Michael Georg Conrad
Majestät
Michael Georg Conrad

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Neben seinen künstlerischen Plänen waren es jetzt die historisch-politischen Studien, die den Eifer des Königs entflammten. Bei allem Vertrauen, das er in die Tüchtigkeit und absolute Ergebenheit seiner verantwortlichen Räte setzte, spielten doch so viele Stimmungsmomente in die persönliche Schätzung des Königs seinen höchsten Beamten gegenüber, daß er keinen Augenblick sich blind ihrer Führung überlassen mochte. Laut und leise übte er schärfste Beurteilung ihrer jeweiligen Schritte. Wie als Künstler, so auch als Politiker hielt der König seine Blicke auf die großen wirkenden Kräfte des Lebens gerichtet. Nichts kommt aus der Luft, nichts aus den Gespinsten der Theoretiker, nichts aus den Wünschen der Träumer: alles Werdende stammt aus der Tat, aus der schaffenden Kraft. Alles Gewordene, das die Geschichte verbucht und der gegenwärtige Tag rückschauend beleuchtet, bestimmt mächtig das Werdende, das Künftige. Aus allem hörte der König die Nornenfrage seines Meister-Freundes in der Götterdämmerung wie eine persönliche Frage und Mahnung an sich selbst: »Weißt Du, wie das ward?«

Eines wußte er sicher: seiner Vorfahren Tun und Lassen wob das Schicksal seines Hauses, und seinem Lande war sein Haus verbunden durch alle Geheimnisse gemeinschaftlichen menschlichen Unternehmens und Erleidens.

»Treu beratener
Verträge Runen
Schnitt Wotan
In des Speeres Schaft:
Den hielt er als Haft der Welt.«

Der Verträge Runen – Haft der Welt. Um sich nicht ins Weite zu verlieren, spannte er den Kreis seines historischen Sinnens und Betrachtens um die Grenzen seines Königreichs und dessen wichtigste Nachbarn im Verlaufe der letzten hundert Jahre. Wie stand da Bayern zu Frankreich, zu Preußen, zu Österreich? Auf diese Frage wollte er Antwort haben. Reinen Wein. Schmecke er noch so herb.

Welches war die Lage Bayerns am Ausgange des achtzehnten Jahrhunderts? Der bayerische Kurfürst Karl Albert hatte den kurzen Kaisertraum mit dem Ruin seines Landes zu büßen. Bayern war verheert wie einst in der unglückseligen Zeit der Ungarnkriege. Brachte ein Tag Friede und ruhig überschauenden Blick, wie schlimm und häßlich stach die Pracht des Hofes ab von der bitteren Armut der Bevölkerung! Der neue Herrscher, Karl Theodor, hatte für das bayerische Volk kein Herz, darüber half keine Lobrednerei hinweg. Prachtliebend und kunstsinnig, dem heitersten Lebensgenusse geneigt, erlustierte er sich ohne Bedenken im Schlosse zu Mannheim und im Parke zu Schwetzingen und vernachlässigte seine Münchener Residenz.

Hier gab's nichts zu beschönigen.

Der junge König betrachtete sich scharf das geschichtliche Bild, ohne mit der Wimper zu zucken: Pracht und Kunstliebe ohne hohe Idealität des Willens würdigen die reine ewige Schönheit zu einem nichtigen Genußmittel herab, zu Schwelgerei und Völlerei niederen Trieblebens und erschlaffender Sinnenlust. Allmählich verschlammt der kristallene Quell des Göttlichen, und der übelberatene Kunstfreund, ob Fürst oder Viehtreiber, löscht seinen Durst aus vergifteten Brunnen.

Er gewahrte, wie unter der Herrschaft dieses scheinbar so glänzenden und mächtigen bayerischen Fürsten der Thron wankte und um ein Geringes dem ländergierigen Österreich eine willkommene Beute geworden wäre. Kaiser Joseph II. hatte bereits die Einverleibung Bayerns in den nimmersatten Habsburger Magen mit heißem Blicke erfaßt, da schlug ihm Friedrich der Große von Preußen den Bissen vom Munde weg.

Friedrich war übrigens damals kein Jüngling mehr. Die Errettung Bayerns vor Habsburg spielte genau ein Jahr vor seinem Tode. Sie gab den Anlaß zur Gründung des deutschen Fürstenbundes, um die wiederholten ausländischen Einmischungen in innerdeutsche Angelegenheiten abzuwehren. Damals erblickte man in bayerischen Bauernstuben das Bildnis Friedrichs des Großen neben dem Bilde des heiligen Korbinian. Oft brannte unter beiden Bildern eine gemeinsame Lampe. Ein österreichischer Offizier, der in einem bayerischen Dorfe fragte, was das zu bedeuten habe, wurde belehrt. »Der Korbinian ist unser Schutzpatron im Himmel, der alte Fritz ist unser Schutzpatron auf Erden, uns ist einer so heilig wie der andere.«

Der junge König betrachtete sich wiederum scharf das geschichtliche Bild mit Forschermiene. War die damalige Errettung Bayerns vor der Habsburger Freßgier eine Tat preußischer Großmut? Keineswegs. Die politische Moral kennt keine Uneigennützigkeit im Sinne der christlichen Ethik. Ein harter Erfahrungssatz, den sich der Idealist auf dem Throne einzuprägen hat. Deshalb wurde der preußische König damals in Bayern mit nicht geringerem Rechte gefeiert, so weit ab von christlicher Tugendlehre auch die Gründe seines politischen Handelns gelegen haben mochten. Die Tatsache bestand. Friedrich der Große hat durch die Gründung des deutschen Fürstenbundes Bayern vor dem österreichischen Aufgefressenwerden gerettet und das Land der Wittelsbacher in gesichertem Deutschtum erhalten. Gewiß, auch Kaiser Josephs II. Appetit aus Bayern entbehrte nicht einiger besserer Antriebe: er wollte mit dem bayerischen Zuwachs das Germanentum der Habsburger Monarchie stärken und neue Stützpunkte gegen die widerhaarigen slawischen und magyarischen Völkerschaften gewinnen. Hätte darunter nicht Bayerns ursprüngliche Eigenart gelitten? Zweifellos. Es wäre in den österreichischen Rassen- und Sprachenmischmasch gezerrt und der kräftigeren Blutkreisung altdeutscher Kultur entzogen worden, wie heute Böhmen, Ober- und Niederösterreich, Steiermark und Tirol. Deutsch bis zur Entdeutschung – das wäre Bayerns Los unter dem habsburgischen Doppeladler gewesen. Der entdeutschte Deutsche hat aber in aller Welt nie zu anderem gedient als zum Kulturdünger, um der Ausbreitung fremder Rassen einen fetten Boden zu bereiten. Der rassenindifferente »gute Mitteleuropäer« ist der törichte Traum entdeutschter Michelhaftigkeit. Alle großen Künstler, alle weltgestaltenden Charakterköpfe waren ganz scharf ausgeprägte Rassemenschen. Je deutscher sich das Bayernland zu halten vermochte, desto fester stand auch sein Herrscherhaus, desto klarer erschien seine Ausgabe im Haushalte der fortschreitenden Kultur. Nicht zufällig deutsch: aus Blut- und Willenszwang deutsch! Die bayerische Nuance, ginge sie je dem Deutschtum verloren, wäre es nicht, als ob im leuchtenden Prisma die schönste Farbe verlöschte?

Seit Friedrich dem Großen waren die Beziehungen Bayerns zu dem Berliner Hofe stets herzlich gewesen. Das änderte sich nicht, als die pfälzische Linie Zweibrücken-Birkenfeld zur Thronfolge gelangte und Bayern die ersten Könige gab – im Gegenteil! Man hatte in Berlin ernsthaft daran gedacht, in einem etwaigen Kampfe Bayerns gegen Österreich dem Zweibrücken-Birkenfelder Geschlechte mit den Waffen beizustehen und die römische Kaiserwürde deutscher Nation einem Wittelsbacher anzutragen, um die Habsburger in Deutschland lahmzulegen.

Dann der Sturm der Revolution in Paris, der ganz Frankreich ergriff. Max Joseph, Herzog von Zweibrücken, der künftige erste König Bayerns, stand in seiner Jugend als Oberst in einem französischen Regiment zu Straßburg. Er mußte vor den Jakobinern nach Mannheim fliehen. Die Sansculotten nahmen ihm sein Erbe weg, er war ein Herzog ohne Land, ohne Stellung, fast mittellos. Diese Wendung suchte Österreich für sich auszubeuten und wollte den armen Fürsten für sich gewinnen, wenn nötig mit Zwang. Er widerstand allen Werbungsversuchen und bemühte sich, in Preußen Heeresdienst zu suchen. Das gelang ihm zwar nicht, doch hielt er die freundschaftlichsten Beziehungen mit dem Berliner Hofe aufrecht. Um gegen Österreich mächtiger zu sein, suchte er lieber wieder ein gutes Verhältnis zu Frankreich – alles im Interesse Bayerns, dessen präsumtiver Thronfolger er war. Schon 1798 entstand der erste Plan eines Rheinbundes. 1799 starb Karl Theodor infolge eines Schlaganfalls in München. Als er in den letzten Zügen lag, überschwemmte die österreichische Soldateska ganz Bayern und hauste wie in Feindesland. Bevor jedoch Österreich von dem Rechte des Stärkeren Gebrauch machen und Bayern in den Habsburger Sack stecken konnte, war Max Joseph in München eingezogen und hatte sich das ihm entgegenjubelnde bayerische Heer als Herrscher verpflichtet. Nun begann, im Zwange der Selbsterhaltung, Bayerns entscheidende Wendung in der auswärtigen Politik, die Periode des ihm so sehr verübelten Rheinbundes, die Annäherung an Frankreich.

Mit nicht mehr zu zügelndem Eifer vertiefte sich Ludwig in das Studium dieser wirrevollen Zeit. Jedes Für und Wider wurde an der Hand der bedeutendsten Historiker und der Quellenwerke durchgearbeitet. Der Hohn einiger Geschichtsschreiber irrte ihn nicht. Mochten sie die »Großmannsucht« Bayerns lächerlich machen! Mochten sie seinen Vorfahr als »Satelliten Napoleons« schmähen! Wer sich in den Sattel geschwungen, muß auch reiten – und hatte nicht Bayern um seine Existenz zu kämpfen? War es nicht ein heroischer Todesritt, an der Seite Napoleons das zertretene und ausgesogene Land wieder in die Höhe zu bringen? In Wien waren die alten Begehrlichkeiten nicht verstummt, in Berlin, das selbst in Nöten, mußte man dem Ringen Bayerns mit verschränkten Armen zusehen. Wo allerwärts der Name Napoleons wie ein Zauber wirkte, sollte dieser Zauber nicht auch die bayerischen Staatsmänner berühren? Die Hingabe war keine Preisgabe – es war ein rasch ergriffenes Auskunftsmittel, das man fallen lassen konnte, sobald die Gefahr der Lage beseitigt war. Aus dem Bündnis mit Napoleon war redlicher Gewinn zu erzielen. Schwaben und Franken kamen an Bayern, das durch diesen Provinzenzuwachs zu einem wahren Kraft- und Sammelpunkt für ganz Süddeutschland sich erhob – eine Tatsache, die für die deutsche Kultur nicht leicht wog. »König von Napoleons Gnaden« verspottete man den umsichtigen und zähen Max Joseph – aber war es nicht dieser erste König Bayerns, der als der erste von allen deutschen Fürsten seinem Lande eine Verfassung gab? Der die Gleichstellung der protestantischen Kirche mit der römischen Kirche energisch durchsetzte und damit der nationalen Zivilisation unerschöpfliche Kraftquellen sicherte? –

An diesem Punkte seiner historisch-politischen Studien mußte der junge König eine Pause machen: einzelne Teile hatten geradezu beklemmend auf ihn gewirkt. Atemlos hatte er der ehernen Stimme der Geschichte gelauscht. Bei seiner allzeit regen Künstlerphantasie schlugen die mächtigen Laute dieser Wirklichkeitssymphonie wie Posaunen des Weltgerichts auf seine Nerven.

Unvermutet brachte ihm der Zufall eine ungewohnte Abwechslung in sein ganz dem Studium gewidmetes Leben der letzten Wochen. Eine junge, anmutige Bildhauerin hatte es mit Beharrlichkeit zuwege gebracht, daß ihr der König huldvoll eine Audienz und mehrere Sitzungen gewährte. Der Hof staunte. Es geschahen Zeichen und Wunder: der König stundenlang im Verkehr unter vier Augen mit einem weiblichen Wesen! Die letzte Dame, die sich der längeren Nähe des Königs rühmen konnte, war vor Monaten eine Sängerin gewesen. Sie durfte einmal mit ihm, fern allen Späherblicken, im märchenschönen Wintergarten weilen und ihm zwischen Palmen und Orchideenhainen alle Holdseligkeiten ihrer Stimme zu kosten geben. Einmal und nicht wieder. Rasch hatte sie sich die Gnade des Königs verscherzt. Ein übelgeratener Versuch, die Galanterie des jungfräulichen Fürsten auf die Probe zu stellen, hatte die Künstlerin zu Fall gebracht. Die Koketterie des Weibes war stärker als das Taktgefühl der Sängerin. In der schmelzenden Kadenz ihrer Arie ließ sie sich aus dem blühenden Gebüsch in die seichte Flut des Miniatursees gleiten und begann jämmerlich um Hilfe zu schreien. Nun mußte wohl der unnahbare König den Ritterlichen spielen und sie höchsteigenhändig aus dem nassen Elemente ziehen? – Der König klingelte dem Diener. »Nehmen Sie das Weib aus dem Wasser!« und hinaus ging's aufs Trockene, auf Nimmerwiederkehr.

Die Bildhauerin erwies sich als ganze Künstlerin und vornehme Dame. Mit der Sicherheit einer in ihrem Werke aufgehenden idealen Natur fand sie ungezwungen jene Formen des Umgangs, die dem Könige gefielen. Auch berührte es den König wohltuend, daß sie von edlem Wuchse war, ein schönes Auge und eine wohlklingende Stimme hatte. In der ersten Sitzung zeichnete sie flink und treffsicher den König in ganzer Figur. In poesieerfüllter Jugendlichkeit, eine entzückende Menschenblüte, wuchs Strich um Strich das Bild der Majestät auf dem großen Karton.

»Ich dachte mir,« sagte der König freundlich, »Sie würden gleich mit jenem Materiale anrücken, aus dem der liebe Gott den ersten Menschen formte.«

»Ach nein, wirklich? Mit jenem berühmten Erdenkloß?« lächelte die Künstlerin, ohne sich in ihrer Arbeit stören zu lassen.

»Ja, wahrhaftig, und ich hatte ein wenig Angst davor. Ich bitte Sie, eine Fuhre Lehm hier in meinen Gemächern, das hätten meine Leute am Ende gar nicht zugelassen.«

»Dann wären Majestät zu mir in mein Atelier gekommen, dort hat uns niemand dreinzureden.« Und Strich saß auf Strich.

»Der Vorschlag wäre zu erwägen, wenn es uns hier zu arg wird, verehrtes Fräulein.«

»Es ist ja vorläufig zum Aushalten, nicht wahr? Der Raum ist ganz hübsch und das Licht tadellos. Was ist das eigentlich für ein Zimmer, Majestät?«

Der König lachte: »Das weiß ich wahrhaftig selber nicht! Sicher keins von den vieren, die ich hier im dritten Stock bewohne. Dann hab' ich noch den Wintergarten auf dem Dach. Das ist alles, was ich in München zum Aufenthalt benötige. Genügt mir auch.«

»Sind die andern auch so hübsch? Ihre andern Wohnräume?«

»Ich werde sie Ihnen zeigen, sobald wir fertig sind, dann können Sie selbst urteilen, verehrtes Fräulein.«

»Sehr gnädig, Majestät, vielen Dank. Wollen wir nicht gleich eine Pause machen? Sind Sie nicht müde?«

»Ich? Nein. Aber Sie?«

»Niemals. Wenn ich im Zuge bin, spür' ich nie Müdigkeit. Ach, wie das jetzt vom Flecke geht! Finden Majestät, daß ich müd' aussehe?«

»Keineswegs. Ich meinte nur wegen der Zimmer –«

»Ach ja. Und den Wintergarten darf ich auch sehen?«

»Den Wintergarten?« sagte der König etwas nachdenklich. »Hören Sie, wie mir's damit gegangen. Eigentlich wollte ich ihn niemand zeigen, das heißt der Kuriosität wegen. Einige neugierige Herren vom Hof haben sich als Gärtnerburschen verkleidet und sind hinter meinem Rücken mit dem Hofgärtner hinaufgegangen –«

»Aber das ist stark, Majestät –«

»Solchen Leuten zeige ich natürlich nichts mehr. Neulich habe ich meinen Hofsekretär ein wenig rauh angefaßt, ich war in nervöser Stimmung. Hernach hat mir der Mann leid getan. Ich wollte ihm eine Freude machen und fragte, ob ich ihm irgendeinen Wunsch erfüllen könne –«

»Na – soll ich raten?«

»Gewiß raten Sie's leicht, verehrtes Fräulein, und ich langweile Sie!«

»Soll ich schwören, Majestät?«

»Nein! Um Gottes willen, wir glauben uns doch aufs Wort?«

»Das will ich meinen! Also der Mann erbat sich als Gnade?«

»Daß ich ihm, seiner Frau und seinen Kindern meinen Wintergarten zeige!«

»Das ist hübsch, Majestät, sehr hübsch!«

»Natürlich zeigte ich ihm, seiner Frau und seinen hoffnungsvollen Sprößlingen – es war eine stattliche Schar – meinen Wintergarten. Und Ihnen zeige ich ihn auch. Wollen Sie gleich?«

Die Bildhauerin sann einen Augenblick nach. Dann faßte sie den König fest ins Auge und sagte mit ihrer hellen Stimme: »Nein, Majestät. 's könnte mich aus der Stimmung werfen, so viel Herrliches auf einmal zu schauen. Ich möchte die Gnade dieser schaffensfrohen Stunde nicht verscherzen. Lassen Sie uns weiter arbeiten. Wir wollen uns den besten Genuß bis zum Schlusse aufheben.«

»Ja, dann kommen Sie mir mit dem Erdenkloß angefahren!« scherzte der König. »Wie wollen Sie das eigentlich alles machen?«

»Ganz nach meiner persönlichen Art, Majestät. Zunächst übertrage ich diese Zeichnung zu meinem Studium in volle Lebensgröße, dann baue ich danach das Tonmodell auf, zum Schlusse gewähren Sie mir gnädigst noch eine oder zwei Sitzungen zur Ausführung des Kopfes und so weiter, bis alles zu unserer Zufriedenheit vollendet ist.«

»Sie müssen aber wissen, verehrte Künstlerin, daß ich am Gipse keine Freude habe.«

»Ich auch nicht, Majestät. Haben wir einmal das Modell, so übertragen wir's auch in Marmor, in den schönsten, den uns Carrara liefert. Ich werde hinfahren und mir den Block in den Marmorbrüchen selbst aussuchen.

»Das gefällt mir!« rief der König. »Immer aufs erreichbar Beste los – und resolut!«

»Ja, Majestät, das ist gesunde Methode. – Bitte, sehen Sie einmal her, was halten Sie von der Nase? Ich meine, ich meine –«

»Vielleicht um ein winziges zu kurz. Nehmen Sie das Maß! Hier!« Der König stellte sich in Positur.

Sie maß die Nase ab mit fabelhaftem Ernst.

»Genau, genau!« rief der König. Und belustigt fügte er hinzu: »Wenn jemand gesehen hätte, wie Sie meine Nase messen, wir kämen schön ins Geschrei. Alle erdenklichen Possen würde man uns nachsagen.«

»Das täte mir nur leid um Sie, Majestät. Unsereins ist daran gewöhnt, dumm beurteilt und lächerlich gemacht zu werden. Sie glauben nicht, was mir zartem Geschöpf für eine harte Haut über die Seele gewachsen ist. Früher meinte ich, an der Kritik müsse ich sterben. Das habe ich mir abgewöhnt. Ich spüre nichts mehr. Meine Haut ist undurchdringlich. Und darunter sitzt meine fröhliche Seele und ist guter Dinge, so ärgerlichen Schabernack auch die Welt mit uns treiben möchte.«

Der König schwieg.

Die Künstlerin legte das Handwerkszeug weg und rief aufatmend, wie im Triumph. »Fertig! Vielen Dank, Majestät!«

Nun gingen sie wie gute Kameraden durch die königlichen Räume.

Der König erklärte: »Das ist das Audienz- oder Musterzimmer. Hier wird konferiert. Dem Spiegel gegenüber die Jungfrau von Orleans, eine von meinen historischen Lieblingen. Ich weiß, das Bild ist als Gemälde nicht großartig. Aber es hat die Kraft, in mir Stimmungen zu erwecken, die mir teuer sind. Viel besser sind im Plafond die Allegorien des Kriegs und Friedens mit der Bavaria von unserm Meister Rudolf Seitz.«

»Die finde ich außerordentlich schön. Auch der Kamin mit den Vasen macht einen sehr guten Eindruck.«

Der König war über ihr Lob erfreut. Er geleitete die Künstlerin in sein Arbeitszimmer: »Hier empfange ich meine besonderen Quälgeister, Kabinetts- und Hofsekretäre. Auf dem Seitentischchen links von der Eingangstür diniere ich gewöhnlich.«

»Ach!« entschlüpfte es der Künstlerin, »das ist aber ein herzlich unbequemer Platz.«

Der König fuhr gelassen fort: »Das ist Gewohnheitssache, ich empfind' es nicht. Die Bilder dort sind von Piloty, das Urteil Salomos und der fliegende Holländer.«

Die Künstlerin schenkte ihnen nur einen zerstreuten Blick, dann wandte sie sich einer Büste Richard Wagners zu, die zwischen den Fenstern auf einer Säule stand.

»Eine sehr gute Arbeit, technisch ausgezeichnet.« Die Alabasterstatuen Lohengrins und des heiligen Georg schienen ihr weniger Eindruck zu machen. Ebenso das Deckengemälde, Apollo mit dem Sonnenwagen und die fliehende Nacht. Dagegen rühmte sie die gute, besänftigende Wirkung des blauen Seidendamastes, womit die Wände bespannt waren. Der Glanz, den die schwer vergoldeten Schränke, Stühle, Taburetts und Spiegel in den Raum strahlten, wurde durch das seidige Blau angenehm gemildert.

Der König führte sie durch das Schlaf- in das Bibliothekszimmer. Die Bücher waren in zwei schön geschnitzten Schränken gereiht. Die Künstlerin trat näher und überflog die Büchertitel: fast nur deutsche und französische Literatur, außerordentlich viel Kunstgeschichte, bändereiche Memoirenwerke, die seltensten Denkwürdigkeiten. Man merkte den Einbänden an, daß sie nicht bloß zur Schau standen. Dennoch fragte sie den König, ob er dies alles lese? »Noch viel mehr!« lautete seine Antwort. Er fürchte sich nicht vor den dicksten Folianten, die ungeheuerlichste Bändezahl schrecke ihn nicht zurück, wenn sein Interesse gefesselt sei. Darin nehme er's mit jedem Stubengelehrten, mit jedem Benediktiner auf. Lesen sei immer seine Passion gewesen, gewissenhaft Lesen, nicht Herumschmökern. Um seine Bücher habe er mit seinen Erziehern oft harte Kämpfe geführt. Wo er die Zeit hernehme, warf die Künstlerin ein. Ob denn der Tag nicht reichlich vierundzwanzig Stunden habe? entgegnete der König. Man müsse nur die Zeit gut einteilen und gründlich ausnützen. Er finde, daß die Menschen mit diesem kostbaren Gut im allgemeinen sehr sträflich umgingen. Und sie stehle es ihm ganz schamlos – wollte die Künstlerin bemerken. Aber sie schwieg, als sie in sein gütiges, ernstes Gesicht sah. Sie betrachtete weiter. An Büsten fiel ihr eine Maria Antoinette und ein Ludwig der Vierzehnte auf, die sie ruhig begrüßte, ohne jede Bemerkung. Auch einige Schwäne in Porzellan ließen sie gleichgültig. Dafür hatte sie warmes Lob für einige Aquarelle und für den feinen aus Gelb gestimmten Gesamtton des behaglichen Raumes. Gold war hier nur als Farbe verwendet und drängte sich als Material nicht auf.

»Von Böcklin haben Sie keine Bilder, Majestät?«

»Nein, man hat mir noch nichts Geeignetes von ihm gezeigt. Das Wenige, was ich zufällig von ihm gesehen habe, irgendeine schreckliche Furiengeschichte, war mir durch die unerfreuliche Farbe so verleidet wie durch den unerfreulichen Gegenstand. Ich weiß, daß ihn seine Freunde als außerordentliches Talent rühmen, während seine Gegner kein gutes Haar an ihm lassen. Alle diese Kämpfe bis aufs Messer um die Schönheit sind so häßlich. Die Kunstgeschichte ist doch keine Indianergeschichte, wo alles auf Kriegspfaden wandelt und den blutigen Tomahawk schwingt. Meinen Sie nicht?«

»Ja, Majestät. Die Kunst soll trösten wie die Religion, aufwecken, nicht niederschlagen. Am Kriegslärm der Kunstschreiber finden die Künstler selbst am wenigsten Geschmack, aber sie können ihn nicht hindern. Es ist der obligate Donner, der den Blitzen des Genies folgt. Aber von Böcklin dürfen wir uns die reinsten Offenbarungen versprechen, sobald die Luft sauber ist und wir ruhig schauen können.«

Ihre Stimme klang ein wenig belegt, die Haltung ihres zarten Körpers zeigte Spuren von Ermüdung.

Der König führte sie an die Tür und wies lächelnd auf einen Laubgang: »Hier geht's zu meinem Wintergarten!« Der König stand wie ein vollendeter Edelmann aus dem achtzehnten Jahrhundert, des Winks seiner Dame gewärtig.

Die Künstlerin bat: »Ein andermal, wenn ich frischer bin, erweisen mir Eure Majestät die Gnade. Ich fühle, daß ich wirklich ein wenig abgearbeitet bin. Genehmigen Eure Majestät meinen tiefsten Dank.«

König und Künstlerin schieden mit einem herzlichen Händedruck: »Auf Wiedersehen!«

In der folgenden Sitzung wurde die Modellierung des Kopfes in Angriff genommen. Der König schien gedrückt. Die Künstlerin bat ihn, er möge von ihrer Anwesenheit und Hantierung möglichst wenig Notiz nehmen. Er könne sich nach Belieben bewegen und beschäftigen, daß er ruhig sitze, sei durchaus nicht mehr nötig. Es sei ihr die angenehmste künstlerische Aufgabe, die ihr je in ihrem Leben geworden, gerade Seiner Majestät Konturen und Züge dem bewegten Leben abzulauschen und die feinsten Veränderungen und Nuancenspiele im Ausdruck gleichsam im Fluge zu erhaschen.

»Ich verändere mich wohl viel?« fragte er nachdenklich.

»Rapid!« antwortete sie. »Das heißt, es fehlt nicht an Momenten wahrhaft skulpturaler Ruhe in Ihrer Physiognomie. Namentlich die Augen sind oft von souveräner – wie sag' ich nur? – Beschaulichkeit. Wenn aber die Unruhe einmal entfesselt ist, dann jagen sich die Veränderungen im Ausdruck, daß kaum zu folgen ist. Übrigens ist das bei allen geistig regsamen Naturen eine bekannte – uns beobachtenden Künstlern und Porträtisten bekannte Erscheinung, dieser blitzschnelle Wechsel im Mienenspiel. Nach Ablauf einer gewissen Anzahl von Veränderungen tritt dann wieder das bekannte Bild mit den festeren Grundzügen hervor. Darauf beruht die Möglichkeit überzeugender Porträtähnlichkeit. Sie mögen sich verändern, wie Sie wollen, Majestät, ich weiß jetzt Ihr wahres Gesicht auswendig – und wer meine Statue sieht, der soll ausrufen: Bei Gott, das ist er, wie er leibt und lebt! – auch wenn er Sie niemals persönlich gesehen hat.«

»Also Sie wollen mich nicht ein klein wenig idealisieren?« rief er wie vorwurfsvoll. »Sind Sie auch so eine fanatische Naturalistin?«

»Ach, die Natur, Majestät – wer erreicht sie je? Von jedem Wesen stellt sie das Idealbild vor uns hin. Aber nur dem höchsten, ich möchte sagen demütigsten Studium der Natur gelingt es, dieses Idealbild in der ganzen Fülle des Charakteristischen zu schauen und im Abbilde zu bannen. Die Virtuosen meinen, so etwas ließe sich einfach herunterhauen. Und die Schulidealisten meinen, mit akademischen Schablonen und abgezogenen Schönheitsbegriffen ließe sich so etwas bequem erreichen. Ich kenne nichts Schwereres und Aufreibenderes als die Kunst. Dafür ist sie auch so herrlich, daß man sie nicht zu teuer mit dem Leben bezahlt.«

»Ein Augenblick mit ihr im Paradiese – frei nach Schiller! Ja, die Kunst! O Gott, wie hielten wir das Leben aus ohne Kunst!« rief der König in plötzlicher heller Erregung, und alles Gedrückte war von ihm genommen.

Die Künstlerin jubelte in sich hinein: So will ich ihn haben, so ist er echt, der schwärmerische Schönheitskönig – der grundgütige Idealitätstyrann! Sie sprach aber lange kein Wort mehr, ihre Augen und Hände arbeiteten wie im Fluge. Nun sollte der König sprechen, nun hatte sie ihm die Zunge gelöst.

Und der König im Hin und Hergehen, dann wieder ruckweisen Stehenbleiben und Fixieren, kargte nicht mit hastigen Bemerkungen und Fragen.

»Das Menschenantlitz, das Meer, das Gebirge, eine Landschaft bei bewegter Luft, ja selbst bei schwer verhängtem Himmel, nur nicht in der Winterstarre, die wie der Tod wirkt – das ist alles Seele und darum schwebend und unruhvoll. Alles, was Seele hat, ist göttlich. Gott ist nicht die ewige Ruhe, er ist nur die ewige Stille. Weltenschöpferische Tätigkeit bei seliger Stille. Das Selige an der Stille, das ist das Musikalische daran. Die Menschen sind darum nie seliger, stiller und innerlich tätiger, als wenn sie gute Musik hören. Unter allen Künsten erreicht wohl die Musik die stärkste und dauerndste Wirkung. Sie bindet und löst zugleich.«

Die Bildhauerin, aufgegangen in ihrem Werk, als wäre sie selbst nur eine automatische Funktion der Schöpfung, die ihr unter den Händen wuchs, begnügte sich mit einem »Hm!«

Der König blickte ihr über die Schulten. »Man sollte eigentlich immer ganze Figuren machen, mit Armen und Beinen. Die Büste hat etwas so Amputiertes. Die weggeschnittenen Arme, der weggerissene Leib – o, o! Kopf und Schultern sind immer Bruchstück. Wenn ich einen Menschen in der ganzen Harmonie seinem Wesens kennen lernen will, muß ich wissen, was er für Hände und Füße hat, wie er die Hände hält, wie er die Füße aufsetzt. Ein Maler, der den Kopf sorgfältig, die Hände schlampig malt – wie unerfreulich! Wieviel unterschlägt er mir von der Charakteristik! Mit dem Gesicht können die Menschen lügen, mit den schönsten Augen können sie uns irreführen, nur mit den Händen und Füßen nicht. Die Hand kann sich nicht verstellen, und wie einer den Fuß stellt und hebt, die Linie seines Ganges, das ist unbewußt wahr. Ich betrachte mir immer die Hände und den Gang der Menschen. Da entdecke ich oft viel Verdächtiges, während das Gesicht mein Vertrauen erzwingen will. Freilich, eines ist nicht zu malen und zu meißeln – die Stimme. Und die sagt meist das letzte Geheimnis einer Menschenseele aus. Menschen, die nicht laut sprechen wollen, sind wie jene, die ihre Augen niederschlagen oder wegsehen – sie haben etwas zu verbergen. Eine böse Stimme, da lauf' ich gleich davon. Dafür entzückt mich auch nichts so sehr als die schöne Stimme eines Schauspielers oder Sängers.«

Er schwieg plötzlich. Wie entrückt lauschte er nach innen. Eine Stimme, ganz Seele, die seiner Marie Dahn-Hausmann. Gestern abend – Thekla – Wallenstein.

»Ja, ja –« sagte die Künstlerin und wischte sich mit dem Handrücken die Stirn. Sie trat einige Schritte zurück, ihr Werk mit fast feierlichem Ernste prüfend.

Sie schien mit sich zufrieden. Sie lächelte den König an, indem sie ihn von Kopf zu Fuß mit dem ruhig umfassenden und durchdringenden Bildnerauge betrachtete . »Den Kopf hätten wir bald. Nun freue ich mich schon aufs übrige. Die Hände namentlich. Ich will Ihnen gewiß kein Kompliment machen, Majestät, aber Ihre Knochen und Muskeln sind riesig prachtvoll. Bei aller Feinheit wie die eines jungen Herkules.«

»Hören Sie auf!« lachte der König. »Ich schäme mich ja fast.«

»Sie haben von Kind auf gewiß regelmäßige Leibesübungen gemacht und viel geturnt?«

»Wo denken Sie hin! Meine Erziehung war so streng und eng wie in einem Kloster. Und im Kloster turnt man nicht. Erst als ich schon ziemlich erwachsen war, kam das Turnen, aber nicht als Leibesübung, sondern als Schulfach, als Lektion. Ein oder zwei Stunden in der Woche. Dann das Reiten, dann das Schwimmen, dann das Fechten und Schießen, dann das Tanzen – alles als Lektion. Löffelweise, wie Medizin von einem pedantischen Doktor. Freie Leibesübungen – nicht daran zu denken. Trotzdem wurde ich ein guter Reiter und Schwimmer, weil ich viel natürliche Neigung dafür besaß. Im Gebirge bleibe ich jetzt oft tagelang im Sattel. Aber damals in der Reitschule! Wissen Sie, was ich tat, um mir die öden Übungen kurzweiliger zu machen? Ich ließ mir während des Umreitens Kilometerzahl und angenehme Haltestellen nennen. Im Staub der Manege phantasierte ich mich auf die freie Landstraße und galoppierte in Gedanken nach Schleißheim, Freising, Moosburg, Landshut oder durch den Forstenrieder Park an den Starnberger See. Im Reiten und Schwimmen nehm' ich's mit jedem auf. Im Tanzen hab' ich außer den Tanzstunden noch keine Prüfungen bestanden. Nein, Leibesübungen –«

Er hielt inne, als er bemerkte, daß die Bildhauerin plötzlich mit einem ungeduldigen »Na, na!« die Arme sinken ließ.

»Ich störe Sie wohl mit meinem vielen Reden?« fragte der König gutmütig.

»Behüte! Alle Freunde der Einsamkeit sprechen gern und gut. Ich höre Sie mit großem Vergnügen, Sie erleichtern mir die Arbeit, Majestät.«

Als der König schwieg, begann sie wieder: »Dichten Sie auch?«

»Dichten? Auf nassem Wege, mit der Feder vor dem Tintenfaß?«

»Wie man halt so dichtet –«

»Verse schreiben, Dramen und dergleichen, meinen Sie?«

»Das auch.«

»Soweit man als Dilettant darin sündigen kann, bin ich mir keiner schweren Sünden bewußt. Jedenfalls hüte ich mich, andere damit zu belästigen. Ich habe keinen Drang, in allen Künsten herumzustümpern mit eigenen Versuchen. Ich glaube, das tun auch nur die eigentlich inferioren Geister, die damit ihre Impotenz maskieren möchten und damit nur ihre schändliche Respektlosigkeit vor aller echten Kunst und Künstlerschaft verraten. Als kleiner Bub bekam ich einmal zu Weihnachten einen Baukasten von meinem Großvater. Ich baute mit solcher Leidenschaft Burgen und Schlösser und Paläste, daß die Stube zu eng wurde, denn ich wollte, daß alles stehen bleibe, und mein Großvater schob mir heimlich neues Baumaterial zu. Später legten die werten Erzieher ihr Veto ein. Ich rächte mich, indem ich alle baugeschichtlichen Werke las, die ich nur immer erwischen konnte. Wo andere Schüler Karikaturen kritzeln und sich wie Max und Moritz in den Fliegenden Blättern austoben, machte ich Entwürfe von den wunderbarsten Bauwerken.« Der König hielt inne, sah gegen die Decke und begann träumerisch durch die Zähne zu pfeifen. Als die Bildhauerin schweigsam weiterschaffte, fing er wieder an: »Ja, ja, das Bauen! Gewissermaßen ist das halt doch die eigentliche Allkunst: Gestaltung des Raumes und dahinein dann alles übrige, die Bildnerei, die Malerei, die tausend Kleinkünste des Gewerbes vom Turmknauf bis zum Hausschlüssel, alles aus einer poetischen Grundidee heraus. Wundervoll! Die Räume belebt mit Musik, Theaterspiel, feinem Verkehr schöner Menschen, Stelldichein aller großen Geister. Bauen, das ist eine königliche Kunst! Dann das Drama, die Dichtung großer Schicksale! Als ich in die unvermeidlichen Flegeljahre kam, wollte ich auch einmal ein leidenschaftliches Theaterstück schreiben. Der Plan war ungeheuerlich. Ich fühlte, daß er über meine Kraft ging und ließ das Stückeschreiben bleiben.«

»Erzählen, bitte, Majestät!«

»Den Plan? Der war sehr einfach. Aber Sie dürfen ihn niemand verraten.«

»Niemals! Also –«

»Ein Königssohn verschwört sich mit dem Volke, hetzt es zur Empörung, wirft seinen Vater vom Thron und proklamiert die Republik. Denken Sie sich das ausgeführt als dichterische Herzensangelegenheit eines Kronprinzen, und Sie haben das groteske Musterbeispiel menschlicher Verirrung. Sehr von Herzen muß mir's aber doch nicht gekommen sein. Ich ließ den Plan bald wieder fallen, ohne daß mich die poetische Ader zu einer neuen Rebellion gedrängt hätte. Vielleicht war's auch der Schreck darüber, daß ich mich so arg im Stoff vergriffen. Und als ich meine Lieblingsdichter entdeckte, da merkte ich, daß die poetische Hauptarbeit schon von anderen verrichtet sei. Das beruhigte mich und hielt mich von Torheiten ab. Wer ist Ihr Lieblingsdichter, verehrtes Fräulein?«

»Ach, Majestät, ist das eine Gewissensfrage? Ich habe schon viele Lieblingsdichter – gehabt. In diesem Punkt bin ich eine treulose Seele. Ich wechsle gern. Oft jahrelang mag ich von alten Lieblingen nichts wissen. Dann nehme ich wieder den einen und anderen zu Gnaden an. Aber er muß sich's gefallen lassen, daß sich ein Allerneuester mit ihm in meine Gunst teilt. Jetzt ist wieder Heinrich Heine an der Reihe und mit ihm sein allerneuester Gegenfüßler, der allerlauterste und allerfeinste Martin Greif.«

»Von Greif kenne ich noch nichts. Auf Ihr Lob hin merke ich mir seinen Namen. Was lieben Sie von Heines Poesien am meisten? In dieser Stunde am meisten?«

»Seinen Zyklus Nordseebilder – gerade jetzt. Ich weiß nicht warum. Das weiß ich nie – das heißt: ich kümmere mich nicht um den Grund. Es ist plötzlich so. Die Seele will's. Ihr Wille soll geschehen.«

»Das ist sehr richtig,« bemerkte der König. »Und welche Verse aus den Nordseebildern streichen Ihnen gerade durch den Sinn?«

»Ich weiß wenig korrekt auswendig. Ungefähr mögen sie so lauten.

O Meer!
Mutter der Schönheit, der schaumentstiegenen!
Schon flattert, leichenwitternd,
Die weiße, gespenstische Möwe
Und wetzt an dem Mastbaum den Schnabel.
Fern an schottischer Felsenküste . . .
Steht eine schöne, kranke Frau,
Zartdurchsichtig und marmorblaß . . .
Und der Wind durchwühlt ihre langen Locken
Und trägt ihr dunkles Lied
Über das weite, stürmende Meer.«

»Sie sprechen die freien Rhythmen sehr gut. Das Halblaute, so hingezogen wie eine unendliche Melodie im Sturm – sehr gut, sehr gut. Aber äußerst merkwürdig –« er machte wieder seine großen Schritte.

»Was ist äußerst merkwürdig?«

»Daß Ihnen das jetzt durch den Sinn geht. Im gleichmäßigen ruhigen Licht. Im stillen Raum eines stillen Schlosses. Und während Sie mich modellieren. Scheinbar ganz bei der Arbeit sind –«

»Scheinbar? Nein, Majestät, mit ganzem Gemüt und allen Kräften des Leibes und der Seele. So sehr, daß ich vor Müdigkeit fast umfalle.«

»Äußerst merkwürdig,« wiederholte der König in Gedanken.

Die Sitzung wurde geschlossen.


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