig den Titel deutscher Kaiser. Im Schloß zu Versailles hat sich der Preußenkönig die von Bayern angebotene Kaiserkrone aufs Haupt gesetzt. Das ist historisch niemals wegzudisputieren noch totzuschweigen. Wir sind also bei diesem weltgeschichtlichen Vorgang in Versailles sozusagen fortwährend auf bayerischem Boden. Die Schlußfolgerung ergibt sich von selbst: Ludwig II. der Deutsche, er von allen deutschen Bundesfürsten ist der berufenste, dem deutschen Volk das Schloß Versailles zu schenken.«

»Ich danke Ihnen.« –

Wieder begann eine Zeit fieberhafter Tätigkeit. Des Erforschens, Entwerfens, Prüfens war kein Ende. Jeder Gedanke, von der genauen Bestimmung des Bauplatzes, der Materiallieferung, bis zu den letzten künstlerischen Einzelheiten der Ausführung, ging zielweisend vom König aus und kehrte, fachmännisch durchgearbeitet, zu ihm zurück. Nie blieb sein Eifer am Kleinlichen haften, als handle sich' s bloß um eine mechanische Reproduktion. Stets ging er aufs Ganze der künstlerischen Schöpfung, in der die Riesensumme von einzelnen kleinen Feinheiten zu mächtiger Wirkung sich zusammendrängt.

»Eine Apotheose der Majestät – die gewesen, aber in der Kunst ewig leben wird. Die moralischen Reichsdeutschen mögen sie meinetwegen zugleich als Mahnung nehmen. Die Größe der französischen Monarchie ist in Trümmer gebrochen. Nicht bloß durch verhängnisvolle Versehen der Monarchen, sondern ebenso sehr durch die Dummheit des Volks. Nie mehr blühten die Wissenschaften und Künste in Frankreich, nie war der Verkehr so anmutig und geistreich wie am Hofe des großen Königs. Alles Spätere war emporkömmlinghaft oder reaktionär angekränkelt.« In den kurzen Zwischenzeiten des Ausruhens sprach er gern mit seiner Umgebung über das Thema, das ihm jetzt die ganze Seele füllte.

Auch seinem Adjutanten hatte der König einmal eine gründliche Abfuhr in einem geschichtsphilosophischen Meinungsstreit nicht ersparen können. Der Adjutant disputierte mit anderen Herren über die Bedeutung der französischen Ludwige. Er sang der autokratischen Regierungsform die feurigsten Loblieder, weil sie für kriegerische Unternehmungen eine wundervolle »Stoßkraft« entwickle. Der König kam gerade dazu, als sich die Herren in die schönste Hitze geredet hatten über das Für und Wider. Der Adjutant rief die Hilfe des Königs an.

»Bedaure,« sagte dieser lächelnd, »die Geschichte widerlegt Sie, mein lieber Graf! Sehen Sie einmal die Befreiungskämpfe der Deutschen an, die Kämpfe der nordamerikanischen Union, der kleinen helvetischen Republik, den Einigungskrieg der modernen Italiener – vermissen Sie da Ihre gerühmte autokratische ›Stoßkraft‹? Auch die Autokraten haben schon ihre Schläge bekommen. Überhaupt Regierungsform! Was nützt die beste Form, wenn der Inhalt nichts taugt? Nicht die Form entscheidet, sondern die Seele, die sie belebt. Die Weltgeschichte wird von großen Persönlichkeiten gemacht, die sich dieser oder jener Form bedienen, je nach der geschichtlichen Lage und der gegebenen Notwendigkeit.« Dann fügte er noch bei: »Die französischen Ludwige! Die Menschen halten einen gleich für borniert oder von fixen Ideen beherrscht wenn man für irgendwen oder -was eine starke Vorliebe hegt, die der landläufigen Meinung entgegen ist. Meinungen sind Strömungen, sind Moden. Muß man mit jedem Strom schwimmen? Sich in jede Mode kleiden? Ich weiß so gut wie jeder demokratische Geschichtsprofessor, was sich gegen die französischen Könige und ihr Regiment wie ihr Privatleben sagen läßt. Ich weiß aber auch darüber hinaus noch mehr. Ich darf mir auch die glänzenden Seiten zeigen lassen – eben weil ich nicht demokratischer Professor bin. Ich darf auch das Licht sehen, wo andere nur gegen das Dunkel wettern. Das ist mein königliches Vorrecht!«

Er war über das langsame Vorrücken der Arbeiten weit hinaus und genoß in der Phantasie bereits die Vollendung des Riesenwerkes. Bisweilen überkam ihn eine seltsame Angst: »Eilig, eilig, daß ich's erlebe! Es ist noch so erschrecklich viel zu tun! Wenn ich vor der Zeit dahin müßte – dahin! Oder wenn meine Insel versänke!« Dann klagte er: »Alles geht unter. Götterdämmerung. Auch das mächtigste und schönste Königtum ist untergegangen. Aber nur als materielle Macht ist's tot, als Schönheit lebt's und kehrt ewig wieder! Täuscht mich mein Glaube? Rede ich irr? Das ist doch meine Hand, mit der ich schaffe, nicht wahr? 's ist keines anderen Hand? Es ist kein Spuk dabei im Spiele? Und das hier sind meine Füße, nicht wahr, die werden mich zum Ziele tragen?«

Und an seinen Meister-Freund schrieb er:

»Nur einen schnellen Gruß, Teuerster! Ich vergehe vor Arbeit, die sich bergehoch vor mir auftürmt. Wie weit ist Parsifal? Gott segne uns und erhalte uns seinen allmächtigen Schutz!«

Kamen die Kuriere mit dicken Bündeln aus den Ministerien der Stadt und der Kopf brannte ihm noch und jeder Nerv war angespannt, so herrschte er sie wohl unmutig an: »Staatsgeschäfte? Ach, ich kenne ja den Kleinkram. Summiert ihn zusammen und belästigt mich nicht jede Stunde damit! Was habt ihr da Welterschütterndes in euren Mappen? Krieg und Frieden? Das besorgt ja der große Bundesgenosse, seit man meinem Königtum durch kluge Verträge die Hände auf den Rücken gebunden hat. Bin ich wirklich noch ein bißchen politischer Machthaber? Kann ich mein Verhältnis zu fremden Staaten regeln, wie mir's beliebt? Kann ich meine Gesandten schicken, wohin mir's gut dünkt, und ihnen meinen Willen als politischer Souverän diktieren, oder sind sie neben den Gesandten des Reiches nur heraldische Dekorationen? So geht mir doch mit euren Lappalien! Gott sei Dank ist mir noch Größeres zu leisten übriggeblieben, als ihr in euren Ministerien und Amtsstuben ahnt – und Bedeutungsvolleres, als euch lieb wäre, wenn ihr's ahntet!«

Die korrekten Leute erklärten sich solche Reden mit dem Künstlersparren des Königs.

So unleidlich ihm die Politik seit dem letzten Kriege mit Frankreich geworden und so rege auch sein Mißtrauen gegen Preußen geblieben war: Bismarck gewährte ihm einen wahren Herzenstrost; so oft ihm von dem eisernen Kanzler eine Zeile zu Gesicht kam, hatte er einen großen, erhebenden Eindruck. Bismarck war ihm der genialste und sympathischste Preuße. Nach seinem Empfinden war's Bismarcks Genius allein, der die Hohenzollern politisch auf diese überragende Höhe geführt. An seinem Riesenmaß gemessen, spielten für Ludwig nicht nur die übrigen deutschen Staatsmänner, sondern auch die deutschen Fürsten als politische Intelligenzen und Energien eine geringe Rolle. Das Gewalttätige in Bismarcks Natur kränkte ihn nicht, weil es mit ebenso rücksichtsloser Ehrlichkeit, ja Naivität gepaart war. Eine Zeile von Bismarck beantwortete er stets umgehend mit einem großen Antwortschreiben, in das er sein ganzes Herz legte.

In seiner Umgebung fehlte es in den letzten Jahren nicht an tüchtigen Köpfen und hingebenden Seelen, mit denen der König oft gern ein ernstes wie erheiterndes Wort plaudern mochte. Selbst ein wenig Theaterklatsch verschmähte er zu ihrer und seiner Unterhaltung nicht, wenn er seinen Geist einige Minuten ausspannen wollte. Doch geschah dies in letzter Zeit viel seltener. Er zog kurze und ernste Gespräche mit einem besonders beliebten Herrn seines Gefolges allgemeineren Redereien vor. Er duzte seinen Vertrauten gern.

»Ich habe deinesgleichen stets beneidet
Um dieses Vorrecht der Vertraulichkeit.
Dies brüderliche du betrügt mein Ohr,
Mein Herz mit süßen Ahnungen der Gleichheit.«

Da scheute der König auch nicht vor einer diskreten Erörterung seiner Begeisterung für die Größen des alten französischen Königtums zurück. Nur an seinen traumhaft sonnigen und beglückenden Seelenverkehr mit der anmutigsten und ungleichsten aller Königinnen, mit Marie Antoinette, ließ er, der keuscheste aller Frauenverehrer, nicht rühren. Diese mystische Verbindung gewann erst diesen Grad von Überschwenglichkeit nach seiner Brautstandskatastrophe, die auch die Korrespondenz mit der Lichtgestalt seiner Egeria in den dunklen Schlund mit hinabriß.

»Ludwig der Vierzehnte? Den liebe ich wohl zunächst als meinen merkwürdigsten Gegensatz. Bin ich ein Kriegsmann wie er? Entzücken mich die Machtgaukeleien des Militarismus und der Eroberungslust wie ihn? Bin ich ein Jäger wie er? Halte ich Maitressen wie er und gewähre ihnen gelegentlich Sitz und Stimme im Staatsrat wie er? Nicht wahr, von alledem nicht die Spur! Und dennoch, siehst du! Ja, siehst du's wirklich mit den Augen der Seele, die ins Tiefste und Verborgenste dringen? Die an der Oberfläche kleben bleiben, werden mich nie verstehen. Um dieses Nieverstehen darf ich mich auch nicht kümmern. Nicht einmal um das schlimmere Mißverstehen. Werden denn die Philosophen verstanden oder die Dichter von hoher Eigenart? Leben nicht von ihrem Un- oder Mißverstand tausend Erklärer und Schreiber von Geschlecht zu Geschlecht? Warum soll's mit einem König anders sein?«

»Das sehe ich auch nicht ein,« lächelte der Vertraute. »Über Ludwig von Frankreich sind die Akten noch lange nicht geschlossen, so wenig wie über Saul oder David oder Plato oder Michelangelo. Von dem geheimnisvollen Reiz, der die verschleierten Gestalten der großen Seelengeschichte der Menschheit umwittert, haben die wenigsten eine Ahnung. Die Menge, die mit ihrer Schuljungenweisheit abschließt und ins Leben zieht, das für sie nichts als ein Geschäft oder ein Erwerbsproblem ist, die weiß überhaupt nichts von Seelengeschichte. Sie hält sich an die grobe Tatsachengeschichte – und auch die kennt sie nur lückenhaft und oberflächlich. Darum ist das Urteil der Menge, wie's auch ausfällt, unsäglich gleichgültig. Es hat zuweilen brutale elementare Gewalt, aber nicht das geringste geistige Feingewicht. Seine Wirkungen können vorübergehend verheerend sein wie ein Wildwasser – an der inneren Wertung und Ordnung der Dinge verändert sich dadurch auch nicht ein Atom.«


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