Michael Georg Conrad
Majestät
Michael Georg Conrad

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Der König hörte, daß es seinem Bruder Otto nicht gut gehe. Er leide oft an so trüben Stimmungen, daß man in dem Schwermütigen kaum mehr den ehemaligen lustigen Prinzen wiedererkenne. Die Königin-Mutter sei sehr um ihn bekümmert.

»Mein Vogelfrei, mein Wildfang und Sausewind schwermütig?« rief der König überrascht und beklommen zugleich. Es fiel ihm aufs Gewissen, daß er seit Jahren immer spärlicheren Verkehr mit dem lieben Menschen gepflogen. Ja, in den letzten schweren Zeiten der Arbeit und Not hat er ihn förmlich aus den Augen verloren. Und trotz des ausgeprägtesten Gegensatzes in vielem waren sie doch eines Blutes und einer Seele.

Sofort schickte der König dem geliebten Bruder einen in den wärmsten, fast zärtlichen Ausdrücken geschriebenen Brief, sich nach seinem Befinden erkundigend und ihn bittend, einige Tage sein Gast in den neuen Schlössern zu sein. Er habe diese Bauwerke in ihrem gegenwärtigen Zustande noch gar nicht gesehen und werde gewiß erfreut sein, wie schön sie geworden. Von Neuschwanstein sei allerdings nach Überwindung unsäglicher Schwierigkeiten erst der Königsbau innen vollständig fertig, die Ausstattung des Ritterbaues und der Kemnate müsse er leider künftigen günstigeren Zeiten überlassen. Dagegen erfreue Linderhof jetzt schon durch seine prächtige Vollendung gewiß den aufs Heitere und Aparte gerichteten Sinn des Bruders. Außerdem habe er ihm von neuen, noch großartigeren Bauplänen zu erzählen. Er bitte ihn, nicht bloß als Gast und Genießender, sondern auch als Kritiker zu ihm zu kommen, da er auf seine frischen und eigenartigen Urteile Wert lege, wenngleich er sie nicht immer zu teilen vermöge. Und noch manches liebe und herzliche Wort floß dem König ungesucht aus der Feder.

Der Prinz erschien mit einem einzigen Begleiter, einem stillen, zurückhaltenden Menschen.

»Weißt du, das ist der einzige, der bei mir aushält und den ich gut ertrage. Mit den anderen hab' ich mich überworfen, die haben keine Weltanschauung. Leichtsinnige Haubenstöcke, verstehst du.«

Der König hocherfreut und lachend »Sieh doch nur, ganz der alte! Und das Aussehen vortrefflich. Ich beglückwünsche dich zu dem ausgezeichneten Befinden.«

»Beglückwünsche nicht zu früh, du! Es ist das Vergnügen des Wiedersehens, was mich so brillant erscheinen läßt. Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben. Ich habe wirklich oft ekelhafte Stunden. Aber aus das dumme Geschwätz der Menschen mußt du nicht hören. Ich denke nicht daran, unter die Spitalbrüder zu gehen. Die Mutter mit ihren ewigen Ängsten hat die Leute aufgeregt. Reden wir doch nicht stets von mir! Dich will ich bewundern und genießen, du schrecklicher Sonderling, verstehst du? Du kapselst dich wirklich ein, daß es nimmer schön ist.«

»Na, bekommt mir's nicht, sehe ich etwa schlecht aus?« fragte der König und bot ihm eine Zigarette.

»Behüte Gott, zu gut siehst du aus! Im Wohlleben gerundet – ordentlich fett, wie Hamlet, trotz deiner Sorgen. Geh mir, wer hat nicht Sorgen! Sie sind das Salz des Lebens, verstehst du. Ich hab' gern ordentlich gesalzen und geschmalzen.«

»Ich weniger –«

»Weiß ich,« fuhr der Prinz fort und blinzelte ihn lustig an. »Majestät geruhen ein Süßmaul zu sein – Pardon!« Und er schlug sich selbst auf den Mund. »Du wirst mich nicht gleich rädern und pfählen und vierteilen oder in einem deiner schauerlichen Verliese verschmachten lassen?«

»Was führst du für Redensarten, Bruderherz, ich beschwöre dich!«

Der Prinz lachte und blies sich den Zigarettenrauch durch die Nase. »Die stumpfsinnige Welt hat eine unglaubliche Phantasie. Was sie für Stückchen erfindet – na, warte nur, Nero und Tiberius sind Unschuldlämmer, mit dir verglichen.«

Der König erbleichte. Dann schwoll ihm die Zornesader, sein Auge funkelte: »Mensch, wer ist so rasend frech, mir –«

Begütigend umschlang ihn der Prinz und unterbrach ihn: »Ah, ah, ah – wer wird gleich so aufschäumen! Siehst du, das ist's. Aus unserem Temperament machen sie gleich eine Verbrechernatur, die traurigen Hanswürste und ranzigen Öltiegel. Sei doch gut und rege dich nicht auf!«

»Da soll man nicht –«

»Nein, liebe Seele, man soll wirklich nicht! Denn es ist durchaus unnütz, wir können die Menschen nicht umorgeln. Mit ihren löcherigen Blasebälgen müssen sie quietschen, sie können selbst bei besserem Willen keine bessere Musik machen. Also« – und er lächelte den König schelmisch an – »Majestät behelfen sich ohne Burgverliese?«

Mit so bezwingend liebenswürdiger Laune kam das alles heraus, daß der König auch sofort seinen Gleichmut wiederfand.

»Du wirst dich nachher ja persönlich überzeugen, wie sich meine Verliese in Wirklichkeit ausnehmen, Kellerräume muß natürlich auch eine Burg haben –«

»Selbstverständlich, man kann doch das Weinlager nicht unterm Dach anbringen!«

»Ach du, ja, ich lasse dich verdursten – verzeih, daß ich dir noch nichts Trinkbares angeboten. Ich selber habe keine durstige Leber, ich trinke selten, drum vergesse ich leicht – – also womit –?«

»Temperenzler du!« spottete vergnügt der Prinz. Dann sagte er ernst: »Weiß der Kuckuck, mir will auch nichts mehr schmecken. Das ist eine verfluchte Beobachtung, wenn man dahinter kommt, daß einem im Grunde nichts mehr schmeckt. Ach du, ist das fad, zum Sterben fad.«

Der König betrachtete ihn ängstlich. Des Prinzen Gesicht hatte eine fahle Farbe angenommen, die Züge erschlafften zusehends, und im Auge erschien ein unstetes Flackerfeuer.

»Ein Gläschen Kognak, einen Schluck Sekt oder dergleichen verschmähe ich nicht. Ich fühle mich plötzlich ein wenig schwach.«

»Das macht die Aufregung der Fahrt,« sagte der erschrockene König tröstend, »nehmen wir eine Flasche von meiner besten Marke und stoßen wir an – auf unser beider Wohl!«

Dann: »Auf die Mutter!«

»Ja, stoßen wir an! Siehst du, das ist diese nichtswürdige Geschichte, daß es einen plötzlich überfällt wie absolutes Kaputtsein. Sorge dich nicht, Liebster, das geht vorüber. Ich erhole mich rasch. Prost also!« Seine Stimme klang schon wieder fester.

Auf des Königs Zureden zog er sich zurück, in Bequemlichkeit zu rasten. Erst gegen Abend wollte der König seinem brüderlichen Gaste Neuschwanstein zeigen, nach einem guten Schlaf.

Der König gab die entsprechenden Befehle. Mit einbrechender Nacht sollten im ganzen Schlosse sämtliche Kerzen brennen, im Thronsaal, im Sängersaal, in jedem Winkel.

Als die ersten Sterne aufflammten, stiegen die Brüder Arm in Arm durch den Wald hinan zur Marienbrücke, die sich in leichter Eisenkonstruktion als Fußsteig in schwindelnder Höhe über die Pöllatschlucht spannt. Der Prinz war durch mehrstündigen Schlaf recht erquickt und fühlte sich aufgeräumt wie in seinen besten Tagen. Im Wipfel- und Wasserrauschen, links und rechts von Waldesdunkel eingefaßt, war der Blick aus schwebender Höhe auf die Burg mit den glänzenden Fenstern von märchenhafter Schönheit.

Der Prinz bewunderte ehrlich, ohne Überschwenglichkeit: »Ja, du, das ist sehr schön. Wie die Burg aufsteigt aus dem Fels, schlank und fest, anmutig und trutzig, das ist hohe Kunst. Und die Silhouette auf dem Hintergrund der mit dem Himmel in eins verschwimmenden Ebene ist in ihrer Formenreinheit unvergleichlich. Den Blick kann keiner vergessen, der einmal hier gestanden, wie wir jetzt – niemals! Und diese Burg und diese Landschaft gehören zusammen, man kann die eine nicht mehr ohne die andere denken, in alle Ewigkeit nicht mehr! Liebster, das hast du gut gemacht!« Und der Prinz umarmte den König und küßte ihn auf Stirn und Wangen. »Du bist wahrhaftig ein großer Poet. So schön hat noch kein Wittelsbacher gedichtet.«

Der König drückte dem Bruder dankbar die Hand, in seinen Augen glänzten Freudentränen: »Kein Mensch weiß, was ich ausgestanden, bis ich das Werk so weit gebracht. Ich sage dir, Furchtbar habe ich gelitten, bis ich mit dem Bau fertig war. Nun laß dir das Innere zeigen.«

Die Brüder gingen schweigend über die sternenhellen Waldpfade zurück, an dem Aussichtspunkte »Jugend« vorüber. Hier hatten sie schon als Kinder gespielt, und als Knaben getollt und geschwärmt, wenn sie auf ein Stündchen den strengen Aufsehern und Zuchtmeistern entwischen konnten. Im Glanz der Gestirne schimmerte zwischen Hochwaldsdunkel der Schwansee und Alpsee herauf, beide nur durch einen schmalen Bergrücken voneinander getrennt. Ohne ein Wort zu sagen, hielten die Brüder gleichzeitig die Schritte an und blickten in die Tiefe wie in ferne Vergangenheit, in ein Kinderland, das keine Sehnsucht weckt, weil es ohne Holdseligkeit gewesen.

Alles dienende Volk hatte gemessenen Auftrag, zu verschwinden, wenn der König mit der Kunst der Natur Herz an Herz sein wollte. So konnten die Brüder in völliger Ungestörtheit die Stimmung auskosten, die ihnen die schöne Stunde in den Räumen gewährte, die, auserlesener Kunst geweiht, förmlich Harmonie atmeten.

»Du hast wie ein Musiker gebaut,« sagte Otto zu Ludwig, »es ist alles still, und doch singt und klingt alles. Und so reich alles ist, man nimmt es hin wie selbstverständlich. Es ist Natur, die Kunst geworden. Es ist Kunst, die ehrlich und schlicht und eindringlich ist wie Natur. Eindringlich, gar nicht aufdringlich. Ich bin so ergriffen, daß ich ordentlich gescheit rede, nicht, du? Gescheit wie einer, der auf Kunst studiert hat, was ich doch wahrhaftig nicht getan habe. Du hast mich auf dem Gewissen, Ludwig, wenn ich auch noch ein Schwärmer werde.« Er sprach ganz leise.

»Um Gottes willen, nein, der Himmel behüte dich davor. Das ist ein schmerzensreiches Geschenk. Behalte du einen kühlen, klaren Kopf. Kritisiere mich lieber ein wenig!«

»Die Lage der einzelnen Räume verwirrt mich. Liegt's an mir oder liegt's an etwas anderem? Ich finde mich schwer zurecht.«

Der König führte seinen Bruder lächelnd hinaus an die Treppe: »Nun gib acht! Wir sind hier im dritten Stock des Palastes, hier liegt meine Wohnung. Von dieser gewundenen Treppe (sie ist im nördlichen Turm) kommen wir durch diesen Vorplatz (die Säulen kannst du immerhin ansehen!) und durch dieses Vorzimmer in mein Speisezimmer (Wartburgbilder von Piloty!), von da in mein Schlafgemach (Tristan-und-Isolde-Zyklus gemalt von August Spieß!), daran reihen sich Betkammer und Ankleidezimmer.«

Hier machte sich der Prinz von seinem Bruder los, um noch einmal betrachtend zu verweilen. Das kleine Hauskapellchen, die Betkammer, wie der König sagte, zeigte wirklich Spuren starker Benutzung, namentlich am Betschemel. Alles trug hier die Farbe der Buße – ein weinerliches, zerknirschtes Veilchenblau. »Guter Ludwig,« murmelte der Prinz, als er die naiven frommen Schildereien mit einem halb skeptischen, halb traurig-ironischen Blick streifte. Sachen aus den Kreuzzügen.

Dieser Blick verschärfte sich, als er die Gobelinmalerei im Ankleidezimmer ins Auge faßte . Begebenheiten aus dem Leben Walters von der Vogelweide, von dem Schwind-Schüler Ille. Natürlich fehlte da auch die rührende Illustration zu dem Lindenliede nicht, das liebende Paar, das im Grase schwelgt, während oben ein Vöglein neugierig zusieht: »Das wird wohl verschwiegen sein.« Jawohl, dachte der Prinz und grinste mit dem Untergesicht, mein guter Ludwig träumt auch sein Tandaradei – aber die bösen Zungen bei Hof sind etwas ganz anderes als getreue Vögelein!

Da trat der König ein. »Ja, du, das haben wir schier übersehen – den Erker da, das ist eine meiner Lieblingsecken. Hans Sachs, unserem Nürnberger Meistersinger, ist dieser trauliche Winkel geweiht . Hier wie er seiner Frau und seinen Freunden sein neuestes Gedicht vorträgt, hier wie er als Meister der Singschule einem Jüngling die Ehrenkette überreicht, hier ein ländliches Fest in der Nähe Nürnbergs – die goldige Sonnenbeleuchtung der Stadt mit Burg und Türmen im Hintergrunde finde ich entzückend gemalt – und hier das letzte Bild, wie Hans Sachs als Greis seine Dichtungen niederschreibt.«

»Ja, so was liegt dem biederen Ille, das hat er brav gemacht: Tandaradei.«

Der König überhörte die Anspielung. Er faßte seinen Bruder am Arm. »Nun, kennst du dich jetzt aus? Alle diese Gemächer gehen nach dem Süden. Nach Osten blickt man aus dem Wohnzimmer. Nach Norden liegt mein kleiner Wintergarten (zum Teil als Altan über der Tiefe schwebend), mein Arbeitszimmer hier (Tannhäusersage, gemalt von Aigner und Spieß) und hier dieses Dienstzimmer. Gleichfalls im dritten Stock, von der Treppe aus rechts, gelangst du zum Thronsaal. Ich finde nicht, daß diese Disposition verwickelt ist.«

»Und wo liegt der Sängersaal?« fragte der Prinz, sichtlich in zunehmender Ermüdung, aber der königliche Cicerone achtete nicht darauf und schleppte ihn eifrig weiter.

»Der Sängersaal nimmt fast das ganze Stockwerk über meiner Wohnung ein, ich führe dich jetzt hinauf.«

»Ein schöner Saal, voll Leben und Fröhlichkeit,« keuchte der Prinz und sah sich ängstlich nach einer Sitzgelegenheit um. Der König ließ ihn aber nicht los. So hing sich der Ermüdete fest an ihn und ließ sich von Wand zu Wand ziehen, ohne die Bilder anzublicken, die ihm der König mit ungeheurer Geläufigkeit erklärte.

»Diese Bilder sind als eine Huldigung für Bayerns großen Sänger Wolfram von Eschenbach gedacht. Nach seinem Gedicht, nicht nach dem Parsifal Wagners, ließ ich die Figuren und Szenen entwerfen. Ich wollte nichts Theatralisches hier haben. Das Theater gehört ins Theater, nicht in diesen Saal. Nach der großen epischen Dichtung kann der Maler freier schaffen als nach dem Tondrama, wo er immer unfreiwillig auch die Musik dazu malen möchte, die sich doch nicht malen läßt. Drum ließ ich stets, auch bei Tannhäuser und Tristan, nach dem Original des Urdichters, nicht nach der Fassung des modernen Worttondichters arbeiten. Alle Malereien sind von August Spieß entworfen und ausgeführt. Von allen Entwürfen, die ich mir vorlegen ließ, entsprachen mir die seinigen am besten. Mit den Malern hat man oft sein Kreuz. Die setzen sich aus technischer Problemliebhaberei zuweilen Dinge in den Kopf, die für einen Menschen, der in einem Bilde nicht nur interessante Farbenstudien, sondern auch Sinn und Verstand und poetische Auffassung sehen will, einfach unerträglich sind. Was ich mit den Herren vom Pinsel ausgestanden habe, darüber ließe sich ein Buch schreiben. Meine Wände sind doch nicht dazu da, daß sie mit technischen Problemklecksereien beschmiert werden, die kein Mensch mehr versteht, sobald eine neue Handwerksmode aufkommt. Übrigens hatte ich mit den Malern noch diese Erfahrung: Nicht alle sind zum Sehen geboren, die mit Farben hantieren und sich großmächtig aufspielen. Ich wette, manch einer hätte mir seine Palette lieber um den Kopf geschlagen, statt nach meiner Idee zu malen, wäre ich nicht der König gewesen. Der alte Kaulbach ist gleich zornig davongehopst, als ich einmal einen von ihm gemalten Schwan scheußlich fand. Heute bin ich froh, daß ich mich nicht weiter mit ihm einlassen konnte. Ich glaube, wir hätten uns gegenseitig vor Ärger umgebracht. Nun – und was sagen heute seine in Mode gekommenen Malkollegen von dem einst vergötterten Kaulbach? Daß er überhaupt nicht malen konnte, daß er keine Farbe hatte, daß er ein Linienvirtuose war, ein schwungvoller Posenzeichner und Ballettgruppenarrangeur. Da lasse sich einer mit berühmten Malern ein: fällt der Meister vom Postament, dann waren seine Auftraggeber und Abnehmer Dummköpfe, die von der Kunst nichts verstanden haben. Ich danke für das Kompliment! – Die Figuren hier kennst du alle, nicht wahr? Hier der reine Tor und sein Stiefbruder Feirefiz; hier Parzivals Mutter Herzeloyde von Valois; hier Kundrie la Sorzière, die Gralsbotin; hier Grawan und Orgeilluse; hier Klingsor, Amfortas – hier Lohengrin, Parzivals Sohn –«

»Wieviel Kerzen brennen hier?« fragte der Prinz mit verlöschender Stimme.

»Auf den großen und kleinen Kronleuchtern und den vergoldeten Lichterträgern brennen genau fünfhundertachtundsechzig Kerzen, was gerade reicht, um den großen Raum – siebenundzwanzig Meter Länge, zehn Meter Höhe! – angenehm zu erhellen. Am Tage hat er genügendes Licht von drei Seiten. Erinnerst du dich noch des Sängersaales auf der Wartburg?«

Der Prinz nickte. Dann sagte er kaum hörbar: »Der deine ist viel schöner, aber ich war damals jünger und konnte mehr aushalten« – und glitt auf die nahe Sitzbank.

Der König ließ sich an seiner Seite nieder, war aber so ganz Feuer und Flamme für seine Kunst, daß er nicht merkte, wie todmüde der leidende Prinz war. Den Kopf mit den geistvollen Augen stolz erhoben, fuhr er fort: »Dort hinten ist die Sängerlaube, mit der Weltesche Ygdrasil und dem nordischen Sagenwald bemalt, ganz nach meiner eigenen Angabe. Die Sonne wirft ihre Strahlen ins grüne Laub, bunt sprießen die Blumen aus dem quellenberieselten Erdreich, segenträchtig ist der Sommer eingezogen, die Vögel musizieren, das Eichhörnchen macht seine Kapriolen, alles ist glücklich, Wald und Tier erfreuen sich im hehren Alleinsein ihres friedvollen Daseins – der Mensch ist fern! Siehst du, das ist das Glück der Natur, wie's uns die Sänger gepriesen. – Na, willst du nicht einen Blick in den Thronsaal werfen?«

Die kurze Ruhe hat den Prinzen wieder munter werden lassen. »Bitte, mit Vergnügen!« lächelte er und hing sich an seinen mächtigen Bruder. »Von wem sind die Kronleuchter und Kandelaber?« fragte er noch, als sie über die Schwelle schritten.

»Alle von unserem Wollenweber in München, hier und im Thronsaal.«

»Der hat auch ein schönes Stück Geld an dir verdient. Überhaupt wie du die Leute reich und berühmt gemacht hast mit deinen großartigen Aufträgen – einfach erstaunlich. Und hintenach dankt dir's keine Seele. Sie schimpfen noch –«

»Der Eduard Wollenweber nicht, das ist unser bayerischer Benvenuto Cellini.«

»Nein, der nicht. Ich will überhaupt keine Namen nennen. Ich rede immer nur von der Allgemeinheit – vorsichtig, gelt?«

Als sie vor dem Thronsaale ankamen, sagte der König feierlich: »Hier möchte ich mit der Bibel sprechen: Zieh die Schuhe von deinen Füßen, denn der Ort, da du stehest, ist heiliges Land. Wenn mein Begriff des Königtums und der Majestät einst einer Rechtfertigung bedürfte, dann sollen die Zeichendeuter und Richter in diesem Saale sich versammeln und Augen und Herzen auftun, bevor sie urteilen.«

Der Prinz schmiegte sich fester an den König. Er fühlte sich durchschauert von dem erhabenen Ernst dieses Raumes. »Das ist kein Saal, das ist ein Tempel, das ist eine königliche Kirche des Allerheiligsten,« flüsterte er und zögerte, weiterzugehen »Wo steht der Thron?«

»In jener Nische soll er stehen, aus Elfenbein, aber er ist noch nicht da.« Und mit einem Seufzer fügte der König bei: »Es ist fraglich, ob er kommen wird. Gedenke ich aller Schwierigkeiten und wie kurz und arm das Menschenleben ist, danke ich Gott, wenn ich alles vollendet habe, auch ohne meinen Thron aus Elfenbein. Sieh dir einmal die Kuppel an mit ihren Sternen – die Höhe geht durch zwei Stockwerke. Die obere Galerie, von lichtblauen Säulen getragen, und die untere auf sechzehn rosa Porphyrsäulen – das wäre der Stolz meines Künstlerherzens gewesen, die überwältigend schönen Formen auch in echtem Material auszubauen. Nun nagt es an mir, aber es gibt auf Erden keine Hilfe für diesen Schmerz, ich muß ihn tragen bis ans Ende. Diese blauen Säulen in echtem Lapislazuli – denke dir diese Schönheit, teuerster Bruder!«

»So etwas wär' ja nicht zu zahlen,« sagte der Prinz geduldig. »Ich finde das Ersatzmaterial täuschend, der Effekt könnte durch die Echtheit nicht gesteigert werden.«

»Täuschend! Jawohl, täuschend. Mir ein gräßlicher Gedanke. Darin hast du recht, die künstlerische Wirkung wäre kaum zu steigern. So komme ich auch, im Banne der vollkommenen Gesamtwirkung, über die einzelnen irdischen Unzulänglichkeiten hinweg. Wie hielte ich sonst das Leben aus!«

»Du, von diesem Kapitel fang lieber nicht an, Ludwig. Das macht mich melancholisch. Das Leben aushalten, du! Schließlich ist das vielleicht das Höchste, was man uns Menschen zumutet.«

»Ich bitte dich, versündige dich nicht: du und ein Melancholiker!«

Von dem schlimmen Thema abgleitend, fragte der Prinz, den Blick am Fußboden: »Marmormosaik, auch von einem Münchener?«

»Nein, ein Werk von Detoma in Wien. Ganz meisterhaft, nicht wahr? In München fand ich die Leute noch nicht dafür. Tier- und Pflanzenwelt am Boden, an den Wänden Helden, Seher, Heilige, Gesetzgeber, in der Nische die heilig gesprochenen Könige, und über ihnen Jesus Christus, nicht der Gekreuzigte, sondern der König aller Könige, und am Deckengewölbe die ewigen Gestirne – ist das nicht ein mächtiger Akkord? Wenn der Meister von Bayreuth seinen Parsifal fertig bringt, die Schlußchöre möchte ich hier erklingen hören, in diesem Raum. Ich denke, er nimmt's an Würde mit jeder Gralsburg auf.«

Der Prinz nickte still. Er war mit seiner Kraft zu Ende. –

Der ganze nächste Tag wurde der Ruhe gewidmet. Es war ein Sonntag, da rastete auch der König gern von seiner Wochenarbeit, wären es oft nicht gerade die unangenehmsten Geschäfte gewesen, die er am Tag des Herrn erledigen mußte – »der Bettel, den sie Staatsgeschäfte nennen und in dicken Mappen mit endlosen Schreibereien aufstapeln,« murrte er. Aber er arbeitete auch den »Bettel« gewissenhaft ab.

Der übernächste Tag sollte zu einem Ausflug nach Linderhof benutzt werden, wenn das klare Herbstwetter anhielt. –

Der Prinz wußte, daß der König mit Leidenschaft Briefsammlungen liebte. Nichts mochte er zu seiner Erholung mehr, als Briefe lesen – gute Briefe, aus welchen eine Menschenstimme in voller Ehrlichkeit spricht. Er glaubte so gern an Ehrlichkeit, daß er davon nie genug finden konnte, sie war ihm die preisenswerteste Tugend. Ach, und eine wirkliche Menschenstimme, zu der er sich zwischen den Zeilen das Gesicht hinphantasieren konnte, das war ihm ein inniger Genuß.

Als sich der König am Sonntag ermüdet von den ministeriellen Bureaukratismen mit einem »Gott sei Dank, der elende Kram ist erledigt!« erhob, schob ihm der Prinz einen Brief hin: »Du, das ist für den Nachtisch, damit du dich mit einem guten Geschmack im Munde von deiner papiernen Mahlzeit erholst.«

»Keine Indiskretion?« fragte der König.

»Beileibe! Ein Spaßbrief, wie ich solche von Zeit zu Zeit von einem meiner liebsten Freunde aus Straßburg erhalte. Der prächtige Mensch wurde als Jurist in den elsässischen Reichsdienst verschlagen. Lange hielt er's nicht aus. Er etablierte sich als Rechtsanwalt. Er verdient ein heidenmäßiges Geld – und ist todunglücklich dabei. Straßburg scheint ihm eine Art Reichs-Sibirien. Und er hat einen so gesunden Lebensappetit. Wie ich einst. Daher wohl auch unsere starke Freundschaft. Da stöhnt er mir nun solche Briefe aus der Verbannung. Das kannst du als reine Literatur genießen, das Persönliche daran ist gleichgültig, für dich wenigstens.«

»Es ist die Handschrift eines braven Kerls, scheint mir,« bemerkte der König, nachdem er das Blatt genau gemustert. »Das Persönliche ist immer interessant, wenn's aus einer gesunden Wurzel gewachsen.«

»Ist hier der Fall. Ein hervorragend braver Kerl. Lies laut, dann haben wir doppelten Genuß davon.«

Der Prinz streckte sich auf dem Diwan aus und schloß die Augen. Der König las: »Mein lieber Bilderstürmer!« – da stockte er schon.

»Nein, das ist nichts Gefährliches,« bemerkte der Prinz behaglich. »Eine vollkommen harmlose höhere Töchtergeschichte, die einmal zwischen unsere Beziehungen hineingespielt hat.«

»Und was sagte die Waldfrau dazu?« fragte der König mit seltsamer Betonung.

»Ach, denkst du noch an diesen frühesten Jugendscherz? Wie weit liegt das zurück und wieviel hat sich seitdem – hm – aber so geh und lies doch!«

Der König mit naivem Ernst: »Wie hältst du's überhaupt mit diesen Wesen?«

»Tandaradei!« machte der Prinz und legte sich auf die Seite. »Siehst du, unter Brüdern, die so weit auseinanderleben wie wir zwei, spricht sich's nicht leicht von diesem kitzeligen Gegenstande. Ich empfinde nicht die geringste Freude mehr, in alten Liebesgeschichten zu blättern. Aus den zartesten Elfen werden mit der Zeit dicke Frauen. Die schönsten Mädchen kriegen kleine Kinder und werden alt. Der Lauf der Natur ist in diesem wie in manchem andern Punkt nichts weniger als poetisch. Nirgends herrscht soviel Lüge – schlimmer: boshafte Vergeltung, als im Elfenreich der Liebe. Am besten, man hält sich an die Dichter und Maler – und denkt nicht weiter darüber nach. Tandaradei klingt nicht immer lustig, glaube mir. Ich bitte dich, verlassen wir dieses Thema und lesen wir diesen Brief. Das ist ein reinerer Genuß.«

Der König hörte aus dieser sanften Abwehr traurige Untertöne. Sein ehemaliger Sausewind und Vogelfrei hatte alles Wildfanghafte abgestreift und war ein ernster Mann geworden. Aber die eigentümliche Färbung dieses Ernstes stimmte ihn zu wehmütigen Gefühlen.

Der Prinz drängte: »Bitte, lies den Brief! Freundschaft ist tausendmal beglückender als alle sogenannte Liebe. Schopenhauer hat recht – dein Wagner hat vielleicht auch recht. Ich vertrage den Schopenhauer ganz gut, ohne Wagnerischen Zusatz.«

»Darüber mußt du dich aussprechen,« rief der König. »Schopenhauer bricht mit der herbsten Verneinung ab und läßt uns verzweifelt vor einem Abgrund stehen, Wagner baut eine Brücke über diesen Abgrund, eine schöne Regenbogenbrücke, die ins Land der Erlösung führt.«

Der Prinz: »Schließlich wird bei Wagner gestorben wie man bei Schopenhauer stirbt. Bei Wagner heißt's Liebestod – bei Schopenhauer braucht's keine poetische Etikette. Bei Wagner geht's zuerst ganz energisch ins Zeug:

Die Leuchte
Wär's meines Lebens Licht,
Lachend sie zu löschen zagt' ich nicht!

Hiernach ertönt aber immer der alte Büßerchor mit dem Kehrreim der Entsagung. Wenn doch verzichtet werden muß, warum nicht gleich verzichten? Aber freilich, dann gäb's kein Drama. Die Tragödie wäre schon beim ersten noch leidlich lustigen Akt aus. Schopenhauer dichtete Philosophie, keine fünfaktigen Trauerspiele.«

»Dichtete Philosophie!« empörte sich der König. »Dieser unbarmherzige Denker –«

Der Prinz warf rasch, aber gleichmütigen Tones ein: »Kein Tristanide –«

Der König: »Und doch ist seine Welt echtes Tristanland, glaube mir:

Dem Land, das Tristan meint,
Der Sonne Licht nicht scheint,
Es ist das dunkelnächtige Land,
Daraus die Mutter einst mich gesandt.«

»Ich glaube dir,« erwiderte der Prinz gleichgültig. »Ob die Zukunft mehr zu Wagner oder zu Schopenhauer hält oder beide fahren läßt und einem dritten nachläuft, mir kann's gleich sein. Ich bin jedenfalls nicht mehr dabei. Alle verschlingt das dunkelnächtige Land. Trost ist nirgends, nicht bei Wagner, nicht bei Schopenhauer. Getröstet sein wollen – wer will denn noch getröstet sein? Ich nicht. Ich nehm' s, wie's kommt – und beiße die Zähne zusammen, wenn's mit dem Lachen nimmer geht. Das ist gewiß keine schlechte Moral. Bitte, lies jetzt den Brief!«

Der König energisch: »Eine schlechte Moral gewiß nicht, wenn man's nur moralisch betrachtet. Betracht' ich's aber als Künstler und schöpferischer Kulturmensch, dann sage ich: Wurstigkeit ist schlimmer denn Verzweiflung. In der Verzweiflung ist der Mensch noch zu allem fähig, zu den schönsten Heldentaten wie zu den großartigsten Schöpfungen. Nicht die Zähne zusammenbeißen, sondern der Welt die Zähne zeigen, das ist künstlerische Herrenart. Mit der Wurstigkeit hört alle Kultur auf, alle Lebensschönheit, alles. Die Moral mag sich so oder anders ausdrücken, dem oder jenem Bedürfnisse anpassen: die Kunst spannt sich wie der ewige Himmel über alles Irdische. In tausend Zungen und Formen sagt sie stets dasselbe aus. Wie eine Zentralsonne unvergänglicher Schönheit leuchtet sie allem Lebendigen, erklärt sie alles Lebendige. In ihrem Feuer verlodert das Tote, um sich wie ein Phönix wieder aus der Asche zu erheben. Ach du, über Moral kann man streiten, aber daß man über die Kunst, die einzige, heilige, streiten mag, das hab' ich nie begriffen.«

Minutenlanges Schweigen. Dann sagte der Prinz: »Gib mir den Brief, ich will ihn vorlesen. Das wird uns auf andere Gedanken bringen.«

Der König reichte ihm das Blatt, der Prinz las mit etwas schläfriger Stimme:

Mein lieber Bilderstürmer!

Mitten zwischen Urkundenfälschung, Ehebruch, Diebstahl im wiederholten Rückfall und Sittlichkeitsverbrechen hockend, will ich eine kleine Pause benutzen, um Dir für Deine gütigen Zeilen zu danken, da du sonst wieder eine halbe Ewigkeit auf einen Brief von mir warten könntest. Ich bin selbstverständlich immer noch der quietschfidele Alte im Joch des täglichen jammervollen Einerleis in diesem trostlosen alten Nest. So tagaus, tagein für die prozessierende Menschheit Blech schwätzen zu müssen, über Düngerhaufen, Stallgebäude, Brunnenschwengel, uneheliche Kinder, Dachtraufrechte und sonstigen Blödsinn sich aufregen zu müssen, bei jedem Wort den knirschenden Klienten hinter sich, der meint, die gesamte Welt und Justiz sei nur für ihn da, für ihn ganz allein, meiner Treu, das ist keine Kleinigkeit, ich bin abends jedesmal halbtot. Wenn man hier wenigstens noch ein bissel Begeisterung, ein bissel Freiluft und Freilicht, Sonnenschein und Höhenozon hätte. Aber nichts! Gar nichts! Rein gar nichts! Ich glaube zwar, daß andere Provinzstädte ebenso langweilig sind wie unser heißgeliebtes ›Schtroosburg‹ mit dem ›Münschterzipfel‹, aber es ist gräßlich, das alles mitmachen zu müssen. Ich meide daher auch ängstlich jeglichen Verkehr mit der sogenannten Welt, mit dieser dämlichen Gesellschaft. Gestern war wieder einmal Herrenabend beim Statthalter –«

Der Prinz hielt inne und warf einen Seitenblick auf seinen Bruder. Der hörte nachdenklich zu und sagte jetzt bloß: »Ja, beim Statthalter, bei unserm guten Hohenlohe –«

Der Prinz las im vorigen Tone weiter:

»Alles strömte hin, um das Büfett zu stürmen. Um elf Uhr wünschte alles dem Herrn Statthalter schöne gute Nacht, und der geistvolle Abend war vorüber. Wie sehne ich mich nach den Bergen Bayerns und Tirols! Mit Wonne denke ich der Tage, die ich einst mit Dir dort verleben durfte, Du lieber Mensch! Du bist eine Lichterscheinung in meiner dunklen Existenz, wer mir widerspricht, dem schlage ich sämtliche Rippen kaputt. Möchtest Du doch auch einmal in diesem gottverlorenen Nest nach mir schauen! Vielleicht faßte Dich Mitleid und Du nähmst mich mit Dir. Ein so grundbayrischer Kerl wie ich in diesem trübseligen Reichsland! Selbst das Geldverdienen ödet einen auf die Dauer an. Der Politik lernt man hier ganz entsagen – was am Ende noch das Vernünftigste ist, aus neunhundertneunundneunzig Gründen, obschon der einzige genügt: das große B! – und man vergeht vor Sehnsucht nach ein bissel warmer Menschlichkeit und sonniger Idealität. Das Busseln ist hierlands polizeilich abgeschafft, sonst schickte ich Dir tausend Busseln. Gott pfüet Dich, Deine Fröhlichkeit und Deine Kraft Leibes und der Seele. Heil!

Dein getriuver Hans.«

Der Prinz faltete den Brief und schob ihn in die Tasche.

»Kann dein Freund rechnen?«

»Wenn ich denke, wieviel Geld er schon zusammengescharrt hat, muß ich annehmen, daß er sich aufs Rechnungswesen versteht.«

»In meiner Schatzmeisterei dürfte es bald Veränderungen geben. Dem Manne könnte Gelegenheit werden, von Straßburg loszukommen.«

»Bravo!« rief der Prinz und schwang sich auf. »Ich will dir seine Adresse aufschreiben. An ihm gewinnst du eine treue Seele.« –

Am nächsten Tag fuhren die Brüder nach Linderhof, am Abend kehrten sie wieder zurück. Der Prinz hielt es in dem bayerischen Neu-Trianon, wie er's nannte, nicht aus. Die auf so engem Raume angehäuften Kostbarkeiten erdrückten ihn, behauptete er. Der König war verstimmt. Er schrieb die Mißlaune seines Bruders physischen Ursachen zu. Dieser jedoch wehrte sich dagegen.

»Nur das Zuviel, Zuschön, Zukostbar – das halte ich nicht aus. Und auch das Zu-Französische.«

Darüber kam es dann mit dem Könige zu scharfen Auseinandersetzungen. Von seiten des Prinzen fiel manches harte Wort: »Diese französischen Bizarrerien mögen andere hypnotisieren, mich machen sie nur nervös. Auch mache ich mir nichts aus all der gemalten Kulturgeschichte und dem ganzen historischen Doktrinarismus, seit ich der Schule entwachsen bin. Den Franzosen so alles nachzupinseln, daß auch nicht ein Wärzchen, ein Schminkpflästerchen fehlen darf, halte ich nicht für eine Aufgabe deutscher Kunst. Das ist auch nicht urwüchsige moderne Kunst, das ist ästhetischer Kleinigkeitsgeist, der sich mit Fanatismus an Dinge klammert, die einmal gewesen sind.«

»Aber ewig schön bleiben und durch ihre Zartheit und Feinheit gerade dem heutigen Deutschen unerreichbare Muster sind,« sagte der König voll unerschütterlicher Überzeugung.

»Willst du als Bauherr den Kunstschulmeister der Deutschen machen? Dann zu in dieser Weise! Ich will nur wissen, wie ich mit einer Sache daran bin.«

»Ich will nicht schulmeistern, ich will bauen, was schön ist, so schön, wie wir es noch nicht haben. Ich will die deutsche Schönheit durch die französische ergänzen – das ist keine Schulmeisterei und nicht einmal Fremdländerei. Denn deutsche Kultur und französische Kultur sind Teile der europäischen Kultur, und da wir allzusammen in Europa wohnen, so sind wir Europäer und keine Wilden. Ich ahme nicht nach, ich will keine gedankenlosen Kopisten in Nahrung setzen, ich will das Schöne auf einem anderen Schauplatze noch einmal hervorrufen, damit es Künstler und Laien noch einmal denkend genießen können.«

»Also doch retrospektive Kunstpflege!« beharrte der Prinz mit nervöser Verbissenheit. »Jede Kunst ist aus dem Blute einer ganzen Kulturperiode erwachsen. Sie gehören zusammen. Eine Reifrock- und Perückenkultur hat auch die zu ihr passende Kunst. Diese Kunst kann man nicht willkürlich herauslösen und in eine andere Kulturperiode verpflanzen, die den Reifrock und die Perücke überwunden hat. Das ist für mich unumstößlich. Drum paßt die Kunst des alten Frankreich nicht in das neue Deutschland, und die Idylle von Trianon paßt nicht in das robuste bayerische Gebirgsland. Das ist gegen den Stil, wie ich ihn empfinde. In die Gegenwart und in unsere einheimische Landschaft passen diese alten und fremden Dinge nicht. Es sind örtlich und zeitlich unangebrachte Nachahmungen, die auf mich wie Maskeraden wirken, wenn der Fasching vorüber ist. Das macht mich krank.«

»Armer Freund, wie engherzig stehst du der Schönheit gegenüber! Dann dürfen wir uns auch an der Bibel, am Alten Testament nicht mehr erbauen, weil wir nicht mehr in der Patriarchen- oder in der Makkabäerzeit leben und weil wir keine Orientalen, sondern neumodische Abendländer sind. Dann dürfen wir auch keine Bibeln mehr nachdrucken lassen, sondern müssen uns mit den paar alten Handschriften begnügen, die zufällig noch irgendwo erhalten sind. Siehst du, wohin dich deine Engherzigkeit führt? Und in der Kirche dürfen wir keine Musik von Palestrina oder Pergolese machen, weil das steinalte italienische Musikanten sind, die einer überwundenen Kulturperiode angehören. Und im Theater erst! Was ginge uns noch die ganze Sagen- und Heldenwelt der ältesten Germanen an, da wir doch funkelnagelneue Reichsdeutsche geworden sind. Wir müßten uns also nur das Allerneueste, am besten nur von preußischen Musterkünstlern, vordichten und vorspielen lassen. Ja, unser Meister Richard Wagner hätte mit seinem nationalen Nibelungen-Tondrama arg daneben gehauen, denn die Götter und Riesen und Drachen sind heute nicht mehr glaubwürdig, sie gehören einer überwundenen Kulturperiode an! Armer Freund! Du räumst schlimm mit den Kunstkleinodien der europäischen Kulturmenschheit auf!«

»Ich räume nur mit dem archaistischen Kram auf – ich bin kein Kunstwiederkäuer, verstehst du? Ich will nicht ewig Aufgewärmtes, sondern Frisches, Lebendiges! Und dann, was deinen Meister Richard Wagner betrifft: die Drachen und ähnliches Zeug schenke ich ihm gern. Auch die aufgeschnürten Rheintöchter und die wackelige Regenbogenbrücke. Das alles macht mir keine ästhetische Illusion. Das reißt mich aus der Illusion, verstehst du? Das verärgert mir den schönsten Theatergenuß.«

Der König . »Du gibst dich ja als äußerst urwüchsigen Kritiker.«

Der Prinz: »Pardon! Ich wehre mich bloß. Wie ich mich einst gegen die armen Schulteufel gewehrt habe, die mir die Wissenschaft verleideten, so wehre ich mich jetzt gegen die königlichen Kunsttyrannen, die mir so zusetzen, daß ich meine Kunstliebe bedaure.« Nun war keine gütliche Vereinbarung mehr möglich.

»Gott erhalte dich bei Verstand, wenn du einstmals entdeckst, daß die französische Kultur, die du jetzt vergötterst, nur eine Scheinkultur gewesen!« rief der Prinz.

Den König überkam ein Schreck: »Otto, halt ein!«

»Jawohl, eine unechte Kulturmode einer im Grunde barbarischen Zeit. Plumpes Zeug trotz altem Flitter –«

Die Brüder trieben sich in zorniger Erhitzung um Begriffe und Phantome zu immer waghalsigeren Behauptungen. Endlich lachte der Prinz krampfhaft auf. Dann starrte er ängstlichen Blicks seinen königlichen Bruder an: »Merkst du denn nicht, wie elend ich bin? Ach, ich flehe dich an, laß mich in Ruhe! Mein Kopf – mein armer Kopf – Ruhe – Ruhe.« Er verfiel in tiefe Apathie. Der Streit um die Kunst war seine letzte lebensfrische Geistestat.

Der König begriff nicht gleich, wie schwer sein lieber, mutiger Bruder erkrankt war. Allmählich erst kam es ihm zum Bewußtsein, wie heldenhaft der arme Prinz gerungen. Sein kritischer Angriff auf die Kunst des Königs war nur die gelegentliche Form, der heranschleichenden Umnachtung seines Geistes das letzte Flammen- und Funkenbündel seines noch einmal auflodernden Intellekts entgegenzuschleudern.

Der Fröhliche, Helle, er wurde von Schwermut und Dunkel bezwungen.

Noch einmal, bevor sie schieden, machte der König einen Versuch, seine Auffassung von Kunst und Kunstpflege gegen seinen Bruder zu verteidigen. Die Rede kam auch auf Schack und seine Galerie.

»Ich weiß wohl,« sagte Otto etwas maliziös, »daß man sich als Kunstmensch über den etwas kalten Dichter und Sammler Schack erhaben fühlen kann. Seine Galerie bleibt doch ein einzig dastehendes Werk in München. Er hat neue, originelle – grausig originelle Sachen gesammelt, die Böcklins zum Beispiel.«

Der König stutzte bei dem Namen Böcklin.

Otto fuhr nervös hastig fort: »Du bist so, ich bin anders. Deine Liebhaberei in Bau- und Schmuckkunst ist das bewährte Alte. Neugemachtes Altes! Aber das Alte macht mich müde. Ich möchte Allerneuestes! Das allein reizte mich noch. – – Hast keine schöpferischen Kerle entdeckt, die so etwas aushecken? Richtige Hexenmeister?«

Der König in Gedanken: »Du meinst wohl so etwas wie Richard Wagner im Musikdrama? Richard Wagner in der Baukunst, in der Malerei, in der Skulptur, im Kunstgewerbe? In allem reine Zukunftsmusik? Ja, darüber läßt sich träumen. Aber woher nehmen und nicht stehlen?«

Otto lächelnd: »Stehlen? Freilich, auf ein bissel Diebstahl käm's nicht an. Wenn man sein Glück dabei gewinnen könnte. Bauen – wahr ist's, davon versteh' ich nichts. Ich bin zu müde, darüber zu neuen Gedanken zu kommen. Ich habe nur Wunsch, Sehnsucht, keine bestimmte Vorstellung –«

»Ja siehst du! Bauen! Wie vielfach sich das deuten läßt, wer hat eine Ahnung davon? Bauen heißt gewissermaßen auch den Stein erlösen.«

»Erlösen!« seufzte Otto und lächelte trüb. »Stein erlösen?«

»Jawohl, von der Starre, in die seine Sehnsucht nach Leben und Schönheit gebannt ist. Der tote Stein sagen die Menschen und ahnen nicht –«

»Ach du,« unterbrach ihn Otto, »Sehnsucht nach Leben, die tötet doch schließlich auch wieder? Alles ist so mörderisch in der Welt. Also so verstehst du das Bauen? Wie gesagt, davon versteh' ich nichts – –«

Wenige Wochen nach diesem Besuch sahen sich die Brüder zum letztenmal. König Ludwig kam nach Nymphenburg, um von dem Prinzen Otto Abschied zu nehmen. Der entmündigte Nachtgefährte empfing ihn völlig teilnahm- und verständnislos. Kaum daß ein schwaches, trübes Lächeln über sein einst so strahlendes Gesicht irrte, als ihm der königliche Bruder tief erschüttert die Hand zum Abschied preßte. Es war, als müßte ihm das Herz zerreißen, als er den Ahnungslosen, Geistig-Toten seiner Gruft lebendigen Leibes zuwanken sah.

»Hoffnung? Nein, es ist ein Fall, der jede Hoffnung ausschließt,« bedeutete der Arzt den fragenden König.

»Kaum dreißigjährig – mein teurer, teurer Bruder, mein Vogelfrei, mein Wildfang und Sausewind, der gütigste Mensch – ein solches Ende!« Der König wandte sich schluchzend ab und floh in seine Berge.

Als der König das nächste Weihnachtsfest im Schloß zu München mit der Königinmutter feierte, da brannten drei Christbäumchen auf dem Gabentisch. An der Abendtafel standen drei Stühle. Ein Stuhl blieb leer. Ein Christbäumchen brannte wie über einem frischen Grabhügel.

Die Königinmutter brach in lauten Weinen aus: »Daß du mir bleibst, mein Einziger – –«


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