Michael Georg Conrad
Majestät
Michael Georg Conrad

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Der jugendliche König und sein königlicher Bruder gingen Arm in Arm zum letztenmal in ihre alten Gemächer, um Abschied zu nehmen von den Räumen, wo sie den öden Druck der Schulpedanten und Drillmeister in langen Erziehungsjahren erduldet.

»Unsere Folterkammer!« rief der jüngere und riß die Mütze von seinem Blondkopf und schleuderte sie gegen den Plafond: »Fang sie auf, Bruder! Wir sind frei – frei! Hurra! Hörst du? Oh, wie herrlich ist das! Das Leben braust und schreit nach uns. Du! Das Leben schreit nach deiner königlichen Umarmung, Aus voller Kehle schreit es nach dir, es läßt sich nicht mehr das Maul –«

»Den Mund, bitte!«

»Maul verstopfen. O komm! Laß uns Sprünge machen, daß die alten, scheußlichen Kerkerwände wackeln!«

Er hopste über Tische und Stühle und schrie wie besessen: »Mir nach! Wer ein guter Bayer ist, mir nach!«

Der königliche Bruder erhob Einspruch.

»Ach, geh mir mit deiner Würde. Jetzt pfeift ein anderer Wind.«

Plötzlich faßte ihn der König mit nervigem Griff am Arm: »Achtung fordere ich! Auch du mußt die Majestät respektieren und die Possen lassen!«

Hehr stand er aufgerichtet, wie ein Göttersohn aus einer andern Welt, und maß den ausgelassenen Sausewind mit strengem Blick.

»Du bist wohl verr–!«

»Huldige mir, hier unter vier Augen! Freiheit ist Schönheit, innerste Lust, nicht wüstes Toben.« Und er beschrieb mit dem Arm eine gebietende Linie: »Huldige mir!«

»Da kannst du lange warten, Bruderherz!« lachte der blonde Prinz. »Ich werfe mich dem Leben an die Brust und den schönsten Mädchen, aber nicht vor deiner steifen Majestät auf die Knie! Das heißt: dir schon, dir werf ich mich auch an die Brust, weil du noch schöner bist als das schönste Mädel!« Und er umarmte den König stürmisch und küßte ihn und stürzte lachend davon.

An der Tür kehrte er sich um, salutierte militärisch: »Allerhöchster Kriegsherr, das sage ich dir, von jetzt an gibt's Aufbesserung der Menage und jeden Tag wenigstens eine Leibspeise. Die königliche Mannschaft hat lange genug gehungert. Servus! Das Leben genießen – jeden Tag wenigstens eine Leibspeise. Servus!« Und draußen war er.

Der König stand sinnend.

Nach einer Weile kam der Bruder wieder herein, ein Buch in der Hand. Mit erstaunlicher Verwandlungskunst mimte er in Gang, Haltung und Gesichtsausdruck den Religionsprofessor.

Die Erscheinung wirkte so drastisch, daß der König hellauf lachen mußte. Und er setzte sich unwillkürlich auf seinen alten Schulplatz.

»Bitte, Königliche Hoheit, ernst zu bleiben, wenn wir in den Heiligen Schriften von Schlangen lesen, die gesprochen haben, oder von Kühen, die sich gegenseitig aufgefressen.«

Er karikierte mit Stimmklang und Betonung den Lehrer in der Tat ganz vortrefflich.

»Bei welchem Abschnitt der biblischen Geschichte sind wir das letztenmal stehen geblieben?« – und er blätterte mit komisch gespreizten Fingern in dem Buch – es war ein Kochbuch. »Richtig, bei jenem höchstbemerkenswerten, wunderbaren Ereignis von dem Familienessen bei den Erzvätern Abraham, Isaak und Jakob, richtiger oder wenigstens genauer gesagt, bei jenem Picknick, wo der heilige Jakob den dummen Esau mit dem Essen angeschmiert hat – es war eine ganz gewöhnliche Linsensuppe ohne eine Spur von Erbswurst. Ähnliches geschieht zwar in der profanen Welt auch heute noch, wenn der eine Bruder dem andern ablockt, was er selber gern möchte. Aber da ist die Sache nicht so wunderbar, und man wird dafür auch nicht gleich unter die Erzväter versetzt. Weiter im Text! Und daß dann Jakob hineinging und auch den alten Isaak mit einem jungen Lammsbraten anführte, den er dem ehrwürdigen und jedenfalls sehr hungrigen Herrn als Rehbraten servierte und richtig aufschwatzte, das, Königliche Hoheit, war ein famoses Schelmenstück. Und das Fell, das er sich als Handschuhe über seine verzärtelten Pfoten zog, damit sie sich anfühlen sollten wie rauhe, wetterfeste Weidmannshände, oh, das war auch nicht von schlechten Eltern.«

»Nun genug«, lachte der König, weniger laut und herzlich als vorhin. »Wir wollen uns keiner Profanierung schuldig machen. Mein Kompliment, du hast Schauspielertalent.«

»Wie ein echter Erzvater, nicht? Sieh mal, jetzt erst im Spaß geht mir selbst ein Licht auf, daß der alte Jakob eigentlich ein rechter Schuft war, ein abgefeimter Schwindler.«

»Bitte, ein Werkzeug in der Hand Gottes. Gott war mit ihm.«

»Ja, alle mußten sich vor Jakob beugen, denn er hatte sie alle zum besten. Gott war mit ihm. Das ist sein Geheimnis. Schließlich, die Hüfte hatte er ihm doch verrenkt, daß der Kerl hinkte sein Leben lang. Seine Schlaumeierpolitik imponiert dir?«

Der König sagte träumerisch: »Ein Werkzeug Gottes. Wer's fassen kann, der fasse es.«

»Jawohl, ich fasse es. Immer, wenn eine Sache verdächtig wird, bringt man Gott ins Spiel. Der betrogene Isaak schöpft Verdacht und wundert sich, daß das Leibgericht, der Wildbraten, so flink zur Hand ist. Was tut der brave Jakob, um den argwöhnischen Alten zu beruhigen? Er erklärt prompt und mit genialer Spitzbubenschlagfertigkeit: Gott selbst hat mir den Rehbock in die Küche gejagt. Bravo!«

Von Satz zu Satz war der blonde Prinz aus der Rolle gefallen. Er karikierte nicht mehr den Religionslehrer, seine eigene Persönlichkeit war sachte an dessen Stelle gerückt. Die richtige Disputation kam in Zug.

»Du übersiehst einen Faktor in der Geschichte: das Weib!« fiel der König ein, sich erhebend. »Ohne Mitwirkung des Weibes wäre selbst Gott mit der Weltgeschichte nicht fertig geworden. Ohne das Weib gäbe es weder Altes noch Neues Testament, weder Sünde noch Gnade, weder Himmel noch Hölle.« Und während des Sprechens ging er mit großen Schritten auf und ab. »Storchengang« hat es der blonde Prinz einmal genannt.

»Das Weib! Was hat es nur für Kriege auf dem Buckel! Nicht bloß den trojanischen – und der war schon haarsträubend genug.«

Der König, seine eigenen Gedanken verfolgend: »Gott und das Weib! Hier liegt eigentlich etwas Frappantes. Ich mag es kaum aussprechen, wie sich's mir vorstellt. Ein grausiges Bild. Das allerhöchste Wesen, die causa movens aller Dinge, muß sich bei allen Hauptaktionen unter den Unterrock flüchten. Sieh dir die Geschichte einmal daraufhin an, die heilige und die profane. Und die Macht der Geistlichkeit? Denke dir einmal das Weib weg, was war's dann mit der Macht der Geistlichkeit? Könnte sie noch überall dabei sein und diese Rolle spielen? In der Politik und überall – es ist ein furchtbarer Gedanke. In deiner kleinen alten Erzvätergeschichte von vorhin, das ist ja verhältnismäßig harmlos.«

»Ich bitte dich,« fiel der blonde Prinz heftig ein, »harmlos? Die Rebekka half bei der Betrügerei, und die Rahel stahl ihres Vaters Götzenbilder, die jedenfalls kostbar waren, und setzte sich darauf.«

Dieses »und setzte sich darauf« belustigte den König. »Ja, das tat sie. Und dann sammelten sie, die Weiber und der edle Gemahl, was zu sammeln war an Land und Gütern und Herden und hatten viele Nachkommen. Denn der tugendreiche Erzvater ging von Bett zu Bett, zwischen Ehefrauen und Kebsinnen und Mägden machte er keinen Unterschied –«

»Eigentlich ein großartiger Kerl!« platzte der blonde Prinz heraus und klatschte in die Hände. »So dick er's auch trieb, Gott war beständig mit ihm. Jeder seiner Streiche hatte die allerhöchste Sanktion. Esau, der dumme, brave Tölpel, hatte überall das Nachsehen. Moral: ›Gott ist mit den Schlauen‹.«

»Das ist nun wieder voreilig geschlossen. Gott hat eben auch seine Staatsräson, sozusagen«, bemerkte der König mit kluger Würde.

»Machiavelli!« lachte der Bruder und erhob komisch drohend den Finger.

»Was willst du? Auch der muß dabei sein als der dritte im Bunde. Damit die Geschichte einen praktischen Sinn bekomme und Hand und Fuß. Mir sehr wenig sympathisch. Wie's scheint, dennoch ein ewig unentbehrliches Requisit der Staatslehre. Es gehört viel angeborene Befähigung dazu, es richtig zu handhaben. Die fabelhafte Spezialität des Jesuitismus. Um nur eins zu sagen. Wie uns neulich noch der Geschichtsprofessor mit den Philippischen Reden des Demosthenes quälte, glaubte ich auch bei dieser großen klassischen Ehrlichkeit machiavellisch-jesuitische Spuren zu entdecken. Ich behielt meine Entdeckung für mich, der biedere Professor wäre ja aus allen seinen Himmeln gefallen.«

»Na, Gott und das Weib hätten ihn wieder hineingehoben«, gähnte der Blonde.

Die Sache begann offenbar zu versanden und die Brüder zu ermüden.

»Wodurch wird nun eigentlich das Weib so mächtig und gefährlich?« fragte der König nach einigem Schweigen wie aus voller Unschuld der Seele heraus.

Wie aus der Pistole geschossen die Antwort des Bruders. »Weil es unentbehrlich ist. Und weil es weiß, daß es unentbehrlich ist.«

Der König stutzte.

Und nun leistete sich der Prinz in naiver Altklugheit noch eine Variante seiner kühnen Behauptung: »Keine Berechnung ist sicher, wo das Weib dabei ist, und jede Berechnung ist falsch, wo das Weib nicht dabei ist.«

Der König sah ihn groß an.

Der Bruder verbeugte sich vor ihm mit komischer Grandezza. »Na, was geruhen Eure Majestät dazu zu sagen? Wie stehe ich jetzt da?«

Darauf der König mit sonderbarer Miene : »Wärst du jetzt an meiner Stelle der König, würde ich dir als dein Hofnarr die Wahrheit sagen.«

»Ist mir zu hoch«, versuchte der Bruder lachend zu erwidern, aber das Lachen klang verlegen und unsicher.

Ein greller Lichtstrahl brach durch die Scheiben.

Mit rascher Wendung machte der Prinz einen Vorschlag: »Gehen wir in die Schönheitengalerie!«

»Ach so, du meinst –«

»Na ja, in den gemalten Harem der bajuwarischen Unschuld vom Lande. Großväterchens Lieblingspuppen aus Ölfarbe und Leinwand. Wir durften da zu zweit auch noch nicht hinein ohne allerstrengste Führung. Nichts für Kinder, hieß es. Was die sich für einen Begriff von uns gemacht haben müssen!«

Der König ließ sich von dem blonden Ungetüm fortziehen.

»Einen Begriff – wie meinst du das?«

»Na so, als ob wir unser Brot als ehrsame Spießer und Seifensieder verdienen müßten. Das gemalte Weibsvolk hätte unsere Karriere verderben können.«

»Nein, uns gewiß nicht«, sagte der König treuherzig. »Übrigens hat man Beispiele –«

»Geh! So was kommt doch nur in den allerfeinsten Familien vor!« spottete der Prinz. Er fühlte sich wieder unbändig munter ausgelegt.

Nachdem sie einen langen Korridor durchschritten, standen sie vor der verschlossenen Tür.

Der Prinz eilte fort, den Schlüssel zu holen. Den König fröstelte in der dumpfen, kalten Luft. Kein Teppich war gelegt, die getünchten Mauern ohne Schmuck, alles kellermäßig, lebensunfreundlich, schönheitsfeindlich. Keine Sonne und kein Stern drang da herein, kein erheiterndes Spiel warm glänzender Lichter. Der König blickte verstimmt um sich. Er dachte, das sei doch nichts weniger als ein menschenwürdiges Schloß, eher ein Gelaß für Mumien – eine Art Katakomben.

Im Sturmschritt nahte der Prinz, den Schlüssel schwingend.

»Stell dir vor, die verehrten Herrschaften da unten wollten mir Schwierigkeiten machen. Du mußt einmal mit deinem Machtwort dreinfahren. Das geht doch nicht, daß man sich vom Gesinde bevormunden läßt. Ich sage dir, wäre ich König geworden, na, ich danke für die Erbstücke. Die müßten alle fliegen auf eins, zwei, drei!«

Während er die Worte keuchend hervorstieß, flog die Tür auf. Er hatte seinen Ärger noch nicht völlig entleert. Auf der Schwelle faßte er seinen Bruder am Arm. »Na, Majestät, sag selbst, leben wir in der neuen Zeit oder noch in der Verbannung?«

Der König mit einer gewissen Feierlichkeit, halb flüsternd, als könnte er von Unberufenen belauscht werden: »Ich muß dich bitten, die Majestät nicht vergeblich oder zum Scherz im Munde zu führen. Wir leben in der neuen Zeit. Das soll die Welt in und außer der Residenz bald gewahr werden. Damit wir sie bändigen, müssen wir uns selber fest in der Hand behalten. Wir können kein straffes Regiment führen, wenn wir uns gehen lassen. Richte dein Verhalten danach, ein für allemal.«

»Danke für die gnädige Lektion!« rief der Prinz ein wenig verärgert. Plötzlich brach er los. »Ich beschwöre dich, das soll eine Galerie von Schönheiten sein.« Von Bild zu Bild eilend: »Alle die gleichen Nasen, die gleichen Augen, die gleiche Gesichtsfarbe, den gleichen faden Ausdruck – zwölf machen ein Dutzend, den Rest geb' ich als Zuwage. Die könnten ebenso ruhig in einem Mönchskloster hängen, an diesen Schönheiten würde sich keiner versündigen.«

»Historische Kostümstudien«, sagte der König kurz.

»Laß mich aus mit der Historie und den Kostümen. Davon hat man im Nationalmuseum mehr als genug. In einer Schönheitsgalerie will ich doch etwas ganz anderes. Da pfeife ich aufs Kostüm und die ganze Historie.«

»Du bist schon wieder exzessiv.«

Der blonde Prinz fuhr sich durch die Locken. »Na, wenn das Natürlichste exzessiv ist, dann Pardon. Ich meine also unmaßgeblichst und devotest, wenn dieser gemalte Harem lebendig wäre, eine Eunuchengarde brauchte er nicht zur Bewachung, es genügte ein halber Hatschier.«

Der König gutmütig lächelnd: »Harem, Eunuch, Hatschier – du redest einen sehr gemischten Salat.«

»Aber sieh,« rief der Prinz in erneut überschäumender Lustigkeit, »da fehlt eine, da ist ein Platz leer. Die ist ausgerissen. Die ist auf und davon. Das war jedenfalls die Gescheiteste. Der ist die zahme Gesellschaft von lauter Friseurstöcken zu dumm geworden.«

In der Tat fehlte das Bild der Tänzerin Lola Montez.

Der König überhörte absichtlich die Bemerkung, machte dafür die folgende, mehr für sich, als für seinen Bruder: »Die Augen sind meist schön. Nur haben sie keinen Blick, keine Tiefe der Seele. Schön sind auch die Frisuren und die Kostüme, nur nicht charakteristisch für das Wesen ihrer Trägerinnen. Es ist alles verkünstelt zusammengestellt. Darum macht auch wohl keine einzige auf mich einen Eindruck. Ich wünschte sie auch in ganzer Figur und in bewegterer Stellung. Zur feierlichen Pose sind sie alle viel zu leer.«

»Nun, welches wäre dein Ideal vom Weib?« fragte der Prinz leichthin, zu seinem Bruder tretend.

»Eine schöne Seele, sehr schön angezogen. Mit einer Stimme wie Musik und einem Duft wie von Lilien und Jasmin.«

»Aber so etwas kann man nicht malen.«

»Ist auch nicht nötig. Man kann's träumen.«

»Chacun à son goût«, schloß der Prinz lakonisch.

Weder der König noch der Prinz betrat jemals wieder die Schönheitsgalerie.

Schier tiefe Mitternacht war's, der neunzehnjährige Landesvater saß noch, über Druck- und Handschriften und Zeichnungen gebeugt, an seinem Arbeitstische.

Er stand auf, reckte sich und seufzte. Dann ging er mit kurzen, hastigen Bewegungen ans Fenster und blickte durch die Scheibe. Schwarz lag der Hofgarten in regenschwerer Nacht. Unwirsch schüttelte der Wind die Baumwipfel und riß an den Ästen der mächtigen, vielhundertjährigen Kastanien, daß sie ächzten.

»Was tut's schließlich, wie's draußen aussieht«, sagte er halblaut vor sich hin und setzte sich, entschlossen, die Nacht durchzuarbeiten, wieder an den Schreibtisch. Vom Turm der Theatinerkirche hallten dumpfe Schläge. Der König sah nach der Uhr, mechanisch, ohne die Zeit vom Zifferblatte zu lesen, so hart bedrängte ihn ein ganz anderer Gedanke.

Er hatte kurz zuvor ein Gedicht in einer alten Nummer der »Allgemeinen Zeitung« gelesen. Es war eine Huldigung der schleswigholsteinischen Landesdeputation am Sarge seines edlen Vaters. Ja, edel, das war er, und hochstrebend und von goldreiner Gesinnung, trotz alter Mißgriffe und Irrgänge – das fühlte der Sohn mit jedem Tage deutlicher, je mehr er sich in die Archivalien und privaten Dokumente aus seines Vaters Regierungszeit hineinlas. In dem Huldigungsgedicht standen aber auch einige Strophen, die sich auf ihn selbst bezogen, und die mächtig in seine Seele schlugen, trotz der poetisch armen Form des Ausdrucks. Gleich hier in der zweiten Strophe – zunächst ein Wehruf an seinen Vater:

Weh, Dir war auf hohem Meere
Jäher Untergang bestimmt.
Doch die Flagge Deiner Ehre
Oben auf den Wellen schwimmt.

Dann der Ruf an ihn selbst, aus dem Herzen der fernen Nordlandsmänner heraus:

Ludwig, Sproß der Wittelsbache,
Auf, bewähre Dein Geschlecht.
Reiß empor des Vaters Flagge,
Hoch empor – das deutsche Recht!

Ja, wenn er ein Souverän wäre in dem herrlichen autokratischen Sinne der großen Herrscherzeiten! Wenn er dem wogenden Drängen in Herz und Hirn zu stolzesten Zielen folgen könnte wie auf den Sonnenhöhen der Heroengeschichte die Auserwählten – mit einem »der Staat bin ich«, denn ich bin der waltende Wille und meines Gedankens Macht reißt an sich und bindet jede andere, wie ein Riesenmagnet! Je mehr er hineingesehen in die wirbelnden Wirren der Gegenwart und in die Zwiespältigkeiten und Verzagtheiten seines eigenen Staatsrates – bis zum Ersticken stieg's in ihm auf, in dieser kurzen Spanne seiner Herrschaft, das Wehegefühl und der Ekel über das Mißverhältnis seines königlichen Selbst- und Pflichtbewußtseins und der jammervollen Kargheit der ihm zu Gebote stehenden Machtmittel. Hoch empor – und jäh der Fall. Ikarus!

Nun aber die folgende Strophe, die alle Dämonen seiner Brust entfesselt und sein Denken hineinstürzt in ein Pandämonium blutiger Visionen:

An den Alpen Deiner Grenze,
Dort, wo Hohenschwangau ragt,
Wo Du selbst im Jugendlenze
Schmetterlingen nachgejagt,
Hat vordem Germaniens Wonne,
Konradin, als Kind gespielt,
Er, dem in Neapels Sonne
Anjou nach dem Haupt gezielt.

Um Dein Ahnenschloß im Kreise
Mahnt der Wald an uns und ihn.
Rauscht es heimlich, flüstert's leise –

Ludwig, Stern auf dunklen Wegen,
Auch an Dich, an Dich geglaubt!

Mit der Krone nimm Dir alles,
Ehr' und Liebe, Macht und Dank.

Nachdem er hinter die letzte Zeile ein riesiges rotes Fragezeichen gemalt, zerriß er das Blatt in kleine Fetzen und warf's in den Papierkorb. In wütenden Schritten, die Hände auf dem Rücken, durchmaß er das Gemach kreuz und quer: »Ludwig, Stern auf dunklen Wegen –« Was wußten denn die Leute? Hatten sie auch nur eine Ahnung? – Aber sie dichten drauflos. »Natürlich: erst binden sie dem König mit Verfassungen und alten Höllenzwängen der Instanzen Hände und Füße – und dann wundern sie sich, daß er nicht wie ein Simson rennt und die Welt aus den Angeln hebt oder sämtliche Großtaten des Herkules verrichtet, einschließlich des Stallausmistens.«

Mit einem Lachen, durch das viel Bitternis und Wehmut klang, warf er sich in den Armstuhl. Er brütete vor sich hin, bis plötzlich sein Blick auf ein großes, gelbgetöntes Briefpapier fiel, mit feinen und doch resoluten Schriftzügen bedeckt. Es schimmerte so goldig vom Schreibtisch aus wie ein fröhlicher Morgengruß. Er griff danach. Zwar wußte er den Inhalt auswendig, so oft hatte er den geheimnisvollen Brief gelesen – »Nein, der Magie dieser Hand und dieser Seele, wer vermöchte ihr zu widerstehen. Egeria, ganz gewiß keine verkappte Teufelin – aber warum zeigt sie nicht ihr holdes Gesicht?« Und er liebkoste das Blatt mit der Hand und las, andächtig lächelnd :

»Mein großmächtiger schwarzer Löwe!

Ich könnte einen Expreßzug nehmen, um die Erde und zu Dir fahren. Schließlich geht's auf dem Postweg eiliger, mein Brief dringt direkt zu Dir. Ich hab' nur eine Viertelstunde in der flachen Stromschnelle meiner Geschäftigkeit. Vieles ist von mir zu Dir unterwegs, Wünsche, Grüße, Gedanken. Wie finden sie Dich? In Geschäftigkeit, wie mich? Bei steigendem Frohgefühl, wie mich? Als großmütigen Verschwender Deiner Schätze an eine Welt, die wir niemals zur Dankbarkeit erziehen? Niemals, hörst Du? Du schüttelst Dein dunkles Löwenhaupt? Ich bin froh um Deine Ungläubigkeit. Es gibt nichts Schöneres auf Erden als Jugend, Enthusiasmus, Vertrauen. Soll ich Dir raten? Wenn Dich die Stadt grämt, nimm Dein ganzes Königreich und das ganze Jahrhundert in den Rucksack und steige in die Berge, wo Deine Alpen am höchsten sind. Kraft und Schönheit sind heroisch und eigenbeinig und immer gute Steiger. Im Lenz kamst Du zur Krone. Sie wurde Dir in einem schwarzen Schleier gereicht. Im Lenz sind frische grüne Triebe, Naturlaute, warme Hingabe. Sind das nicht köstliche Dinge? Scher Dich weder um rechts noch links. Ein Schwertschwinger, der geradeaus zielt und seinen Feind hoch nimmt. Auf meinem Weg. dem einsamen, hab' ich gestern Stimmen gehört von Waisenknaben. Klar und quellend. Wie aus der Höhe über den Wolken. Das ist fast herbe in seiner Reinheit. Gleich nachher Frauen. Schau, wie das anders ist. Satter und wärmer. Und schon leidenschaftlich verarbeitet. Da sitzt der menschliche Dämon drin, auch mancher helle und lustige. Die ganze Skala ist blutvoller, durchlebter. – Und nun grabe, schaufle, baue, Du Lenzkönig voll Schönheit und Kraft. Sorge, daß Dein Schicksal nicht klein und alltäglich werde. Daß es Dich nicht plattdrücke in flacher Gewöhnlichkeit. Kümmere Dich nicht um den ganzen historischen und moralischen Apparat der Kleinen und das ächzende oder prahlende Geklapper. Er arbeitet leer. Das Große! Das ›große gigantische Schicksal, welches den Menschen erhebt, wenn es den Menschen zermalmt‹. Nun mache beide Hände auf, daß ich alle Liebe hineintun kann, die ich für Dich im Herzen trage.

Mit ganzer Seele
Deine E.«

»Egeria? Ich schwöre, es ist Elisabeth, meine Kaiserin!«

Er küßte den Brief und verschloß ihn ins geheime Fach. Dann löschte er das Licht. Die Morgenröte grüßte ins Gemach.


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